cr-3  
 
FRITZ MAUTHNER
Selbstdarstellung
Fortsetzung 2

"Nicht einmal einen Apfel nehmen wir wahr, neben und außer seinen Eigenschaften."

IV.

Sicherlich muß ich in dieser Niederschrift das Wagnis unternehmen, die Grundgedanken meiner "Kritik der Sprache" in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Ein Wagnis wird es darum sein, weil ich doch vorher nicht fähig war, meine Ideen kürzer darzulegen als in den drei starken Bänden meiner "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" und in den zwei noch stärkeren Bänden meines "Wörterbuch der Philosophie". Es wäre vielleicht besser, die Anfertigung dieses Auszugs einem Fremden zu überlassen, denn ich bin so veranlagt, daß ich mich nicht einmal selbst abschreiben kann ohne den Wunsch, die Vorlage zu überwinden. Ich muß es aber doch wohl selber tun, unbekümmert darum, daß ich in dem knappen Raume nur Behauptungen aufstellen darf, auf Beweise und Begründungen verzichten muß.

Es gibt einen Parallelismus, der einen besseren Sinn hat, als der zwischen Seele und Leib: der Parallelismus von Denken und Sprechen. Eins und das andere eine Ordnung von Bewegungen oder Handlungen, von zwei verschiedenen Standpunkten aus gesehen. Wie wenn ich das eine Mal sage "der Hund jagt", das andere Mal "der Hund läuft"; nicht die kleinste der Bewegungsänderungen des Hundes, der einen Hasen verfolgt, wird dadurch anders, daß ich es bald so bald so bezeichne.(1) Die Sprache wie die Vernunft ist niemals wirklich als in den einzelnen Sprechakten und Denkakten; Sprache und Vernunft sind  zwischen  den Menschen, sind soziale Erscheinungen, sind eine und dieselbe soziale Erscheinung als wie die Sitte. Vielleicht auch nur: als wie eine Spielregel. So wenig wir eine übermenschliche philosophische Sprache kennen, so wenig wissen wir - wenn wir nur die Sehnsüchte der Mystik ausscheiden - von einer reinen Vernunft. Kritik der Vernunft muß Kritik der Sprache werden. Alle kritische Philosophie ist Kritik der Sprache.

Diese Kritik muß vom Sensualismus ausgehen. Denn nichts ist in den Begriffen unserer Sprache, was nicht zuvor in den Sinnen war. Doch ebensowenig wie die sogenannten Dinge der Wirklichkeitswelt sind unsere Sinne unveränderlich; der sensualistische Materialismus hebt sich selber auf. Unsere Sinne sind geworden, sind  Zufallssinne;  die Entwicklung hätte die Sinne für ganz andere Energien entstehen lassen können. Was uns die Sinne durch die Sprache kennen lehren, das ist also beschränkter  Hominismus.  LOCKE, der die Sinne zuerst kritisierte, lehrte den Hominismus der sekundären Eigenschaften, wie der Farben, der Töne; KANT, der die reine Vernunft zu kritisieren glaubte, lehrte kühn und groß den Hominismus einiger primärer Eigenschaften, des Raums, der Zeit, der Kausalität.

Die Kritik der Sprache lehrt völlige Resignation: die menschliche Sprache, von den Zufallssinnen abhängig, kann zur Natur, die sie zu erforschen vorgibt, überhaupt niemals einen anderen Standpunkt gewinnen, als den beschränkt hoministischen. Wir können mit Hilfe der Sprache immer nur erfahren, was die sogenannten Dinge für den Menschen sind; wir besitzen gar keine sprachlichen Mittel, um das zu bezeichnen, was diese Dinge ansich sein mögen.

