tb-1cr-4Hamann - MetakritikReinhold - Briefe    
 
ARTHUR SCHOPENHAUER
(1788-1860)
Kritik der
Kantischen Philosophie

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"Was Platon am Anfang des siebten Buches der  Republik  mythisch ausspricht, indem er sagt, die Menschen, in einer finstern Höhle festgekettet, sehen weder das echte ursprüngliche Licht, noch die wirklichen Dinge, sondern nur das dürftige Licht des Feuers in der Höhle und die Schatten wirklicher Dinge, die hinter ihrem Rücken an diesem Feuer vorüberziehen: sie meinten jedoch, die Schatten sind die Realität und die Bestimmung der Sukzession dieser Schatten ist die wahre Weisheit - dieselbe Wahrheit, wieder ganz anders dargestellt, ist auch eine Hauptlehre der Veden und Puranas, die Lehre von der Maja, worunter eben auch nichts anderes verstanden wird, als was Kant die Erscheinung, im Gegensatz zum Ding ansich nennt: denn das Werk der Maja wird eben angegeben als diese sichtbare Welt, in der wir sind, ein hervorgerufender Zauber, ein bestandloser, ansich wesenloser Schein, der optischen Jllusion und dem Traum zu vergleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtsein umfängt, ein Etwas, davon es gleich falsch und gleich wahr ist, zu sagen, daß es  ist  und daß es nicht ist."

C'est le privilége du vrai génie, et surtout du génie qui ouvre
une carriére, de faire impunément de grandes fautes. - Voltaire

[Es ist das Vorrecht des wahren Genius, und überhaupt aller Genies,
die einen neuen Pfad eröffnen: ungestraft große Fehler machen zu können.]


Es ist viel leichter im Werk eines großen Geistes die Fehler und Irrtümer nachzuweisen, als vom Wert desselben eine deutliche und vollständige Entwicklung zu geben. Denn die Fehler sind ein Einzelnes und Endliches, das sich daher vollkommen überblicken läßt. Hingegen ist eben das der Stempel, welchen der Genius seinen Werken aufdrückt, daß ihre Trefflichkeit unergründlich und unerschöpflich ist: daher sie auch die nicht alternden Lehrmeister vieler Jahrhunderte nacheinander werden. Das vollendete Meisterstück eines wahrhaft großen Geistes wird allemal von tiefer und durchgreifender Wirkung auf das gesamte Menschengeschlecht sein, so sehr, daß nicht zu berechnen ist, zu wie fernen Jahrhunderten und Ländern sein erhellender Einfluß reichen kann. Es wird dies allemal: weil, so gebildet und reich auch immer die Zeit wäre, in welcher es selbst entstanden ist, doch immer der Genius, gleich einem Palmbaum, sich über den Boden erhebt, auf welchem er wurzelt.

Aber eine tiefgreifende und weit verbreitete Wirkung dieser Art kann nicht plötzlich eintreten, wegen des weiten Abstands zwischen dem Genius und der gewöhnlichen Menschheit. Die Erkenntnis, welche jener Eine in  einem  Menschenalter unmittelbar aus dem Leben und der Welt schöpfte, gewann und andern gewonnen und bereitet darlegte, kann dennoch nicht sofort das Eigentum der Menschheit werden; weil diese nicht einmal soviel Kraft zum Empfangen hat, wie jener zum Geben. Sondern, selbst nach überstandenem Kampf mit unwürdigen Gegnern, die den Unsterblichen schon bei der Geburt das Leben streitig machen und das Heil der Menschheit im Keim ersticken möchten (der Schlange an der Wiege des Herkules zu vergleichen) muß jene Erkenntnis sodann erst die Umwege unzähliger falscher Auslegungen und schiefer Anwendungen durchwandern, muß die Versuche der Vereinigung mit alten Irrtümern überstehen und so im Kampf leben, bis ein neues, unbefangenes Geschlecht ihr entgegenwächst, welches allmählich, aus tausend abgeleiteten Kanälen, den Inhalt jener Quelle, schon in der Jugend, teilweise empfängt, nach und nach assimiliert und so der Wohltat teilhaft wird, welche, von jenem großen Geist aus, der Menschheit zufließen sollte. So langsam geht die Erziehung des Menschengeschlechts, des schwachen und zugleich widerspenstigen Zöglings des Genius. -

So wird auch von KANTs Lehre allererst durch die Zeit die ganze Kraft und Wichtigkeit offenbar werden, wenn einst der Zeitgeist selbst, durch den Einfluß jener Lehre nach und nach umgestaltet, im Wichtigsten und Innersten verändert, von der Gewalt jenes Riesengeistes lebendiges Zeugnis ablegen wird. Ich hier will aber keineswegs, ihm vermessen vorgreifend, die undankbare Rolle des KALCHAS und der KASSANDRA übernehmen. Nur sei es mir, infolge des Gesagten, vergönnt, KANTs Werke als noch sehr neu zu betrachten, während heutzutage viele sie als schon veraltet ansehen, ja als abgetan beiseite gelegt, oder, wie sie sich ausdrücken, hinter sich haben. - Übrigens bedürfen sie nicht meiner schwachen Lobrede, sondern werden selbst ewig ihren Meister loben und, wenn vielleicht auch nicht in seinem Buchstaben, doch in seinem Geist, stets auf Erden leben. -

Freilich aber, wenn wir zurückblicken auf den nächsten Erfolg seiner Lehren, also auf die Versuche und Hergänge im Gebiet der Philosophie, während des seitdem verflossenen Zeitraums; so bestätigt sich uns ein sehr niederschlagender Ausspruch GOETHEs: "wie das Wasser, das durch ein Schiff verdrängt wird, gleich hinter ihm wieder zusammenstürzt; so schließt sich auch der Irrtum, wenn vorzügliche Geister ihn beiseite gedrängt und sich Platz gemacht haben, hinter ihnen sehr geschwind wieder naturgemäß zusammen." (Dichtung und Wahrheit, Teil 3, Seite 521) Jedoch ist dieser Zeitraum nur eine Episode gewesen, die, den oben erwähnten Schicksalen jeder neuen und großen Erkenntnis beizuzählen, jetzt unverkennbar ihrem Ende nahe ist, indem die so anhaltend aufgetriebene Seifenblase doch endlich platzt. Man fängt allgemein an, inne zu werden, daß die wirkliche und ernstliche Philosophie noch da steht, wo KANT sie gelassen hat. Jedenfalls erkenne ich nicht an, daß zwischen ihm und mir irgendetwas in derselben geschehen sei; daher ich unmittelbar an ihn anknüpfe.

