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RICHARD WAHLE
Eine Verteidigung der Willensfreiheit
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"Der Determinismus ist ein Konstutitionalismus, worin der Monarch, der Wille, nur die Beschlüsse einer Majorität einer Körperschaft, der Motive, anzunehmen hat und keine Initiative besitzt. Der Indeterminismus gleich vielleicht einer autokratischen Regierungsform, bei welcher es üblich ist, - aber nicht notwendig und nicht die Regel - Wohlmeinungen einer Korporation einzuholen, um die sich der Monarch häufig nicht kümmert."

"Man meint, der  Zielwert  sei die Bestimmungsgröße für den Willen. Wie aber, fragen wir, wenn der Wille selbst einen neuen Wert kreirt und selbst das Ziel zum wertvollen macht? Wenn er,  frei nach eigenen Prinzipien,  ein Ziel  will,  dann wird es als gewollt erscheinen und sein Wert liegt nun in diesem  Gewollt werden.  Der Gegenstand würde also nicht deshalb gewollt, weil er in sich wertvoll ist, sondern, weil der souverände Wille ihn zum Ziel macht, wird er wertvoll - d. h. es treibt uns zu seiner Realisierung."

Die Lustempfindungen ansich sind inkommensurabel. Wenn man sagen wollte, in der höheren Freude eine Art erscheint die geringere Freude der anderen Art eingeschlossen, so heißt das mit  logischen  Möglichkeiten rechnen, wo es sich einzig darum handelt, einen psychologischen Blick zu tun. Die niedrige Lust - sogar diejenige der gleichen Art - ist in der höheren nicht eingeschlossen; die höhere ist kein additiver oder multiplikativer Überschuß über die geringere, sie ist auch keine gesteigerte Aktion, die durch das schwächere Stadium hindurchgegangen wäre, sondern sie ist etwas ganz neues, andersartiges. Daß ich beide untereinander vergleiche, kommt nur daher, daß ich beide wollen und  in praxi  eine aufgeben kann, die durch eine andere verdrängt wurde."

"Praktisch bildet nicht so sehr das Streben nach einem positiven Lustgenuß das Ziel, als vielmehr das Entrinnen aus der Unlust. Vor dem grandiosen Sturm will man sich in einem einförmigen aber sicheren Hafen retten, man will frei sein von Wünschen, nicht das Spiel seiner Hoffnungen bleiben, sondern sich aus ihnen flüchten und vielleicht ist das häufigste Ziel der Menschen, die Verbannung der Unsicherheit, die Freiheit von Zweifel."



II. Der Motiv-Determinismus

1. Wir gehen nun zur Prüfung von Theorien über, welche die totale Abhängigkeit des Willens von gewissen der Art nach bekannten Momenten behaupten. Durch eine solche Lehre wird nicht die vage, bisher von uns behandelte, universelle Determinierung ausgesprochen, sondern sie stellt präzise, in sich determinierte Bestimmungen auf; sie ist ein Determinismus in einem speziellen, prägnanten Sinn. In diesem Abschnitt soll jene Ansicht beleuchtet werden, der zufolge jede Willensentscheidung nur einzig und allein durch jene Motive herbeigeführt werden kann, welche für einen bestimmten individuellen Charakter als die stärksten gelten. Wir halten sie für in sich völlig unklar, unhaltbar, unbewiesen. Bevor wir direkt auf sie eingehen, müssen wir zur allgmeinen Orientierung einige Bemerkungen über ihr Verhältnis zum Indeterminismus vorausschicken.

2. Jedwede Art des speziellen Determinismus gibt vor, die Elemente zu kennen, die den Willen einzig und notwendig beeinflussen: die Beeinflussung sei allgemein, ausnahmslos, wenn auch nicht immer genau nachweisbar, und schließt jede andere Möglichkeit der Influenz, jede Selbständigkeit des Willens aus. Ein Indeterminist würde vielleicht zugeben, daß der Wille  meist  von jenen Faktoren regiert wird, aber doch nicht zugeben, daß er  immer  unfrei sein muß. Solche Ausnahmen duldet das deterministische Prinzip nicht. Die Willensentscheidung kann - nach ihm -  niemals  etwas anderes sein, als die Resultierende aus  gewissen  bestimmten Kräften, z. B. Motiv und Charakter. Der Indeterminismus ist heutzutage etwas so aus der Mode Gekommenes, daß die Deterministen schon nicht einmal mehr seinen guten Sinn aufzufassen geneigt sind. - Wir wollen daher die Theorien komparativ einander gegenüberstellen.

Der Indeterminismus behauptet nicht notwendig, daß in einem gegebenen Subjekt, in einer gegebenen Welt, eine Willensentscheidung anders hätte ausfallen können, als sie eben ausfiel und als dies eben durch die Organisation des Weltganzen oder eventuell in der Präszienz [Vorherbestimmung - wp] Gottes vorherbestimmt war. Er behauptet nur, daß der Wille nicht mit gebundenen Händen dem Motivzwang - oder sonst einem deterministischen Motor - ausgeliefert war; daß er trotz der kräftigsten Motive eine  selbst gegebene Richtung einschlagen kann. Der Determinismus sagt, in einem gegebenen Fall, in einem gegebenen Gesamtsystem ist nur eine Entscheidung möglich. Der Indeterminismus ist derselben Meinung.

Der Determinismus sagt, der gleiche Charakter, in die ganz gleiche Lage der Motive, Bildung, psychischer Einflüsse, wenn auch in ein anderes Gesamtsystem, gebracht, würde sich immer gleich entscheiden müssen. Der Indeterminismus sagt: Nein! Der Wille könnte sich z. B. einmal den Motiven fügen, ein andermal seine ganze ureigene Initiative durchsetzen. Er kann zum Guten oder Bösen  seine  Spezialnatur durchsetzen.

Die Deterministen glauben, eine indeterministische Lehre negiere den Kausalverband. Nichts kann unrichtiger sein. Die Indeterministen geben ruhig den allgemeinen Weltkausalverband zu, aber dazu auch einen speziellen, nämlich, die Kausalität der Willenspotenz. Der Wille, behaupten sie, ist eine Kraft, die  nach ihrer Natur  Wirkungen hervorruft, aber diese Kraft kann  unbeeinflußt  bleiben von dem  Motivkraft.  Heißt das unwissenschaftlich reden? Gewiß nicht. Oder es hieße auch unwissenschaftlich reden, wenn man sagt: die Gravitation oder die Anziehung der Erde ist unabhängig von jeder anderen uns bekannten Kraft, unbeeinflußt durch Wärme, Elektrizität, Licht usw.