Ist Sprache das einzige Erkenntniswerkzeug, so können wir über den Hominismus nicht hinausgelangen, den man auch Psychologismus nennen könnte. Aber wir treiben schon lange eine Psychologie ohne Psyche; wir haben für unsere innern Vorgänge kein Organ. Es ist Mythologie, wenn wir Abstraktionen (Empfindung, Wille) zu Ursachen unserer Seelenzustände machen. Als ob wir das Flußbett, das der Fluß sich doch erst gegraben hat, die Ursache des Flußes nennen wollten. Auch das Ich ist eine Selbsttäuschung, wie andere Substantive auch, nur der Träger von Veränderungen.

Die Kritik der Sprache durchschaut das Spielerische in den Regeln, die von der Grammatik und von der Logik für die Sprache und für das Denken aufgestellt worden sind. Und weil Denken und Sprechen nur Eins sind, so muß die Grammatik in ihrem Sturze auch die Logik sich reißen. Die Redeteile lassen sich nicht definieren, ihnen entsprechen keine Wirklichkeiten. Auch die Zahlen (die Einheit ist keine Zahl) sind nicht außerhalb der Menschenköpfe, nicht außerhalb der Sprache. In der Syntax wandelt sich das grammatische Subjekt unaufhörlich zum psychologischen Subjekte; und in der Erzählung das Prädikat des Vorausgehenden zum Subjekte des Folgenden. Und in der Logik steckt der Schluß bereits hinter der Prämisse, das Urteil hinter dem Begriff. Daher die Tautologien der Logik. Die menschliche Ordnungsliebe, nicht eine Ordnung in der Natur, wandelt die Begriffe, die in der Logik zu Urteilen auseinandergelegt werden, für die Naturwissenschaft in Gesetze um.

Abstrakte Wörter werden uns zu Gespenstern, zu Göttern. Das gilt nicht nur für die Begriffe der Theologie, sondern auch für die der Teleologie. Der Zweckbegriff in der Natur ist ein Bild, geformt nach dem Vorbilde der menschlichen Absicht. Der  Zweck  ist nur die inwendig mythologische Bezeichnung für den auswendig mythologischen Begriff  Ursache.  Ursache ist uns ebenso unbekannt wie  Wirkung;  wir wissen nur etwa Einiges über die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung und das nennen wir  Energie.  HUME und KANT haben sehr viel zur Kritik des Begriffspaares "Ursache-Wirkung" beigetragen und zur Aufhebung des Zweckbegriffs. DARWIN hat ihn, wider Willen, in die Lehre von der Evolution wieder hineingetragen.

Auch die menschliche Absicht, von der der Zweckbegriff ein nachgeschaffenes Bild ist, enthält das Rätsel, daß alle unsere Vorstellungen, sensualistisch erzeugt, sich nur auf die Vergangenheit beziehen und doch als die Ziele der Zukunft dienen können. Dieses Rätsel wird nicht gelöst, aber vereinfacht durch das Rätsel des Gedächtnisses, das als Gedächtnis des Volkes die Gemeinsprache ist, das jedoch auch im Individuum, sogar im tierischen und im pflanzlichen Individuum, sprachähnlich wirkt, indem es die Weltvibrationen ordnet und gewissermaßen in die Sprache der einzelnen Sinnesorgane übersetzt: Schwingungen, z.B. als Töne und Farben wahrnimmt und erinnert. Nicht viel anders muß die Pflanze Wärme wahrnehmen und erinnern. Die  normalen Täuschungen  der Sprache, die wir im naiven Realismus für ein richtiges Bild der Welt halten, verdanken wir dem Gedächtnis.

Wir müssen zurück zu HUME, um von da aus weiter zu schreiten in der erkenntniskritischen Skepsis der antiken Welt. Auch  Wahrheit  ist nur ein Wortfetisch.  Fürwahrhalten  ist etymologisch so viel wie "glauben". Die Sprache ist kein geeignetes Werkzeug zum Erfassen der Natur, weil weder die Sprache noch die Natur stillehalten. Ewig jagt das kreisende Wort hinter der kreisenden Wirklichkeit her und kann sie nicht einholen.