Was ich in diesem Anhang zu meinem Werk beabsichtige, ist eigentlich nur eine Rechtfertigung der von mir in demselben dargestellten Lehre, insofern sie in vielen Punkten mit der Kantischen Philosophie nicht übereinstimmt, ja ihr widerspricht. Eine Diskussion hierüber ist aber notwendig, da offenbar meine Gedankenreihe, so verschieden ihr Inhalt auch von der Kantischen ist, doch durchaus unter dem Einfluß dieser steht, sie notwendig voraussetzt, von ihr ausgeht und ich bekenne, daß Beste meiner eigenen Entwicklung, nächst dem Eindruck der anschaulichen Welt, sowohl dem der Werke KANTs, als dem der heiligen Schriften der Hindu und dem PLATON zu verdanken. - Meine des ungeachtet vorhandenen Widersprüche gegen KANT aber rechtfertigen, kann ich durchaus nur dadurch, daß ich ihn in denselben Punkten des Irrtums bezichtige und Fehler, die er begangen hat, aufdecke. Daher muß ich in diesem Anhang durchaus polemisch gegen KANT verfahren und zwar mit Ernst und mit aller Anstrengung: denn nur so kann es geschehen, daß der Irrtum, welcher KANTs Lehre anklebt, sich abschleife, und die Wahrheit derselben desto heller scheine und sicherer bestehe: Man hat daber nicht zu erwarten, daß meine gewiß innig gefühlte Ehrerbietung gegen KANT sich auch auf seine Schwächen und Fehler erstrecke und daß ich daher diese nicht anders, als mit der behutsamsten Schonung aufdecken sollte, wobei mein Vortrag durch die Umschweife schwach und matt werden müßte. Gegen einen Lebenden bedarf es solcher Schonung, weil die menschliche Schwäche auch die gerechteste Widerlegung eines Irrtums nur unter Besänftigungen und Schmeicheleien und selbst so schwer erträgt, und ein Lehrer der Jahrhunderte und Wohltäter der Menschheit doch zum wenigsten verdient, daß man auch seine menschliche Schwäche schont, um ihm keinen Schmerz zu verursachen. Der Tote aber hat diese Schwäche abgeworfen: sein Verdienst steht fest: von jeder Überschätzung und Herabwürdigung wird die Zeit es mehr und mehr reinigen. Seine Fehler müssen davon gesondert, unschädlich gemacht und dann der Vergessenheit hingegeben werden. Daher habe ich bei der hier anzustimmenden Polemik gegen KANT ganz allein seine Fehler und Schwächen im Auge, stehe ihnen feindlich gegenüber und führe einen schonungslosen Vertilgungskrieg gegen sie, stets darauf bedacht, nicht sie schonend zu bedecken, sondern sie vielmehr in das hellste Licht zu stellen, um sie desto sicherer zu vernichten. Ich bin mir, aus den oben angeführten Gründen, hierbei weder einer Ungerechtigkeit, noch einer Undankbarkeit gegen KANT bewußt. Um indessen auch in den Augen anderer jeden Schein von Malignität [Bösartigkeit - wp] abzuwenden, will ich meine tiefgefülte Ehrfurcht und Dankbarkeit gegen KANT zuvor noch dadurch an den Tag legen, daß ich sein Hauptverdienst, wie es in meinen Augen erscheint, kurz ausspreche, und zwar von so allgemeinen Gesichtspunkten aus, daß ich nicht genötigt werde, die Punkte mitzuberühren, in welchen ich ihm nachher zu widersprechen habe.



KANTs  größtes Verdienst ist die Unterscheidung der Erscheinung vom Ding-ansich.  Auf diesen Weg geführt wurde er durch LOCKE (siehe Prolegomena zu jeder Metapher § 13, Anm. 2) Dieser hatte nachgewiesen, daß die sekundären Eigenschaften der Dinge, wie Klang, Geruch, Farbe, Härte, Weiche, Glätte und dgl., als in den Affektionen der Sinne gegründet, dem objektiven Körper, dem Dinge ansich, nicht angehörten, welchem er vielmehr nur die primären Eigenschaften, d. h. solche, welche bloß den Raum und die Undurchdringlichkeit voraussetzen, also Ausdehnung, Gestalt, Solidität, Zahl, Beweglichkeit, beilegte. Allein diese leicht zu findende LOCKE'sche Unterscheidung, welche sich auf der Oberfläche der Dinge hält, war gleichsam nur ein jugendliches Vorspiel der Kantischen. Diese nämlich, von einem ungleich höheren Standpunkt ausgehend, erklärt all das, was LOCKE als  qualitates primariae,  d. h. Eigenschaften des Dings ansich, gelten gelassen hatte, für ebenfalls nur der Erscheinung desselben in unserem Auffassungsvermögen angehörig, und zwar gerade deshalb, weil die Bedingungen desselben, Raum, Zeit und Kausalität, von uns  a priori  erkannt werden. Also hatte LOCKE vom Ding ansich den Anteil, welchen die Sinnesorgane an der Erscheinung desselben haben, abgezogen: KANT aber zog nun noch den Anteil der Gehirnfunktionen (wiewohl nicht unter diesem Namen) ab, wodurch jetzt die Unterscheidung der Erscheinung vom Ding ansich eine unendlich größere Bedeutung und einen sehr viel tieferen Sinn erhielt. Zu diesem Zweck mußte er die große Sonderung unserer Erkenntnis  a priori  von der  a posteriori  vornehmen, welches vor ihm noch nie in gehöriger Strenge und Vollständigkeit, noch mit deutlichem Bewußtsein geschehen war: demnach war nun dies der Hauptstoff seiner tiefsinnigen Untersuchungen. - Hier nun wollen wir gleich bemerken, daß KANTs Philosophie zu der seiner Vorgänger eine dreifache Beziehung hat: erstens, eine bestätigende und erweiternde zu der LOCKE's, wie wir soeben gesehen haben; zweitens, eine berichtigende und benutzende zu der HUME's, welche man am deutlichsten ausgesprochen findet in der Vorrede zu den "Prolegomena" (dieser schönsten und faßlichsten aller Kantischen Hauptschriften, welche viel zu wenig gelesen wird, da sie doch das Studium seiner Philosophie außerordentlich erleichtert); drittens, eine entschieden polemische und zerstörende zur LEIBNIZ-WOLFFISCHEN Philosophie. Alle drei Lehren soll man kennen, ehe man zum Studium der Kantischen Philosophie schreitet. -

