tb-1Die Philosophie des Als ObIst die Philosophie des Als-Ob Skeptizismus    
 
HANS VAIHINGER
(1852 - 1933)
Wie die Philosophie
des Als-Ob entstand

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Philosophie und Erkenntnistheorie sind ohne Psychologie nur eine methodische Abstraktion, deren systematische Durchführung unmöglich ist.

Um dieselbe Zeit fand noch ein weiterer entscheidender Einfluß auf mein Denken statt. Wie ich schon oben angedeutet habe, beschäftigte mich nicht bloß das Studium der Philosophie und ihrer Geschichte, sondern vor allem auch die großen Reformen der Naturwissenschaft, die um jene Zeit sich abspielten, einerseits die Durchführung der mechanischen Auffassung speziell des "Gesetzes der Erhaltung der Kraft" durch alle Naturgebiete, andererseits die völlige Umgestaltung aller organischen Naturwissenschaften durch die Entwicklungslehre DARWINs(3) und durch deren spezielle Form der Selektionslehre, d.h. der mechanischen, von selbst sich vollziehenden Auslese des Zweckmäßigen durch den sogenannten "Kampf ums Dasein".

Ich suchte mir über alle Gebiete der unorganischen und organischen Naturwissenschaften nicht nur eine allgemeine Übersicht zu verschaffen, sondern war auch, soweit es mir die Umstände gestatteten, bemüht, spezielle Einsicht in die wichtigsten dieser Gebiete zu bekommen. Ich ergriff jede Gelegenheit, nicht nur durch geeignete Bücher mich auf dem Laufenden zu erhalten, sondern mit Vertretern der Naturwissenschaft persönliche Fühlung zu erhalten.

So kam ich auch mit dem Professor der Physiologie HÜFNER in Berührung, mit dem ich eines Tages eine lebhafte Debatte über die "Lebenskraft" hatte. Mit jugendlicher Einseitigkeit sprach ich mich sehr entschieden gegen dieselbe aus, als eine veraltete und unnütze Theorie. Er gab mir ansich die Berechtigung meiner Einwände zu einem guten Teil zu, wies aber darauf hin, daß deshalb doch die Verwendung dieses Begriffs, auch wenn er als falsch oder wenigstens als nicht ganz theoretisch berechtigt erkannt werde, aus praktischen Gründen zweckmäßig und nicht bloß erlaubt, sondern sogar notwendig sein könnte. Er gab mir noch seine damals eben erschienene Schrift über die Lebenskraft.

Damit war nun ein Funke in meine Seele gefallen, der für mich für die Dauer zur allergrößten Wichtigkeit werden sollte. Ich wurde dadurch aufmerksam für ähnliche Hilfsbegriffe und sammelte Beispiele aus allen Wissenschaften. Ich hatte dazu um so mehr Gelegenheit, als ich nicht bloß mit den verschiedensten Naturwissenschaften mich bekannt machte, sondern mit einem wahren Universalismus jede Gelegenheit ergriff, in neue Wissenschaftsgebiete Einblick zu gewinnen, wozu mir persönliche Bekanntschaften ebenso verhelfen mußten wie Bücher.

In meinem letzten Tübinger Jahre vom Herbst 1873 bis Sommer 1874 beschäftigten mich besonders die klassischen Sprachen, griechische Archäologie und germanische Philologie. Da ich das auf Wunsch meiner Eltern bis dahin ex professo äußerlich betriebene Studium der Theologie im Herbst 1873 formell aufgeben konnte, mußte ich mich mit dem Plane befreunden, Lehrer an einer höheren Schule zu werden, und so besuchte ich in jenem Schlußjahr das klassisch-philologische und germanistische Seminar. Bei dem Studium der klassischen Philologie zog mich aber vor allem die griechische Kunst und beim Studium der germanischen Philologie reizte mich vor allem die Entwicklung der Sprachen, die damals durch Schleiers indogermanische Grammatik im Sinne der Entwicklungslehre gefördert wurde. So begann ich auch das Studium des Sanskrit unter ROTH.

