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WILHELM WINDELBAND
Kritische oder genetische Methode?
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"In Wahrheit gibt es keine ernstliche wissenschaftliche Theorie des Relativismus: sondern diese Meinung, daß für jeden nur gelte, was ihm gerade scheint, ist wirklich vorhanden, nur als eine wenig beneidenswerte Art der Lebensauffassung. Der Relativismus ist die "Philosophie" des Blasierten, der an nichts mehr glaubt oder des weltstädtischen Gamins, der achselzuckend über alles sein freches Witzchen macht und es eben nur recht findet, heute so und morgen so zu reden."

"Der Appell an die Masse hat den Vorzug, besonders plausibel zu sein: der Aberglaube an die Majorität gehört zu den Spezialitäten unserer Zeit."

"Es gibt allgemeine Werte und damit diese erreicht werden, muß sich der empirische Prozeß des Vorstellens, Wollens und Fühlens in denjenigen Normen bewegen, ohne welche eben die Erfüllung des Zwecks nicht denkbar ist; diese allgemeinen Werte sind die Wahrheit im Denken, die Gutheit im Wollen und Handeln, die Schönheit im Fühlen und alles diese drei Ideale repräsentieren jedes auf seinem Gebiet nur das Verlangen nach demjenigen, was der allgemeinen Anerkennung  würdig  ist."


Wollte sich daher jemand in dieser Hinsicht wirklich und allen Ernstes auf den Standpunkt der "reinen Erfahrung" stellen, so müßte er es für eine Sache der bloßen Willkür erklären, daß überhaupt von Allgemeingültigem im strengen Sinne geredet wird: man darf der tatsächlichen Geltung höchstens approximative Allgemeinheit zuschreiben. Der naturnotwendige Prozeß des Seelenlebens treibt bei den Individuen und ebenso bei den einzelnen Völkern gewisse allgemeine Auffassungsweisen hervor. Das sind die konstanten Apperzeptionsformen und Apperzeptionsmassen, welche, nachdem sie sich den Gesetzen der Assoziation und Reproduktion gemäß gebildet haben, den ferneren Verlauf der psychischen Bewegung bestimmen und sich mit einem Gefühl subjektiver Gewißheit verknüpfen -  belief  hieß es bei HUME, Glaube übersetzte es unglücklich genug JACOBI, Überzeugungsgefühl taufte es SCHLEIERMACHER -, welches sich anspruchsvoll in einem jeden so darstellt, als müßten alle anderen ebenso denken, wollen, fühlen. Vor der psychologischen Betrachtung aber sind alle diese Apperzeptionen gleich notwendig und von ihr aus ist absolut nicht abzusehen, wie jemals entschieden werden sollte, daß die eine mehr Recht hat als die andere. Die genetische Erklärung ebenso wie die Tatsächliche Konstatierung trifft alle gleichmäßig. Für sie gibt es daher kein absolutes Maß, ihr müssen alle diese Überzeugungen als gleichberechtigt, weil als gleich naturnotwendig gelten. Für sie haben alle diese allgemeinen Sätze und die darauf sich gründenden Beurteilungen nur relativen Wert teils für den Standpunkt des Individuums, teils für das psychische Gesamtleben einer historisch bedingten Gesellschaft.

So ist der Relativismus die notwendige Konsequenz der rein empiristischen Auffassung der philosophischen Kardinalfrage. Wie alle Formen der Weltbetrachtung im klaren Ablauf des hellenischen Geisteslebens mit typischer Einfachheit und Großartigkeit sich in scharf zugeschliffener Gestalt entwickeln, so tritt auch diese Konsequenz bei den Sophisten überaus einleuchtend hervor und alle späteren Darstellungsformen des Relativismus, wie etwa die Lehre der Enzyklopädisten oder der moderne Positivismus, sind nur Neuverbrämungen und zeitgemäß zurechtgemachte Abklatsche jenes protagoreischen: panton chrematon metron anthropos. [Der Mensch ist das Maß aller Dinge. - wp]

Indessen ist es mit diesem Relativismus nicht so schlimm, wie es furchtsamen Gemütern erscheinen könnte. Wo er als wissenschaftliche Theorie auftritt, da ist er eine ungeheure Selbsttäuschung. Denn eben damit, daß er eine Theorie sein will, erkennt er stillschweigend alle diejenigen Voraussetzungen an, unter denen er überhaupt eine Theorie möglich ist und begründet werden kann. Wenn er seinen Satz beweisen will, so nimmt er an, daß es möglich ist, Tatsachen in allgemeingültiger Weise festzustellen und daß es ebenso möglich ist, aus ihnen etwas zu erschließen, was aller anerkennen sollen. Er zeugt selbst für das, was er bekämpft, für die Geltung erkenntnistheoretischer Grundsätze und logischer Normen. Tut er das nicht, so bleibt ihm nur, wie einigen Schwätzern der griechischen Sophistik, übrig, zu erklären, daß man eigentlich gar nicht behaupten dürfe, was denn freilich seiner Weisheit weisestes Ende ist. Auf theoretischem Gebiet wenigstens erkennt jede, auch die nihilistische und relativistische Theorie die Geltung der Axiome, das Vorhandensein einer alle bindenden Norm an. Je mehr der Relativist seine Beweise häuft, umso lächerlicher wird er: denn umso mehr widerlegt er, was er beweisen will. In Wahrheit gibt es deshalb auch keine ernstliche wissenschaftliche Theorie des Relativismus: sondern diese Meinung, daß für jeden nur gelte, was ihm gerade scheint, ist wirklich vorhanden, nur als eine wenig beneidenswerte Art der Lebensauffassung. Der Relativismus ist die "Philosophie" des Blasierten, der an nichts mehr glaubt oder des weltstädtischen Gamins, der achselzuckend über alles sein freches Witzchen macht und es eben nur recht findet, heute so und morgen so zu reden.