Ist nun, laut Obigem, die Unterscheidung der Erscheinung vom Ding ansich, also die Lehre von der gänzlichen Diversität des Idealen und Realen, der Grundzug der Kantischen Philosophie; so gibt die bald nachher auftretende Behauptung der absoluten Identität dieser beiden einen traurigen Beleg zum früher erwähnten Anspruch GOETHEs; umso mehr, als sie sich auf nichts stützte, als auf die Windbeutelei intellektualer Anschauung und demgemäß nur eine, unter dem Imponieren durch eine vornehme Miene, Bombast und Gallimathias [Kauderwelsch - wp] maskierte Rückkehr zur Rohheit der gemeinen Ansicht war. Sie wurde der würdige Ausgangspunkt für den noch gröberen Unsinn des plumpen und geistlosen HEGEL. - Wie nun also KANTs, auf die oben dargelegte Weise gefaßte Sonderung der Erscheinung vom Ding ansich in ihrer Begründung an Tiefsinn und Besonnenheit alles, was je dagewesen, weit übertraf; so war sie auch in ihren Ergebnissen unendlich folgenreich. Denn ganz aus sich selbst, auf eine völlig neue Weise, von einer neuen Seite und auf einem neuen Weg gefunden stellte er hierin dieselbe Wahrheit dar, die schon PLATON unermüdlich wiederholt und in seiner Sprache meistens so ausdrückt: diese, den Sinnen erscheinende Welt habe kein wahres Sein, sondern nur ein unaufhörliches Werden, sie ist und ist auch nicht, und ihre Auffassung ist sowohl eine Erkenntnis, als auch ein Wahn. Dies ist es auch was er in der schon im dritten Buch seiner gegenwärtigen Schrift erwähnten wichtigsten Stelle aller seiner Werke, dem Anfang des siebten Buches der "Republik" mythisch ausspricht, indem er sagt, die Menschen, in einer finstern Höhle festgekettet, sehen weder das echte ursprüngliche Licht, noch die wirklichen Dinge, sondern nur das dürftige Licht des Feuers in der Höhle und die Schatten wirklicher Dinge, die hinter ihrem Rücken an diesem Feuer vorüberziehen: sie meinten jedoch, die Schatten sind die Realität und die Bestimmung der Sukzession dieser Schatten ist die wahre Weisheit. - Dieselbe Wahrheit, wieder ganz anders dargestellt, ist auch eine Hauptlehre der Veden und Puranas, die Lehre von der Maja, worunter eben auch nichts anderes verstanden wird, als was KANT die Erscheinung, im Gegensatz zum Ding ansich nennt: denn das Werk der Maja wird eben angegeben als diese sichtbare Welt, in der wir sind, ein hervorgerufender Zauber, ein bestandloser, ansich wesenloser Schein, der optischen Jllusion und dem Traum zu vergleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtsein umfängt, ein Etwas, davon es gleich falsch und gleich wahr ist, zu sagen, daß es ist und daß es nicht ist.

KANT nun aber drückte nicht allein dieselbe Lehre auf eine völlig neue und originelle Weise aus; sondern machte sie, mittels der ruhigsten und nüchternsten Darstellung, zur erwiesenen und unstreitigen Wahrheit; während sowohl PLATON, als die Inder, ihre Behauptungen bloß auf eine allgemeine Anschauung der Welt gegründet hatten, sie als unmittelbaren Ausspruch ihres Bewußtseins vorbrachten, und sie mehr mythisch und poetisch, als philosophisch und deutlich darstellten. In dieser Hinsicht verhalten sie sich zu KANT, wie die Pythagoräer HIKETAS, PHILOLAOS und ARISTARCH, welche schon die Bewegung der Erde um die ruhende Sonne behaupteten, zu KOPERNIKUS. Eine solche deutliche Erkenntnis und ruhige, besonnene Darstellung dieser traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt ist eigentlich die Basis der ganzen Kantischen Philosophie, ist ihre Seele und ihr allergrößtes Verdienst. Er brachte dieselbe dadurch zustande, daß er die ganze Maschinerie unseres Erkenntnisvermögens, mittels welcher die Phantasmagorie der objektiven Welt zustande kommt, auseinanderlegte und stückweise vorzeigte, mit bewundernswürdiger Besonnenheit und Geschicklichkeit. Alle vorhergehende okzidentalische Philosophie, gegen die Kantische als unsäglich plump erscheinend, hatte jene Wahrheit verkannt und eben daher eigentlich immer wie im Traum geredet. Erst KANT weckte sie plötzlich aus diesem: daher auch nanten die letzten Schläfer ihn den Alleszermalmer. Er zeigte, daß die Gesetze, welche im Dasein, d. h. in der Erfahrung überhaupt, mit unverbrüchlicher Notwendigkeit herrschen, nicht anzuwenden sind, um  das Dasein selbst  abzuleiten und zu erklären, daß also die Gültigkeit derselben doch nur eine relative ist, d. h. erst anhebt, nachdem das Dasein, die Erfahrungswelt überhaupt, schon gesetzt und vorhanden ist; daß folglich diese Gesetze nicht unser Leitfaden sein können, wenn wir an die Erklärung des Daseins der Welt und unserer selbst gehen. Alle früheren okzidentalischen Philosophen hatten gewähnt, diese Gesetze, nach welchen die Erscheinungen aneinander geknüpft sind und welche alle, Zeit und Raum sowohl als auch Kausalität und Schlußfolge, ich unter den Ausdruck des Satzes vom Grunde zusammenfasse, wären absolute und durch gar nichts bedingte Gesetze,  aeternae veritates,  die Welt selbst wäre nur infolge und Gemäßheit derselben, und daher müsse nach ihrem Leitfaden das ganze Rätsel der Welt sich lösen lassen. Die zu dem Zweck gemachten Annahmen, welche KANT unter dem Namen der Ideen der Vernunft kritisiert, dienten eigentlich nur dazu, die bloße Erscheinung, das Werk der Maja, die Schattenwelt des PLATON, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben, sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen, und die wirkliche Erkenntnis von diesem dadurch unmöglich zu machen: d. h., mit einem Wort, die Träumer noch fester einzuschläfern. KANT zeigte jene Gesetze und folglich die Welt selbst, als durch die Erkenntnisweise des Subjekts bedingt, woraus folgte, daß soweit man auch am Leitfaden jener weiter forschte und weiter schlösse, man in der Hauptsache, d. h. in der Erkenntnis des Wesens der Welt ansich und außerhalb der Vorstellung, keinen Schritt vorwärts käme, sondern sich nur so bewegte, wie das Eichhörnchen im Rad. Man kan daher auch sämtliche Dogmatiker mit Leuten vergleichen, welche meinten, daß wenn sie nur recht lange geradeaus gingen, sie ans Ende der Welt gelangen würden: KANT aber hätte dann die Welt umsegelt und gezeigt, daß, weil sie rund ist, man durch eine horizontale Bewegung nicht hinauskann, daß es jedoch durch eine perpendikulare [senkrechte - wp] vielleicht nicht unmöglich ist. Auch kann man sagen, KANTs Lehre gebe die Einsicht, daß der Welt Ende und Anfang nicht außer, sondern in uns zu suchen ist.

