ra-2 Marianne GrabruckerJudith ButlerPamela Fishman    
 
MAX SCHELER
Zum Sinn der Frauenbewegung

"Ich bin der Überzeugung, daß es innerhalb der gesamten Geschichte keine einzige friedliche Bewegung gegeben hat, die eine so durchgreifende Veränderung aller menschlichen Verhältnisse vollziehen wird, wie eine siegreiche Frauenbewegung. Die Befreiung des dritten Standes durch die französische Revolution und die langsame Emanzipation des vierten Standes in der modernen Arbeiterbewegung, in deren bloßer Gefolgschaft sich gegenwärtig noch ein Hauptteil der Frauenbewegung, nämlich die Arbeiterinnenbewegung befindet, werden, ihrer dauernden Wirkung auf die Menschheit nach betrachtet, gegenüber der Bedeutung der Frauenbewegung, - wenn sie siegreich ist, ins Bedeutunslose verschwinden."

Die Kreise, welche den durch die Reichsstatistik festgestellten erheblichen Rückgang der Fruchtbarkeitsziffer mit ernster nationaler Besorgnis angesehen und ihn nicht, wie die Sozialdemokratie, ausschließlich als ein erfreuliches Zeichen für die Hebung der arbeitenden Klassen und ihren steigenden Wohlstand aufzufassen vermögen, fallen gemeinhin mit jenen Gruppen zusammen, die sich gegen den in der Frauenbewegung werbenden Geist kehren, indem sie einen Abfall vom "wahren Beruf der Frau als Hausfrau und Mutter" erblicken. Dieses Verhalten scheint eine innere Begründung auch darin zu besitzen, daß der Frauentypus, den die bisherige Frauenbewegung in immer steigendem Maße (bis zum äußersten Grenzfall der Suffragette) anstrebt, auf eine den großen nationalen Volkszwecken angemessene Fruchtbarkeits- und Fortpflanzungschance keineswegs hindeutet. Sowohl jene weiblichen leiblichen und seelischen Eigenschaften, die auf den Mann, sofern er sich nicht durch materielle Rücksichten, sondern durch weibliche Reize leiten läßt, eine Anziehungskraft auszuüben pflegen, als jene anderen, die eine, vom Standpunkt der biologischen Zweckmäßigkeit aus hinreichend große, gesunde und zeitlich frühe Fruchtbarkeit in Aussicht stellen (Beckenweite, Stillfähigkeit usw., erotische Reizbarkeit) scheinen, von einzelnen Individuen abgesehen, umso weniger vorhanden zu sein, als die betreffenden Frauen in jener Bewegung eine tätige Rolle übernehmen. Wenn man dem gegenüber hervorgehoben hat, daß die erwerbstätigen Frauen, als deren Stimmführerinnen die in der Frauenbewegung aktiven Frauen vor allem zu gelten haben, durch die Erringung ökonomischer Selbständigkeit, auch weniger genötigt sein werden, bei ihrer Männerwahl materiellen Interessengesichtspunkten und den (meistens gleichfalls auf solche gerichteten) Autoritätseinflüssen ihrer Familie Folge zu geben und indem sie in höherem Maße "ihrem Herzen" zu folgen vermögen, auch ohne weiteres einen qualitativ wertvolleren Nachwuchs in Aussicht stellen, so hat man verschiedene Faktoren hierbei übersehen. Einmal drängen die Anstrengungen, die die Frau unter dem Druck des weiblichen Angebots an Arbeitskräften und infolge der Konkurrenz mit den Männern um eine angemessene Ausfüllung von Männerberufen zu machen hat, die erotischen Motive meist in solchem Maß zurück, daß wenig Garantie dafür besteht, daß die ökonomisch selbständigere Frau auch mehr "ihrem Herzen folgt" und nicht vielmehr auch bei der Männerwahl eben  jenem  Motiv, das stark genug war, sie zu einer ökonomisch selbständigeren Frau werden zu lassen. Dieselbe gesteigertere Rechenhaftigkeit der ganzen Lebensgesinnung, die innerhalb unseres Wirtschaftssystems der Frau allein jenen Erfolg ihrer Anstrengungen garantiert, der ihr eine ökonomische Selbständigkeit gibt, äußert sich meist schon in der Wahl  der  Männer, derer sie sich zu bedienen pflegt, um in die erwünschten Stellungen hineinzukommen. Ist doch in unzähligen Fällen schon der erste Eintritt der Frauen in das aktive Wirtschaftsleben an die scheußliche Erscheinung einer Art