Auf irgendeine Weise suchen deshalb auch die Vertreter der genetischen Methode immer den Begriff des Normalen und Allgemeingültigen zu retten und zwei Wege bieten sich ihnen dafür an, die sich wohl gelegentlich berühren. Muß auf tatsächliche Allgemeingültigkeit verzichtet werden, so scheint sich das Normale teils durch quantitative Verhältnisse, teils durch den historischen Prozeß bestimmen zu lassen. Gibt es nichts, worin alle Menschen zu allen Zeiten übereinstimmen, so ist doch auf der einen Seite jedesmal eine Meinung der großen Masse vorhanden, auf der anderen Seite ein entschiedener Fortschritt, mit dem allmählich in der Geschichte der Menschheit Axiome und Normen zur "tatsächlichen Geltung" wenigstens bei der Mehrzahl oder bei den "Besseren" gekommen sind. Die tatsächliche Geltung ist entweder bei der Majorität zu suchen oder durch den Fortschritt der Geschichte zu konstatieren.

Der Appell an die Masse hat den Vorzug, besonders plausibel zu sein: der Aberglaube an die Majorität gehört zu den Spezialitäten unserer Zeit. Durch unsere naturgesetzliche Betrachtungsweise sind wir dahin gekommen, daß wir den Wahnsinn, der sich ja ebenso entwickelt wie das "normale" Denken, nur noch als eine von der üblichen abweichende Bewegung der Vorstellungen definieren, - daß wir im Verbrecher nur den Unglücklichen sehen, der nun einmal, ebenso naturnotwendig wie wir alle, anders will und handelt, als es von der großen Mehrzahl gebilligt wird. Was man früher das Abnorme nannte, ist bald für uns nur noch das Ungewöhnliche. Auf dem breiten Boden der Naturnotwendigkeit aber ist das Ungewöhnliche ebenso berechtigt, wie das Gewöhnliche: da gibt es überhaupt kein Recht, sondern nur die Macht, die Existenz und was die Majorität am einzelnen tut, der von ihren Gewohnheiten abweicht, das beruth nur auf dem brutalen "Recht" des Stärkeren. Wenn man keinen anderen Gesichtspunkt, als den der tatsächlichen Konstatierung und der genetischen Erklärung hat, so ist es in alle Wege unmöglich, den Wert der einzelnen Erscheinungen gegeneinander abzuschätzen: das, was die Majorität anerkennt - sei sie auch noch so groß -, ist darum noch nicht das Rechte. Die Wissenschaft muß protestieren, wenn auch in sie das Verfahren heutiger Politik eingeführt werden soll. Die Quantität tatsächlicher Billigung ist niemals ein Beweis der Normalität. Die Mehrheit kann ebenso gut fehl gehen, wie der einzelne und es fragt sich sehr, wofür die größere Wahrscheinlichkeit ist. Und wer jene Meinung, die Norm sei in der Überzeugung der Mehrzahl gegeben, ernstlich vertreten wollte, den braucht man nur zu fragen, ob denn die Majorität niemals geirrt und gefehlt habe. Die Unterwerfung unter das Urteil der Masse - das wäre ein trauriger Ausgang der Bemühungen der Philosophie.