KANT gelangte zwar nicht zu der Erkenntnis, daß die Erscheinung die Welt als Vorstellung und das Ding ansich der Wille sei. Aber er zeigte, daß die erscheinende Welt ebensosehr durch das Subjekt, wie durch das Objekt bedingt sei, und indem er die allgemeinsten Formen ihrer Erscheinung, d. h. der Vorstellung, isolierte, tat er dar, daß man diese Formen nicht nur vom Objekt, sondern ebensowohl auch vom Subjekt ausgehend erkennt und ihrer ganzen Gesetzmäßigkeit nach übersieht, weil sie eigentlich zwischen Objekt und Subjekt die beiden gemeinsame Grenze sind, und er schloß, daß man durch das Verfolgen dieser Grenze weder ins Innere des Objekts noch des Subjekts eindringt, folglich nie das Wesen der Welt, das Ding ansich erkennt.

Er leitete das Ding ansich nicht auf die rechte Art ab, wie ich bald zeigen werde, sondern mittels einer Inkonsequenz, die er durch häufige und unwiderstehliche Angriffe auf diesen Hauptteil seiner Lehre büßen mußte. Er erkannte nich direkt im Willen das Ding ansich: allein er tat einen großen, bahnbrechenden Schritt zu dieser Erkenntnis, indem er die unleugbare ethische Bedeutung des menschlichen Handelns als ganz verschieden und nicht abhängig von den Gesetzen der Erscheinung, noch diesen gemäß je erklärbar, sondern als etwas, welches das Ding ansich unmittelbar berührt, darstellte: dieses ist der zweite Hauptgesichtspunkt für sein Verdienst.

Als den dritten können wir den völligen Umsturz der scholastischen Philosophie, mit welchem Namen ich hier im Allgemeinen die ganze vom Kirchenvater AUGUSTINUS anfangende und dicht vor KANT schließende Periode bezeichnen möchte. Denn der Hauptcharakter der Scholastik ist doch wohl der von TENNEMANN sehr richtig angegebene, die Vormundschaft der herrschenden Landesreligion über die Philosophie, welcher eigentlich nichts übrig blieb, als die ihr von jener vorgeschriebenen Hauptdogmen zu beweisen und auszuschmücken: die eigentlichen Scholastiker, bis SUAREZ, gestehen dies unverhohlen ein: die folgenden Philosophen tun es mehr unbewußt, oder doch nicht eingeständlich. Man läßt die scholastische Philosophie nur bis etwa hundert Jahre vor CARTESIUS gehn und dann mit diesem eine ganz neue Epoche des freien, von aller positiven Glaubenslehre unabhängigen Forschens anfangen: allein ein solches ist in der Tat dem CARTESIUS und seinen Nachfolgern (1)) nicht beizulegen, sondern nur ein Schein davon und allenfalls ein Streben danach. CARTESIUS war ein höchst ausgezeichneter Geist und hat, wenn man seine Zeit berücksichtigt, sehr viel geleistet. Setzt man aber diese Rücksicht beiseite und mißt ihn nach der ihm nachgerühmten Befreiung des Denkens von allen Fesseln und die Anhebung einer neuen Periode des unbefangenen eigenen Forschens; so muß man finden, daß er mit seiner des rechten Ernstes noch entbehrenden und daher so schnell und so schlecht sich wiedergebenden Skepsis, zwar die Miene macht, als ob er alle Fesseln früh eingeimpfter, der Zeit und der Nation angehörender Meinungen, mit einem Mal abwerfen wollte, es aber bloß zum Schein auf einen Augenblick tut, um sie sogleich wieder aufzunehmen und desto fester zu halten: und ebenso alle seine Nachfolger bis auf KANT. Sehr anwendbar auf einen freien Selbstdenker dieses Schlags ist daher GOETHEs Vers:
    "Er scheint mir, mit Verlaub von euer Gnaden,
    Wie eine der langbeinigen Zikaden,
    Die immer fliegt und fliegend springt -
    Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt." -
KANT hatte Gründe die Miene zu machen, als ob  er  es auch nur so meinte. Aber aus dem vorgeblichen Sprung, der zugestanden war, weil man schon wußte, daß er ins Gras zurückführt, wurde diesmal ein Flug, und jetzt haben, die unten stehn, nur das Nachsehn und können ihn nicht wieder einfangen.