von männlichem Patronat gebunden, bei dessen Übernahme seitens der Frau Autoritätsbedürfnisse und erotische Motive unter der Führung von Interessenspekulation, seitens des Mannes der jeweilige Geschäftsbedarf mit meist niedrigsten sinnlichen Motiven in peinlichster Eintracht zusammenwirken. Wo es aber zur weiblichen Entscheidung über die Eingehung einer Ehe kommt, da wird die rechenhaftere Frau erst recht der Gesinnung treu bleiben, die sie ökonomisch nach oben führte. In beiden Fällen wird das solcher Halbheiten und Niedrigkeiten fähige Männermaterial für eine günstige Fortpflanzung wenig Aussicht geben. Weder die Beobachtung des Lebens, noch das, was die Statistik hier an Schlüssen erlaubt, sprechen denn auch dafür, daß jene erwartete Folge eintritt. Die erwerbstätigen Frauen tragen nach der Statistik - und zwar in dem Maße, als sie eine männliche Berufstätigkeit haben - nur einen verschwindenden Bruchteil zu den ehelichen und außerehelichen Kindern bei. Weit wichtiger als dieses Moment aber ist das andere, daß nach der Qualität und Quantität des Bedarf, den unser von Haus aus ganz und gar auf männlichen Werten und Idealen beruhendes Industriesystem an weiblichen Arbeitskräften stellt, von vornherein der  relativ virile angeborene  Typus von weiblichen Individuen im Kampf um die ökonomische Selbständigkeit vor dem weiblichen Eigentypus gewaltig  begünstigt  und  prämiiert  erscheint. Alle jene Frauen, deren Gedanken- und Arbeitskontinuität wenig durchbrochen und abgelenkt ist durch einen stärker empfundenen Fortpflanzungstrieb, durch leidenschaftliches Gefühl, durch erotische Ideen und Fantasien, durch Schwangerschaft, Kinderernährung, durch erotische und mütterliche Sorgenbelastung und welche, damit einhergehend, von vornherein meist wenig ausgeprägt scharfe psychische und physische sekundäre Geschlechtsmerkmale aufzuweisen haben, besitzen bei gleichen ursprünglichen Besitzverhältnissen und gleicher Klassenzugehörigkeit eine weit  größere  Aussicht, sowohl in den ökonomischen Arbeitsmechanismus unserer Zivilisation hineinzugelangen, als, sofern sie bereits darinnen sind, dauernd und mit ökonomischen Erfolg in ihm zu verharren. Daß die Ehe- und Kinderlosigkeit und der Rückgang der Geburtenfrequenz, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ehe, hierdurch erheblich gesteigert werden, duldet keinen Zweifel. Die von der auswählenden Macht jener schon in unserem industriellen System selbst liegenden Selektionskraft  übergangenen  Frauen, sowie die für den industriellen Bedarf an Arbeit als "untüchtig" wieder abgeworfenen, weiblichen Typen können aber meist darum für eine qualitativ und quantitativ günstige Fortpflanzung wenig ins Gewicht fallen, weil sie in demselben Maße, wie sie sich vermöge ihrer weiblicheren Eigenschaften sich für jenen Arbeitsbedarf als "untüchtig" erwiesen, in Gefahr sind, in eine der so überaus mannigfaltigen Arten und Übergangsstufen der Prostitution (oft nach dem ersten Kind) hinunterzusinken. Die hierin liegende Doppeltendenz des gegenwärtig herrschenden Arbeitssystems gewinnt auch im selben Maße ihren realen Ausdruck und wirkt ihre schädlichen Folgen aus, als die Gesellschaften, die wir in Vergleich ziehen,  industrialistischen  Charakter aufweisen. Mit Recht hat G. E. WOODRUFF hervorgehoben, daß der starke Moralismus und die Prüderie großer Teile der amerikanischen und englischen Frauenschicht nicht durch eine sittliche  Emporhebung  der Frauen bedingt ist, sondern zum größten Teil dadurch, daß der Bedarf an Arbeit dieser höchstindustrialisierten Gesellschaft von selbst die Trägerinnen einer mehr durch Liebe und Zärtlichkeit bewegten Psyche der steigenden  Selbstauflösung  durch die Prostitution und durch die sie begleitenden Krankheiten überlasse und auf diese Weise den reineren weiblichen Gattungstyp auch  erblich  immer mehr ausschalte. Was