cr-4Chomsky und WhorfDie Macht der Wörter    
 
BENJAMIN LEE WHORF
Die Irrmeinung von der
Beziehungslosigkeit zwischen
Sprache und Denken


Wo immer in menschlichen Angelegenheiten Übereinstimmung oder Einwilligung erreicht wird, da wird die Übereinstimmung durch linguistische Prozesse erreicht oder sie wird nicht erreicht.

Jeder normale Mensch in der Welt, der seine ersten Kinderjahre hinter sich hat, kann sprechen und tut es. Dank dieser Tatsache hat jeder, ob zivilisiert oder unzivilisiert, sein Leben lang gewisse naive, aber tief eingewurzelte Auffassungen vom Sprechen und von seinem Verhältnis zum Denken. Diese Vorstellungen pflegen wegen ihrer festen Verbindungen mit Sprachgewohnheiten, die unbewußt und automatisch geworden sind, gegen alle Einwände sehr intolerant zu sein. Sie sind keineswegs etwa völlig subjejktiv und zufällig; ihre Grundlage ist eindeutig systematisch. Wir sind daher berechtigt, sie als ein System der natürlichen Logik zu bezeichnen - ein Terminus, der mir besser erscheint, als der Begriff des gesunden Menschenverstandes, den man oft für die gleiche Sache verwendet.

Für die natürliche Logik ist jeder, der seit seiner Kindheit sprechen kann, seine eigene Autorität hinsichtlich des Prozesses, mit dem er seine Gedanken formuliert und weitergibt. Er hat lediglich ein allgemeines Substrat der Logik oder der Vernunft zu befragen, von dem angenommen wird, daß er und jeder andere es besitzen. Die natürliche Logik sagt uns, das Sprechen sei nur ein beiläufiger Vorgang, der ausschließlich mit der Weitergabe, aber nichts mit der Formulierung von Gedanken zu tun habe.

Im Sprechen oder beim Gebrauch der Sprache wird angeblich nur ausgedrückt, was im wesentlichen bereits unsprachlich formuliert war. Die Formulierung ist ein unabhängiger Vorgang, genannt Denken, der von der Natur der einzelnen Sprachen weitgehend unbeeinflußt sein soll. Sprachen haben Grammatiken, die als bloße Normen konventioneller und gesellschaftlicher Korrektheit angesehen werden. Der Gebrauch einer Sprache wird nicht so sehr von ihnen als vielmehr durch richtiges, vernünftiges oder intelligentes DENKEN geleitet.

Das Denken hängt nach dieser Ansicht nicht von der Grammatik ab, sondern von den Gesetzen der Logik oder Vernunft, die für alle Beobachter des Universums die gleichen sind und etwas Rationales im Universum repräsentieren, das von allen intelligenten Beobachtern gefunden werden kann, gleichgültig, ob sie Chinesisch oder Choctaw sprechen. 1)

In unserer eigenen Kultur haben die Formeln der Mathematik und der formalen Logik der Ruf, sich mit dieser Ordnung der Dinge, d.h. dem Bereich und den Gesetzen des reinen Denkens zu beschäftigen. Die natürliche Logik meint, verschiedene Sprachen seien wesentlich gleichgeordnete Methoden, dieses eine und selbe Rationale alles Denkens auszudrücken, sie unterschieden sich daher bloß in unwichtigen Details, die nur dann als bedeutend erscheinen, wenn sie aus großer Nähe betrachtet würden. Mathematik, symbolische Logik, Philosophie usw. seien im Gegensatz zur Sprache Systeme, die sich direkt mit jenem Reich des Gedankens beschäftigen, und nicht etwa selbst spezielle Ausformungen der Sprache.

Die Einstellung der natürlichen Logik zeigt sich klar in der alten ironischen Geschichte von einem deutschen Grammatiker, der sein ganzes Leben dem Studium des Dativs widmete. Vom Standpunkt der natürlichen Logik sind der Dativ und die Grammatik überhaupt sehr unbedeutende Dinge. Von den alten Arabern wird uns berichtet, daß sie eine ganz andere Haltung einnahmen: Zwei Prinzen erzählt uns die Geschichte, stritten sich um die Ehre, die Schuhe des gelehrtesten Grammatikers ihres Reiches anlegen zu dürfen; worauf ihr Vater, der Kalif, bemerkt haben soll, es sei der Ruhm des Landes, daß man große Grammatiker sogar höher als Könige ehre.