Der Indeterminismus braucht die Wissenschaft nicht zu scheuen, der ihn der Determinismus verdächtig machen möchte. Will man das im Bild ihre beiderseitigen Formeln, so kann man ein solches geben. Der Determinismus ist ein Konstutitionalismus, worin der Monarch, der Wille, nur die Beschlüsse einer Majorität einer Körperschaft, der Motive, anzunehmen hat und keine Initiative besitzt. Der Indeterminismus gleich vielleicht einer autokratischen Regierungsform, bei welcher es üblich ist, - aber nicht notwendig und nicht die Regel - Wohlmeinungen einer Korporation einzuholen, um die sich der Monarch häufig nicht kümmert.

Doch der Indeterminismus braucht keine Bildlichkeit. Im Gegenteil, er kann das schärfst ausgesprochene, klar  psychologische  Problem in sich enthalten. Dies ist in der Frage enthalten: Wenn auch nichts gewollt werden kann ohne Vorstellung des Gewollten, genügt doch die  bloße  Vorstellung eines Gegenstandes, um das Wollen anzuregen, oder kann dies nur durch  wertgeschätzte  Vorstellungen angeregt werden?

Wir sagen nicht, daß der Indeterminismus dieses Problem gelöst hat; wir wollen nur seine abhanden gekommene Würdigung restituieren. Ist es denn von vornherein klar, daß der Wille nur ein Vollzugsorgan der zwingenden Motive ist und daß er nicht ein Faktor mit eigenen Gesetzen ist, welcher ohne die Beziehung auf eine Wertschätzung der Gegenstände agiert?

Es ist ein Vorurteil, daß der Wille zwar eine Potenz  sui generis  [aus sich selbst heraus - wp] ist, aber stets nur auf Veranlassung und in der Richtung herrschender Motive wirksam wird. Mag es sein, daß der Grund seiner Tätigkeitsentfaltung oft durch "das stärkste Motiv" gebildet wird, dennoch wäre es möglich, daß er noch anderen Prinzipien unterstellt ist, gegen welche Motive machtlos sind. Das ist eine Frage, deren Berechtigung klar ist. Wenn ein Kind sähe, daß der Vater sich immer seinen Wünschen fügt, könnte es auf die deterministische Idee kommen, daß der Vater stets nur das wollen kann, wozu es ihn bestimmt. Wenn der Vater auch ganz auf seinen Willen verzichten würde, er hätte ihn doch und einmal könnte sich seine Freiheit zeigen. Ob nun auch der Wille immer nur wollen muß, was die Motive wollen, ob er nur eine Armatur gewisser Ursachen ist - oder ob er seinen eigenen Willen haben kann, in sich selbst eine (relativ) anfangskräftige Ursache ist - das ist das indeterministische Problem, das wir präziser schon dahin formulierten: Genügt eine interesselose Vorstellung oder etwas nicht Wertgeschätztes im Allgemeinen, um den Willen anzuregen? - Wir werden uns an diese Frage nicht machen, unsere Betrachtungen über die Natur des Willens werden uns darüber hinausführen. Sie stellt aber die Tiefe des indeterministischen Gedankens dar.

Wollen wir nun die Verwirrung des deterministischen Gedankengewebes darlegen.

3. Die Tatsachen, worauf die Lehren vom Motivzwang fußt, sind etwa folgende: Wollen, worunter man im Allgemeinen nicht die Absicht durchführende Aktion, sondern eine rein psychische Betätigung versteht, ist identisch mit Wählen. In der Tat bedeutet jedes Aufsuchen eines Ziels das Verlassen eines behaupteten Standpunktes, und wenn scheinbar ohne Wahl ein  einzig  vorliegender Gegenstand gewollt wird, so mußte man sich doch wählerisch entschlossen haben, den bisherigen Status aufzugeben. Auch die Willensbewegung nach einem einzig möglichen Objekt hin findet erst nach einer Überwindung der Annehmlichkeit der Ruhe statt - ist also ein Wählen zwischen Handeln und Nichthandeln. Umso mehr findet aber eine Wahl statt, wenn mehrere Vorstellungen uns zu ihrer Realisierung reizen. Die Bilder der Lust, künftigen Nutzens, Behagens usw. gaukeln um uns und wir entscheiden uns schließlich dafür, dieses oder jenes wirklich zu machen, ein Ziel zu erreichen. Die Theorie sagt nun: "Was so tendiert wird hat einen Wert für uns und eben nur dieser relative Wert der angestrebten Dingen, d. h. der objektive Wert, hat den Willen zur Wahl dieses Ziels bestimmt. Er ist ausschließlich durch die Motive determiniert." Das Wort  Motiv  wird heutzutage derartig gebraucht, daß es vielen unvernünftig erscheinen könnte, zu bezweifeln, daß die Motive den Willen bestimmen. Denn unter Motiv versteht man meist schon dasjenige, was den Willen zwingt. Um also den Zweifel am Determinismus zu begreifen, darf man unter Motiv vorurteilslos nichts anderes verstehen, als den  in sich  sachlich begründeten, wenn auch individuellen Wert eines erst vorgestellten Ziels einer Handlung. Durch Motive, also durch den Zielen inhärente Werte derselben soll der Wille notwendig bestimmt sein - sagt der Motiv-Determinismus.