Was mich aber an jenen seminaristischen Übungen, zu denen sich auch noch der Besuch des historischen Seminars gesellte, am meisten anzog, das war das praktische Miterleben an dem methodischen Verfahren der Wissenschaften. Von SIGWARTs her für die Logik und nicht bloß für den formalen Teil derselben, sondern vorallem für die Methodologie stark interessiert, hatte ich nun hier willkommene Gelegenheit, an der Praxis des wissenschaftlichen Verfahrens mitzuarbeiten und darüber theoretische Betrachtungen anstellen zu können.

Im Sommer 1874 promovierte ich in Tübingen mit jener Preisschrift über "Die neueren Theorien des Bewußtseins"(4), wozu noch klassische und germanische Philologie als Nebenfächer traten.

Nun aber brannte mir der Boden unter den Füßen. Vier Jahre hatte ich in Tübingen zugebracht. Nach der Ordnung des Tübinger Stifts mußte ich diese acht Semester dort aushalten. Was ich für mich in Tübingen gewinnen konnte, hatte ich mit ehrlichem Fleiß reichlich eingeheimst. Es drängte jetzt auch die Abdienung des Einjährigfreiwilligen Jahrs. Dazu wählte ich nach dem Vorbild vieler Landsleute Leipzig, dessen berühmte Universität mir Neues und Großes bieten konnte.

Vor dem Weggang aus der Heimat wollte ich aber noch über eine mich damals besonders beschäftigende Lebensfrage von klugen Männern Auskunft erhalten: wie ich auf dem Stuttgarter Gymnasium vom Theismus zum Pantheismus gekommen war, so hatte mich die Tübinger Universität vom Pantheismus durch den Kantischen Agnostizismus hindurch in die unmittelbare Nähe des Schopenhauerschen Atheismus geführt.

Nun erhob sich die Frage, wie man sich von diesem theoretischen Atheismus aus zu den historisch gegebenen Formen der Kirche und zu den geschichtlich entstandenen religiösen Dogmen verhalten solle und ob man etwa genötigt sei, gegen die positive Kirche eine absolut negative Stellung einzunehmen? Mir erschien dies nicht notwendig: die Beschäftigung mit der griechischen Mythologie, besonders wie sich die letztere in den antiken Kunstwerken zum Ausdruck brachte (damals "Kunstmythologie" genannt) hatte mich gelehrt, daß man, wie das die gebildeten Griechen und Römer taten und wie es mir auch früher bei Platon entgegengetreten war, die Mythen als "Mythen" betrachten und behandeln und doch (oder vielmehr eben deshalb) den ethischen und ästethischen Wert dieser Fiktionen dauernd hochhalten könne.

Darüber wollte ich die drei Weisen aus dem Schwabenlande hören, die damals dessen berühmteste Söhne waren: David Fr. Strauss, der ja die biblischen spez. neutestamentlichen Erzählungen und die Formeln der Dogmatik in "Mythen" aufgelöst hatte, FRIEDRICH Th. VISCHER, der in seinen Mannesjahren einen scharfen Kampf gegen die Kirche geführt hatte, aber doch als Kunsthistoriker gar nicht ohne die kirchlichen Mythen auskommen konnte und endlich ROBERT MAYER, den Entdecker des Gesetzes der Erhaltung der Kraft, der mit seiner streng mechanischen Naturauffassung lebendige Religiösität verband.

Zu Strauß, dessen "Alter und Neuer Glaube" damals großes Aufsehen machte, hatte ich schon Beziehungen. Ich fand bei ihm leicht Eingang, aber ich traf ihn auf dem Krankenlager, das wenige Monate später sein Totenbett wurde. So konnte das Gespräch nicht tiefgehen, aber er gab mir eine Empfehlung an seinen alten Freund VISCHER mit. Dieser brachte aber das Gespräch einseitig auf sein damaliges Lieblingsthema "die Entartung des deutschen Volkes seit 1871", das er ja auch bei verschiedenen Gelegenheiten öffentlich behandelt hat. Er wollte meine Meinung als die eines Vertreters der jungen Generation darüber hören: eine "Entartung" wollte ich damals noch nicht ganz zugeben, aber ich mußte ihm zugestehen, daß auch mir in der jungen Generation Züge der Überhebung und Selbstüberschätzung und damit zugleich der Unterschätzung der benachbarten Kulturvölker vorgekommen waren.