Eine ähnliche Beugung vor der brutalen Tatsache liegt vor, wenn man, lediglich vom Standpunkt der genetischen Erklärung aus, in der Bewegung der menschlichen Geschichte das beweisende Kriterium für die "Geltung" der Axiome sucht und wenn man meint, das Normale mit demjenigen begründen zu dürfen, was durch den geschichtlichen Fortschritt zu immer tieferer, festerer, umfassenderer Anerkennung gekommen ist. Neben allen anderen macht man dabei die Voraussetzung, daß im Verlauf des historischen Prozesses von selbst, durch dessen naturnotwendige Entfaltung, die Vernunft zum Durchbruch komme und man konstituiert, so scheint es, die Auffassung des Normalen durch Reflexion auf den historischen Fortschritt. Zugegeben zunächst, was außerdem nicht so ganz zweifellos sein dürfte, daß jene Voraussetzung zuträfe, so bliebe doch immerhin noch festzustellen, was in der geschichtlichen Bewegung Fortschritt, d. h. Verbesserung, Annäherung an das Normale und Vernünftige, genannt werden soll. Das wird doch hoffentlich jeder zugeben, daß durchaus nicht immer das Spätere eo ipso [selbstverständlich - wp] als solches das Bessere ist. Veränderungen ist nicht Fortschritt. Das klingt sehr trivial und selbstverständlich. Aber es heißt vielleicht, den Finger in eine offene Wunde unserer Zeit legen, wenn man diese Trivialität ausspricht. Denn je mehr die rein genetische Betrachtung maßgebend wird, umso leichter entsteht die Täuschung, als sei auch in der Kulturentwicklung des Menschen immer das Neue zugleich das Bessere, das Anerkennenswertere. Für den Standpunkt der erklärenden Theorie gibt es nur Früheres und Späteres, gibt es eben nur Veränderung: ob die Veränderung ein Fortschritt ist, das läßt sich mit der genetischen Untersuchung allein nicht entscheiden; dazu gehört allemal ein Maßstab, die Vorstellung eines Zwecks, wonach der Wert der Veränderungen bestimmt wird. Wer daher überhaupt von einem "Fortschritt" in der Geschichte spricht, der nimmt, indem er den genetisch zu erklärenden Prozeß beurteilt, mit klarem oder unklarem Bewußtsein irgendein Ideal, einen Zweck, eine Norm als Maßstab an, um mit Rücksicht darauf die einen Veränderungen als Fortschritt, die anderen als Stillstand und Rückgang zu bezeichnen. Die rein naturalistische Betrachtung kennt nur notwendige Veränderungen und weiß von ihrem Wert nichts. Wenn man von der historischen Untersuchung auch den Nachweis des Fortschritts erwartet, so muß sie eine Voraussetzung über den Zweck besitzen, nach welchem der Fortschritt gemessen werden soll; beurteilende Geschichte ist nur durch ein zweckbestimmtes Bewußtsein möglich. Wer daher die Geltung der Axiome aus dem Fortschritt der Geschichte ableiten will, der muß schon ein Prinzip haben, wonach er in dieser Hinsicht bestimmt, was Fortschritt genannt werden soll: er muß also entweder das Bewußtsein der Axiome als Maßstab für die Beurteilung der historischen Erscheinungen schon voraussetzen oder er muß für jeden Moment der Geschichte dasjenige, was gerade zu leidlich allgemeiner Anerkennung und Anwendung gekommen ist, als "gültiges" Axiom anerkennen. Im letzteren Falle würde ein historischer Relativismus daraus resultieren, der noch niemals ernsthaft behauptet worden ist; im ersteren Falle macht somit gerade die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung im Geheimen die Voraussetzung einer absoluten Geltung, nach der sie den historischen Prozeß beurteilt. Wenn man erst einmal die Geltung der Axiome festgestellt oder angenommen hat, dann kann man sehr gut auch zeigen, wie sie in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit zur faktischen Anerkennung gekommen sind und wie eben darin der Fortschritt dieser Geschichte besteht. Um die Vernunft in der Geschichte nachzuweisen, muß man nicht nur die Geschichte, sondern auch die Vernunft kennen.

Eine "Kritik der historischen Vernunft" ist also ein sehr löbliches Unternehmen: sie muß nur eben eine  Kritik  sein und als solche bedarf sie eines Maßstabes. Wenn man "ganz vorurteilslos" den historischen Verlauf betrachtet, so findet man, daß bald dies, bald jenes geglaubt und anerkannt worden ist; man kann die sprachlichen Vorgänge und die geschichtlichen Denkbewegungen konstatieren, welche zu diesen Überzeugungen Veranlassung gegeben haben; man kann schließlich auch konstatieren, welche Axiome zur Zeit in den bevorzugten Kreisen der Menschheit, die sich selbst als Kulturvölker bezeichnen, anerkannt werden: aber damit kommt man nicht über die simple Tatsache hinaus und der Umstand, daß der kausal bedingte Prozeß des menschlichen Gattungslebens zum Bewußtsein gewisser Sätze geführt hat, beweist nicht das Geringste für ihre absolute Geltung oder ihre Berechtigung: es wäre ja ebenso gut möglich, daß, etwa vermöge ursprünglich unglücklicher Richtung und steter Häufung der Vorstellungsassoziation unter dem Einfluß alltäglicher Bedürfnisse, diese gesamte Entwicklung zu lauter Täuschungen und Torheiten geführt hätte, die wir nur eben deshalb jetzt für Wahrheit hielten, weil wir darin unentfliehbar eingeschlossen sind. Wenn deshalb die genetische Methode in der sogenannten völkerpsychologischen Behandlung, welche ihre bedeutendste und edelste Erscheinung ist, an der Hand der Sprachwissenschaft und der Kulturgeschichte die allmähliche Genesis des axiomatischen Bewußtseins der indogermanischen Rasse darstellt, so löst sie damit eine hohe geschichtliche Aufgabe, aber nicht das Problem der Philosophie: denn die "Geltung" der Axiome kann unmöglich damit erschöpft sein, daß sie durch die historische Notwendigkeit bei gewissen Gruppen der Menschheit zur Anerkennung gelangt sind; und der Fortschritt, der auf diese Weise in der Geschichte nachgewiesen werden soll, darf doch nur deshalb als solcher bezeichnet werden, weil man von vornherein die Geltung der Axiome voraussetzt und alles dasjenige als Fortschritt ansieht, was zum Bewußtsein und zur Anerkennung davon geführt hat.