4. Will man diese Behauptung näher untersuchen, so muß man festhalten, daß es dieser Theorie darauf ankommt, den Willen als Funktion von anderen Größen darzustellen;  er  soll bestimmt werden, die anderen Größen müssen insich bestimmt sein, um zur Bestimmung des zur Ergründenden dienen zu können. Wir müssen aber fragen, hat man je einen Versuch gemacht oder die Möglichkeit geprüft, nachzuweisen, daß man diese Bestimmungsgrößen rein in sich kennt, und daß nicht vielmehr in sie selbst ein Einfluß jener Größe übergegangen ist, welche man erst durch die, als selbständig vorausgesetzten, Faktoren determinieren wollte? Man meint, der  Zielwert  sei die Bestimmungsgröße für den Willen. Wie aber, fragen wir, wenn der Wille selbst einen neuen Wert kreirt und selbst das Ziel zum wertvollen macht? Wenn er,  frei nach eigenen Prinzipien,  ein Ziel  will,  dann wird es als gewollt erscheinen und sein Wert liegt nun in diesem "Gewollt werden". Der Gegenstand würde also nicht deshalb gewollt, weil er in sich wertvoll ist, sondern, weil der souverände Wille ihn zum Ziel macht, wird er wertvoll - d. h. es treibt uns zu seiner Realisierung. Unter mehreren Dingen - sagt man - wird dasjenige, welches die stärksten Reize - Motive, Werte in sich - für sich hat, über die anderen siegen und den Willen bestimmen. Nein - können wir entgegenhalten - dasjenige Ding, das der Wille aus eigener Initiative, nicht wegen seines Wertes, sondern gemäß der autonomen Willensprinzipien, zum Ziel macht,  erscheint  hinterher als das reizvollste, motivstärkste; und es muß so erscheinen, denn um seinetwillen setzen wir uns ja in Bewegung. Man glaubt meist, der Wille wird verführt, er wählt, was uns gefällt. Es kann aber auch so sein, daß der Wille sich nach eigenen Gesetzen eines Zieles bemächtigt und was er an sich zieht, das scheint dann anziehend.

5. Der Determinismus hat sich nicht von Haus aus gegen diese prinzipielle Opposition gestützt, ihr gegenüber seine Stellung nicht gesichert. Was er geleistet hat, ist mehr die begeisterte Ausführung seiner wenig fundierten Behauptung. Doch läßt es sich so ansehen, als wäre es ein Versuch, die eben hervorgehobene Zweideutigkeit der Tatsachen zugunsten der Motivwirkung, d. h. der Wirkung der objektiven Werte aufzuheben. Um das zu tun, müßte man folgenden zwei Forderungen gerecht werden.

Man müßte erstens eine Skala von  objektiven  Werten der Zielgegenstände aufstellen, welche ihr Gradationsprinzip in sich trägt, ein für allemal, so daß  vor  jeder Willensentscheidung, welche ja eben im Verdacht stehen muß, eine Präponderanz [Übergewicht - wp] nach  nicht-objektiven Prinzipien willkürlich  zu begründen, schon feststände, welches der relativ höher stehende objektive Wert ist. Und zweitens müßte man beweisen, daß stets bei den Individuen der relativ höhere Wert bei der Willensentscheidung siegt. Dann wären wissenschaftlich exakt die reinen Faktoren bestimmt, mittels derer man jede Wahl aus den Faktoren heraus determinieren, respektive  in abstracto  berechnen könnte.

Den Maßstab für eine objektive Wertskala kann man nun z. B. im Maßstab der Lust, das ein Ding bringt, suchen. Man wird aber natürlich bald finden, daß der zweiten Bedingung nicht genügt werden kann, daß es keine universelle absolute Skala gibt, sondern für jedes Individuum eine spezielle; jedem Individuum bereiten z. B. andere Dinge die höchste Lust, jedes Individuum hat nach  seinem  "Charakter" eine individuelle objektive Wertskala. Der "Charakter" darf aber notwendigerweise keine Funktion des Willens sein: Denn sonst ist die ganze Wertskala vom Willen, von seinen Prinzipien abhängig, während ja gewünscht wird, zu beweisen, daß umgekehrt  er  von den objektiven Werten abhängig ist. Wenn man also sagt, wie z. B. SCHOPENHAUER in seiner Schrift über die Freiheit des menschlichen Willens, Seite 56: "Jede Tat eines Menschen ist das notwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs" - so hat man gezwungen diesen Begriff, der nichts vom Willen in sich enthalten darf, eingeführt - und damit notgedrungen allerdings die Unklarheit des Determinismus allseitig komplettiert.

6. Wir werden also zeigen, daß eine individuelle objektive Wertskala aufzustellen unmöglich ist, daß die notwendige Einbeziehung des Moments: "menschlicher Charakter" jeden Determinismus verdirbt und daß man fast nie eine Kenntnis des Gesetzes der (als problematisch angenommenen) sogenannten siegenden Motive hatte.

Betrachten wir zuerst die Verwirrung, die das Geschenk seitens des in die Theorie eingeführten "Charakters" bildet. Ein Selbstmord des Motiv-Determinismus wäre es also - wie schon gesagt - wenn der Charakter als die individuelle Art des Wollens selbst aufgefaßt würde. Charakter muß vielmehr deterministisch allgemein definiert werden als die individuelle Art, Motive zu schätzen. Dieses Individuum z. B. schätzt den Genuß den die Aufklärung einer schwierigen Frage bereitet nicht hoch, dem anderen ist die Genuß Lebenszweck usw. Was ist nun die Ursache der individuell eigentümlichen Wertschätzung? Man sagt rasch: Gewohnheit, Übung, Erziehung erzeugen die individuelle Gleichgültigkeit oder Vorliebe  vis à vis  den Dingen. Aber wir müssen fragen: was erzeugt denn die Eigentümlichkeit, sich gerade dieser oder jener Gewohnheit hinzugeben, diese oder jene Übung zu forcieren, dieses oder jenes Erziehungsmoment auf sich wirken zu lassen? Ist es nicht vielleicht gleich anfangs der  Wille,  der nach seinem Gesetz es für sich wählt, sich eben  daran  zu gewöhnen,  darin  zu üben und zu bilden? Weiß man doch und wurde es doch von feinen Psychologen erzählt, wie schon die jüngsten verschiedenen Individuen in die  gleiche  Umgebung, Bildungssphäre gebracht, sich  Verschiedenes  für sich aussuchen, z. B. unter Dieben ehrlich bleiben, zwischen Büchern und Instrumenten Soldaten werden usw. Der Wille, den anderes determinieren soll, determiniert vielleicht aus sich nach eigenen unbekannten Gesetzen alles andere! Man wird sagen: eine solche Verschiedenheit liegt in der Organisation der menschlichen Geister, in der verschiedenen Empfänglichkeit. Nun man kann ebenso auch sagen, die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit des organisch primär unabhängigen Wollens.

7. Fragt man also - zusammenfassend - was ist denn  Charakter,  insofern er der Faktor sein soll, der die Wertschätzung mitbestimmt? so kann man keine Antwort erteilen, die klar die Eventualität ausschließt, daß der Charakter selbst die Funktion eines autokratischen Willens ist. Wird aber die ausschließende Antwort erteilt, die der Determinismus wünscht, ohne etwas dazu zu tun, so würde der allgemeine Charakter eines Menschen, als die Art, Ziele zu setzen, Dinge zu schätzen, noch lange  nicht ausreichen,  um die einzelnen Handlungen als Funktion des Charakters  zu verstehen. 