Die Franzosen, die man soeben so glänzend besiegt hatte, unterschätzte man sowohl ethisch als kulturell. Was mir aber noch gefährlicher erschien, das war die allgemeine Verkennung, ja Mißachtung, die man den Engländern entgegen brachte. Ich hatte von früh an viel mit Engländern verkehrt und neben ihren Eigentümlichkeiten ihre Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit kennen gelernt. Dazu schätzte ich ihre Literatur sehr hoch und endlich waren sie mir teuer durch die Namen von HUME und DARWIN. Hier begegnete ich aber bei Vischer selbst ein Manko, da er die Engländer nur aus der Ferne kannte und HUME und DARWIN nicht schätzte. Der Besuch bei R. MAYER mußte durch einen Zufall unterbleiben.

Als ich im September 1874 in Leipzig ankam, meldete ich mich sofort zum Militärdienst. Aber ich wurde um meiner schon damals abnormen Augen willen nicht dienstfähig befunden. Und das war mir einerseits sehr schmerzlich, denn als Freund alles Sportes und besonders auch des von dem Schwaben Professor JÄGER eingeführten militärischen Turnens hätte ich gerne diese Seite meiner zur Aktivität neigenden Natur weiter ausgebildet.

Andererseits war mir die so gewonnene freie Zeit natürlich höchst willkommen. Ich benutzte die Muße sofort zur Erfüllung eines langjährigen Wunsches: mit fast allen Wissenschaften hatte ich mich in Tübingen bekannt gemacht, nur in einer Wissenschaft blieb ich auf dem stehen, was ich auf dem Gymnasium gelernt hatte, in der Mathematik, und diese Lücke empfand ich immer schmerzlicher.

Unser Mathematiker in Stuttgart war Professor REUSCHLE (auch ein Freund von DAVID FRIEDRICH STRAUSS), der sich als Theoretiker der Primzahlen einen guten Namen gemacht hatte, dessen didaktische Kunst aber sehr unterentwickelt war. So hatte ich mir durch Selbstunterricht (ich verschaffte mir aus der Staatsbibliothek geeignete Lehrbücher) nachgeholfen und es zu einem sehr günstigen Resultat gebracht, aber in Tübingen fand ich keine Zeit zur Fortsetzung dieser Studien.

Jetzt stürzte ich mich mit wahrem Heißhunger auf die analytische Geometrie und auf die Infinitessimalrechnung: beide gaben mir große und neue Offenbarungen, die dem Geiste von DESCARTES und LEIBNIZ entsprungen waren. Außerdem gaben sie mir aber, was für die Fortspinnung meiner in Tübingen begonnenen methodologischen Untersuchungen von größter Wichtigkeit war, schlagende Beispiele für methodische Fiktionen, und so wurde diese Beschäftigung von größter Fruchtbarkeit für mich.

Noch von einer anderen Seite her wurden jene Wintertage von 1874 auf 75 von entscheidender Bedeutung für mich. Um jene Zeit erschien die zweite, sehr erweiterte und mit vielem wissenschaftlichen Material bereicherte Auflage der "Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart" von FRIEDRICH ALBERT LANGE. In seiner ersten Auflage hatte ich das Buch schon in Tübingen kennen und schätzen gelernt, aber es hatte keinen tieferen Eindruck auf mich gemacht, weil der wissenschaftliche Apparat des Buches in seiner damaligen Form zu ungenügend war.