Eine Regel ist nur aufgrund ihrer
Ausnahme erkennbar und formulierbar


Der bekannte Ausspruch, die Ausnahme bestätige die Regel, enthält ein gutes Teil Weisheit. Er wurde allerdings vom Standpunkt der formalen Logik zu einer Absurdität, sobald das bestätigen nicht mehr den Sinn von auf die Probe stellen enthielt. Das alte Wort hat, seit es seinen Platz in der Logik verlor, einen tiefen psychologischen Sinn. Was es uns heute sagen kann, ist, daß eine Regel mit absolut keiner Ausnahme nicht als Regel, ja, überhaupt nicht erkennbar wird, weil sie dann Teil eines Hintergrundes 2) unserer Erfahrung bleibt, dessen wir uns selten bewußt werden. Da wir niemals etwas erfahren haben, das in Gegensatz zu ihr steht, können wir sie nicht abheben und als Regel formulieren - jedenfalls nicht eher, als bis wir unsere Erfahrung und die Basis unserer Vergleichsmöglichkeiten so erweitert haben, daß wir einer Störung der Regelmäßigkeit begegnen. Eine ungefähr analoge Situation liegt vor, wenn uns die Gegenwart und Notwendigkeit des Wassers oder der Luft erst beim Austrocknen des Brunnens bzw. bei beginnender Erstickung bewußt werden.

Nehmen wir zum Beispiel einmal an, es gebe eine menschliche Art, die aufgrund eines physiologischen Defekts nur die blaue Farbe sehen kann. Die Menschen dieser Art würden wohl kaum in der Lage sein, die Regel zu erkennen und zu formulieren, daß sie nur Blau sehen. Der Terminus Blau hätte für sie keinen Sinn. Ihre Sprache würde gar keine Termini für Farben enthalten. Und die Wörter, mit denen sie ihre verschiedenen Blauempfindungen bezeichnen würden, entsprächen unseren Wörtern hell, dunkel, weiß, schwarz etc., nicht aber unserem Wort blau. Um die Regel oder Norm Wir sehen nur Blau, erfassen zu können, müßten sie gelegentlich und ausnahmsweise auch Momente haben, in denen sie andere Farben sehen.

Das Gesetz der Schwerkraft beherrschaft unser Leben als eine Regel ohne Ausnahme, und es bedarf eigentlich keiner besonderen Feststellung, daß ein physikalisch völlig unvorgebildeter Mensch von dieser Tatsache kein Bewußtsein hat. Der Gedanke eines Universums, in dem sich Körper anders verhalten als auf der Oberfläche der Erde, käme ihm gar nicht. Wie die blaue Farbe für jene angenommenen Menschen, so ist das Gravitationsgesetz für den unvorgebildeten Menschen Teil seines Hintergrundes und nicht etwas, das er von diesem isolierend abhebt. Das Gesetz konnte daher erst formuliert werden, als man die fallenden Körper unter dem Aspekt einer weiteren astronomischen Welt sah, in der sie sich auf orbitalen Bahnen oder da- und dorthin bewegen.

Wenn man den Kopf dreht, bewegen sich die Bilder der Gegenstände auf der Netzhaut des Auges ebenso wie bei einer Bewegung der Gegenstände um einen herum. Dieser Effekt ist jedoch Hintergrund und wird nicht bemerkt. Man hat nicht den Eindruck, daß der Raum sich um einen herum dreht, sondern daß man seinen Kopf in einem stillstehenden Raum wendet. Achtet man kritisch auf die Eindrücke beim schnellen Wenden des Kopfes oder der Augen, so sieht man zwar auch keine Bewegung der Umwelt, aber ein Verwischen der Szene zwischen klaren Wahrnehmungen.

Normalerweise sind wir uns dieses Verwischens des Wahrgenommenen bei jeder unserer Bewegungen gar nicht bewußt. Obwohl sich das Netzhautbild eines Raumes oder Hauses, wenn wir an ihnen vorbeigehen, genauso wandelt, als drehten sie sich um ihre eigene Achse, haben wir doch bei den gewöhnlichen Geschwindigkeiten nicht den Eindruck, der Baum oder das Haus drehte sich. Schlecht angemessene Brillengläse rufen manchmal den Eindruck merkwürdiger Bewegungen der Umwelt hervor, wenn wir unsere Augen wenden. Aber normalerweise sehen wir die auf unsere Eigenbewegung relative Bewegung der Umwelt nicht. Unser ganzer Wahrnehmungsapparat ist darauf eingerichtet, ganze Bereiche von Phänomenen, die so durchgängig sind, daß sie für unser alltägliches Leben und seine Bedürfnisse keine besondere Rolle spielen, zu ignorieren.