So zeigt es sich, daß die genetische Methode für die Axiome nie etwas anderes als einen gewissen Umkreis von empirischer Geltung der Axiome aufweisen kann und dabei doch in eben diesem Aufweis ihre normative Bedeutung in Anspruch nimmt. Die quantitativen und die zeitlichen Verhältnisse genügen nicht, um diesen Axiomen irgendein höheres Recht zu vindizieren, als es jedem beliebigen anderen Produkte des psychischen Mechanismus zukommt und alle entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen setzen, geradeso wie jede empirische Forschung, das gesamte System des normalen Bewußtseins schon voraus. Dagegen darf die kritische Methode, abgesehen von der Unterwerfung unter die formalen Denkregeln, ohne welche, wie oben erwähnt, auch sie nicht denken kann, nur einer einzigen Gesamtvoraussetzung: derjenigen nämlich, daß es ein normales Bewußtsein gibt, dessen Grundsätze anerkannt werden müssen, sofern überhaupt irgendetwas allgemeine Geltung haben soll. Die allgemeine Geltung, von der hier die Rede ist, darf also nicht im Sinne des tatsächlichen Anerkanntwerdens, sondern nur des Anerkanntwerdensollens verstanden werden. Gleichgültig, wie weit die faktische Anerkennung reicht, baut sich die kritische Methode auf der Überzeugung auf: es gibt allgemeine Werte und damit diese erreicht werden, muß sich der empirische Prozeß des Vorstellens, Wollens und Fühlens in denjenigen Normen bewegen, ohne welche eben die Erfüllung des Zwecks nicht denkbar ist; diese allgemeinen Werte sind die Wahrheit im Denken, die Gutheit im Wollen und Handeln, die Schönheit im Fühlen und alles diese drei Ideale repräsentieren jedes auf seinem Gebiet nur das Verlangen nach demjenigen, was der allgemeinen Anerkennung  würdig  ist. Diese Würdigkeit ist natürlich aus den faktischen Prozessen des Anerkennens nicht herauszulesen; sie besitzt eine unmittelbare Evidenz, mit der sie sich, wenn sie an irgend einem beliebigen empirischen Inhalt zu Bewußtsein gekommen ist, zur faktischen Geltung im einzelnen Bewußtsein bringt.

Die Voraussetzung der kritischen Methode ist also der Glaube an die allgemeingültigen Zwecke und an ihre Fähigkeit, im empirischen Bewußtsein erkannt zu werden. Wer diesen Glauben nicht hat oder ihn erst "bewiesen" haben möchte, wer sich künstlich - denn von Natur haben wir jene Überzeugung alle - davon überredet, daß es nichts Allgemeingültiges gebe, - der bleibe daheim: mit ihm weiß die kritische Philosophie nichts anzufangen. Der Logiker wendet sich nicht an den, der da leugnet, daß es einen Zwang des normalen Denkens gibt; die Ethik hat mit dem nichts zu schaffen, der absolut kein Gebot des richtigen Wollens anerkennt und die Ästhetik ist für denjenigen ein Unding, der die allgemeine Mitteilbarkeit, auf welcher das Wesen des ästhetischen Eindrucks beruth, in Abrede stellt. Eine philosophische Untersuchung ist nur zwischen denjenigen möglich, welche überzeugt sind, daß eine Norm des Allgemeingültigen über ihren individuellen Tätigkeiten steht und daß es möglich ist, diese zu finden.

Mit dieser Voraussetzung begeht nun die kritische Methode von vornherein einen Zirkel. Wer sie handhabt, muß voraussetzen, daß sowohl er selbst, als auch derjenige, an welchen er sich mit seiner Untersuchung wendet, das normale Bewußtsein wenigstens in einem gewissen Umfang besitzt. Nirgend anders kann die Ästhetik die Prinzipien des guten Geschmacks finden, als bei denjenigen, bei denen sie ihn von vornherein vermutet. Wo in aller Welt soll die Ethik die Prinzipien der Moral suchen, wenn nicht im gemeinsamen Bewußtsein derjenigen, von denen vorausgesetzt wird, daß sie richtig urteilen und handeln? So kann auch die Logik die Regeln des wahren Vorstellens nur bei solchen suchen, denen sie ihre Befolgung von vornherein zutraut. Alle drei haben in dieser Weise ein Ideal des normalen Menschen, das sie voraussetzen, um es zur Darstellung zu bringen. Auch hier gilt, was LOTZE gesagt hat, daß, da dieser Zirkel einmal unvermeidlich ist, man ihn reinlich begehen soll.

Um das zu tun, ist es zunächst erforderlich, den schwersten Vorwurf gegen die kritische Methode zurückzuweisen, der sich gerade an dieser Stelle erhebt. Denn alle diejenigen, welche sich auf das normale Bewußtsein besinnen wollen und es zu diesem Zweck bei sich selbst und anderen voraussetzen müssen, sind doch eben empirisch bestimmte Individuen und die psychologische Notwendigkeit wird es mit sich bringen, daß ihnen dasjenige, was durch den historischen Prozeß als axiomatisches Bewußtsein in ihnen erzeugt worden ist, unmittelbar jene höchste Evidenz des Normalbewußtseins zu haben scheint, daß sie also das für sie selbst faktisch Gültige mit dem Allgemeingültigen verwechseln. Die kritische Methode scheint den schlimmsten Fehler zu machen, indem sie den Standpunkt des philosophierenden Individuums zur absoluten Norm erhebt und wäre das der Fall, so wäre sie einfach gerichtet.

Diese ernste Gefahr besteht in der Tat und sie hat sich oft genug, am meisten bei der Ethik und der Ästhetik, in schweren Irrtümern gezeigt. Die Verabsolutierung historisch bestimmter, durch besondere soziale oder gar individuelle Verhältnisse hervorgerufener Auffassungsweisen ist ja gerade dasjenige, was man zumeist gegen die kritische und zugunsten der genetischen Methode ins Feld führt. Und diese Gefahr erscheint in der Tat unvermeidlich, so lange man die Sache so auffaßt, als habe man sich auf dasjenige, was allgemein anerkannt werden soll, nur so einfach zu besinnen und als genüge das Gefühl der Evidenz, um den einzelnen zu versichern, daß er es nicht nur mit einer individuellen oder einer bei mehreren vorhandenen Meinung zu tun habe. Die Täuschbarkeit der subjektiven Evidenz ist die allbekannte Tatsache, an der dieses Verfahren unvermeidlich scheitern müßte. Bei der einfachen und unmittelbaren Evidenz allein darf sich somit die philosophische Besinnung nicht beruhigen, sondern die kritische Methode verlangt durchaus eine durch bestimmte systematische Maßregeln vermittelte, dadurch in sich berichtigte und eben damit allein berechtigte Evidenz.