Jetzt, als diesem Mangel abgeholfen war, kam das Buch zu rechter Zeit in meine Hände. Jetzt hatte ich endlich den Mann gefunden, nach dem ich während der Tübinger vier Jahre mich immer vergeblich ausgeschaut hatte: ich fand den Führer, den Meister, den "Lehrer im Ideal". Hier herrschte der Geist, der mich selbst mehr oder minder unklar vorwärts trieb, in voller Klarheit und zugleich in schöner Form: einerseits höchste Achtung vor den Tatsachen, genaue Kenntnis der Naturwissenschaften und zugleich Beherrschung der ganzen Kulturgeschichte, andererseits Kantischer Kritizismus, aber gemildert und erweitert durch SCHOPENHAUER und vor allem ein hoher ethischer Schwung und in bezug auf die religiösen Dogmen

Alles dies hatte ich auch angestrebt, aber nirgends hatte ich das alles beieinander gefunden. Jetzt stand das Angestrebte und Ersehnte als vollendetes Meisterwerk vor mir. Von diesem Zeitpunkt an nannte ich mich einen Schüler von F.A. LANGE.(5) Ich machte mich natürlich auch mit seinen übrigen Publikationen bekannt, und besonders sein Buch über die "Arbeiterfrage" und seine Betätigung in der letzteren zeigten mir auch darin einen Mann von weitem Blick und von warmem Herzen.

Was mir aber die "Geschichte des Materialismus" für meine damaligen speziellen Studien besonders wertvoll machte, das war die Beobachtung, daß F.A. LANGE auch schon in bezug auf das methodische Problem der Fiktionen auf dem richtigen Wege war. Andererseits herrschte aber in diesem Punkte bei ihm eine gewisse Unsicherheit und Unklarheit, so daß ich nun hoffen konnte, in diesem Punkte auf Grund meiner seitherigen gründlichen Studien über diese Spezialfrage über ihn hinauszukommen.

Noch eine andere Förderung nach derselben Seite hin erhielt ich um jene Zeit. In Leipzig lehrten damals die beiden alten Herbartianer DROBISCH und STRUEMPELL. In Tübingen war der Name von HERBART kaum je genannt worden. Jetzt führten mich meine Studien auf ihn und gerade bei ihm fand ich sehr wertvolle Ansätze zu einer Theorie der Fiktion, die er auch praktisch in seiner eigenen Philosophie anzuwenden suchte.

Gleichzeitig wurde ich natürlich veranlaßt, die Herbartsche Psychologie und damit die Psychologie überhaupt stärker als bisher zu betreiben: VOLKMANN und LAZARUS traten durch den Einfluß der damals in Leipzig lebenden Herbartianerin DR. SUSANNA RUBINSTEIN in meinen Gesichtskreis. Ich wurde dadurch in der Überzeugung bestärkt, daß Philosophie und damit auch Erkenntnistheorie ohne Psychologie nur eine methodische Abstraktion sei oder sein könne, deren systematische Durchführung aber unmöglich sei.

In derselben Linie wirkte auch AVENARIUS, den ich in dem von ihm begründeten "Akademisch-Philosophischen-Verein" kennen lernte. Er wies mich auf Steinthal hin, dessen "Einleitung in die Psychologie" eine der Grundstützen für meine philosophischen Anschauungen wurde. Seine Lehre von der Umgestaltung des aufgenommenen Materials durch die Apperzeption ist mir nie wieder verloren gegangen.

Avenarius wurde für mich insofern bedeutsam, als er an den Positionen KANTs eine scharfe Kritik übte. Das bewahrte mich davor, daß die Kantische Philosophie für mich zum Dogma wurde, wozu ich allerdings ohne dies nicht hinneigte. In seinem radikalen Empirismus bzw. Positivismus konnte ich ihm aber nicht folgen: er sah zwar ganz richtig ein, daß die Begriffe /Substanz, Kausalität/ usw. subjektive Zutaten der Psyche zum Gegebenen sind, aber er wollte sie eben deshalb "nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes" ganz aus dem menschlichen Denken eliminieren. Ich aber hielt daran fest, daß sie zweckmäßige Fiktionen sind.

Im Herbst 1875 kam WUNDT nach Leipzig. Seine erste Vorlesung war über Logik und ich hörte sie mit großem Interesse und Nutzen. Seine Art sagte mir in jeder Hinsicht zu. Gerne wäre ich um seinetwillen in Leipzig geblieben, ich faßte schon den Plan einer "Zeitschrift für reine und angewandte Logik", für die ich sein Interesse zu gewinnen Aussicht hatte. Aber Familienverhältnisse riefen mich nach Süddeutschland zurück. Für den Norden wurde mir nur noch ein Semester vergönnt und dies für Berlin, wo der Schwabe EDUARD ZÖLLER wirkte.