Denn  erstens  sind die Charaktere, die man im gewöhnlichen Leben unterscheidet z. B. ein ehrgeiziger, kühler, jähzorniger, gerechter, enthusiastischer Charakter, nur abstrakte Schemen, die in einem Individuum nie in ihrer einseitigen Totalität verkörpert sind. Man bezeichnet daher auch meist nur die wenigen extrem gesinnten und handelnden Menschen,  kat exochen  [schlechthin - wp], als Charaktere. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen sind Mischlinge und welcher spezielle Teil ihres Summencharakters in einem gegebenen Moment als Schätzmeister wirksam würde, ist so unbekannt, daß es völlig leer und bedeutungslos wäre, die Wahl als Funktion des individuellen Charakters  schlechthin  zu bezeichnen. Dies wäre nichts anderes als sagen: Er wählt dieses und jenes, weil er es wählt.

Zweitens:  Es ist die Klassifikation durch den "Charakter" nur eine sehr rohe, die die Menschen nur in ihren  wichtigsten, größten  Unternehmungen trifft, während die überwiegende Zahl der alltäglichen Wahlakte den Grundcharakter des Menschen, die Haupttendenz seines Lebens gar nicht tangiert.

Es wäre ganz hohl, wenn man Charakter diejenige Eigentümlichkeit nennen wollte, welche  jedwede  Wahl im Menschen mitbestimmt. Denn wie könnte man diesen Charakter in sich, seinem Wesen nach bestimmen? Man versuche doch  eine  Formel für die Mannigfaltigkeit aller Wahlakte zu finden. Es gelingt nicht. "Charakter" hieße also nicht mehr ein begrifflich, differentes, faßbares, bestimmbares Prinzip, sondern eigentlich die Summe aller Willensentscheidungen selbst. - Und wir stünden wieder vor der Weisheit: Nach seinem Charakter wählen heißt: wählen, was man eben wählt.

Drittens:  Es ändert sich der Charakter oft völlig; der Mensch verleugnet plötzlich seine jahrelangen Traditionen. Selbst die - früher skizzierte - Theorie des intelligiblen Charakters müßte die Möglichkeit zugeben, daß der intelligible Charakter das Subjekt bestimmt hat oder fortwährend bestimmt, seinen empirischen Charakter zu wechseln. Die jahrelange Beobachtung eines Menschen kann nicht darüber aufklären, ob ein bestimmtes zukünftiges Jahr nicht eine Veränderung des Charakters bringen wird, so wie man einem Kind nicht ansieht, wann und ob ihm ein Bart sprossen wird. Der Ehrgeizige vergißt in irgendeiner Epoche z. B. sein Streben und verfällt in eine schlaffe Üppigkeit usw.

Viertens:  Wie will man die unzuverlässigen, unfertigen, charakterlosen Charaktere zum determinieren gebrauchen, da schon die festen im Laufe der Epochen und Wahlen zu zerfließen drohen.

8. So traurig sieht es also aus mit jenem Charakterelement, das dazu benutzt werden soll, die Willensdeterminierung zu begründen. Es ist gewiß überflüssig, hervorzuheben, daß dieser individuelle Charakter nicht zu verwechseln ist mit dem Charakter der gesamten Weltorganisation, welcher natürlich jede Willensentscheidung determiniert, aber ein dunkles Produkt von außermenschlichen, z. B. göttlichen Faktoren sein könnte. Der "menschliche Charakter", der als Bestimmungsfaktor des Willens angesprochen wurde, soll etwas Klares sein; aber, wie wir gesehen haben, ist er seinem Wesen nach so unbestimmt, daß er selbst vielleicht eine Funktion des Willens, und seine Tätigkeit vom Willen schon infiziert sein kann und er ist außerdem viel zu extrem prononziert [betont - wp], um  alle  Willensentscheidungen von mittlerer Wichtigkeit verständlich zu machen, ist beständig variabel, ist großen Umwälzungen ausgesetzt und der Mensch wäre ein Produkt aus sehr vielen mittelstarken Partialcharakteren. Man ist gezwungen, sich scholastisch lächerlich zu machen, indem man alle Wahlakte vage begründet durch die "Fähigkeit zu den Wahlakten". - Mittels einer solchen Größe, die ein Muster von unfaßbarer, zerfließender Größe ist, die vielleicht selbst geradezu nur eine Erscheinung des wechselnden Wollens ist, kann man das Wollen nicht determinieren.

9. Wir hatten früher gesagt, man müsse, um eine Determinierung des Willens nachzuweisen, klar, wenn auch abstrakt, die ihn bestimmenden Größen aufzeigen. Wenn es die dinglichen Werte sein sollen, so müßten sie nach ihrer Kraft, übereinander bei Konflikten zu siegen, geordnet werden, eine Kraftskala müßte, in sich ihr Prinzip tragend, aufgebaut werden. Aber es stellte sich sogleich heraus, daß für jedes Individuum ein besonderer "Charakter" den dinglichen Werten erst ihre relative Superiorität [Vorherrschaft - wp] verleiht. An eine universell gültige objektive Skala war nicht zu denken, höchstens an eine individuell objektive, d. h. an eine charaktermäßig objektive. Nun haben uns aber unsere Betrachtungen gelehrt, daß "Charakter" ein völlig unbestimmtes Gedankending ist, daß die Charakterrolle im Determinismus keine glänzende zu nennen ist, daß er vielleicht nichts anderes, als die Art der individuellen Willkür ist. Demnach teilt er entweder seine Unbestimmtheit der ganzen durch ihn zu bestimmenden Skala mit, macht auch sie unergründlich oder die ganze Skala ist eine Dokumentierung der individuellen  Willkür. 

