tb-1 Hermann CohenGegenstand bei KantKant und Hume    
 
WILHELM WINDELBAND
Kants theoretische Philosophie
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"Die transzendentale Logik will nicht mehr, wie die formale eine Logik des Umfangs der Begriffe sein, sondern vielmehr die sachlichen Beziehungen untersuchen, welche durch die verschiedenen Formen der Urteilstätigkeit zwischen den Begriffen angesetzt werden. Jene einseitige Berücksichtigung des Umfangs der Begriffe war der alten Logik dadurch aufgenötigt worden, daß ihre wesentliche Aufgabe auf eine Theorie des wissenschaftlichen Beweisverfahrenns, auf eine Lehre vom Schluß hinauslief. Erst vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt Kants her konnte es entdeckt werden, daß den Formen des Urteils ebenso viele Verhältnisse zwischen den Begriffen entsprechen. Mit dieser Entdeckung hat Kant jene große Umwälzung der Logik begonnen, welche auch heute noch nicht vollendet ist. Und diese Bedeutung seines neuen Prinzips wird auch dadurch nicht geschmälert, daß Kant sich in der Anwendung desselben offenbar vergriffen hat."


Die transzendentale Logik entwickelte KANT nun im Anschluß an eine gebräuchliche Behandlungs- und Bezeichnungsweise als eine Kritik einerseits der berechtigten, andererseits der unberechtigten Anwendung der Kategorien, jener in der Analytik, dieser in der Dialektik.

Die Frage der transzendentalen Analytik geht auf die Berechtigung derjenigen synthetischen Urteile a priori, aus denen sich die  reine Naturwissenschaft  konstituiert. An der Spitze der empirischen Naturforschung figurieren ausgesprochen oder unausgesprochen eine Anzahl von Axiomen, welche durch die einzelnen Tatsachen zwar bestätigt, welche aber in der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, mit der wir von ihnen überzeugt sind, niemals durch die Erfahrung begründet werden können. Sätze, wie derjenige, daß die Substanz in der Natur sich weder vermehrt noch vermindert, oder derjenige, daß alles Geschehen in der Natur seine Ursache hat, sind unmöglich durch Erfahrung zu begründen. Daß sie nur durch die Erfahrung uns erst allmählich zu Bewußtsein gekommen sind, würde KANT gern zugegeben und nicht als einen Einwurf gegen ihre Apriorität angeseen haben, da ja die letztere keine psychologische, sondern eine erkenntnistheoretische Bestimmung ist. Zugleich sind diese Sätze synthetisch; denn es liegt wieder im Begriff der Substanz, daß sie quantitativ unveränderlich, noch in demjenigen des Geschehens, daß es ursächlich bedingt ist. Sind nun diese Synthesen nicht durch Erfahrung begründbar, worin besteht dann ihre Berechtigung? Sie alle enthalten den Anspruch, die allgemeine Gesetzmäßigkeit der  Natur  zum Ausdruck zu bringen. Wäre nun die Natur ein realer Zusammenhang von Dingen, so könnte unser Geist von der Gesetzmäßigkeit dieses Zusammenhangs eine Erkenntnis nur auf zwei Wegen gewinnen: entweder indem er den Zusammenhang durch die Wahrnehmung erfährt oder in dem er denselben aus seiner eigenen Gesetzmäßigkeit konstruiert, dabei aber so eingerichtet wäre, daß er damit die Realität wirklich erkennt. Die letztere Annahme stetzt wieder jene präformierte Harmonie voraus, welche KANT ein für alle mal aus der Erkenntnistheorie verbannt