man dagegen neuerdings mehr und mehr für die Erscheinung jenes virilen [männlichen - wp] Frauentypus (der sich, wie alle Modekundigen versichern, z. B. auch im Gang der Veränderungen der weiblichen Kleidermoden in die Richtung einer Nachahmung der für die männliche Figur bestimmten Kleidungsstücke erheblich ausspricht) verantwortlich zu machen pflegt, nämlich die Arbeit der Trägerinnen der politischen und sozialen Frauenbewegung und die "Politisierung" der Frau, sodann eine Schulbildung (besonders in England), die das junge Mädchen in steigendem Maße aus der Familie herauslöst und ihren Ehrgeiz durch Anpassung der Studienpläne der Mädchen an jene der Bildungsanstalten für die männliche Jugen, mittels eines selbst stark virilen Lehrerinnentypus, weit stärker weckt als das früher der Fall war, - dies und  Ähnliches  sind faktisch weit mehr die  Folgen  als die  Ursachen  jener durch obige Selektionstendenz steigenden Unweiblichkeit. Eben darum wäre es auch falsch, von einem Kampf gegen diese bloßen  Symptome  eine wesentliche Besserung zu erhoffen. Daß diese Erklärung richtig ist, das zeigt auch die Tatsache, daß jene Erscheinung unweiblicher und für eine wünschenswerte Fruchtbarkeit wenig geeigneter Züge der modernen Frau durchaus nicht eine Folge davon ist, daß die Frau  überhaupt  wirtschaftlich tätig ist und daß sie ihrem sogenannten "natürlichen Beruf" entsagt hat. Es ist ein sachlich völlig unbegründeter historischer Irrtum, anzunehmen, daß die wirtschaftliche und sonstige Betätigung der Frau, über die Aufgaben der Hausfrau und Mutter hinaus, überhaupt eine geschichtlich  neue  Erscheinung darstellen soll. Sehen wir von Verhältnissen bei vielen Naturvölkern, bei denen die Frau geradezu das Arbeitstier ist, ab, so war die Frau in Deutschland von jeher z. B. in weitestem Maße innerhalb der Landwirtschaft erwerbstätig; und noch heute rekrutiert sich nach der Statistik mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, z. B. in Bayern, aus der weiblichen Landbevölkerung. Bei wenig industrialisierten Völkern oder Volksteilen, wie z. B. im südlichen Bayern, findet sich aber darum jene Tendenz zur Erzeugung eines virilen Frauentypus durchaus nicht vor. Und wo immer der Arbeitsbedarf der Gesellschaft nicht aus seiner inneren Natur heraus die spezifisch "männlichen" Eigenschaften einer strengeren Rationalität, Berechnung, Kalkulation und eine mit der weiblichen Natur wenig vereinbare Kontinuität der Tätigkeit beansprucht, kann auch in der Tat die steigende ökonomische Selbständigkeit der Frau dadurch, daß sie ihre Wahl des Gatten oder des Geliebten von materiellen Rücksichten freier macht und sie ihrem Herzen leichter folgen läßt, die Chance auf eine wünschenswerte Fruchtbarkeit und Fortpflanzung nur steigern. Wie jene große in ihren einzelnen Formen so differenzierte Gesamtbewegung, die sogenannte "Frauenbewegung" (die eine ihrer Ursachen, wie man oft hervorgehoben hat, daß die Frau ihren immer mehr aus dem Haus heraus in die Fabrik wandernden Arbeitsmitteln nachgelaufen ist), endgültig auf die nationalen Fruchtbarkeitsverhältnisse wirken wird, das scheint daher vor allem davon abzuhängen, wieweit unser, auf spezifisch  männlichen  Werten, Idealen und Fähigkeiten aufgebautes Kultur- und Arbeitssystem durch den langsamen Fortschritt der Bewegung selbst im Sinne einer Mitherrschaft spezifisch  weiblicher Werte  und  Ideale  verändert werden kann; und wie weit sich durch diese Veränderung ein  spezifisch  weiblicher Arbeitsbedarf, d. h. ein Arbeitsbedarf an  spezifisch  weiblichen Kräften herauszubilden vermag, der jene oben geschilderte gefährliche Selektionstendenz zum virilen Frauentypus aufhebt und an seiner Stelle eine andere schafft, die darauf abzielt, gerade den  reineren  weiblichen Typen auch ökonomische Selbständigkeit zu ermöglichen und dauernd zu sichern.