Aber diese Skepsis ist nur Resignation an der Grenzen der Menschheit, ist nicht Verzweiflung über den Widerspruch des Weltganzen. Widersprüche gibt es nur in der Sprache, nur durch die Sprache. Die Natur, wie sie nur einmal da ist, ist auch einheitlich. Diese Einheit können wir nicht entdecken, wenn wir denken oder sprechen, diese Einheit können wir nur fühlen wenn wir leben, ungetrennt von der Natur, wie Kinder im Mutterleibe der Natur. Man kann das auch  Mystik  nennen, erkenntniskritische, sprachkritische Mystik, zum Unterschiede von der dem abgründigen MEISTER ECKHART nachgestammelten Schablone der vielzuvielen gottseligen Mystiker.

Das sind ungefähr die Leitgedanken, die ich in meiner "Kritik der Sprache" auf Sprachwissenschaft, Grammatik, Logik, Metaphysik angewandt und in meinm "Wörterbuch der Philosophie" auf einige ethische Probleme ausgedehnt habe. Mein erster Plan war, Sprachkritik zu üben an den Grundbegriffen aller Natur und Geisteswissenschaften. Das ging über meine Kraft. Andere haben angefangen mich abzulösen. Ich könnte bereits einige Naturwissenschaftler, auch Juristen und Ärzte nennen, sogar Dichter (CHRISTIAN MORGENSTERN), die meine Leitgedanken weitergeführt haben. Über die Langsamkeit der Wirkung will ich nicht klagen; die schnellen Erfolge sind nicht die dauerhaften. Und ich gedenke dankbar des gütigen Wortes, das ERNST MACH mir schrieb, als er den zweiten Band meiner "Kritik der Sprache" gelesen hatte: "Ihr Werk wird langsam aber sicher seine Wirkung tun. Die Zunftgelehrten sind etwas schwerfällige Gewohnheitsmenschen. Auf zehn bis zwanzig Jahre Überlegung kommt es ihnen nicht gerade an. Manches, was ein Mensch von lebhaftem Temperament für Bosheit halten möchte, ist mgrößtenteils auf Rechnung dieser Schwerfälligkeit zu setzen." Gerade jetzt, mda ich in diesem Kreise von "Zunftgelehrten" zu Wort kommen darf, sind die von MACH vorausgesagten zwanzig Jahre um.


V.

Ich habe schon angedeutet, daß der Gottesbegriff es zuerst war, und in früher Jugend, was meine sprachliche Skepsis weckte, daß also meine geschichtliche Darstellung, von welcher unter dem Titel  Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande  die beiden ersten Bände bereits erschienen sind und der dritte sich im Drucke befindet, nur wieder ein weit ausholender Beitrag zu einer Kritik der Sprache war, genau so wie der Artikel "Christentum" in meinem  Wörterbuch der Philosophie Dieser selbe Begriff, der Gottesbegriff, regte mich wieder zuerst weiter auf, den letzten Rätseln der Sprachkritik nachzuspüren und, was ich zu ihrer Lösung etwa noch beitragen könnte, in einer Schrift "Die drei Bilder der Einen Welt" niederzulegen, die sich in Fragmenten unter meinem Nachlasse vorfinden wird, falls ich ihre Herausgabe nicht erleben sollte. Ich bin so alt geworden, daß ich vielleicht doch von dieser meiner letzten Arbeit an dieser Stelle reden darf.

Ich habe meine Vorstellung von den drei sprachlichen Bildern der Einen Welt vorläufig, d.h. sehr verbesserungsfähig, für mich und einige Freunde darzustellen gesucht in den drei Stücken meines "Wörterbuchs", die in alphabetischer Folge eingefügt sind unter den Überschriften: adjektivische, substantivische, verbale Welt. Ich besitze auch heute noch für die Analyse meiner Vorstellung kein besseres Übungsbeispiel als den Gottesbegriff. Auf die Gefahr hin, eines Rückzugs bezichtigt zu werden, möchte ich an diesem Beispiele faßbarer machen, was ich unter den drei Bildern der Welt und unter der gottlosen Mystik verstehe, in welche meine Religionskritik ausläuft.