hatte. Die erstere dagegen würde, selbst wenn man zugäbe, daß wir in der Wahrnehmung noch einen anderen als den räumlich-zeitlichen Zusammenhang erfahren (was KANT leugnet), doch niemals die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, welche wir für unsere Naturerkenntnis in Anspruch nehmen, berechtigt erscheinen lassen. Dagegen wird es möglich, diese Berechtigung zu begreifen, wenn wir uns auf den phänomenalistischen Standpunkt begeben. Daß der Wahrnehmungsinhalt sowohl in seiner sinnlichen Qualität als auch in seiner räumlich-zeitlichen Formung subjektiven Charakters ist, gilt durch die transzendentale Ästhetik für bewiesen. Auf alle Fälle ist also, was wir Natur nennen, immer doch nur ein gesetzmäßiger Zusammenhang von Erscheinungen. Es gibt nun einen erkenntnistheoretischen Standpunkt, welcher dies zugibt und dabei doch behauptet, daß der gedachte Zusammenhang der Erscheinungen, d. h. die Formen der Gesetzmäßigkeit, welche das Denken als die Verhältnisse der Erscheinungen auffaßt, mögen die letzteren selbst auch nur phänomenalen Charakters sein, dennoch eine Erkenntnis der Realität bilden. Genauso verhielt sich die LEIBNIZ'sche Lehre. Aber für KANT war diese prästabilierte Harmonie unannehmbar, und so stiße er auf die Frage, ob vielleicht diese Formen auch nur phänomenalen Charakter haben. Wenn sie die Gesetze darstellen, nach denen der menschliche Geist vermöge seiner eigenen Organisation den Zusammenhang der Erscheinungen denken muß, gleichviel ob derselbe so real ist oder nicht, so ist jede dieser Formen für uns ein Naturgesetz von allgemeiner und notwendiger Geltung. Schriebe eine außer uns bestehende Natur dem menschlichen Geist seine Erkenntnis vor, so könnten wir nie wissen, ob wir diese Vorschriften schon in dem Umfang kennen gelernt haben, um zu wissen, mit welchem Grad von Allgemeinheit die einzelnen gelten: dagegen ist diese Apriorität sogleich begründet, wenn es umgekehrt  unser Verstand ist, welcher der Natur die Gesetze vorschreibt.  Die Paradoxie dieses Satzes besteht nur so lange, als man dabei an eine willkürliche Tätigkeit des individuellen Verstandes denkt: was KANT meint, ist vielmehr, daß wir von einer allgemeinen und notwendigen Erkenntnis der Natur nur unter der Bedingung sprechen dürfen, wenn das, was wir Natur nennen, nicht eine Welt von Dingen-ansich, sondern vielmehr der nach den allgemeinen Gesetzen unseres Geistes gedachte Zusammenhang von Erscheinungen ist. Apriorische Naturerkenntnis ist nur möglich unter einem phänomenalistischen Gesichtspunkt, nur möglich, wenn alles, was wir von einer wirklichen Welt zu erfahren glauben, ein Produkt nicht nur unserer Empfindungs- und Anschauungs-, sondern auch unserer Denkweise ist. Danach kann unsere apriorische Naturerkenntnis nur darin bestehen, daß wir uns die Gesetze zu Bewußtsein bringen, nach denen die Organisation unserer Intelligenz ohne unser bewußtes Zutun die Vorstellugn der Natur in uns produziert. Die Entscheidung der Frage nach der Berechtigung einer reinen Naturwissenschaft hängt also daran, ob sich solche reinen Formen des Denkens als konstituierende Kräfte für unsere Erfahrung von der Natur ebenso nachweisen lassen, wie die reinen Anschauungen für unsere Auffassung der sinnlichen Bilder.