Es liegen z. B. die Dinge  a, b, c, d  miteinander in Konflikt, jedes umgaukelt den Willen mit seinen Reizen und sucht ihn zur Wahl zu bestimmen. Ist es nun nicht der den Dingen inhärente Wert, der die Entscheidung determiniert, so ist es der Eigensinn des Willens der ein Ding unter  a, b, c, d  zum Ziel erhebt. Die Deterministen sagen, der inhärente Wert sei determinierend; aber da es klar ist, daß  ein  Individuum, z. B.  b,  das  andere  Individuum  d  wählen wird, so kann der Wert kein absoluter sein; der Charakter des einen Individuums erblickt für sich in  b,  der des anderen in  d  den größten Wert. Wenn man nun nicht anzugeben weiß, welches das Prinzip des Charakters ist, so weiß man auch nicht, was das Prinzip der Wertschätzung ist, und was die  ratio  der Wertskala bildet. Muß man es dazu noch offen lassen, ob nicht die Ureigenart des Wollens selbst der Charakter ist, so muß man es auch offen lassen, ob nicht die Zielbestimmung reine Willkür ist.

10. Ungeachtet nun des Umstands, daß die Einführung "Charakter" die theoretische Brauchbarkeit der "Motive", d. h. "objektiven Werte" verdirbt, wollen wir doch noch zeigen, daß es gar keine Möglichkeit gibt, eine objektive Gradation einzuführen.

Das Prinzip derselben könnte entweder einerseits in den Objekten selbst, in ihrer Vorstellung und Erkenntnis oder andererseits in  subjektiven  Reaktionen darauf liegen, also - da ja der Wille als autonomner Zielbildner und die Skalenwillkürlichkeit eben nach den Deterministen ausgeschlossen bleiben soll - nur mehr innerhalb der Gefühle, bei Lust und Unlust gesucht werden.

Es ist einleuchtend, daß im Objekt selbst nichts zu finden ist, was zu einer Skala für objektive Zielwerte tauglich wäre. Sollte es die Größe, Reichhaltigkeit, Dauerhaftigkeit sein, oder vielleicht die Schwierigkeit der Anschaffung, so würde uns dieses und Ähnliches bei der vergleichenden Wertschätzung im Stich lassen, sobald es sich um eine Entscheidung zwischen physischen und psychischen Dingen, wie Gedankenkraft, Gedankengenüsse, Seelenruhe usw. handelt. Bleibt also nur Lust und Unlust, Freude und Schmerz zur Abstufung der Werte übrig.

Wir halten auch diese Moment für dazu untauglich.

Da wir nicht  ex professo  [professionell - wp] über Lust und Unlust hier zu handeln haben, so wird man uns Kürze verzeihen. Wir wollen also voraussetzen, daß es nichts Gleichgültiges gibt und wenn es auch in sich etwas Gleichgültiges gäbe, so ist es relativ schlechter, als Lust und besser als Unlust. Doch vielleicht gibt es manche, denen Gleichgültigkeit als das Schlechteste erscheint. - Wir wollen auch anerkennen, daß man von ARISTIPP bis FECHNER die Schätzung der Ziele nach der Lust, die sie gewähren, verfeinert hat. Man weiß, daß gegenwärtige Lust und Unlust nicht nur mit gegenwärtigen Gefühlen, sondern auch mit der Möglichkeit, in Zukunft solche zu erlangen, in Komparation gebracht werden muß. Man schätzt die Lust an geistigen Erlebnissen sehr hoch ein und ein Hedoniker muß kein Egoist sein, sondern kann Lust am Wohltun als höchste Lust anerkennen. Nichtsdestoweniger können wir die Lust nicht als Maßstab der Werte akzeptieren, weil die Lustempfindungen untereinander  inkomparabel  sind.

11. Wenn man eine diesbezügliche Erwägung anstellt, so wird man finden, daß verschiedene Lustempfindungen nur dadurch vergleichbar sind, daß der Wille die eine der anderen vorzieht; nichts anderes ist das  tertium comparationis  [ein gemeinsames Drittes im Vergleich - wp], als die Beziehung auf den Willen. Die Lustempfindungen ansich sind inkommensurabel. Man bedenke, daß die Lustempfindungen nicht isoliert erscheinen, sondern stets  an  den Dingen, die Lust bereiten; diese Dinge, in sich  verschieden,  machen durch ihre Union mit ihrer Lust, diese unvergleichbar mit der Lust im verschiedenen Ding. Zum Beispiel: Lust an einem lauen Bad und Lust an einer Entdeckung; es erscheint nicht das Bad, die Entdeckung und die beiden Lustempfindungen getrennt, sondern es erscheint das Bad als lustbereitend, wie die Entdeckung lustbereitend. Es gibt ein geliebtes Bad und eine geliebte Entdeckung - oder man kann sagen es erscheint eine Badfreude und eine Entdeckungsfreude und die Freuden sind durch ihre Einheit mit dem jeweilig verschiedenen Inhalt selbst verschieden. Gerade nur das Wählen selbst, aus unbekannten Tiefen hervorgreifend, verbindet die beiden fraglichen Lustempfindungen.

Wenn man sagen wollte, in der höheren Freude eine Art erscheint die geringere Freude der anderen Art eingeschlossen, so heißt das mit  logischen  Möglichkeiten rechnen, wo es sich einzig darum handelt, einen psychologischen Blick zu tun.

Die niedrige Lust - sogar diejenige der gleichen Art - ist in der höheren nicht eingeschlossen; die höhere ist kein additiver oder multiplikativer Überschuß über die geringere, sie ist auch keine gesteigerte Aktion, die durch das schwächere Stadium hindurchgegangen wäre, sondern sie ist etwas ganz neues, andersartiges. Daß ich beide untereinander vergleiche, kommt nur daher, daß ich beide wollen und  in praxi  eine aufgeben kann, die durch eine andere verdrängt wurde. Die Chemie mißt die Affinität der sich verbindenden Körper durch die Wärme, die bei der Verbindung frei wird. Man kann die Lust nicht nach einem inneren Wert vergleichen, sondern nur durch die freiwerdende Tat des Wählens.