Hier ist es nun, wo das Prinzip des teleologischen Zusammenhangs, das zuerst von FICHTE in die kritische Philosophie eingeführt worden ist, wenn es richtig verstanden wird, die Schwierigkeiten aus dem Weg räumt. Wenn es sich dabei offenbar darum handelt, aus dem, was der einzelne vermöge der historischen Bestimmtheit seines Vorstellungslebens für normal und axiomatisch halten muß, dasjenige auszuschließen, was nur empirischen Ursprungs ist, so ist das nach allem Vorigen wiederum durch vergleichende Induktion oder genetische Betrachtung nicht möglich und es bleibt daher nur übrig, das Normale an der Hand einer teleologischen Betrachtung  aufzusuchen.  Von ihrer einzigen Voraussetzung her, daß es Vorstellungen, Willensentscheidungen und Gefühle geben soll, wleche allgemein gebilligt werden dürfen, hat die kritische Methode alle diejenigen Bewegungsformen des psychischen Lebens sich zu Bewußtsein zu bringen, welche als unerläßliche Bedingungen für die Realisierung jener Aufgabe aufgewiesen werden können und sie hat bei diesem Aufweise auf keinerlei besondere, gegebene Einzelbestimmungen des wirklichen Seelenlebens als auf Beweisgründe rekurrieren. Das allein kann gemeint sein, wenn man verlangt, daß der Nachweis der a priori geltenden Axiome und Normen selbst nicht empirischen Charakters sein dürfe.

Das System der Logik also ist der Inbegriff aller derjenigen teleologisch zu entwickelnden Grundsätze, ohne welche es kein allgemeingültiges Denken würde geben können; die Normen der Ethik entwickeln sich als die Mittel zur Herbeiführung eines Wollens und Handelns, welches allgemeine Billigung verdient; die Regeln der Ästhetik sind die Bedingungen, unter denen allein ein allgemein mitteilbares Gefühl möglich ist. Alle Axiome, alle Normen erweisen sich - unabhängig von jedem besonderen Inhalt und von jeder historischen Bestimmtheit - als Mittel zum Zweck der Allgemeingültigkeit. Es gibt keine Logik, wenn nicht, gleichgültig welches im einzelnen Fall der Inhalt der Vorstellungen ist, gewisse Verbindungs- und Anordnungsweisen als Gesetze des Denkens gelten, - keine Ethik, wenn nicht, unabhängig von der empirischen Bestimmung unserer Motive, gewisse Normen über ihre Verhältnisse bestehen, - keine Ästhetik, wenn nicht, welches auch der Inhalt der einzelnen Anschauungen und der dadurch hervorgerufenen Gefühle sei, bestimmte Regeln über die Art ihres Zusammenwirkens obwalten.

Darin besteht die unvergängliche Größe und zugleich die historische Wirkung FICHTEs, daß er diesen teleologischen Charakter der kritische Methode klar erkannte und die Aufgabe der Philosophie dahin bestimmte, das System der (im teleologischen Sinne) notwendigen Vernunfthandlungen aufzustellen. Deshalb entwickelte er alles das, was KANT Anschauungen, Begriffe, Grundsätze, Ideen, Maximen, Regeln usw. genannt hatte, in  einer  Reihe, um jede dieser normalen Funktionen als eines der Glieder im System der Lösung einer Gesamtaufgabe des Bewußtseins zu begreifen: er deduzierte das Normalbewußtsein als ein teleologisches System. Der Grund dafür, daß bis auf den heutigen Tag die wenigsten diesen Gedanken verstanden haben, lag neben mancherlei Wunderlichkeiten seiner Darstellung hauptsächlich in der metaphysischen Tendenz, die er seiner Konstruktion gab und deren die gewöhnliche Meinung auf den Kopf stellende Konsequenz genügte, um ihn der Masse unsympathisch zu machen.

Aber der tiefere Fehler der "Wissenschaftslehre" besteht darin, daß sie ganz allein aus der Bestimmung des Zwecks (sie formulierte ihn als die Aufgabe des empirischen Ich, allgemeines Ich zu werden!) nun auch alle Mittel zu seiner Realisierung  deduzieren  zu können meinte. Deshalb mußte sie, um den Fortschritt von einer "Vernunfthandlung" zur anderen teleologisch zu konstruieren, von Schritt zu Schritt Widersprüche statuieren, deren Lösung weiter treiben sollte (1) und so schlug die kritische in die  dialektische  Methode um. Aber diese kann, so wenig wie irgendeine andere Form der Deduktion, die Mannigfaltigkeit des Besonderen aus ihrem Prinzip herausholen. Auch die teleologische Konstruktion bedarf nicht nur der Zweckbestimmung, sondern auch der Berücksichtigung des Materials, in welchem der Zweck realisiert werden soll.