Von diesem und seinem Freunde HELMHOLTZ, von STEINTHAL und LAZARUS, von LASSON und PAULSEN bekam ich mehr oder minder wertvolle Einwirkungen. Wichtig wurde für mich, daß ich in Berlin auf die Schriften des damals kürzlich verstorbenen Gruppe aufmerksam wurde, die zu meiner Fiktionslehre benutzen konnte. Mein Privatstudium galt besonders DAVID HUME und JOHN STUART MILL, deren genauere Kenntnis für meine philosophische Stellungnahme entscheidend wurde.

Gleichzeitig brachte ich auch in der Berliner Zeit im Sommer 1876 mein erstes philosophisches Buch zum Druck: "Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Ein kritischer Essay." Es waren Vorträge, die ich in dem akad.-philosoph. Verein in Leipzig gehalten hatte. Mir erschien der Kantisch gerichtete Verfasser der "Geschichte des Materialismus" der richtige Mittelweg zwischen der spiritualistischen Metaphysik von EDUARD von HARTMANN einerseits und dem materialistischen Positivismus von EUGEN DÜHRING andererseits. Die beiden Letztgenannten lernte ich übrigens auch in Berlin persönlich kennen. In jener Schrift deutete ich auch schon das baldige Erscheinen der Untersuchungen über die Fiktion an.

Da ich aus Familienrücksichten eine der süddeutschen Heimat nahegelegene Universität zur Habilitation wählen mußte, siedelte ich im Herbst 1876 nach Straßburg über, wo mir LAAS günstig entgegenkam. Er vollzog soeben durch sein Buch "Kants Analogien der Erfahrung" eine scharfe Scheidung zwischen sich und dem Kantischen bzw. Neukantischen Apriorismus resp. "Transzendentalismus", und bereitete jene radikale Stellung vor, die er einige Jahre später in seinem dreibändigen Werke "Idealismus und Positivismus" einnahm. Er war der vorurteilsloseste Mann, den ich brauchte: er war imstande, meiner eigenen Stellung gerecht zu werden. Er war gerade mit dem Studium von JOHN STUART MILLs "An Examination of Sir William Hamiltons philosophy" beschäftigt, woran ich mich umso lieber beteiligte, als dies ja nur eine Fortsetzung meiner Berliner Studien über HUME und MILL war.

Ihm wie mir erschien die Auflösung der sog. Wirklichkeit erkenntnistheoretisch bzw. psychologisch in "Sensations and Possibilities of Sensation" als der richtige analytische Weg. Im übrigen teilte LAAS mit dem ihm verwandten Avenarius die positivistische Neigung, alle weiteren subjektiven Zutaten als unberechtigt und nutzlos zu eliminieren, während mein Bestreben immer darauf ging, den praktischen Wert und Nutzen jener theoretisch unberechtigten Begriffe des alten Idealismus zu betonen und festzuhalten.

In den letzten Monaten des Jahres 1876 schrieb ich nun als Habilitationsschrift meine Gedanken in einem großen Manuskript nieder, dem ich den Titel gab: "Logische Untersuchungen. 1.Teil: Die Lehre von der wissenschaftlichen Fiktion." Da ich seit mehreren Jahren das Material sorgfältig gesammelt und oft und gründlich durchdacht hatte, ging die Niederschrift rasch vor sich. Zu Neujahr reichte ich das Manuskript ein und Ende Februar 1877 hatte ich schon die venia legendi in der Hand.

Was ich an der Fakultät einreichte und was sie in dieser Weise approbierte, das ist genau dasselbe, was ich im Jahre 1911 als "erster prinzipieller Teil" der "Philosophie des Als-Ob" im Druck erschienen ist. Ich entwickelte darin das ganze System der wissenschaftlichen Fiktionen, d.h. der Als-Ob-Betrachtungen, die in den verschiedensten Wissenschaften praktisch angewendet werden, und suchte eine erschöpfende Theorie dieses mannigfaltigen Als-Ob-Verfahrens zu geben.