12. Indem wir in Details bezüglich der Unvergleichbarkeit eingehen, machen wir noch geltend:  Lust  und  Unlust  sind vollkommen fremdartig zueinander, nur das Fliehen des Menschen von dieser zu jener macht sie zu einem Relationspaar. - Ferner, die  moralisch wertvolle,  edle Lust hat nichts als Vergleichspunkt gemein mit der unverdienstlichen Lust: z. B. die Liebe einer Mutter zum Leben ihres Kindes nichts mit der Liebe am eigenen Leben. Zyniker und edle allzu demütige Menschen sind zwar oft darin eines Sinnes, daß jede Liebe, auch die selbstlose, altruistische nur eine von egoistischer Art ist. Die Mutter beispielsweise wünscht  sich  die Freude anzutun, ihr Kind am Leben zu erhalten und für diese egoistische Freude opfert sie vielleicht ihre Gesundheit oder ihr Leben. Falls dies egoistisch wäre, wäre es total inkommensurabel mit jeder anderen egoistischen Lust. Denn man bedenke nur: die Mutter schätzt den Genuß des Lebens, (sonst würde sie ja ihrem Kind denselben nicht bereiten wollen,) gibt aber den gesamten, reichen  Genuß selbst  für den einen  Gedanken  auf, daß ein anderer diesen Genuß haben wird. Man wird also doch zugeben müssen, daß das eine eigenartige, unvergleichliche Lust ist, die sich an einen bloßen  Gedanken  bezüglich einer  fremden  Lust so stark ansetzen kann, daß sie alle  eigene, jener gleiche Lust  aus dem Feld schlägt, die ja im regen, lebendigen Selbstgenießen wirklich erzeugt werden könnte. Das würde wohl eine aparte, mit der gewöhnlichen Lust inkommensurable Lust sein, die alles zur Lust Erklärte nicht regardiert [berücksichtigt - wp] und nur das Genießen des Aufgegebenen durch einen anderen respektiert. Es zeigen übrigens psychologische, metaphysische Untersuchungen, daß die altruistische Freude ganz primärer Natur ist.

Es ist also die edle Lust unvergleichbar mit dem eigenen selbstischen Genießen.

Keine Ethik, die auf Lustprinzipien aufgebaut ist, könnte bei folgendem typischen Dilemma einen Ausschlag zum Edlen fordern: Es könnte jemand einerseits durch eine Handlung sich selbst das Maß der Lust von  50  und dabei noch der ganzen Menschheit, für jeden einzelnen Menschen, Lust im Maß von  20  verschaffen; oder andererseits er könnte durch eine andere Handlung sich  nur  allein Lust im Maß von  200  verschaffen. In einem Fall bereitet er  50  eigene + Millionen mal  20  fremde Lust, im andern Fall sich allein  200  eigene Lust. Das Bereiten eigener Lust und das Bereiten fremder Lust sind durch kein Kritierum komparabel und die Gesamtsumme der Lust ist so wenig entscheidend, daß wir überzeugt sind, die meisten Menschen würden sich für das relative geringe Plus an eigener Lust aussprechen (z. B. bei einer Entdeckung eines allgemein nützlichen Heilmittels, dessen Geheimhaltung große teure Einzelkuren ermöglichte). Zwischen Freude an der Nächstenliebe und Freude an der Selbstliebe, an Menschenförderung und seinem eigenen Wohlbefinden gibt es keine Beziehung außer der faktischen Verdrängung durcheinander.

13. Es sei uns hier die Bemerkung nicht übelgenommen, daß der Satz "alle Menschen streben nach Lust" - abgesehen von seiner Unbestimmtheit betreffs der Art der Lust - so banal er zu sein scheint, ziemlich falsch ist. Dieser Ausspruch gehört zu jenen Sätzen, die man so leicht akzeptiert, weil man das konträre Gegenteil derselben sicher verwirft, hier also den Satz: Alle Menschen streben nach Unlust. In Wahrheit streben die Menschen aber nicht so sehr nach Lust, als nach einer Aufhebung und Abwesenheit der Unlust. Gewiß wird niemand endgültig Lust verschmähen, obgleich die weltliche Lust von vielen gering geschätzt und gemieden wird. Aber praktisch bildet nicht so sehr das Streben nach einem positiven Lustgenuß das Ziel, als vielmehr das Entrinnen aus der Unlust. Vor dem grandiosen Sturm will man sich in einem einförmigen aber sicheren Hafen retten, man will frei sein von Wünschen, nicht das Spiel seiner Hoffnungen bleiben, sondern sich aus ihnen flüchten und vielleicht ist das häufigste Ziel der Menschen, die Verbannung der Unsicherheit, die Freiheit von Zweifel.

14. Man sagt, man könne die Lusterträge nicht mathematisch abschätzen. Es ist wahr, man kann sie nicht durch Meter und Gramm abschätzen, aber eine fixe Vergleichsskala muß man haben, wenn man den Lüsten im Konflikt, in sich, eine abgestufte Kraft gegenüber dem Willen zuschreiben zu können glaubt.

Man sagt, diese Skala sei ein Ideal. Dann möge man warten, bis man sich dem Ideal genähert hat, bevor man einen Motiv-Determinismus proklamiert.

Wie lernt man denn die gewöhnliche Abstufung der Motivschätzung kennen und üben? Durch Erfahrung, Überlegung, durch Gefühl - sagt man - gewinnt jeder seine Manier des Abschätzens. Und wie, wenn wir noch hinzufügen würden: und durch den autonomen Willen, der die Überlegung und das Gefühl erst reguliert.

Hätte man selbst eine Skala, dann müßte man noch die allgemeinen Gesetze aufstellen, die den Gebrauch derselben modifizieren. Denn z. B. nach langem Genuß einer hohen mächtigen Lust ist nicht deren Fortsetzung, sondern eine geringere Lust, vielleicht gar eine kleine Neckerei durch einen Zufall das Erwünschtere. Allgemein gesprochen, im Zusammenhang der Lüste verliert jede ihren Skalenwert und erhält einen sukzessions-relativen Koeffizienten, der neue Werte erzeugt. Und hat diesen schon jemand gerechnet? Nein, alle solche eventuellen Gesetzmäßigkeiten sind kaum bedacht, noch weniger ergründet.