In der Aufsuchung dieser Formen nun lehnt sich die transzendentale an die formale Logik an. Wenn es solche reinen Formen der Denktätigkeit geben soll, so kann sie nur die Arten der Verknüpfung darstellen, in denen die Vorstellungen im Denken auftreten. Die Vorstellungsverknüpfung aber hat, sobald sie den Anspruch nicht nur auf subjektive, sondern auch auf objektive, d. h. allgemeine und notwendige Geltung macht, stets die Form des Urteils. Gegenständliches Denken ist Urteilen. Die Aufgabe, die verschiedenen Verknüpfungsweisen, welche das Denken anzuwenden imstande Ist, systematisch zu finden, muß sich deshalb zu ihrer Lösung des Leitfadens bedienen,den eben die formale Logik in der Lehre von der Einteilung der Urteile darbietet. Es gibt so viele Kategorien, als es ursprüngliche Verknüpfungsarten von Vorstellungen gibt, und es gibt er letzteren so viele, als es Formen des Urteils gibt. Wenn man bei jeder dieser Formen auf die eigenartige Beziehung achtet, welche das Urteil zwischen Subjekt und Prädikat ansetzt und worin seine spezifische Eigentümlichkeit besteht, so wird man in diesem Verhältnisbegriff eine der Grundfunktionen des Denkens erkennen müssen. In dieser Auffassung der Urteilsformen besteht, prinzipiell betrachtet, die entscheidende logische Tat KANTs. Mit ihr erhebt er sich über die schematische Behandlung, welche die Lehre von Urteil in der Logik bis zu ihm hin deshalb gefunden hatte, weil man dabei lediglich auf die Subsumtionsverhältnisse zwischen Subjekt und Prädikat seine Aufmerksamkeit richtete. KANT hatte eingesehen, daß das Urteil weder stets eine Gleichsetzung von Subjekt und Prädikat besagen, noch den Ausdruck für das Verhältnis des Umfangs dieser beiden Begriffe geben will, sondern vielmehr zwischen Subjekt und Prädikat eine begriffliche Beziehung stiftet, welche sich in der Abstraktion als einer der reinen Verstandesbegriffe verselbständigen läßt. Das Urteil: Zucker ist süß, will weder die beiden Begriffe  Zucker  und  süß  einander gleichsetzen, noch den einen unter den anderen subsumieren, sondern vielmehr aussagen, daß das "Ding Zucker" zu seinen Eigenschaften auch diejenige habe, süß zu sein. Das Wesen des Urteils besteht also darin, die beiden Vorstellungen "Zucker" und "süß" in das begriffliche Verhältnis von Ding und Eigenschaft miteinander zu setzen, und der verbindende Akt, welcher in diesem Urteil die Synthesis von Subjekt und Prädikat vollzieht, spricht sich, wenn er gesondert zu Bewußtsein gebracht werden soll, als das Verhältnis von Ding und Eigenschaft, als die Kategorie der Substanzialität aus. Dieses Beispiel mag genügen, um die Absicht zu erläutern, welche KANT bei seiner Behandlung des Urteils vorschwebte. Die transzendentale Logik will nicht mehr, wie die formale eine Logik des Umfangs der Begriffe sein, sondern vielmehr die sachlichen Beziehungen untersuchen, welche durch die verschiedenen Formen der Urteilstätigkeit zwischen den Begriffen angesetzt werden. Jene einseitige Berücksichtigung des Umfangs der Begriffe war der alten Logik dadurch aufgenötigt worden, daß ihre wesentliche Aufgabe auf eine Theorie des wissenschaftlichen Beweisverfahrenns, auf eine Lehre vom Schluß hinauslief. Erst vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt KANTs her konnte es entdeckt werden, daß den Formen des Urteils ebenso viele Verhältnisse zwischen den Begriffen entsprechen. Mit dieser Entdeckung hat KANT jene große Umwälzung der Logik begonnen, welche auch heute noch nicht vollendet ist. Und diese Bedeutung seines neuen Prinzips wird auch dadurch nicht geschmälert, daß KANT sich in der Anwendung desselben offenbar vergriffen hat.