Aber mit LAAS betrachtete ich selbst diese Habilitationsschrift nur als einen ersten Entwurf, der noch vielfacher Ergänzung und Verbesserung bedürfe und so verwendete ich die nächsten beiden Jahre, soweit mir die Vorlesungstätigkeit dazu Zeit ließ, dazu an, das Manuskript umzuarbeiten. Diese Tätigkeit wurde genau nach zwei Jahren, im Januar 1879, jäh unterbrochen. Der Tod meines Vaters nötigte mich, mich nach einer lohnenderen Tätigkeit umzusehen(6) und so schloß ich mit dem weitblickenden und großherzigen Verleger W. Spemann einen für mich sehr günstigen Vertrag über einen Kantkommentar zum hundertjährigen Jubiläum von KANTs "Kritik der reinen Vernunft" für 1881.

Ich hatte damals eben begonnen, mit KANT bzw. seiner Als-Ob-Lehre mich gründlicher zu beschäftigen und hatte bei dieser Gelegenheit in KANTs "Prolegomena" jene "Blattversetzung" gefunden, die fast hundert Jahre lang Tausenden und Abertausenden von Kantlesern nicht aufgefallen war, die aber jetzt von der Wissenschaft allgemein anerkannt ist. So konnte ich hoffen, durch Anwendung der philosophischen Methode und durch scharfe logische Analyse das Studium Kants zu fördern. Aber, wie gesagt, diese neue Beschäftigung war mir nur Mittel zum Zweck und ich hoffte, nach wenigen Jahren zu meinen Untersuchungen über die Fiktion zurückkehren zu können.

Das oben erwähnte "Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck", das ich leider versäumt habe, rechtzeitig theoretisch zu formulieren und zu publizieren, hat sich in meinem eigenen Leben praktisch sehr verhängnisvoll gezeigt. Als mir der erste Band des Kantkommentars(7) die Berufung des Extraordinarius nach Halle 1884 einbrachte, hoffte ich, die folgenden Bände dort bald vollenden zu können. Aber die Vorlesungstätigkeit einerseits und schwankende Gesundheit andererseits verhinderten die Herausgabe des zweiten Bandes bis zum Jahre 1892. Nachdem ich 1894 zum Ordinarius in Halle befördert worden war, gründete ich als Mittel zum Zweck der Förderung meiner Studien über KANT die Zeitschrift "Kantstudien" 1896. Aber auch dieses Mittel hat seinen eigenen Zweck überwuchert: die Beschäftigung mit dem Kantkommentar trat zurück hinder den neuen "Kantstudien".