Für die  substantivische  Welt ist es weniger eine Leugnung, als eine Rettung, wenn ich den Gegenstand hinter dem Worte  Gott  zu den Erscheinungen rechne, die nicht wirklich sind. Wie das Feuer, wie das Eisen. Wir leugnen ja auch das Feuer nicht, weil es nicht wirklich ist nicht außer und neben den Sinneseindrücken ist, deren Gesamtheit wir das Feuer nennen. Wir werden das Dasein des Eisens nicht leugnen, wenn wir dereinst dazu gelangen sollten, alle Sinneseindrücke eines Eisenstücks als  Bewegungen, Verhältnisse, Wirkungen  und dgl., von  Atomen, Energien  und dgl. zu begreifen. Aber nicht nur Götter und Geister sind Mythen, auch die scheinbar wohlbekannten Kräfte der Physik und der Biologie, ja auch die Dinge selbst sind nur Symbole, unter denen wir die mythologischen Ursachen adjektivischer Wirkungen sprachlich zusammenfassen. Die substantivische Welt ist die unwirkliche Welt des Raums, die Welt des Seins, bei welcher wir von dem Werden in der Zeit willkürlich absehen. Die Lehre von der Unwirklichkeit des Seins ist ja uralt. "Alles fließt."

Der Wirklichkeit scheint nur das  adjektivische  Bild der Welt zu entsprechen, die sensualistische Weltanschauung. Alle unsere Sinneseindrücke, aber auch alle unsere seelischen Empfindungen und unsere ursprünglichen Werturteile sind adjektivischer Art. Nur daß das Adjektiv, in der Geschichte der Vernunft der älteste Redeteil, in der Geschichte der Grammatik einer der jüngsten ist. Was die Sinnesorgane uns von der Welt bieten, das ist - wenn ich den Ausdruck vom Gesichtssinn weiter ausdehnen darf - pointilliert. Nicht einmal einen Apfel nehmen wir wahr, neben und außer seinen Eigenschaften. Ein unwiderstehlicher Instinkt zwingt uns aber, an das mythische, das mystische Symbol adjektivischer Wirkungen als an einen Gegenstand zu glauben, einen Apfel zu sehen, - was man so Sehen nennt. Man vergesse jedoch nicht, daß auch die adjektivische Welt nicht in den Niederungen des materialistischen Sensualismus stecken zu bleiben braucht. Der Idealismus, zu dem der mystische Instinkt, der substantivische, sich in außerordentlichen Menschen steigern kann, wandelt die normalen Täuschungen der adjektivischen Welt in die schönen Täuschungen der Kunst.

Nun sind aber auch unsere Sinne geworden, durch den Zufall der Entwicklung geworden. Wie also die scheinbaren Dinge draußen nur Symbole von Sinneswirkungen sind, so sind auch diese Sinneswirkungen wieder nur Symbole von einer unbekannten Wirklichkeit, von irgendwelchen Bewegungen, die in der Zeit stattfinden. Begreifen können wir die Welt weder in dem, was wir von ihr durch die Sinne erfahren, noch in ihrem vermeintlichen Sein, sondern allein in ihrem Werden. Im Geschehen. Nur daß es um das  Begreifen  eine eigene Sache ist.

Die  verbale  Welt ist ja die Welt unserer wissenschaftlichen Erklärungen; wir wissen aber (seit KIRCHHOFF), daß sogar die Naturwissenschaften die Erscheinungen nur beschreiben, nicht erklären können. Wir wissen durch die Kritik der Sprache, daß der Redeteil der Verben, der Zeitwörter ursprünglich eine menschliche Absicht voraussetzte, daß die Zeitwörter des Zustandes - das substantivische  Sein  etwa ausgenommen - nach der Analogie der Zweckverben gebildet worden sind, daß die Zeit nur eine Bedingung des Werdens ist, nicht eine Ursache.