Es ist ein weit verbreiteter Fehler, den welthistorischen Sinn der modernen Frauenbewegung und ihre dauernde und endgültige Wirkung auf alle menschlichen Verhältnisse an denjenigen Erscheinungen abschätzen zu wollen, welche mit dem Auftreten der  ersten  weiblichen Vorboten,  ihrer  Haltung und  ihrem  Wesen und Bild notwendig verknüpft sein mußten. Das wäre genauso unsinnig, wie es gewesen wäre, wenn man den Sinn der englischen Gewerkschaftsbewegung, der - wie wir heute wissen - durchaus die  Erhaltung  der kapitalistischen Zustände und des kapitalistischen Geistes ist, an den revolutionären Unruhen der Chartisten, ihrer Vernichtung von Maschinen usw., welche den Beginn jener Bewegung bildeten, hätte ermessen wollen; ja, man verzeihe das drastische Beispiel, es wäre so unsinnig, wie wenn man einen etwa gelungenen revolutionären Putsch der französischen Royalisten über die Republik, der sich sicherlich auch allerhand Elemente bedienen müßte, deren Gemütsart mehr "revolutionär" als "konservativ" wäre, als einen Sieg der "fortschrittlichen Prinzipien" der modernen Welt ansähe. Jede Bewegung, was immer auch ihr Inhalt und Ziel ist, ist "revolutionär", sofern sie sich gegen ältere herrschende Zustände und Werte wendet und bedarf zu ihren  ersten  Trägern und Repräsentanten und zu ihrer Durchführung Personen und Kräfte, die nach den  herrschenden  Werten des Systems, gegen das sich die Bewegung wendet, als in  diesem  System "ausgezeichnete" und "fortschrittliche" gelten müssen. Das schließt aber nicht aus, daß der Inhalt und Sinn der betreffenden Bewegung ein dem Geist und den bewußten Zielen seiner ersten Träger und Repräsentanten gerade  entgegengesetzter  sein kann und daß sich das,  was  in ihr faktisch realisiert wird, von der  Form  seiner Realisierung als schärfstes Gegenteil scheidet und abhebt. Eben das scheint aber bei der Frauenbewegung in jeder Beziehung und nicht bloß in Bezug auf ihr gegenwärtiges und sich endgültig einstellendes Verhältnis zur Steigerung und Abnahme der Qualität und Quantität der Fruchtbarkeit der Fall zu sein. Schon der französische Positivist AUGUSTE COMTEs hat mit vollem Recht auf diese Zweiseitigkeit der Frauenbewegung aufmerksam gemacht und die Jesuiten, ja zum Teil die katholische Kirche überhaupt, die ja gegenüber dem Protestantismus von jeher das Recht des weiblichen Prinzips in allen menschlichen und göttlichen Dingen vertritt, haben den tieferen Zusammenhang zwischen Anfang und Ende wohl verstanden. Jede endgültige Steigerung der Berechtigungen der Frau in sozialer, politischer und ökonomischer Hinsicht muß notwendig zu einer inneren  Begrenzung der Stoßkraft all der Werte und Kräfte  führen, auf denen sich unsere gegenwärtige Zivilisation erhebt. Keine in den Grenzen geschichtlicher Variabilität liegende Veränderung des weiblichen Typus kann es ja jemals aufheben, daß die Frau als das erdenmäßigere, pflanzlichere, in allem Erleben einheitlichere und durch Instinkt, Gefühl und Liebe weit stärker als der Mann geleitete Wesen, auch das von Haus aus  konservative  Wesen ist, die Hüterin der Tradition, der Sitte aller älteren Denk- und Willensformen und die ewige Bremskraft eines nach den Zielen bloßer >Rationalität und bloßen "Fortschrittes" dahinstürzenden Zivilisations- und Kulturwagens. Zu den männlichen Exzessen in der Geschichte, sowohl zu jenen der Ideen als zu solchen der Sitten und Moden, hat die Frau, trotz ihrer gesteigerten leiblich-seelischen Plastizität, stets eine fast ans Wunderbare grenzende Ruhe und Konstanz bewahrt. Mit der schönen und ruhesamen Gelassenheit eines Baumes, neben dem Tier ihre verwickelten Sprünge