Als nun 1904 der hundertjährige Todestag KANTs gefeiert wurde, schienen die Verhältnisse es mir zur unumgänglichen Pflicht zu machen, zum Zweck der Förderung jener "Kantstudien" eine "Kantstiftung" ins Leben zu rufen, aus deren Mitteln die Zeitschrift gespeist werden sollte. Diese Kantstiftung gelang, aber zum Zweck ihrer besseren Förderung erschien nun als weiteres Mittel die Begründung der "Kantgesellschaft" notwendig, die nun aber immer mehr zum Selbstzweck wurde und für sich allein schon Zeit und Kraft genug in Anspruch nahm, wenn ich auch durch vorzügliche Hilfskräfte bei allen diesen Unternehmungen begünstigt wurde. So hatte immer das Mittel über dem Zweck, um dessen Willen es ins Leben gerufen war, gesiegt und dem ursprünglichen Zweck die Lebenskraft entzogen.
LITERATUR - Hans Vaihinger in Raymund Schmidt (Hrsg), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924
    Anmerkungen
  1. Im jugendlichen Übereifer prägte ich damals eine Definition, die zwar in jener Zeit bald zum geflügelten Wort wurde, aber mir natürlich auch viele Gegner machte: "Die Menschen sind eine am Größenwahn erkrankte Affenspezies." Die Vorwürfe die ich darüber hören mußte, sogar in wissenschaftlichen Zeitschriften, waren insofern unzutreffend, als der Satz natürlich eine bewußte und absichtliche Übertreibung einer an sich berechtigten zoologischen und psychologischen, bzw. psychiatrischen Betrachtungsweise war.
  2. Diese Dissertation ist nach damaliger Tübinger Sitte nicht durch den Druck vervielfältigt worden.
  3. Vom Neukantianismus eines F.A. LANGE aus konnten zwei verschiedene Wege eingeschlagen werden, entweder konnte der Kantische Standpunkt auf Grund genaueren Eindringens in die Kantische Lehre schärfer und treuer herausgearbeitet werden, dies geschah durch COHEN. Oder man konnte den Neukantianismus Langes mit dem Empirismus und Positivismus in Verbindung bringen. Dies ist durch meine Philosophie des Als-Ob geschehen, die aber ebenfalls auf ein gründlicheres Eindringen in die Kantische Als-Ob-Lehre führt.
  4. Ich erwog damals auch den Plan, eine "Geschichte der englischen Philosophie" zu schreiben, da mich, wie schon bemerkt, dieses Gebiet vielfach beschäftigte, auch lagen in dem mittelalterlichen Nominalismus gerade Englands, ferner bei HOBBES und besonders bei HUME Ansätze zur Theorie der wissenschaftlichen Fiktion, die ja praktisch von Adam Smith und Bentham angewendet wurde. Aber das Interesse und das Verständnis für die Entwicklung der englischen Philosophie war damals in Deutschland noch so schwach, daß auf Grund von bei damaligen Fachmännern eingeholten Gutachten dieser Plan bei den Verlegern keine günstige Aufnahme fand. Die Unterschätzung der englischen Philosophie war, wie schon bemerkt, damals in Deutschland ganz allgemein. Jetzt erst kann, wie ich zu meiner Freude höre, ein jüngerer Kollege, Professor Frischeisen-Köhler in Halle, einen solchen Plan zur Ausführung bringen.
  5. Auf meiner Reise von Straßburg nach Halle besuchte ich auch wieder FRIEDRICH TH. VISCHER, den ich auch inzwischen öfters gesehen hatte. Das Gespräch drehte sich vornehmlich um seinen philosophischen Roman "Auch Einer" (1879), in welchem er wieder seine Lieblingsidee von der Entartung des deutschen Volkes seit 1871 zur Geltung brachte: er hatte darin geäußert, daß die Deutschen durch ihren Übermut in einen Weltkrieg verwickelt werden würden, in dem sie aber nach harten Kämpfen und nach moralischer Erneuerung doch definitiv siegen würden. In diesen Optimismus vermochte ich jedoch schon damals ihm nicht recht zu geben. Dieser mein politischer Pessimismus steigerte sich in den folgenden Jahren immer mehr, besonders seit 1886. Seit 1908 und besonders seit 1911 faßte ich die Idee, nach dem Vorgange von Leibniz durch eine anonyme Flugschrift in die Weltgeschichte einzugreifen: "Finis Germaniae", mit dem Motto: Quod Deus vult perdere, prius dementat", und mit dem Wahlspruch der Schillerschen Kassandra: "des Donn'rers Wolken hängen schwer herab auf Ilion." Ich dachte daran, diese Flugschrift in der Schweiz drucken zu lassen.
    Aber mein rasch zunehmendes Augenleiden verhinderte die Ausführung. Auch sagte ich mir, daß ich ein Prediger in der Wüste bleiben würde, da ja die Verblendung der 70 Millionen undurchdringlich schien, vor allem aber, daß die Mitteilung meiner Gedanken nur die Zahl der Gegner und das Gewicht ihrer Gründe vermehren müßte und daß ich also das kommende Unheil dadurch beschleunigen würde; denn ich hätte das meiste von dem schon damals gesagt, was man jetzt als die Ursachen des Unheils erkennt oder wenigstens erkennen sollte. Ein unberechtigter Optimismus (um nicht mit Schopenhauer von einem "ruchlosen Optimismus" zu sprechen) hatte die deutsche Politik seit langer Zeit zur Unvorsichtigkeit, zur Voreiligkeit, zum Übermut verführt. Ein rationeller Pessimismus hätte uns vor dem Unheil des Weltkrieges bewahren können. Weltanschauung und praktische Politik hängen enger zusammen als man gewöhnlich glaubt.