Der Hintergrundscharakter der Sprachphänomene
Die natürliche Logik enthält zwei Fehler.

Erstens:
    Sie sieht nicht, daß die Sprachphänomene für den Sprechenden weithin einen Hintergrundscharakter haben und mithin außerhalb seines kritischen Bewußtseins und seiner Kontrolle bleiben. Spricht daher jemand gemäß seiner natürlichen Logik über Vernunft, Logik und die Gesetze richtigen Denkens, so kann er leicht rein grammatikalischen Gegebenheiten folgen, die in seiner eigenen Sprache oder Sprachfamilie einen Hintergrundscharakter haben, die aber keineswegs in allen Sprachen gelten oder far ein gemeinsames Substrat der Vernunft überhaupt sind.
Zweitens:
    Die natürliche Logik verwechselt die Übereinstimmung über einen Gegenstand, die mit Hilfe einer Sprache erreicht wird, mit dem Wissen um den linguistischen Prozess, durch den diese Übereinstimmung zustande kommt, d.h. mit etwas, das zur Provinz des verachteten (und ihrer Meinung nach überflüssigen) Grammatikers gehört. Zwei Personen, die z.B. fließend Englisch sprechen, können sehr schnell Einigkeit über den Gegenstand ihrer Rede erzielen; sie stimmen überein, worauf sich ihre Sprache bezieht. Der eine, A, kann Anweisungen geben, die von dem anderen, B, zu As völliger Zufriedenheit ausgeführt werden. Da sie sich so völlig verstehen, nehmen A und B nach ihrer natürlichen Logik an, daß sie selbstverständlich auch wissen wieso. Sie meinen etwa, es sei einfach eine Frage der Wortwahl zum Ausdruck von Gedanken. Würde man A bitten zu erklären, wie er Bs Zustimmung erreicht hat, so würde er nur mehr oder weniger umschreibend oder abkürzend wiederholen, was er zu B gesagt hat. Er hat keinen Begriff von dem ablaufenden Prozeß. Das erstaunlich komplizierte System linguistischer Strukturen und Klassifikationen, das A und B gemeinsam haben müssen, ehe sie sich überhaupt verständigen können, ist für beide unbewußter Hintergrund.
Diese Hintergrundsphänomene bilden die Provinz des Grammatikers - oder des Linguisten, wie sein moderner Name als Wissenschaftler lautet. In der alltäglichen Rede und besonders im Jargon der Zeitungen bedeutet Linguist etwas ganz anderes, nämlich eine Person, die sich mit verschiedenen anderen, die verschiedene Sprachen sprechen, schnell verständigen kann. Eine solche Person bezeichnet man besser als polyglott. Die wissenschaftlichen Linguisten wissen längst, daß die Fähigkeit, eine Sprache fließend zu sprechen, nicht unbedingt deren linguistische Kenntnis mit sich bringt, d.h. ein Verständnis ihrer Hintergrundsphänomene, ihres systematischen Funktionierens und ihrer Struktur. Sie tut das ebensowenig, wie die Fähigkeit, gut Billard zu spielen, irgendein Wissen um die Gesetze der Mechanik voraussetzt oder herbeiführt.

Die Situation unterscheidet sich hier kaum von der im Gebiet irgendeiner anderen Wissenschaft. Alle wahren Wissenschaftler richten ihr Augenmerk primär auf Hintergrundsphänomene, die als solche in unserem täglichen Leben wenig hervortreten. Dennoch pflegen ihre Forschungen einen engen Zusammenhang zwischen jenen unvermuteten Tatsachenbereichen und solchen klaren, vordergründigen Aktivitäten wie dem Transport von Gütern, der Zubereitung von Nahrung, der Behandlung von Kranken oder dem Züchten von Kartoffelsorten herauszubringen. Alle derartigen Tätigkeiten können so mit der Zeit durch rein wissenschaftliche Untersuchungen, die sich selbst gar nicht mir den alltäglichen Gegenständen beschäftigen, stark verändert werden.