KANT also wagte es, aus seiner Lehre die Unbeweisbarkeit all jener vorgeblich so oft bewiesenen Dogmen darzutun. Die spekulative Theologie und die mit ihr zusammenhängende rationale Psychologie empfingen von ihm den Todesstreich. Seitdem sind sie aus der deutschen Philosophie verschwunden, und man darf sich nicht dadurch irre machen lassen, daß hie und da das Wort beibehalten wird, nachdem man die Sache aufgegeben hat, oder daß irgendein armseliger Philosophieprofessor die Furcht seines Herrn vor Augen hat und Wahrheit Wahrheit sein läßt. Die Größe dieses Verdienstes KANTs kann nur  der  ermessen, welcher den nachteiligen Einfluß jener Begriffe auf Naturwissenschaft, wie auf Philosophie, in allen, selbst den besten Schriftstellern, wie auf Philosophie, in allen, selbst den besten Schriftstellern des 17. und 18. Jahrhunderts beachtet hat. In den deutschen naturwissenschaftlichen Schriften ist die seit KANT eingetretene Veränderung des Tons und des metaphysischen Hintergrundes auffallend: vor ihm stand es damit, wie noch jetzt in England. - Dieses Verdienst KANTs hängt damit zusammen, daß das besinnungslose Nachgehen den Gesetzen der Erscheinung, das Erheben derselben zu ewigen Wahrheiten und dadurch der flüchtigen Erscheinung zum eigentlichen Wesen der Welt, kurz, der in seinem Wahn durch keine Besinnung gestörte  Realismus  in aller vorhergegangenen Philosophie der alten, der mittleren und der neueren Zeit durchaus herrschend gewesen war. BERKELEY, der, wie vor ihm auch schon MALEBRANCHE, das Einseitige, ja Falsche desselben erkannt hatte, vermochte ihn nicht umzustoßen, weil sein Angriff sich auf  einen  Punkt beschränkte. KANT also war es vorbehalten, der idealistischen Grundansicht, welche im ganzen nicht islamisierten Asien sogar, und zwar wesentlich, die der Religion ist, in Europa wenigstens in der Philosophie zur Herrschaft zu verhelfen. Vor KANT also waren wir  in  der Zeit: jetzt ist die Zeit in uns.

Auch die Ethik war von jener realistischen Philosophie nach den Gesetzen der Erscheinung, die sie für absolute, auch vom Ding ansich geltende hielt, behandelt worden, und daher bald auf eine Glückseligkeitslehre, bald auf den Willen des Weltschöpfers, zuletzt auf den Begriff der Vollkommenheit gegründet, der für sich ganz leer und inhaltslos ist, da er eine bloße Relation bezeichnet, die erst von den Dingen auf welche sie angewandt wird Bedeutung erhält, indem "vollkommen sein" nichts weiter heißt als "irgendeinem dabei vorausgesetzten und gegebenen Begriff entsprechen," der also vorher aufgestellt sein muß und ohne welchen die Vollkommenheit eine unbekannte Zahl ist und folglich für sich ausgesprochen gar nichts sagt. Will man nun aber etwa dabei den Begriff der "Menschheit" zur stillschweigenden Voraussetzung machen und demnach zum Moralprinzip setzen nach vollkommener Menschheit zu streben; so sagt man damit eben nur: "die Menschen sollen sein wie sie sein sollen:" - und ist so klug wie zuvor. KANT, wie schon gesagt, sonderte die unleugbare große ethische Bedeutsamkeit der Handlungen ganz ab von der Erscheinung und deren Gesetzen, und zeigte jene als unmittelbar das Ding ansich, das innerste Wesen der Welt betreffend, wogegen diese, d. h. Zeit und Raum und alles, was sie erfüllt und sich in ihnen nach dem Kausalgesetz ordnet, als bestand- und wesenloser Traum anzusehen sind.

Dieses Wenige und keineswegs den Gegenstand Erschöpfende mag hinreichen als Zeugnis meiner Anerkennung der großen Verdienste KANTs, hier abgelegt zu meiner eigenen Befriedigung und weil die Gerechtigkeit forderte jene Verdienste jedem ins Gedächtnis zurückzurufen, der mir in der rücksichtslosen Aufdeckung seiner Fehler, zu welcher ich jetzt schreite, folgen will.



Daß KANTs große Leistungen auch von großen Fehlern begleitet sein mußten, läßt sich schon bloß historisch ermessen, daraus, daß, obwohl er die größte Revolution in der Philosophie bewirkte, und der Scholastik, die, im angegebenen weiteren Sinne verstanden, vierzehn Jahrhunderte gedauert hatte, eine Ende machte, um nun wirklich eine ganz neue dritte Weltepoche der Philosophie zu beginnen; doch der unmittelbare Erfolg seines Auftretens fast nur negativ, nicht positiv war, indem, weil er nicht ein vollständiges neues System aufstellte, an welches seine Anhänger nur irgendeinen Zeitraum hindurch sich hätten halten können, alle zwar merkten, es sei etwas sehr großes geschehen, aber doch keiner recht wußte was. Sie sahen wohl ein, daß die ganze bisherige Philosophie ein fruchtloses Träumen gewesen war, aus dem jetzt die neue Zeit erwachte: aber woran sie sich nun halten sollten, wußten sie nicht. Eine große Leere, ein großes Bedürfnis war eingetreten: die allgemeine Aufmerksamkeit, selbst des größeren Publikums, war erregt. Hierdurch veranlaßt, nicht aber von einem inneren Trieb und Gefühl der Kraft (die sich auch im ungünstigsten Zeitpunkt äußern, wie bei SPINOZA) gedrungen, machten Männer ohne alle auszeichnende Talente mannigfaltige, schwache, ungereimte, ja mitunter tolle Versuche, denen das nun einmal aufgeregte Publikum doch seine Aufmerksamkeit schenkte und mit großer Geduld, wie sie nur in Deutschland zu finden ist, lange sein Ohr lieh.