15. Diese Grundskala nebst ihren Modifikationsformeln müßte aber die Minima an Lust, die sich dem theoretisch einzuführenden Nullpunkt der Lust, der Gleichgültigkeit, nähern, besonders berücksichtigen. Denn gerade auf diesem Gebiet liegen die meisten Gelegenheiten zu Entscheidungsfragen. Die Lust am Leben überhaupt, an Gesundheit, an behaglichem Genuß, an Ehre, an aufregender Lust, Lust am Wohltun, solche Dinge dürften sich - natürlich  in concreto  nur gemäß dem, wissenschaftlich wertlosen, "Charakter", - so passabel in eine Skala bringen lassen; aber solche rohe Klassifikationen und Gradationen sind doch unbrauchbar gegenüber dem fortwährenden Entscheiden in den minder wichtigen Tagesfragen, der Fragen der Stunde und Minute. Gerade, wenn die Wahl zwischen "fast Gleichwertigem" getroffen werden soll, wobei die Menschen am längsten zaudern und am weitesten voneinander abweichen, dann müßte der Determinismus seine Skala reden lassen. Aber er ist ohnmächtig; wie soll er die vergleichbaren Kraftwerte der ähnlichen und minimalen Ziele gewinnen, wenn er nicht einmal zwischen edler und gemeiner Lust, nicht zwischen sogenannter hoher und niederer Lust derselben Art, nicht zwischen Lust und Unlust Vergleiche ziehen kann. Und inmitten dieser Unordnung treibt nun der Charakter sein Unwesen und Alles dreht sich im tollsten Wirbel.

16. So ist die  Lehre  beschaffen, die es unternimmt, zu leugnen, daß der Wille frei, nach eigenen, wenn auch unbekannten Gesetzen, wählt und welche die Faktoren anzugeben sich brüstet, die ihn determinieren.

Wie die Lehre vom stärksten Motiv, so sind auch ihre  Beweise.  Da wird geltend gemacht: Das Kausalitätsgesetz, die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung! Die Anwendung eines allgemein in der Natur herrschenden Kausalitätsgesetzes ließe man sich auch auf psychischem Gebiet gern gefallen, aber wo ist es, wie heißt es? Daß Wirkungen Ursachen haben, glauben auch diejenigen, die die Gnade für eine Mitursache des Wollens halten, oder einräumen, daß sie die Ursachen der Willensentscheidungen nicht kennen. Solche allgemeine Gesetze sind nicht gerade Beweise für einen Motiv-Determinismus. Ein Beweis für einen beliebigen Determinismus wäre ein Kausalgesetz nur dann, wenn dasselbe lauten würde: "Weiß man die Ursachen, die Gesetze einer Erscheinung nicht, so sind mit Sicherheit diejenigen Faktoren als Ursachen anzusehen, welche von einer voreiligen Phantasie als Ursachen angegeben werden." Solange dieser Satz aber nicht das Kausalitätsgesetz ist, würde man noch hoffen dürfen, eine gründlichere Kenntnis von der Wirksamkeit des Willens zu erlangen.

17. Man kann ferner diejenigen Tatsachen, die zur Aufstellung des Motiv-Determinismmus führten, auch als Beweis für denselben gelten zu machen versuchen, nämlich: Die gleichförmige Verbindung zwischen gewissen Erscheinungen und darauf erfolgenden Handlungen z. B. zwischen einem möglichen Geldgewinn und der Anstrengung des Erwerbens. Dadurch erscheint man berechtigt, erstere als Beweggründe anzusehen. Man weist ferner auf die große Regelmäßigkeit im menschlichen Handeln hin, anerkannt bei allen Völkern und zu allen Zeiten, wie sie HUME zu diesem Zweck hervorhebt. - Wir wollen zugeben, daß man aus dem  post hoc  [hernach - wp] auf ein  propter hoc  [deswegen - wp] schließen darf; wir wollen nicht hervorheben, daß es sein Gesetz des Willens in sich sein könnte, jene regelmäßige Entscheidung aus  eigenen  Prinzipien zu treffen, die gerade auf ein bestimmtes gleichbleibendes Objekt immer hinzielt, wodurch der Schein eines Objektzwangs entstände, sondern annehmen, daß das Motiv, der inhärente Wert des Gegenstandes, den Willen bestimmt, denselben sich zum Ziel zu machen. Aber es ist klar, daß diese Regelmäßigkeit unendlich oft durchbrochen wird. Man erklärt dies durch das geheime Wirken von Gegenmotiven. Und die dadurch unmöglich gemachte Vorhersagung glaubt man doch liefern zu können, würde man nur  alle  Motive und deren Wirksamkeit kennen. Diese ganze Denkweise ist höchst unmethodisch. Man hat doch den Motiv-Determinismus nicht aus einem evidenten oder sonst sicheren Satz deduziert, sondern ihn nur aus vielen Einzelfällen erschlossen; findet man nun zahlreiche entgegenstehende Fälle, so ist man nicht berechtigt, hier ohne weiteres die Wirksamkeit des ersten Gesetzes in einem verschleierten Zustand anzunehmen, sondern muß es offen lassen, ob nicht noch ein zweites, heterogenes Gesetz sich geltend macht. Man muß es offen lassen, daß der Wille - wenn er auch häufig durch Motive determiniert würde - doch auch indeterministisch seinen eigenen Gesetzen gehorchen kann, derart, daß das sonst allerstärkste Motiv machtlos von ihm abprallt. Der Indeterminismus könnte die enorme Zahl der Ausnahmen von den nach der Motivkenntnis erwarteten Entscheidungen für sich ins Feld führen, sowie die Tatsache, daß unsere Menschenkenntnis eine so unvollkommene ist. - Man muß auch staunen, daß gerade sie als taugliche Stütze einer durchsichtigen Determinierung dienen soll. Gerade nur für die gröbsten Fälle reicht die subtilste Menschenkenntnis und die Weisheit der Menge aus. Der Ausgang jeder wirklichen Wahl zwischen mehreren ähnlichwertigen Dingen ist unvorhersagbar und nicht nur für den fremden Beobachter, sondern für den zur Wahl Gezwungenen selbst. Für Menschenkenner halten sich meist jene Menschen, die als Richter, Ärzte oder sonst in ihrem Leben viel Niederträchtiges zu sehen Gelegenheit hatten und nun bei jedem Menschen auf das Ärgste gefaßt sind. Solche sind ganz einseitig im Irrtum befangen. Die Menschenkenntnis ist eigentlich die Kunst aus den Mienen, Worten und Handlungen, trotz der darin gelegenen absichtlichen Irreführung, auf die wahren Tendenzen zu schließen. Aber Handlungen vorherzusagen weiß der Praktiker, wie die psychologische Theorie, in so seltenen Fällen, daß es unglaublich erscheint, wie man daraus auf allgemeine Determinierungsgesetze schließen will. Man wird im Gegenteil finden, daß amn wenig bedeutende Handlungen eines Nebenmenschen erlebt, über die man nicht verwundert wäre; so kann man bei jedem Selbstmord hören, daß die Leute eine solche Tat von jedem anderen eher erwartet hätten, als eben von diesem Selbstmörder. Woher nimmt man also bei dieser Unkenntnis den Mut zu der Behauptung, daß jede Abweichung von einem Motiveinfluß auf unbekannte Motive zurückzuführen ist und  nicht  auf einen spontanen Willensakt? Die theoretisch formulierte Möglichkeit der Vorhersagung ist nichts, als eine Folge aus der übereilten Annahme, einzig in den Motiven die Faktoren der Willensentscheidung erblicken zu dürfen.