Denn es ist bei der klaren Vorstellung, welche KANT von der Verschiedenheit der Aufgabe der formalen und der erkenntnistheoretischen Logik gehabt hat, höchst merkwürdig, daß er dennoch meinte, das von der formalen Logik aufgestellte System der Urteile als Leitfaden für die Aufsuchung der erkenntistheoretischen Funktionen benutzen zu können. Mit seiner Überlegung von der Unanfechtbarkeit der formalen Logik legte er, obwohl ihm doch die Verschiedenheit, welche im Vortrag der Urteilslehre selbst unter den Schulphilosophen obwaltete, kaum hat angehen können, dennoch seiner Aufsuchung der Kategorien die Tafel der Urteile, wie er sie vorzutragen pflegte, zugrunde. Diese Tafel zeigte vier Gesichtspunkte, denen jedes Urteil unterworfen werden muß, diejenigen der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität, und für jeden dieser Gesichtspunkte drei verschiedene Formen, von denen eine in jedem Urteil enthalten sein muß. Der Quantität nach ist das Urteil entweder ein allgemeines oder ein partikulares oder ein singulares, der Qualität nach entweder ein bejahendes oder ein verneinendes oder ein unendliches, der Relation nach entweder ein kategorisches oder ein hypothetisches oder ein disjunktives [unterscheidendes - wp], der Modalität nach ein problematisches oder ein assertorisches [behauptendes - wp] oder ein apodiktisches [unwiderlegbar gewiß - wp] Aus der Reflexion auf diese zwölf möglichen Formen des Urteils entwickelt nun KANT seine Tafel der zwölf Kategorien. Die Kategorien der Quantität sind: Allheit, Vielheit, Einheit; diejenigen der Qualität sind: Realität, Negation, Limitation; diejenigen der Relation sind: Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens), Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung), Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen Handelndem und Leidendem); diejenigen der Modalität sind: Möglichkeit und Unmöglichkeit, Dasein und Nichtsein, Notwendigkeit und Zufälligkeit. Es ist klar, daß der Zusammenhang zwischen jenen Urteilsformen (selbst deren System als richtig zugegeben) und diesen reinen Verstandesbegriffen, welche die darin wirksamen Verknüpfungsfunktionen enthalten sollen, zum großen Teil nur äußerst loser, willkürlicher und zufälliger ist. Und von allen Teilen der kantischen Philosophie ist diese Ausführung eines seiner bedeutendsten und fruchtbarsten Gedanken offenbar der schwächste. Leider ist die Wirkung davon nicht auf diesen Teil beschränkt, sondern KANT fand vielmehr sonderbarer Weise an diesem Schema der Kategorien so viel Freude, daß er dasselbe in der Folgezeit überall zugrunde legte, wo es ihm um die erschöpfende Behandlung eines Problems zu tun war. Seine zunehmende Pedanterie trat nicht am wenigsten zutage, daß er meinte, jeder Gegenstand müsse nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität gesondert abgehandelt werden, und daß er in dieses Schema seine späteren Untersuchungen nicht zu ihrem Vorteil künstlich "wie ein Prokrustesbett" hineinpreßte.