Wie hier, muß es einst in der Natur gegangen sein, als eine große Revolution die ganze Oberfläche der Erde geändert, Meer und Land ihre Stellen gewechselt hatten und der Plan zu einer neuen Schöpfung geebnet war. Da währte es lange, ehe die Natur eine neue Reihe dauernder, jede mit sich und mit den übrigen harmonierenden Formen herausbringen konnte: seltsame monströse Organisationen traten hervor, die mit sich selbst und untereinander disharmonierend, nicht lange bestehen konnten, aber deren noch jetzt vorhandene Reste es eben sind, die das Andenken jenes Schwankens und Versuchens der sich neu gestaltenden Natur auf uns gebracht haben. - Daß nun in der Philosophie eine jener ganz ähnliche Krisis und ein Zeitalter der ungeheuren Ausgeburten durch KANT herbeigeführt wurde, wiie wir alle wissen, läßt schon schließen, daß sein Verdienst nicht vollkommen, sondern mit großen Mängeln behaftet, negati und einseitig gewesen sein muß. Diesen Mängeln wollen wir jetzt nachspüren.



Zuerst wollen wir den Grundgedanken, in welchem die Absicht der ganzen Kritik der reinen Vernunft liegt, uns deutlich machen und ihn prüfen. - KANT stellte sich auf den Standpunkt seiner Vorgänger, der dogmatischen Philosophen, und ging demgemäß mit ihnen von folgenden Voraussetzungen aus.
    1) Metaphysik ist Wissenschaft von demjenigen, was jenseits der Möglichkeit aller Erfahrung liegt.

    2) Ein solches kann nimmermehr gefunden werden nach Grundsätzen, die selbst erst aus der Erfahrung geschöpft sein (Prolegomena § 1); sondern nur  das,  was wir  vor,  also unabhängig  von  aller Erfahrung wissen, kann weiter reichen, als mögliche Erfahrung.

    3) In unserer Vernunft sind wirklich einige Grundsätze der Art anzutreffen: man begreift sie unter dem Namen Erkenntnisse aus reiner Vernunft.
Soweit geht KANT mit seinen Vorgängern zusammen: hier aber trennt er sich von ihnen. Sie sagen: "diese Grundsätze, oder Erkenntnisse aus reinen Vernunft, sind Ausdrücke der absoluten Möglichkeit der Dinge,  aeternae veritates  [ewige Wahrheiten - wp], Quellen der Ontologie: sie stehn über der Weltordnung, wie das Fatum über den Göttern der Alten." KANT sagt: es sind bloße Formen unseres Intellekts, Gesetze, nicht des Daseins der Dinge, sondern unserer Vorstellungen von ihnen, gelten daher bloß für unsere Auffassung der Dinge, und können demnach nicht über die Möglichkeit der Erfahrung, worauf es, laut Artikel 1, abgesehen war, hinausreichen. Denn gerade die Apriorität dieser Erkenntnisformen, da sie nur auf den subjektiven Ursprung derselben beruhen kann, schneidet uns die Erkenntnis des Wesens ansich der Dinge auf immer ab und beschränkt uns auf eine Welt von bloßen Erscheinungen, so daß wir nicht einmal  a posteriori,  geschweige  a priori,  die Dinge erkennen können, wie sie ansich sein mögen. Demnach ist Metaphysik unmöglich, und an ihre Stelle tritt die Kritik der reinen Vernunft. Dem alten Dogmatismus gegenüber ist hier KANT völlig siegreich: daher haben alle seitdem aufgetretenen Versuche ganz andere Wege einschlagen müssen, als die früheren: auf die Berechtigung des meinigen, werde ich, der ausgesprochenen Absicht gegenwärtiger Kritik gemäß, jetzt hinleiten. Nämlich bei genauerer Prüfung der obigen Argumentation wird man eingestehen müssen, daß die allererste Grundannahme derselben eine  petitio principii [Unbewiesenes dient als Beweisgrund - wp] ist: sie liegt in dem (besonders Prolegomena § 1 deutlich aufgestellten Satz: "die Quelle der Metaphysik darf durchaus nicht empirisch sein, ihre Grundsätze und Grundbegriffe dürfen nie aus der Erfahrung, weder innerer noch äußerer, genommen sein." Zur Begründung dieser Kardinal-Behauptung wird jedoch gar nichts angeführt, als das etymologische Argument aus dem Wort  Metaphysik.  In Wahrheit aber verhält sich die Sache so: die Welt und unser eigenes Dasein stellt sich uns notwendig als ein Rätsel dar: nun wird ohne weiteres angenommen, daß die Lösung dieses Rätsels nicht aus dem gründlichen Verständnis der Welt selbst hervorgehen kann, sondern in etwas der Welt gänzlich Verschiedenem gesucht werden muß (denn das heißt "über die Möglichkeit aller Erfahrung hinaus"); und daß von jener Lösung alles ausgeschlossen werden muß, wovon wir irgendwie eine  unmittelbare  Kenntnis (denn das heißt mögliche Erfahrung, sowohl innere, wie äußere) haben können; dieselbe vielmehr nur in  dem  gesucht werden muß, wozu wir bloß mittelbar, nämlich mittels Schlüssen aus allgemeinen Sätzen  a priori,  gelangen können. Nachdem man auf diese Art die Hauptquelle aller Erkenntnis ausgeschlossen und sich den geraden Weg zur Wahrheit versperrt hatte, darf man sich nicht wundern, daß die dogmatischen Versuche mißglückten und KANT die Notwendigkeit dieses Mißglückens dartun konnte: denn man hatte im Voraus Metaphysik und Erkenntnis  a priori  als identisch angenommen. Dazu hätte man aber vorher beweisen müssen, daß der Stoff zur Lösung des Rätsels der Welt schlechterdings nicht in ihr selbst enthalten sein kann, sondern nur außerhalb der Welt zu suchen ist, in etwas, dahin man nur am Leitfaden jener uns  a priori  bewußten Formen gelangen kann. Solange aber dies nicht bewiesen ist, haben wir keinen Grund, uns, bei der wichtigsten und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnisquellen, innere und äußere Erfahrung, zu verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operieren. Ich sage daher, daß die Lösung des Rätsels der Welt aus dem Verständnis der Welt selbst hervorgehen muß, daß also die Aufgabe der Metaphysik nicht ist, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund auf zu verstehen, indem Erfahrung, äußere und innere, allerdings die Hauptquelle aller Erkenntnis ist, daß daher nur durch die gehörige und am rechten Punkt vollzogene Anknüpfung der äußeren Erfahrung an die innere, und dadurch zustande gebrachte Verbindung dieser zwei so heterogenen Erkenntnisquellen, die Lösung des Rätsels der Welt möglich ist; wiewohl auch so nur innerhalb gewisser Schranken, die von unserer endlichen Natur unzertrennlich sind, mithin so. daß wir zum richtigen Verständnis der Welt selbst gelangen, ohne jedoch eine abgeschlossene und alle ferneren Probleme aufhebende Erklärung ihres Daseins zu erreichen. Mithin  est quadam prodire tenus,  [es ist alles erlaubt, was nicht verboten ist. - wp] und mein Weg liegt in der Mitte zwischen der Allwissenheitslehre der früheren Dogmatik und der Verzweiflung der Kantischen Kritik. Die von KANT entdeckten, wichtigen Wahrheiten aber, durch welche die früheren metaphysischen Systeme umgestoßen wurden, haben dem meinigen Data und Material geliefert. Man vergleiche, was ich im Kapitel 17 des zweiten Bandes [Welt als Wille etc. - wp] über meine Methode gesagt habe. - Soviel über den Kantischen Grundgedanken: jetzt wollen wir die Ausführung und das Einzelne betrachten.