Sie bedarf ihrer freilich niemals, - und das ist im Gegensatz gegen den Charakter der Voraussetzungen der genetischen Methode ganz ausdrücklich zu betonen -, sie bedarf ihrer niemals, um die teleologische Aufzeigung der Axiome und Normen zu begründen, aber sie bedarf ihrer desto mehr, um die Axiome und die Normen zu finden und zu Bewußtsein zu bringen. Wie überhaupt sowohl im individuellen Geist als auch in demjenigen der Gattung die Normen nur durch Vermittlung der einzelnen erfahrungsmäßigen Tätigkeiten zu Bewußtsein kommen, für welche in ihnen die Begründung und Berechtigung gesucht werden muß, so kann auch die Philosophie ihre Aufgabe, die Normen zu suchen, nur  anhand  der Erfahrung lösen, indem sie den einzelnen Tätigkeiten gegenüber, welche sie vorfindet, sich darauf besinnt, welche Anforderungen diese erfüllen müssen, um als allgemeingültig gebilligt werden zu dürfen. Nicht den einzelnen Inhalt, wohl aber den allgemeinen Charakter des Materials muß man kennen, um sich die Aufgaben zu Bewußtsein zu bringen, welche dadurch gelöst werden sollen. (2)

So kann die Logik schon nach dem allgemeinsten Blick auf den Vorstellungsmechanismus konstatieren, daß es kein gemeinsames Denken und in diesem kein allgemeingültiges Resultat geben würde, wenn nicht eine formale Denknotwendigkeit bestände. Deren Wesen kann man etwa als das  "Axiom der Konsequenz"  dahin aussprechen, daß, sobald einmal irgendwelche Vorstellungen als wahr anerkannt worden sind, auch alle diejenigen Beziehungen und Verknüpfungen als wahr anerkannt werden müssen, welche sich nach den (weiterhin zu suchenden) logischen Normen daraus ergeben. Der Satz, daß, wer die Voraussetzung zugegeben hat, auch ihre logisch entwickelten Konsequenzen zugeben muß, ist eine so selbstverständliche Erweiterung der alten Regel: "mit dem Grund ist auch die Folge gegeben", daß er als Prinzip des Beweisens wie jene gelten kann, zugleich aber den allgemeinen Charakter der Denknotwendigkeit ausdrückt. Ebenso wird man leicht aus dem Zweck der Allgemeingültigkeit durch Reflexion auf die psychologisch bekannten Funktionen der Billigung und Mißbilligung teleologisch das Verbot einleuchtend machen können, daß, was bejaht wird, nicht verneint werden darf und es wird es als Satz des Widerspruchs zu formulieren haben. Endlich wird man für die zwischen Bejahung und Verneinung in der Mitte liegende Suspension des Urteils sich auf das Prinzip besinnen können, daß man sich allen Urteilen gegenüber, für welche zureichende Gründe weder des Bejahens noch des Verneinens vorliegen, problematisch zu verhalten hat und das läßt sich dann als Satz vom zureichenden Grund formulieren.

Mögen nun auch diese Sätze noch so selbstverständlich bei der Subsumtion des Vorstellungsmechanismus unter den Zweck des allgemeingültigen Denkens sich mit teleologischer Konsequenz geltend machen, so sind es doch eben verschiedene empirisch bekannte Verhältnisse des Vorstellungsverlaufs, welche den  Anlaß  geben müssen, daß man sich auf diese Normen oder Axiome besinnt. Freilich liegt der Grund für ihre Geltung nicht in jenen Anlässen; aber sie bilden gewissermaßen das Gerüst, dessen wir bedürfen, um am Bau des Normalbewußtseins zu arbeiten. Und je weiter nun etwa die Logik fortschreitet, indem sie die einzelnen Denknormen aufsucht, immer muß sie an die in der empirischen Psychologie, wenn auch nur in der rohesten Weise, beschriebenen Formen der Vorstellungsverknüpfung ihre Besinnung auf deren korrekte Gestaltung anknüpfen. Nur in engeren Gruppen zeigt sich unter den logischen Normen ein teils selbst wieder logischer, teils teleologischer Zusammenhang, das erstere z. B. im Verhältnis einiger Schlüsse zu den Folgerungen, das letztere im Zusammenhang der Kategorien, wenn es sich etwa erweist, daß das Problem der Substantialität nur durch den Begriff der Kausalität zu lösen ist, usw.

Auf diese Weise kommt selbst in der am meisten durchgebildeten und zum System entwickelten philosophischen Disziplin, der Logik, der Tatbestand zum Vorschein, daß nur streckenweise das in sich zusammenhängende System der Normen auch in unserem Bewußtsein zusammenhängt, daß wir vielmehr im allgemeinen darauf angewiesen sind, auf die empirischen Veranlassungen hin, welche in der tatsächlichen Bewegung des individuellen und des sozialen Geisteslebens liegen, uns auf die einzelnen Normen zu besinnen und ihre teleologische Bedeutung hinsichtlich des Zwecks der Allgemeingültigkeit uns zu Bewußtsein zu bringen.