Das sind also die reinen Verstandesbegriffe, deren durchaus parallele Behandlung mit den reinen Anschauungsformen den eigentlichen Charakter von KANTs kritischer Erkenntnistheorie bildet, indem er von ihnen mit einer analogen Beweisführung und mit den gleichen phänomenalistischen Konsequenzen die Apriorität behauptet. Auch hier gilt dieselbe nicht in einem psychologischen Sinn, daß etwa Begriffe, wie diejenigen der Substanzialität und Kausalität von vornherein im Bewußtsein des Menschen vorhanden sind und dann erst zur Anordnung des sinnlichen Vorstellungsmaterials verwendet werden sollten. Für KANT ist vielmehr auch das Bewußtsein von diesen reinen Foren des Denkens in derselben Weise wie dasjenige der räumlichen und zeitlichen Gesetze nur eine Reflexion auf die Formen der Synthesis, welche das Denken unwillkürlich in seiner Erfahrungstätigkeit anwendet. Den Beweis davon führt KANT in demjenigen Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft, welcher von allen am tiefsten geht, aber eben deshalb auch von jeher als der dunkelste und schwierigste gegolten hat. Will man sich den Beweisgang desselben ohne die zum Teil sehr künstliche und verwickelte Terminologie, welche KANT dafür konstruiert hat, klar machen, so muß man als Ausgangspunkt die für KANTs eigene Entwicklung so bedeutungsvolle Frage nach dem Grund der Gegenständlichkeit unserer sinnlichen Wahrnehmungsbilder nehmen. Versteht man unter  Wahrnehmung  die nach dem Schema von Raum und Zeit angeordneten Zusammenfassungen von Empfindungen, welche im individuellen Bewußtsein entstehen, unter  Erfahrung  dagegen das Bewußtsein des Individuums, eine notwendige und allgemeingültige Vorstellungsverbindung bei dieser sinnlichen Wahrnehmung vollzogen zu haben, so lautet die Frage der  transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe:  wie wird aus Wahrnehmung Erfahrung? oder schärfer im Geiste der kritischen Methode ausgedrückt: aus welchem  Grund  kann aus Wahrnehmung Erfahrung werden? Erfahrung setzt das Verhältnis eines subjektiven Vorstellungsbildes zu einem Gegenstand voraus; und so läßt sich die Frage auch so formulieren: worin besteht und worauf beruth die Beziehung unserer Wahrnehmungen auf Gegenstände? Um aber in der Beantwortung dieser Frage nicht von vornherein fehl zu gehen, muß man sich klar machen, daß Gegenständlichkeit im Sinne des kantischen Kritizismus nicht mit Realität nach alten und gewöhnlichen Sprachgebrauch, sondern vielmehr lediglich mit Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit identisch ist. Daraufhin formt sich jene Frage in die weitere um: aus welchen Gründen können wir überzeugt sein, daß die in der Wahrnehmung des einzelnen Subjekts sich vollziehenden räumlich-zeitlichen Synthesen von Empfindungen notwendige und allgemeine Geltung haben? In der Beantwortung dieser Frage entwickelt KANT die größte Energie seines Denkens, und es ist dies der Punkt, wo er sich über das Vorurteil des naiven Realismus weit emporhebt. Den Nerv aber der gesamten Deduktion der reinen Verstandesbegriffe muß man in KANTs Nachweis sehen, daß schon die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, welche in der Wahrnehmung dem räumlichen und zeitlichen Schema der Empfindungen beiwohnt, nicht durch die bloße Anschauungstätigkeit, sondern bereits durch begriffliche Beziehungen oder, wie KANT sich ausdrückt, durch Regeln des Verstandes bestimmt ist.

Man sagt gewöhnlich, KANT habe sich nur um die Apriorität von Raum und Zeit und den Kategorien, niemals aber um den Erkenntniswert der einzelnen Erfahrungen gekümmert, und JACOBI und HERBART haben gleichmäßig diesen Einwurf gegen die Vernunftkritik gemacht. Die transzendentale Deduktion lehrt das Gegenteil; sie sucht zu zeigen, daß die räumliche und zeitliche Anordnung von Empfindungen nur dann einen objektiven, d. h. notwendigen und allgemeinen Wert haben, wenn sie durch eine begriffliche Funktion in ihrer Anwendung bestimmt sind. Zwei Empfindungen  A  und  B,  welche in demselben individuellen Bewußtsein hintereinander aufgetreten sind, können innerhabl desselben nach den Gesetzen der empirischen Reproduktion und Assoziation in beliebiger Weise und von jedem Individuum in anderer Weise räumlich und zeitlich in Beziehung gesetzt werden. Sollen sie aber in eine allgemeine und notwendige Beziehung treten, daß immer  B  auf  A  folgt, so ist das nur dadurch möglich, daß  A  die Ursache von  B  ist. In ähnlicher Weise, meint KANT, seien alle räumlichen und zeitlichen Verhältnisse individuell verschiebbar und würden zur Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit erst dadurch fixiert, daß sie nach den begrifflichen Verhältnissen geregelt werden.