Für die Linguistik gilt ganz ähnliches. Die Hintergrundsphänomene, die sie behandelt, sind in allem vordergründigen Sprechen und Übereinkommen impliziert, in allem Begründen und Argumentieren, in allem Gesetzgeben, Verhandeln, Entscheiden, Versöhnen, in Verträgen und Pakten, in der öffentlichen Meinung, in der Bewertung wissenschaftlicher Ergebnisse. Wo immer in menschlichen Angelegenheiten Übereinstimmung oder Einwilligung erreicht wird, gleichgültig, ob dabei Mathematik oder andere spezielle Symbolismen herangezogen werden,  da wird die Übereinstimmung durch linguistische Prozesse erreicht, oder sie wird überhaupt nicht erreicht.

Wie wir sahen, ist ein bewußtes Wissen über die ablaufenden linguistischen Prozesse nicht notwendig, um irgendein Übereinkommen zu erreichen; es ist deswegen sicherlich nicht überflüssig. Je komplizierter und schwieriger der Gegenstand ist, desto größere Hilfe wir ein solches Wissen bieten, bis schließlich der Punkt kommt, den die moderne Welt - wie ich fürchte - ungefähr erreicht hat, wo das Wissen aus einer Hilfe zu einer Notwendigkeit wird.

Wir können hier die Seefahrt zum Vergleich heranziehen. Jedes Schiff bewegt sich im Schoße planetarischer Kräfte; dennoch kann ein Junge mit seinem kleinen Boot in einem Hafen herumfahren, ohne Kenntnis von Geographie, Astronomie, Mathematik oder internationaler Politik zu haben. Für den Kapitän eines Ozeanriesen hingegen sind solche Kenntnisse unentbehrlich.


Die Grammatik formt den Gedanken

Als die Linguisten so weit waren, eine größere Anzahl von Sprachen mit sehr verschiedenen Strukturen kritisch und wissenschaftlich untersuchen zu können, erweiterten sich ihre Vergleichsmöglichkeiten. Phänomene, die bis dahin als universal galten, zeigten Unterbrechungen, und ein ganz neuer Bereich von Bedeutungszusammenhängen wurde bekannt.

Man fand, daß das linguistische System (mit anderen Worten, die Grammatik) jeder Sprache nicht nur ein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken ist, sondern vielmehr selbst die Gedanken formt, Schema und Anleitung für die geistige Aktivität des Individuums ist, für die Analyse seiner Eindrücke und für die Synthese dessen, was ihm an Vorstellungen zur Verfügung steht. Die Formulierung von Gedanken ist kein unabhängiger Vorgang, der im alten Sinne dieses Wortes rational ist, sonder er ist beeinflußt von der jeweiligen Grammatik. Er ist daher für verschiedene Grammatiken mehr oder weniger verschieden.

Wir gliedern die Natur an Linien auf, die uns durch unsere Muttersprachen vorgegeben sind. Die Kategorien und Typen, die wir aus der phänomenalen Welt herausheben, finden wir nicht einfach in ihr - etwa weil sie jedem Beobachter in die Augen springen; ganz im Gegenteil präsentiert sich die Welt in einem kaleidoskopartigen Strom von Eindrücken, der durch unseren Geist organisiert werden muß - das aber heißt weitgehend: von dem linguistischen System in unserem Geist.

Wie wir die Natur aufgliedern, sie in Begriffen organisieren und ihnen Bedeutungen zuschreiben, das ist weitgehend davon bestimmt, daß wir an einem Abkommen beteiligt sind, sie in dieser Weise zu organisieren - einem Abkommen, das für unsere ganze Sprachgemeinschaft gilt und in den Strukturen unserer Sprache kodifiziert ist. Dieses Übereinkommen ist natürlich nur ein implizites und unausgesprochenes,  aber sein Inhalt ist absolut obligatorisch;  wir können überhaupt nicht sprechen, ohne uns der Ordnung und Klassifikation des Gegebenen zu unterwerfen, die dieses Übereinkommen vorschreibt.


Das "linguistische Relativitätsprinzip"

Diese Tatsache ist für die moderne Naturwissenschaft von großer Bedeutun. Sie besagt, daß kein Individuum Freiheit hat, die Natur mit völliger Unparteilichkeit zu beschreiben, sondern eben, während es sich am freiesten glaubt, auf bestimmte Interpretationsweisen beschränkt ist. Die relativ größte Freiheit hätte in dieser Beziehung ein Linguist, der mit sehr vielen äußerst verschiedenen Sprachsystemen vertraut ist.

Bis heute findet sich noch kein Linguist in dieser Position. Wir gelangen daher zu einem neuen Relativitätsprinzip, das besagt, daß nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt werden, ...es sei denn..., ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich oder können in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden.