machen, steht sie im Grunde ihres Seins vor der ruhelosen Dramatik der Männergeschichte - immer bedacht, die großen, einfachen Grundlagen festzuhalten, die unsere gattungsmäßige Existenz zu eigen hat. Mag darum auch der weibliche Typus, der zunächst diese Bewegung ins Rollen bringt, in einem Maße wie immer die oben genannten Wesenseigenschaften des Weibes vermissen lassen, - das ist nur eine Folge davon, daß unsere, so speezifisch männliche Kultur auch im Angriff auf sie und im Kampf gegen sie nur auf  männliche  Waffen reagiert -, so wird doch jene  vorläufige,  notwendige Mimikry [Schutzfärbung - wp] des Weibtums, vermöge der es zunächst die Schutzfarbe seines Gegners annimmt und die Genossen des virileren Typus in den Kampf vorausschickt, in dem Maße verschwinden, als die Bewegung Ausbreitung, Macht gewinnt und sich  durchsetzt;  und damit die bisherige  Schwäche  der weiblichen Position (die wie immer, so auch hier, eine Bedingung der "Mimikry" darstellt), einer stärkeren Position Platz macht. Daß, so lange die öffentlich-rechtliche  Personalität  der Frau und ihre selbständige Mitwirksamkeit an der Bestimmung der Kulturziele nicht anerkannt ist und eben darum die Werte, Aufgaben und Ziele, die unsere Kultur beherrschen, ausschließlich männliche und zwar spezifisch männliche sind, auch die sich in einem solchen System aufkämpfende Frau zunächst  männliche  Züge annehmen muß, - das ist eine ganz selbstverständliche Tatsache. Ebenso selbstverständlich aber ist, daß -  wenn  jene Bewegung sich einmal durchgesetzt hat, - und damit jene Werte, Aufgaben und Ziele selbst einen dem  Wesen  des Weibes entsprechenden Einschlag erhalten, jener Prozeß der Vermännlichung des Weibes mit all seinen üblen Folgen nachlassen und schließlich aufhören muß. Ja, ich bin der Überzeugung, daß es innerhalb der gesamten Geschichte keine einzige friedliche Bewegung gegeben hat, die eine so durchgreifende Veränderung aller menschlichen Verhältnisse vollziehen wird, wie eine siegreiche Frauenbewegung. Die Befreiung des dritten Standes durch die französische Revolution und die langsame Emanzipation des vierten Standes in der modernen Arbeiterbewegung, in deren bloßer Gefolgschaft sich gegenwärtig noch ein Hauptteil der Frauenbewegung, nämlich die Arbeiterinnenbewegung befindet, werden, ihrer dauernden Wirkung auf die Menschheit nach betrachtet, gegenüber der Bedeutung der Frauenbewegung, -  wenn  sie siegreich ist, ins Bedeutunslose verschwinden. Dieser Bewegung Sinn aber wird in jeder Hinsicht eine gewaltige Beimischung  konservierender, sammelnder, erhaltender  und alle jene Werte neu stützender Kräftesein, über welche der anarchische, revolutionäre, zersplitternde Geist der Neuzeit wie über etwas "Veraltetes" hinwegzuschreiten gewohnt war. Gewiß! Die männliche Autorität z. B. über die Frau wird sich verringern; aber das  Prinzip  der Autorität wird in jeder Hinsicht, in Staat, Kirche, Gemeinde, Schule gewaltig gewinnen. Der Inhalt jener besonderen Tradition, der "Gehorsam des Weibes" fordert, wird mehr und mehr verschwinden, aber das  Prinzip  der Tradition in bezug auf alle anderen nur denkbaren Inhalte, Sitte, Recht, Religion, Kunst, Wissenschaft usw. wird gegenüber dem der "Vernunft" gewaltig gewinnen. Die Frau wird in gewissem Sinne einen rationelleren Typus repräsentieren; aber in dem, was die Philosophie der Neuzeit bisher "Vernunft" genannt hat, um dessen Gehalt an Ideen und Prinzipien als letztes Maß über alle menschlichen Dinge aufzuhängen, wird selbst eine gewaltige Bedeutungsverschiebung eintreten; und jener neue Begriff von der "Vernunft" - oder ws dann an die Stelle jenes Wortes gesetzt