Hieraus ergibt sich nun die methodische Bedeutung, welche das Tatsachenmaterial aus der Psychologie und aus der Geistesgeschichte für die Philosophie und ihre kritische Behandlung der Axiome besitzt. Haben wir bisher das entscheidende Gewicht darauf legen müssen, daß in allen diesen Tatsachen und somit in der psychologisch oder historisch nachweisbaren empirischen Geltung niemals der Beweis für die normative Geltung gesucht werden kann, so müssen wir nun das positive Verhältnis ins Auge fassen, worin diese selben Tatsachen eine geordnete Auffindung der Normen und eine zusammenhängende Besinnung auf das Recht ihrer Geltung ermöglichen. Die kritische Methode darf die Tatsachen der Psychologie und der Geschichte niemals als Geltungsgründe für die Normen anerkennen, aber sie bedarf ihrer als der Gegenstände, an denen sie ihre philosophische Prüfung und Besinnung vollzieht. Diese Prüfung selbst wird immer auf die Betrachtung des teleologischen Zusammenhangs und der teleologischen Erforderlichkeit im oben entwickelten Sinn hinauslaufen: aber ihre Voraussetzung wie ihren Gegenstand bilden eben die  Geltungsansprüche,  welche teils mit der Naturnotwendigkeit des allgemeinen psychischen Wesens des Menschen teils mit der geschichtlichen Notwendigkeit der fortschreitenden Kulturentwicklung erhoben werden. Die genetischen Tatsachen sind in der Philosophie niemals Beweisgründe, wohl aber die Gegenstände der Kritik: Psychologie und Geschichte müssen das Erkenntnismaterial aus seiner vorwissenschaftlichen Unbestimmtheit soweit herausgearbeitet haben, daß die Probleme der Philosophie in begrifflich bestimmter und geordneter Weise daraus entwickelt werden können.

Danach bestimmt sich zunächst das Verhältnis der Philosophie zur empirischen Psychologie. Da es keine Möglichkeit gibt, bloß aus dem Zweck der Allgemeingültigkeit alle die besonderen Bedingungen für dessen Erfüllung deduktiv abzuleiten, - da wir, mit anderen Worten, das Normalbewußtsein nicht an sich, sondern nur in seiner Beziehung zum empirischen Bewußtsein kennen, so bedarf die Philosophie des  Leitfadens  der empirischen Psychologie, um sich in geordneter Weise auf die einzelnen Axiome und Normen zu besinnen. Aber die allgemeinen Vorstellungen von den psychischen Funktionen, welche dabei der empirischen Kenntnis entnommen werden, sind weit davon entfernt, die Normen und die allgemeinen Sätze, welche an ihnen auf teleologischem Weg gewonnen werden, ihrerseits zu begründen. Die Begründung der Axiome und Normen liegt lediglich in ihnen selbst, in der teleologischen Bedeutung, welche sie als Mittel für den Zweck der Allgemeingültigkeit besitzen. Wo sie als solche nachgewiesen werden können, da ist aber auch nicht mehr die bloße Tatsächlichkeit der Geltung, sondern da ist die  immanente Notwendigkeit des teleologischen Zusammenhangs  vorhanden.

So entnimmt die philosophische Betrachtung der empirischen Psychologie z. B. die Dreiteilung der psychischen Funktionen, welche sich in der Dreizahl der philosophischen Disziplinen wiederholt und dabei ist es ganz klar, daß diese Einteilung für sie nirgends einen Erkenntnisgrund, sondern eben nur einen Leitfaden darstellt, dessen sie in Ermangelung des deduktiven Verfahrens zur Aufsuchung der Normen bedarf. Dieselbe Rolle spielen dann innerhalb der einzelnen Teile der Philosophie die besonderen Unterscheidungen, mit denen die empirische Psychologie ihre Gegenstände einteilt. Würden alle diese psychologischen Einteilungen umgeworfen, so fiele damit vielleicht auch die Einteilung der Philosophie, aber nicht die Gewißheit der Normen und der Axiome, welche auf diesen empirisch psychologischen Begriffen nicht beruth, sondern nur mit ihrer Hilfe zu Bewußtsein gekommen ist.

Indessen ist die Hilfe, welche die kritische Methode von der Psychologie zu erwarten hat, in der Hauptsache auf diese Bestimmung der formalen Ordnung beschränkt: sachlich ist sie äußerst gering. Denn im allgemeinen, natürlich bestimmten Wesen des Menschen, auf dessen wissenschaftliche Theorie die Psychologie ausgeht und allein ausgehen kann, ist zuletzt immer nur die formale Möglichkeit für die inhaltliche Entwicklung der Vernunftwerte und damit der normativen Bestimmungen gegeben, um die es sich in der Philosophie handelt. Diese Entwicklung selbst aber ist die Sache und der eigentliche Sinn des historischen Prozesses. Deshalb bildet die Geschichte in noch viel höherem Maße als die Psychologie das Organon der kritischen Philosophie, indem diese die Gestaltung, worin die Normen als tatsächlich geltende Prinzipien des Kulturlebens historisch gegeben sind, zu Gegenständen ihrer teleologischen Untersuchung und damit zum empirischen Anlaß für ihre kritische Besinnung zu machen hat. Dabei schützen der Wechsel und die Mannigfaltigkeit dieser geschichtlichen Gestaltungen das kritische Denken vor dem Historismus, d. h. vor dem historischen Relativismus, der sich etwa mit der zeitlichen, geschichtlich als notwendig zu begreifenden Geltung jeder dieser Gestaltungen begnügen und auf die Erfassung einer davon unabhängigen absoluten Geltung verzichten wollte. Jedes historisch bedingte Denken wird freilich die Bescheidenheit haben müssen, von den Grenzen seiner eigenen Leistungsfähigkeit überzeugt zu sein: es wird sich, durch die Wandlung der Meingungen in der Geschichte gewarnt, immer vorhalten müssen, daß es niemals absolut sicher sein kann, auch mit der vollkommensten Evidenz und ihrer teleologischen Vermittlung zu völlig unverrückbaren Ergebnissen gelangt zu sein. Aber das betrifft nur die individuelle, geschichtlich bedingte und begrenzte Leistungsfähigkeit der Philosophen: ihr gegenüber bleibt die Aufgabe der Philosophie, die stetige Arbeit an ihrer Lösung und die Überzeugung, daß sie an einer Anzahl von Punkten in der Tat bereits gelöst sei, unbeirrt bestehen.