Dieser ziemlich überraschende Schluß wird nicht so deutlich, wenn wir nur unsere modernen europäischen Sprachen miteinander vergleichen und vielleicht zur Sicherheit noch Latein und Griechisch dazunehmen. Unter diesen Sprachen herrscht eine Einstimmigkeit der Grundstrukturen, die auf den ersten Blick der natürlichen Logik Recht zu geben scheint. Die Einhelligkeit besteht jedoch nur, weil diese Sprachen alle indoeuropäische Dialekte sind, nach dem gleichen Grundriß zugeschnitten und historisch überkommen aus dem, was vor sehr langer Zeit eine Sprachgemeinschaft war; weil die modernen Dialekte seit langem am Bau einer gemeinsamen Kultur beteiligt sind; und weil viele der intellektuelleren Züge dieser Kultur sich aus dem linguistischen Hintergurnd des Lateinischen und Griechischen herleiten. Diese Sprachgruppe erfüllt daher die spezielle Bedingung des mit es sei denn beginnenden Nebensatzes in der Formel des linguistischen Relativitätsprinzips am Ende des vorhergehenden Absatzes.

Aus dieser Sachlage ergibt sich auch die Einstimmigkeit der Weltbeschreibung in der Gemeinschaft der modernen Naturwissenschaftler. Es muß aber betont werden, daß alle modernen indoeuropäisch sprechenden Beobachter nicht das gleiche ist, wie alle Beobachter. Wenn moderne chinesische oder türkische Naturwissenschaftler die Welt in den gleichen Termini wie die westlichen Wissenschaftler beschreiben. so bedeutet dies natürlich nur, daß sie das westliche System der Rationalisierung in toto übernommen haben, nicht aber, daß sie dieses System von ihrem eigenen muttersprachlichen Gesichtspunkt aus mitaufgebaut haben.

Deutlicher wird die Divergenz in der Analyse der Welt, wenn wir das Semitische, Chinesische, Tibetanische oder afrikanische Sprachen unseren eigenen gegenüberstellen. Bringen wir gar die Eingeborenensprache Amerikas hinzu, wo sich einige tausend Jahre lang Sprachgemeinschaften unabhängig voneinander und von der Alten Welt entwickelt haben, dann wird die Tatsache, das Sprachen die Natur in vielen verschiedenen Weisen aufgliedern, unabweisbar.

Die Relativität aller begrifflichen Systeme, das unsere eingeschlossen, und ihre Abhängigkeit von der Sprache werden offenbar. Daß amerikanische Indianer, die nur ihre Eingeborenensprache beherrschen, niemals als wissenschaftliche Beobachter herangezogen werden, ist hier völlig irrelevant. Das Zeugnis auszuschließen, welches ihre Sprachen über das ablegen, was der menschliche Geist tun kann, wäre ebenso falsch, wie die von den Botanikern zu fordern, sie sollten nur Gemüsepflanzen und Treibhausrosen studieren, uns dann aber berichten, wie die Pflanzenwelt aussieht.


Die Fragwürdigkeit der Unterscheidung
von Haupt- und Zeitwörtern


Betrachten wir einige Beispiele. Im Englischen teilen wir die meisten Wörter in zwei Klassen mit verschiedenen grammatikalischen und logischen Eigenschaften. Die Klasse 1 nennen wir Substantive, z.B. house, man; die Klasse 2 Verben, z.B. hit, run (schlagen, rennen). Viele Wörter der einen Klasse können sekundär als solche der anderen dienen, z.B. a hit, a run (ein Schlag, ein Lauf) oder to man (the boat) (das Boot bemannen), primär aber ist die Verteilung unter die Klassen absolut. Unsere Sprache gibt uns eine bipolare Aufteilung der Natur. Die Natur selbst ist jedoch nicht so polarisiert.

Wenn man behauptet schlagen, drehen, rennen seien Verben, weil sie zeitlich kurzdauernde Vorgänge, d.h. Aktionen bezeichnen, warum ist dann Faust ein Substantiv? Sie ist auch nur ein zeitlich kurzdauerndes Ereignis. Warum sind Blitz, Funke, Welle, Wirbel, Puls, Flamme, Sturm, Phase, Zyklus, Spasmus, Geräusch, Gefühl Substantive? Sie sind zeitlich kurze Ereignisse. Wenn Mann und Haus Substantive sind, weil sie langdauernde und stabile Vorgänge, d.h. Dinge bezeichnen, was haben dann behalten, anhangen, erstrecken, hervorragen, fortfahren, beharren, wachsen, wohnen usw. unter den Verben zu suchen? Entgegnet man besitzen, anhangen etc. seien Verben, weil sie eher stabile Relationen als stabile Wahrnehmungen sind, warum gehören dann Gleichgewicht, Druck, Friede, Gruppe, Nation, Gesellschaft, (Volks-)Stamm, Schwester und andere Verwandtschaftsbezeichnungen unter die Substantive?