Nun liegt aber eine solche Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit in dem, was wir Erfahrung nennen, tatsächlich vor. Wir haben ein exaktes Bewußtsein davon, daß die räumliche und zeitliche Anordnung, in welche wir bei der Wahrnehmung die Empfindung versetzen, allgemein und notwendig gilt. Und doch ist in den bloßen Empfindungen kein Grund für eine solche bestimmte Anordnung enthalten. Wenn wir unsere Augen über die einzelnen Teile eines großen Gegenstandes wandern lassen und uns die Teile sukzessiv zu Bewußtsein bringen, so bleiben wir doch davon überzeugt, daß diese sukzessive in uns aufgetretenen Empfindungen als gleichzeitig im Raum koordiniert gedacht werden müssen, während wir in anderen Fällen nicht minder davon überzeugt sind, daß der Sukzession unserer Empfindungen (z. B. bei der Bewegung eines Gegenstandes) auch eine objektive Sukzession in der Zeit entspricht. Nichts anderes können wir nun aber meinen, wenn wir den subjektiven Vorstellungsbewegungen gegenüber von  "Gegenständen"  sprechen, welche die Richtschnur für die Richtigkeit der ersteren bilden. Gegenständlichkeit ist eine Regel für die räumlich-zeitliche Anordnung der Empfindungen, eine Regel, welche nach dem Obigen jedesmal die Anwendung einer der Funktionen des reinen Verstandes enthält, und wodurch der subjektiven Vorstellungsverknüpfung eine objektive Geltung verschafft werden soll. Von der erkenntnistheoretischen Analyse aus gesehen ist also Erfahrung nur notwendige und allgemeingültige Wahrnehmungstätigkeit, und ist der Gegenstand der Wahrnehmung nur diese Bestimmtheit der räumlich-zeitlichen Synthese durch einen Verstandesbegriff. Die Gegenstände also sind nicht  ansich  bestehende Dinge, sondern sie sind der individuellen Assoziation gegenüber lediglich die allgemeinen und notwendigen Empfindungsverknüpfungen.

Nun treten aber diese objektiven Synthesen gleichfalls im individuellen Bewußtsein auf. Sie zeichnen sich nur dadurch aus, daß ihnen ein Gefühl von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit beiwohnt, welches aus der empirischen Assoziationstätigkeit des individuellen Geistes nicht erklärbar ist. Deshalb kann der Grund der Objektivität nur darin gesucht werden, daß im tiefsten Grund des individuellen Bewußtseins eine allgemeine Organisation tätig ist, welche nicht sowohl in ihrer Funktion selbst, als vielmehr in den Produkten derselben von der individuelle Bewußtsein tritt. Dieses findet deshalb die Vorstellung der Gegenstände als ein Fertiges und Gegebenes vor und betrachtet dieselben als etwas ihm Fremdes und Äußerliches, während sie in Wahrheit in der innersten Werkstätte seines eigenen Lebens erzeugt worden sind. Das Gegenständiliche also in unserem Denken beruth auf einer  überindividuellen Funktion,  welche gleichmäßig den Untergrund aller individuellen Vorstellungstätigkeit bildet. Indem KANT daran geht, diese Funktion zu definieren, ergibt sich zunächst, daß ihr innerster Charakter derjenige der Einheit des Denkaktes sein muß. Alle Gegenstände sind Synthesen von Empfindungen, aber sie sind als solche stets eine Vereinheitlichung des Mannigfaltigen. Wenn nun dieses Mannigfaltige in den Empfindungen besteht, so ist andererseits die Vereinheitlichung eine Funktion der reinen Formen der Intelligenz. Raum und Zeit einerseits und die Kategorien andererseits bildent also die Formen der notwendigen und allgemeingültigen Vereinheitlicung für die Mannigfaltigkeit der Empfindungen, d. h. sie sind in ihrer Verbindung die konstituierenden Prinzipien der Objektivität. Diese ganze "transzendentale Synthesis des mannigfaltigen" ist aber nur so denkbar, daß ihre eine absolute Einheit zugrunde liegt, in welcher und an welcher das Verschiedene als solches erkannt und miteinander in Beziehungen gesetzt wird. Diese absolute Einheit kann natürlich weder in einem bestimmten Denkinhalt noch in einer der besonderen Denkformen, sondern nur in jener allgemeinsten Form bestehen, welche als der stets sich gleichbleibende Akt "ich denke" alle Vorstellungen überhaupt nicht nur begleitet, sondern erst möglich macht. Den tiefsten Grund jener überindividuellen Organisation bildet also dieses "reine Selbstbewußtsein", welches KANT mit dem Namen der  "transzendentalen Apperzeption bezeichnet.