wird, - wird die ewigen Züge des Wesens des weiblichen Geistes, wird auch die Konstituentien des weiblichen Bewußtseins in sich aufnehmen. Mit Recht hat GEORG SIMMEL darauf hingewiesen, daß alle Grundbegriffe unserer neueren Philosophie (hier als Ausdruck der neueren Kultur betrachtet), als da sind "Person", "Vernunft", "Wahrheit", "Gutes" usw., den sonderbaren Fehler in sich tragen, sich zwar als "allgemein menschliche" auszugeben und so auch den Anspruch zu erheben, die Maße für die andere Hälfte der Menschheit und deren edelsten Kräfte mit zu umspannen, daß sie hierbei aber faktisch nur spezifisch  männliche  Werte verkörpern, so daß die Frau, die "allgemein menschlich" sein will, eo ipso [wie selbstverständlich - wp] hierdurch "männlicher" wird. Gewiß gibt es noch eine logische, ethische und ästhetische Gesetzlichkeit, die das  Wesen  des Geistes und des betreffenden Gegenstandes und Wertgebietes selbst ausdrückt und darum für beide Geschlechter  ein und dieselbe  ist. Aber diese gibt es nur so weit, wie wir auf die subjektiven Anlagen und Kräfte der Wesen und ihre Verschiedenheit, für die sie in Geltung steht und auf die  bezogen  jene pure Sachgesetzlichkeit erst zur sogenannten "Norm des richtigen Verhaltens" werden kann, keinerlei Rücksicht nehmen. Das "Denken" von Mann und Weib z. B. kann durchaus konstitutiv verschieden sein, ohne daß die Einheit der Gesetzmäßigkeit, die im Gedachten als solchem gründet, darunter leidet. Die logischen "Normen" und erst recht "Methoden", deren richtige Fassung die Erkenntnis von  beidem  voraussetzt, jener idealen Gesetze der Gegenstände  und  jener Denkkonstitution, müssen also bereits für beide Geschlechter  verschieden  ausfallen, sofern sie "richtig" sein sollen. Allen Disziplinen der Philosophie und Psychologie harrt gegenwärtig die noch kaum angegriffene Aufgabe, die Konstituentien des weiblichen und männlichen Bewußtseins in allen seinen Aktrichtungen aufzusuchen und erst aufgrund dieser Erkenntnis die geistigen Betätigungsfelder für beide Geschlechter aufzufinden. Die rohe Vorstellung des 18. Jahrhunderts, z. B. J. J. ROUSSEAUs, daß die seelischen Differenzen von Mann und Weib ausschließlich Folgen der leiblichen und biologischen Funktionsunterschiede der Geschlechter seien, sonst aber sie beide je dasselbe Exemplar "vernünftige Seele" besäßen, muß mit Stumpf und Stil ausgerottet werden. Die geschlechtliche Differenz ist geistig ebenso  ursprünglich,  wie sie es leiblich und biologisch ist. Die differentielle Geschlechtspsychologie, die für die unteren seelischen Funktionen, Empfindlichkeit, Reizbarkeit, Modalitäten der Aufmerksamkeit, des Interesses, Gedächtnis, Erinnerung, Phantasie gegenwärtig einen gewissen Grad der Ausbildung erlangt hat, wird sich daher nunmehr vor allem den  höheren  und  höchsten  Funktionen des kulturbildenden Geistes zuzuwenden haben. Überall wird die präzise Untersuchung hier zeigen, daß der Geschlechtsunterschied bis in die tiefsten Wurzeln des Geistes selbst zurückreicht, daß z. B. der weibliche Begriff, das weibliche Urteil, das weibliche Wertfühlen grundverschieden gebaut sind. Die Art, wie dem seelischen Ich von Mann und Weib der eigene Leib gegeben ist (z. B. die Distanzierung in beiden Fällen) enthält sicher einen unüberbrückbaren Wesensunterschied. Im Verhältnis zur Art, wie die Frau konstitutiv ihren eigenen Leib erlebt, -  wie  sie sich in ihm fühlt und weiß - führt der Mann den seinen so distanziert mit sich, wie wenn es ein Hündchen an der Leine wäre. Doch das ist nur ein Bild; und es bedarf einer hier nicht anzustellenden genauen Erforschung aller in Frage kommenden Tatsachen. Ich