Meine drei Bilder der Welt sind nur sprachkritisch zu verstehen und sollen nicht erinnern: weder an den Dreitakt Hegels, der die Bewegung der Ideen in Thesis, Antithesis und Synthesis ontologisch, metaphysisch verstand, noch an die Dreistufigkeit Comtes, der allerdings in der theologischen, metaphysischen und positivistischen Weltbetrachtung ungefähr wenigstens die substantivischen und verbalen Bilder meinte, seine drei Stufen jedoch für eine notwendige historische Folge ansah, nicht für drei Gesichtspunkte, die einander zu Hilfe kommen müssen, wie ein Punkt im Raume durch drei gleichzeitige Koordinaten bestimmt wird.

Wäre es möglich oder doch mitteilbar, für jedes der drei Bilder der Welt eine besondere künstliche Sprache zu erfinden, eine rein substantivische, eine rein adjektivische und eine rein verbale Sprache, dann würde ganz deutlich werden, daß wir die drei Gesichtspunkte zu einem ähnlichen Bilde der Wirklichkeit nur vereinigen könnten, wenn wir in einer vierten Sprache den gesamten Wortschatz der drei künstlichen Sprachen beisammen hätten; aber eine solche Übersprache ist ebensowenig vorstellbar wie die mathematisch denkbare und formelhaft benutzbare, niemals aber vorstellbare vierte Koordinate, die der Zeit. Die Natur ist uns stumm, weil wir die Übersprache nicht verstehen können, die die Natur allein besitzt.

Wir haben TRENDELENBURG gelernt, daß die Kategorienlehre des Aristoteles - wie ich es ausdrücken möchte - nur eine Analyse des einfachen griechischen Satzes ist. Er hat eine werdende Grammatik logisch gedeutet und seine Hauptkategorien entsprechen den Redeteilen Substantiv, Adjektiv und Verbum. So durfte ich die drei Bilder der Einen Welt mit dem uralten Worte  Kategorien  bezeichnen, auf deutsch: Aussage-Möglichkeiten, kürzer: Aussäglichkeiten. Meine Sprachkritik unterscheidet sich darin von den meisten anderen Weltbetrachtungen, daß diese insofern immer rationalistisch, vernünftelnd waren, als sie gewißermaßen die sittliche Forderung aufstellten, menschliches Denken oder Sprechen  müsse  der Natur entsprechen,  müsse  ein ähnliches Bild der Natur zeichnen können.

Die Resignation der Sprachkritik ist in diesem Sinne nicht rationalistisch. Übrigens hat Kant schon einmal gesagt, Aristoteles habe seine zehn Kategorien "zusammengerafft"; und Laurentius Valla hat im 15. Jahrhundert die Zahl der Kategorien auf die drei beschränkt, die genau mit meinen drei Bildern zusammenfallen:  substantia, qualitas, actio.  VALLA hat sehr gut gesehen, daß ARISTOTELES bereits den logischen Fehler begangen hatte, die erste seiner Kategorien, die des Seins, höher zu bewerten, als die andern. Alle späteren Aufsteller neuer Kategorientafeln sind in den gleichen Fehler verfallen und Valla selbst hat ihn nicht ganz vermieden. Da darf ich mich wenigstens rühmen, daß meine drei Aussäglichkeiten es gar nicht gestatten, einen solchen Fehler zu begehen. Es hängt von der Richtung der Aufmerksamkeit ab, es ist relativ, ob man die Welt oder auch nur einen Ausschnitt aus der Welt als adjektivisch, als substantivisch oder als verbal betrachten will, ob man z.B. den Wärmebegriff als Bezeichnung für eine Empfindung, für eine geheimnisvolle Energieart oder für eine Ursache-Wirkung auffassen will.

Freilich sind die drei Gesichtspunkte der Weltbetrachtung schon vorher ausgezeichnet worden, doch nicht von einer einzelnen Philosophie; vielmehr von Denkrichtungen sehr verschiedener Art.