Man wird bemerken, daß ein Vorgang für uns das ist, was unsere Sprache als ein Verb klassifiziert oder etwas, das daraus analogisierend abgeleitet ist. Und man wird weiter bemerken, daß es unmöglich ist, Vorgang, Ding, Objekt, Relation usw. von der Natur der Phänomene her zu definieren. Solche Definitionen involvieren vielmehr stets eine zirkelhafte Rückkehr zu den grammatischen Kategorien der Sprache desjenigen, der die Definition vornimmt.

In der Hopisprache 3) sind Blitz, Welle, Flamme, Meteor, Rauchwolke und Puls Verben - Vorgänge von notwendig kurzer Dauer können dort nichts anderes als Verben sein. Wolke und Sturm stehen etwa an der unteren Grenze der Dauer für Substantive. Hopi hat also, wie man sieht, tatsächliche eine Klassifikation der Ereignisse (oder linguistischen Isolate) nach dem Typus der Dauer, etwas, das unserer Denkweise fremd ist. Andererseits scheinen uns im Nootka, einer Sprache auf der Insel Vancouver, alle Wörter Verben zu sein. Tatsächlich gibt es dort jedoch keine Klassen 1 und 2; die Sprache gibt sozusagen eine monistische Ansicht der Natur, mit nur einer Wortklasse für alle Ereignisse. Man sagt ein Haus erscheint oder es haust, genau wie eine Flamme erscheint oder es brennt. Die entsprechenden Worte sehen für uns wie Verben aus, weil sie nach Dauer- und Zeit-Nuancen flektiert (gebeugt) werden, so daß die Suffixe (Nachsilben) des Wortes für Haus-Ereignis es als langdauerndes Haus, kurzdauerndes Haus, zukünftiges Haus, gewesenes Haus etc. bestimmen.

Die Hopisprache hat nur ein Substantiv für alles, was fliegt, mit Ausnahme der Vögel, deren Klasse durch ein anderes Hauptwort bezeichnet wird. Das erste Substantiv, so können wir sagen, bezeichnet die Klasse - Klasse alles Fliegenden abzüglich der Vögel. Die Hopis nennen Insekten, Flugzeuge und Flieger alle mit dem gleichen Wort und sehen darin keine Schwierigkeit. Natürlich entscheidet bei sehr verschiedenen Gliedern einer so breiten linguistischen Klasse wie dieser immer die Situation. Uns erscheint diese Klasse zu groß und umfassend, aber nicht anders erscheint den Eskimos unsere Klasse Schnee.

Wir haben nur ein Wort für fallenden Schnee, Schnee auf dem Boden, Schnee, der zu eisartiger Masse zusammengedrückt ist, wässerigen Schnee, windgetriebenen, fliegenden Schnee usw. Für einen Eskimo wäre dieses allumfassende Wort nahezu undenkbar. Er würde sagen, fallender Schnee, wässeriger Schnee etc. sind wahrnehmungsmäßig und verhaltensmäßig verschieden, d.h. sie stellen verschiedene Anforderungen an unser Umgehen mit ihnen. Er benützt daher für sie und andere Arten von Schnee verschiedene Wörter. Die Azteken wiederum gehen in der entgegengesetzten Richtung noch weiter als wir. Kalt, Eis und Schnee werden alle durch den gleichen Stamm mit verschiedenen Endungen repräsentiert. Eis ist die nominale Form, kalt die adjektivische und für Schnee steht Eis-Nebel.
LITERATUR - Benjamin Lee Whorf, Sprache - Denken - Wirklichkeit, Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek 1984
    Anmerkungen
    1) Choctaw = Indianersprache im südöstlichen Teil Oklahomas
    2) Dieses Wort spielt auf die Unterscheidung Figur - Grund der Gestaltpsychologie an. Figur ist zum Beispiel in der Wahrnehmung das jeweils aufmerksam Beachtete. Der Rest des Wahrgenommenen ist als Hintergrund des Beachteten zwar da, wird aber kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen.
    3) Hopi= nordamerikanischer Stamm der Puebloindianer im Staate Arizona. Die Sprache gehört zur schoschonischen Sprachgruppe.