halte die hier für jede Erkenntnis des Richtigen gegebene Grundschwierigkeit, daß alle unsere intellektuellen  Bilder  von Mann und Weib selbst wieder durch männliche  oder  weibliche Geistesfunktionen aufgebaut sind - nicht aber durch solche, die unabhängig und über dem Geschlechtsgegensatz Bestand und Recht hätten, für äußerst groß. Nur darum ist sie keine unüberwindliche, weil in den konkreten Individuen beide wesensverschiedene Arten geistiger Funktionen sich in den mannigfachsten Verbindungen zusammen und durchdrungen finden. Nicht die Häufung empirisch-statistischer Untersuchungen, die auf die eigentümliche Zusammensetzung aus Weiblichen und Männlichen im untersuchten Material keine Rücksicht nehmen können, sondern allein die Methode der  Wesensbetrachtung,  angestellt vor allem von solchen Individuen, die entweder mit einem gewissen Gleichgewicht beider Funktionsarten ausgerüstet noch eines  Überblicks  über beide und eines Vergleichs beider fähig sind oder doch ein besonderes Maß von Nachlebensfähigkeit für die Funktionen des anderen Geschlechts besitzen, dürfte hier Erfolge versprechen. Die letzte Fundierung kann diese Betrachtungsart freilich nur durch die philosophische Entscheidung darüber erlangen, ob weiblich-männlich nur ein induktiv-empirischer Begriffsunterschied ist oder aber ein schon mit dem Wesen des Lebendigen selbst gesetzter  Wesensunterschied  gewisser Elementarphänomene, die durch die Differenz des Physischen und Psychischen  hindurchreichen  und deren faktisches Erscheinen an irgend einem individualisierten Träger (Individuum, Organ, Gewebe, Zelle, Zellkern usw.) erst entscheiden dafür ist, ob dieses als männlich oder als weiblich bestimmt wird. So unendlich schwierig diese Entscheidung und die Isolierung jener Elementarphänomene für die Anschauung in der Überfülle des Materials sein mag - wir halten den Weg nicht für aussichtslos. Schon das ist als ein großer Fortschritt auf dem Weg - wenigstens bis zur Schwelle dieses Problems - anzusehen, daß wie die ganze Tiefe des Geschlechtsunterschieds - und zwar ohne die voreilige Wertung, bei der man immer schon die spezifischen Werte des einen Geschlechts voraussetzt - wieder zu sehen beginnen; ja daß wir immer mehr und zwar in der Wissenschaft  und  im allgemeinen Kulturleben gleichmäßig zur Anschauung tendieren, daß dieser Unterschied bis in die metaphysischen Wurzeln aller endlichen belebten und beseelten Existenz zurückreicht. Innerhalb der Biologie wird die bis vor einem Jahrzehnt herrschende Lehre, daß der Geschlechtsunterschied eine relativ späte und äußerliche Anpassungserscheinung des Lebens und seiner historischen Entfaltung sei, in immer stärkerem Maße ihrer tatsächlichen Scheinstützen beraubt. Ja, die alte aristotelische Lehre, daß alles Lebendig entweder männlich oder weiblich sei - wenn wir den Unterschied auch noch nicht überall feststellen können - hat wieder einige Vertreter in der positiven Biologie gefunden. (1) Auch an diese biologischen Ergebnisse wird die philosophische Wesensuntersuchung anzuknüpfen haben. Analog verliert in der Sphäre der Geisteswissenschaften die ältere, schnell fertige Urteilsrichtung, die z. B. die Verschiedenheiten des weiblichen Ehrgefühls, desgleichen des Schamgefühls vom männlichen auf bloß historisch-zeitgeschichtliche, ökonomische und politische Ursachen zurückleiten will (Suggestion durch den Mann im Dienste seiner Interessen), mit jedem Tag mehr an Geltung.
LITERATUR - Max Scheler, Zum Sinn der Frauenbewegung, Abhandlungen und Aufsätze II, Leipzig 1915
    Anmerkungen
    1) Ich nenne hier FRANZ THEODOR DOFLEIN und in ganz anderer Richtung WILHELM FLIESS.