Es war deshalb eine tiefe Weisheit, mit der HEGEL den systematischen Inhalt der Philosophie aus den Bewegungen des Vernunftbewußtseins in der Geschichte herauszuarbeiten unternahm. Aber in seiner Ausführung dieses Gedankens ist in einer Weise und aus Gründen, über die an dieser Stelle nicht genauer gehandelt werden kann, die kritische Begriffsarbeit mit dem Historismus so eigenartig verwachsen, daß sie kaum voneinander zu scheiden sind und die Ausdeutung nach der einen Seite ebenso gut gestatten wie nach der andern. In der Absicht nämlich, jeder Gestaltung, welche die Vernunftprinzipien im Fortgang des geschichtlichen Lebens erfahren haben, ihren relativen Anteil am Geltungsrecht des Ganzen zu retten, griff HEGEL zu den künstlichen MItteln der Dialektik, um sie alle trotz ihrer Verschiedenheiten, ihrer Gegensätze und sogar ihrer Widersprüche zu einer in sich gegliederten Einheit zusammenzuarbeiten. Vor diesem positien, harmonisierenden Zug des historischen Optimismus mußte deshalb die Energie der Kritik, die scheidende und ausscheidende Messung des Einzelnen am Ideal absoluter Geltung, obwohl sie bei HEGEL durchaus nicht fehlt, wenigstens in der Darstellung zurücktreten und oft bis zur Unkenntlichkeit verwischt werden.

Durch dieselben Eigentümlichkeiten seiner Methode ist HEGEL auch dazu gekommen, der historischen Reihenfolge, worin die Vernunftinhalte aufgetreten sind, systematische Bedeutung beizumessen: gerade darin besteht das Charakteristische seiner Dialektik, für welche deshalb die zeitlichen Vermittlungen gleichgültig wurden. Für die kritische Methode kann der geschichtliche Entwicklungsgang in seiner wesentlich empirischen, der "Idee" gegenüber zufälligen Bestimmtheit diese systematische Bedeutung nicht haben. Gleichwohl ist er für sie nicht bedeutungslos, denn der historische Prozeß bildet in sich selber eine immanente Kritik. Ihn als solche zu verstehen, darf man freilich die zeitliche Reihenfolge nicht eo ipso [schlechthin - wp] als "Fortschritt", das Folgende nicht als das "Wahrere" betrachten, um schließlich beim Letzten als dem vorläufig Geltenden still zu stehen; sondern es bedarf eben dazu des stetigen Hinblicks auf jene Zwecke der Normalität, die für die kritische Methode die allgemeine Richtschnur bilden. Diese historische Kritik ist also weit entfernt, sich etwa an den Erfolg als ihr maßgebendes Kriterium zu binden; sie ist von der tatsächlichen Anerkennung in jeder Hinsicht unabhängig.

In dieser Weise erwächst für die Philosophie die Erkenntnis aller inhaltlichen Vernunftwerte aus der kritischen Durchleuchtung der Geschichte. In der historischen Entwicklung der Wissenschaften und ihrer axiomatischen Voraussetzungen, in den großen Konzentrationen des sittlichen, des staatlichen, des sozialen Lebens und in der Ausprägung der dafür geschaffenen Institutionen und Organisationen, in den Mitwelt und Nachwelt ergreifenden und bezwingenden Gestaltungen künstlerischer Schaffenskraft, - in diesem viel verflochtenen Werdegang der Kulturwerte finden Logik, Ethik und Ästhetik die sich gegenseitig ergänzenden und berichtigenden Materialien für ihre Anwendung der kritischen Methode.

Ein wertvolles Ergebnis endlich, das die Philosophie solcher historischen Orientierung verdankt, besteht in der Grenzbestimmung der absoluten Werte. Gerade die historische Besinnung zeigt die Punkte, an denen die Bestimmung des "Apriori", des in der teleologischen Struktur absolut und unerläßlich Geltenden aufhört, an denen deshalb die Kriterien der tatsächlichen Anerkennung und der historischen Gewährleistung durch einen sichtlich und zweifellos fortschreitenden Prozeß der Befestigung und der Ausscheidung eintreten müssen. An solchen Stellen führt die kritische Methode zum Teil zu dem negativen Ergebnis, dei Gebiete festzustellen, in denen der Anspruch auf normative Allgemeingültigkeit, welcher den Gegenstand ihrer Untersuchung bildet, sich nicht oder noch nicht rechtfertigen läßt. Die verschiedenen Disziplinen der Philosophie zeigen in dieser Hinsicht einen sehr verschiedenen Ertrag. Am größten ist der Umfang des Allgemeingültigen, das wir mit voller kritischer Sicherheit behaupten dürfen, zweifellos in der Logik: er ist schon wesentlich geringer in der Ethik und er ist am geringsten in der Ästhetik.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Kritische oder genetische Methode? Präludien, Tübingen 1907
    Anmerkungen
    1) Das Nähere darüber in meiner "Geschichte der neueren Philosophie", Bd. II, 4. Auflage, Leipzig 1907, Seite 209f
    2) Sehr gut hat das für die logischen Fragen LOTZE in der Einleitung zu seiner Logik (1874) entwickelt.