Die Regelmäßigkeit menschlicher Handlungen, die bei der Erziehung und sonstiger Beeinflussung erhofft und in Rechnung gezogen wird, tangiert nicht sehr die Behauptungen des Indeterminismus. Dieser leugnet ja keine akquirierte [erworbene - wp] Gewohnheit, Reflexe und instinktive Triebe. Wo diese also, wie bei so vielen Begehrungen und Befürchtungen, mitwirken, wird man eine Regelmäßigkeit des Handelns eintreten sehen. Er leugnet ferner nicht, daß der eventuell freie Wille, wenn auch nach unbekannten Gesetzen, sich doch gleichmäßig entscheidet. Nur, meint er, sei die Gleichmäßigkeit nicht hinreichend, um zu schließen, daß die Objekte, denen er sich zuwendet, es waren, die ihn zu sich zwangen, indem er die mächtigsten in außerordentlich vielen Fällen verächtlich ignoriert.

18. Heutzutage soll die Statistik meist den Beweis des Motivzwanges durch die Regelmäßigkeit der Handlungen erbringen. Aber auch sie schließt nicht aus, daß eventuell neben den Motiven der freie Wille als ursächlich eingreifend angesehen wird; im Gegenteil, man könnte sagen, daß sie es beweist. Bei gewissen gleichen äußeren Verhältnissen soll stets die relativ gleiche Menge der Menschen ihrem Einfluß unterliegen, z. B. Armut erzeugt Verbrecher, steigende Armut eine steigende Verbrecherzahl, die Steigerung der Leichtigkeit des Auskommens soll eine gesteigerte Ehefrequenz hervorbringen usw. Wenn wir nun zugeben, daß diese äußeren Verhältnisse die zwingenden Motive wären - so ist zu bedenken, daß nicht alle Menschen, die den äußeren Verhältnissen ausgesetzt waren, ihrem Einfluß unterlagen; diejenigen also, die davon frei blieben, diese hätten durch ihren Willen selbst die Motive überwunden. Die Statistik hätte sonach die Gleichförmigkeit der absolut spontanen Willensakte bewiesen. Der regelmäßigen Zahl der durch Motive Beherrschten entspräche eine, durch Substraktion dieser Zahl von der Gesamtzahl der dem Motiv Ausgesetzten, gewonnene Zahl derer, in denen der Wille  frei  war von einem Motivzwang. Man sieht, es ist nichts als ein Vorurteil, anzunehmen, daß  nur  Motive den Willen beherrschen müssen.

19. Soll man etwa auch noch die Tatsache als Beweis gelten lassen, daß wir auf der Bühne einheitlich geschlossene Charaktere, mit sozusagen bekanntem Motivgesetz, gebieterisch fordern? Wir könnten wieder im Gegenteil glauben, daß das ein Beweis dafür ist, daß  nicht notwendig  bei den Wahlakten ein Motivzwang herrscht. Das Leben bietet uns - könnten wir sagen - nicht Handlungen und Entscheidungen, deren Gesetzmäßigkeit wir durchschauen und darum wollen wir auf der Bühne eine übersichtliche Welt betrachten, die uns jene Harmonie, Abrundung und Klarheit bietet, welche wir im zerfahrenen Treiben der wirklichen Geisteswelt nicht entdecken können.

20. So können wir nichts finden, was dem Motiv-Determinismus als Beweis gut geschrieben werden könnte. Er beachtet nicht die zwei indeterministischen Eventualitäten.  Erstens:  Oft können Motive die Direktion für den Wilden bieten, aber er kann auch ein unbeeinflußter autokratischer Lenker sein und  zweitens:  Ein Objekt wird nicht wegen seines Realisationswertes gewählt, sondern auf ein zufällig vorliegendes Objekt richtet sich nach ureigenen Gesetzen der Wille, erhebt es zum Ziel und nun erscheint es wertvoll, eben weil es gewollt wird. Und ohne Beweise stellt sich eine Theorie dar, welche, mittels der wechselseitigen Verdunkelung ihrer Erklärungsprinzipien, des "Motiv-Wertes" durch den "Charakter" und des "Charakters" durch den "Motiv-Wert", sich, als Mittel zur Aufklärung der Determinationsfrage, der psychologischen Wissenschaft anzubieten wagt. Statt falsch zu erklären, wäre es geratener, das Geständnis abzulegen, man wisse nichts anderes, als daß die Gesetze des Wollens noch verborgen sind. Der Motiv-Determinismus ist ganz auszuschließen; man hat nur die Wahl zwischen Indeterminismus oder Suspension der Frage und Erwartung der Aufhellung von tieferen Lehren - was man Nondeterminismus nennen könnte. Von einer Berechtigung, die eine ausnahmslose Geltung des Motivzwangs zu proklamieren, fanden wir nicht die Spur. Es ist vielleicht nichts als ein Vorurteil, zu behaupten, daß die Motive wie Kräftekomponenten auf den Willen wirken, der dann der Resultierenden folgt. Eine vergleichbare Schätzung dieser Kräfte und eine Komparation des Wirkens ist unmöglich. Ist denn der Wille wirklich nichts, als die tote Last - er der vielleicht allem anderen souverän erst Kraft, Halt und Wert gibt? Wie man die bestimmende Kraft der Objektwerte glaubt, statt an die freie Richtungskraft des Willens, die manchmal in beständigen Gleisen, manchmal rätselhaft sprunghaft wirkt, so könnte ein Hündchen, das, an die Leine gebunden, seinem Herrn voranläuft, glauben, es zieht seinen Herrn.

Doch wird es nun an der Zeit sein, bevor wir eine andere waghalsige Determinationslehre betrachten, ruhig zu ermessen, was uns denn eigentlich durch die Beobachtung des Wollens bekannt ist.
LITERATUR - Richard Wahle, Eine Verteidigung der Willensfreiheit, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge Bd. 22, Halle a. d. Saale 1888