KANTs Stil trägt durchweg das Gepräge eines überlegenen Geistes, echter, fester Eigentümlichkeit und ganz ungewöhnlicher Denkkraft: der Charakter desselben läßt sich vielleicht treffend als eine est quadam prodire tenusglänzende Trockenheit bezeichnen, vermöge welcher er die Begriffe mit großer Sicherheit fest zu fassen und herauszugreifen, dann sie mit größter Freiheit hin und her zu werfen vermag, zum Erstaunen des Lesers. Dieselbe glänzende Trockenheit finde ich im Stil des ARISTOTELES wieder, obwohl dieser viel einfacher ist. - Dennoch ist KANTs Vortrag oft undeutlich, unbestimmt, ungenügend und bisweilen dunkel. Allerdings ist dieses Letztere zum Teil durch die Schwierigkeit des Gegenstandes und die Tiefe der Gedanken zu entschuldigen: aber wer sich selber bis auf den Grund klar ist und ganz deutlich weiß, was er denkt und will, der wird nie undeutlich schreiben, wird nie schwankende, unbestimmte Begriffe aufstellen und zur Bezeichnung derselben aus fremden Sprachen höchst schwierige komplizierte Ausdrücke zusammensuchen, um solche nachher fortwährend zu gebrauchen, wie KANT aus der älteren, sogar scholastischen Philosophie Worte und Formeln nahm, die er zu seinen Zwecken miteinander verband, wie z. B.  transzendentale synthetische Einheit der Apperzeption  und überhaupt "Einheit der Synthesis" allemal gesetzt, wo "Vereinigung" ganz allein ausreichte. Ein solcher wird ferner nich das schon einmal Erklärte immer wieder von Neuem erklären, wie KANT es z. B. macht mit dem Verstand, den Kategorien, der Erfahrung und anderen Hauptbegriffen. Ein solcher wird sich überhaupt nicht unablässig wiederholen und dabei doch, in jeder neuen Darstellung des hundertmal dagewesenen Gedanken, ihm wieder gerade dieselbe dunklen Stellen lassen; sondern er wird einmal deutlich, gründlich, erschöpfend seine Meinung sagen, und es dabei bewenden lassen. Aber der größte Nachteil, den KANTs stellenweise dunkler Vortrag gehabt hat, ist daß er als  exemplar vitilis imitabile  [Exemplar aus eine Korb von Unnachahmlichkeiten - wp] wirkte, ja, zu verderblicher Autorisation mißdeutet wurde. Das Publikum war genötigt worden einzusehen, daß das Dunkle nicht immer sinnlos ist: sogleich flüchtete sich das Sinnlose hinter den dunklen Vortrag. FICHTE war der erste, der dieses neue Privilegium ergriff und stark benutzte; SCHELLING tat es ihm darin wenigstens gleich, und ein Heer hungriger Skribenten ohne Geist und ohne Redlichkeit überbot bald beide. Jedoch die größte Frechheit im Auftischen baren Unsinns, im Zusammenschmieren sinnleerer, rasender Wortgeflechte, wie man sie bis dahin nur in Tollhäusern vernommen hatte, trat endlich im HEGEL auf und wurde das Werkzeug der plumpesten allgemeinen Mystifikation, die je gewesen, mit einem Erfolg, welcher der Nachwelt fabelhaft erscheinen und ein Denkmal deutscher Niaiserie [Dummheit - wp] bleiben wird. Vergeblich schrieb unterdessen JEAN PAUL seinen schönen Paragraphen "höhere Würdigung des philosophischen Tollseins auf dem Katheder und des dichterischen auf dem Theater" (ästhetische Nachschule): denn vergeblich hatte schon GOETHE gesagt:
    "So schwätzt und lehrt man ungestört,
    Wer mag sich mit den Narr'n befassen?
    Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
    Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen."
Doch kehren wir zu KANT zurück. Man kann nicht umhin einzugestehen, daß ihm die antike, grandiose Einfalt, daß ihm Naivität,  ingenuité, candeur  [Einfallsreichtum, Offenheit - wp] gänzlich abgeht. Seine Philosophie hat keine Analogie mit der griechischen Baukunst, welche große, einfache, dem Blick sich auf einmal offenbarende Verhältnisse darbietet: vielmehr erinnert sie sehr stark an die gothische Bauart. Denn eine ganz individuelle Eigentümlichkeit von KANTs Geist ist ein sonderbares Wohlgefallen an der  Symmetrie,  welche die bunte Vielheit liebt, um sie zu ordnen und die Ordnung in Unterordnungen zu wiederholen, und so immerfort, gerade wie an den gothischen Kirchen. Ja, er treibt dies bisweilen bis zur Spielerei, wobei er, jener Neigung zu Liebe, so weit geht, der Wahrheit offenbare Gewalt anzutun und mir ihr zu verfahren, wie mit der Natur die altfränkischen Gärtner, deren Werk symmetrische Alleen, Quadrate und Triangel, pyramidische und kugelförmige Bäume und zu regelmäßigen Kurven gewundene Hecken sind. Ich will dies mit Tatsachen belegen.