Die adjektivische Welt ist die Welt der menschlichen Gemeinsprachen, die Welt des naiven Materialismus, der die Einseitigkeit lehrt, es sei nichts im Denken, was nicht vorher in den Sinnen gewesen sei. Die Gemeinsprachen sind darum wesentlich materialistisch und wären unerträglich, wenn sie nicht, eigentlich inkonsequent, auch substantivische (mystische) und verbale (wissenschaftliche) Begriffe aufgenommen hätten. In einem gewissen Sinne könnte man diese nichtadjektivischen Begriffe, weil sie über die Sinnesdaten hinausgehen, doch übersinnlich nennen.

Die substantivische Welt ist, so angesehen, die Welt der Metaphysik. Das metaphysische Bedürfnis der Menschen hat diese Welt eben schon in die Alltagssprache eingeführt, durch die unzähligen Dingwörter. Aber der philosophische Bearbeiter dieser substantivischen Welt war erst Platon, mit seiner Ideenlehre, die ursprünglich gewiß nicht nur hohe Ideen annahm, sonder alle Einzeldinge als (adjektivische) Erscheinungen aus ihren Ideen hervorgehen ließ. Die Verwirrung, mit welcher Kant mehr als 2000 Jahre später eine Idee (das Ding an sich) zur Ursache der Erscheinung machte, also die verbale Welt zu Hilfe rief, findet sich schon bei PLATON vorgebildet. Nur hätte man diese Verwirrung nicht einen Fehler nennen sollen.

Die verbale Welt ist eine Welt der Wissenschaft, als Ahnung schon bei den Griechen vorhanden (HERAKLEITOS), seit der Renaissance in überzeugender Annäherung an das begriffen, was man Naturerkenntnis nennt. Eine Annäherung an die Wahrheit, die selbst unerreichbar bleibt, weil sie ja - das Wort sagt es - der mythologischen oder metaphysischen Welt angehört. Da gibt es kein Sein, da gibt es nur ein Werden. Niemand kann zweimal in denselben Fluß hinabsteigen; denn es gibt weder einen bleibenden Fluß noch einen bleibenden Menschen.

Erkenntnis besäßen wir etwa, wenn wir die drei Gesichtspunkte vereinigen könnten; was wir ausdenken aber nicht ausführen können. Immer erblicken wir nur das Feuer entweder als eine Empfindung oder als die Summe von Empfindungen oder als eine Ursache von Wirkungen. Die Vereinigung der drei Bilder, die Deckung ihrer drei Bildsprachen, ist nur eine Sehnsucht. Wie bei der sogenannten Photographie in natürlichen Farben drei Bilder, die durch Lichtfilter hergestellt worden sind, zur Deckung gebracht werden und annähernd die natürlichen Farben treffen. Doch sowohl die Lichtfilter als die chemischen Farben für das Druckverfahren werden nach dem zufälligen Farbensinne einzelner Menschen ausgewählt.

So sind auch die Filter des menschlichen Verstandes und die Sphären der gebrauchten Sprachworte nicht übermenschlich genug, um jemals eine Deckung der drei Bildersprachen zu ermöglichen. Die drei Bilder der Welt sind, alle drei, hoministisch. Für  das  Bild der Welt, das eine ähnliche, ist unser Gesicht, ist unsere Sprache nicht geeignet. Der Übermensch ist eine Sehnsucht, kann also nicht wirklich sein.
LITERATUR - Raymund Schmidt (Hrsg), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924
    Anmerkungen
  1. Mit den Grübeleien über die Identität von Sprechen und Denken bin ich immer noch zu keinem Abschlusse gelangt. Aber der geistreiche Einwurf von Professor Hausdorff, meine Gleichstellung schließe mathematisches Denken aus, hat mich nicht überzeugt; mathematische Zeichen sind eben auch Begriffe, nur die Zahlen nicht.