In dieser überindividuellen Intelligenz liegt also der Grund für die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Erfahrung. Die Kategorien sind nichts als die besonderen Formen der Synthesis, welche die transzendentale Apperzeption anwendet, um die Mannigfaltigkeit der Empfindungen in die begriffliche Einheit zu bringen, in welcher allein auch die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der räumlich-zeitlichen Anordnung begründet ist. Die Welt der Gegenstände ist also ein Produkt der überindividuellen Organisation, welche als Erfahrung in uns Einzelnen tätig ist. Bildet sich das Individuum willkürlich und nach den Gesetzen der Assoziation aus dem Material seiner Wahrnehungen neue Zusammenstellungen, so bezeichnet man diese Tätigkeit als Einbildungskraft, welche im Individuum stets reproduktiver Natur ist. Indem nun die transzendentale Apperzeption aus den Empfindungen mit Hilfe des Schemas von Raum und Zeit durch die Einheitsfunktion der Kategorien originaliter die Gegenstände erzeugt, verdient sie den Namen der  produktiven Einbildungskraft. 

Dies ist nun der "kopernikanische Standpunkt", den KANT gewonnen zu haben glaubte, um das Verhältnis unserer Vorstellungen zu einer gegenständlichen Welt begreiflich zu machen. Die einzige Bedingung, unter der es Begriffe a priori von den Gegenständen geben kann, ist die, daß die Gegenstände unserer Erkenntnis nicht Dinge ansich, sondern Erscheinungen sind. Hätte unsere Erkenntnistätigkeit es mit Dingen ansich zu tun, so würden unsere Begriffe für dieselben niemals allgemeine und notwendige Bedeutung haben können. Von den Dingen selbst, durch Erfahrung im gewöhnlichen Sinne des Wortes gewonnen, würden sie a posteriori sein; aus uns als angeborene Ideen genommen, würde ihre reale Gültigkeit immer unbegreiflich bleiben. Empirismus und Rationalismus sind gleich unfähig, apriorische Erkenntnis von Gegenständen zu erklären; nur die Transzendentalphilosophie vermag dies, indem sie zeigt, daß die Kategorien allgemein und notwendig für alle Erfahrung gelten, weil diese Erfahrung erst durch sie zustande kommt. Was aber dadurch zustande kommt, sind nicht Gegenstände ansich, sondern Gegenstände, welche in jener überindividuellen Organisation als Vorstellungssynthese entsprungen sind, d. h. Erscheinungen. Wenn es nur Erscheinungen sind, mit denen es die menschliche Erkenntnis zu tun hat, so ist es begreiflich, daß es für dieselbe Begriffe a priori gibt. Denn als Erscheinungen sind die Dinge nur in uns vorhanden, und die Art, wie das Mannigfaltige der Empfindung in unserem Bewußtsein vereinigt erscheint, geht ann den Erscheinungen selbst als ihre intellektuelle Form vorher. Eine Natur als System von Dingen ansich könnte in eine allgemeine und notwendige Erkenntnis nie eingehen; aber eine Natur, welche ein Produkt unserer Organisation ist, d. h. eine Erscheinungswelt ist in ihren allgemeinen Gesetzen a priori zu begreifen, weil diese Gesetze nichts anderes sind, als die reinen Formen unserer Organisation.