Nachdem er Raum und Zeit isoliert abgehandelt hat, dann diese ganze Raum und Zeit füllende Welt der Anschauung, in der wir leben und sind, abgefertigt hat mit den nichtssagenden Worten "der empirische Inhalt der Anschauung wird uns  gegeben,"  - gelangt er sofort, mit  einem  Sprung, zur  logischen Grundlage seiner ganzen Philosophie, zur Tafel der Urteile.  Aus dieser deduziert er ein richtiges Dutzend Kategorien, symmetrisch unter vier Titeln abgesteckt, welche späterhin das furchtbare Bett des PROKRUSTES werden, in welches er alle Dinge der Welt und alles was im Menschen vorgeht gewaltsam hineinzwängt, keine Gewalttätigkeit scheuend und kein Sophisma verschmähend, um nur die Symmetrie jener Tafel überall wiederholen zu können. Das Erste was aus ihr symmetrisch abgeleitet wird ist die reine physiologische Tafel allgemeiner Grundsätze der Naturwissenschaft, nämlich: Axiome der Anschauung, Antizipationen der Wahrnehmung, Analogien der Erfahrung und Postulate des empirischen Denkens überhuapt. Von diesen Grundsätzen sind die beiden ersten einfach: die beiden letzteren aber treiben symmetrisch jeder drei Sprößlinge. Die bloßen Kategorien waren was er  Begriffe  nennt: diese Grundsätze der Naturwissenschaft sind aber  Urteile Zufolge seines obersten Leitfadens zu aller Weisheit, nämlich der Symmetrie, ist jetzt an den  Schlüssen  die Reihe sich fruchtbar zu erweisen: und zwar tun sie dies wieder symmetrisch und taktmäßig. Denn, wie durch Anwendung der Kategorien auf die Sinnlichkeit, für den  Verstand  die Erfahrung, samt ihren Grundsätzen  a priori,  erwuchs; ebenso entstehen durch Anwendung der  Schlüsse  auf die Kategorien, welches Geschäft die  Vernunft nach ihrem angeblichen Prinzip das Unbedingte zu suchen, verrichtet, die  Ideen  der Vernunft. Dies geht nun so vor sich: die drei Kategorien der Relation geben drei allein mögliche Arten von Obersätzen zu Schlüssen, wobei letztere dem gemäß ebenfalls in drei Arten zerfallen, jede von welchen als ein Ei anzusehen ist, aus dem die Vernunft eine Idee brütet: nämlich aus der kategorischen Schlußart die Idee der  Seele,  aus der hypothetischen die Idee der Welt, und aus der disjunktien die Idee von  Gott.  In der mittelsten, der Idee der Welt, wiederholt sich nun noch einmal die Symmetrie der Kategorientafel, indem ihre vier Titel vier Thesen hervorbringen, von denen jede ihre Antithese zum symmetrischen Pendant hat. Wir zollen zwar der wirklich höchst scharfsinnigen Kombination, welche dieses zierliche Gebäude hervorrief, unsere Bewunderung; werden aber weiterhin dasselbe in seinem Fundament und in seinen Teilen gründlich untersuchen. - Doch müssen folgende Betrachtungen vorangeschickt werden.
LITERATUR - Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 1859
    Anmerkungen
    1) BRUNO und SPINOZA sind hier ganz auszunehmen. Sie stehen jeder für sich und allein, und gehören weder ihrem Jahrhundert nocht ihrem Weltteil an, welche dem einen mit dem Tod, dem andern mit Verfolgung und Schimpf lohnten. Ihr kümmerliches Dasein und Sterben in diesem Okzident, gleicht dem einer tropischen Pflanze in Europa. Ihre wahre Geistesheimat waren die Ufer des heiligen Ganges: dort hätten sie ein ruhiges und geehrtes Leben geführt, unter ähnlich Gesinnten. - BRUNO drückt in folgenden Versen, mit denen er das Buch  della causa principio ed uno,  für welches ihm der Scheiterhaufen zuteil wurde, eröffnet, deutlich und schöne aus, wie einsam er sich in seinem Jahrhundert fühlte, und zeigt zugleich eine Ahnung seines Schicksals, welche ihn zaudern ließ seine Sache vorzutragen, bis jener in edlen Geistern so starke Trieb zur Mitteilung des für wahr Erkannten überwand: Ad partum properare tuum, mens aegra, quid obstat; Seclo haec indigno sint tribuenda licet; Umbrarum fluctu terras mergente, cacumen Adtolle in clarum, noster Olympe, Jovem. [Zauderst du, schwaches Gemüt, dein hehres Werk zu vollenden, Weil unwürdig die Zeit, der du die Gabe verleihst? Wie auch der Schatten Schwall die Länder deckt, du hebe, Unser Olymp, das Haupt frei zu Äther empor!] - - - Wer diese seine Hauptschrift, wie auch seine übrigen, früher so seltenen, jetzt, durch eine deutsche Ausgabe, jedem zugänglichen italienischen Schriften liest, wird mit mir finden, daß unter allen Philosophen er allein dem PLATON in etwas sich nähert, im Hinblick auf die starke Beigabe poetischer Kraft und Richtung neben der philosophischen, und solche eben auch besonders dramatisch zeigt. Das zarte, geistige, denkende Wesen, als welches er uns aus dieser Schrift entgegentritt, denke man sich unter den Händen roher, wütender Pfaffen als seiner Richter und Henker, und danke der Zeit die ein helleres und milderes Jahrhundert herbeiführte, so daß die Nachwelt, deren Fluch jene teuflischen Fanatiker treffen sollte, jetzt schon die Mitwelt ist.