Diese Lehre KANTs ist Rationalismus, insofern sie eine apriorische Erkenntnis mit den Formen des menschlichen Geistes behauptet und begründet; sie ist Empirismus, insofern sie diese Erkenntnis nur auf die Erfahrung und die darin gegebenen Erscheinungen beschränkt; sie ist Idealismus, insofern sie lehrt, daß es nur unsere Vorstellungswelt ist, welche wir erkennen; sie ist Realismus, indem sie behauptet, daß diese unsere Vorstellungswelt Erscheinung, d. h. die Auffassung unseres Geistes von einer wirklich bestehenden Welt, obwohl nicht deren Abbild ist. Sie faßt alle diese Charakteristiken zusammen als  transzendentaler Phänomenalismus,  indem sie zeigt, daß die Welt der Objekte für den individuellen Geist das Produkt einer überindividuellen Organisation ist, die demselben nicht fremd gegenüber steht, sondern den Grund seines eigenen Lebens bildet. Auch für KANT gilt deshalb die populäre Bezeichnung, daß die Wahrheit des Denkens in seiner Übereinstimmung mit den Gegenständen besteht: aber diese Gegenstände können nicht Dinge im Sinne des naiven Realismus, sondern nur Vorstellungen höherer Art sein. Wahrheit für den subjektiven Geist ist Übereinstimmung der individuellen mit der überindividuellen Vorstellung.

Es ist verzeihlich, daß dieses Resultat des Kritizismus bei seinem Erscheinen mit der Lehre von BERKELEY verwechselt worden ist; aber es ist ebenso berechtigt, daß KANT sich gegen diese Verwechslung energisch verwahrt hat. Denn während BERKELEY jede Realität der Körperwelt überhaupt aufhob, hält KANT an derselben absolut fest und behauptet seinerseits nur, daß alles, was wir von diesen Körpern durch Wahrnehmung und Denken wissen, in der Organisation unseres Geistes begründet, und deshalb nur eine Erscheinungsweise derselben ist; und während BERKELEY eine metaphysische Substanzialität der individuellen Geister und infolgedessen eine Mitteilung des göttlichen Vorstellungsprozesses an die einzelnen Geister annahm, entledigt sich KANT vermöge seiner Ausdehnung des Phänomenalismus auch auf den inneren Sinn dieses metaphysischen Spiritualismus vollständig und betrachtet auch das empirische Selbstbewußtsein nicht als eine reale Wesenheit, sondern als eine Erscheinung. In diesem Sinne gab er in der zweiten Auflage der Vernunftkritik eine seiner gesamten Lehre vollkommen entsprechende "Widerlegung des Idealismus", indem er zeigte, daß das individuelle Selbstbewußtsein statt der Vorstellung der Außenwelt, wie DESCARTES und BERKELEY meinten, zugrunde zu liegen, vielmehr umgekehrt erst aufgrund einer entwickelten Vorstellung von äußeren Gegenständen zustande kommt, daß also mit Rücksicht sowohl auf die psychologische Genesis, als auch auf die erkenntnistheoretische Begründung die Funktion des äußeren Sinnes derjenigen des inneren Sinnes vorausgeht.

So erweist sich die transzendentale Ästhetik nur als Präludium der Analytik. Dort handelt es sich um die räumlichen und zeitlichen Gesetze, insofern dieselben in sich apodiktisch und von allgemeiner Geltung für die gesamte Sinnenwelt sind. Hier dagegen zeigt es sich, daß die ganze Welt unserer Erfahrung erst durch das Zusammenwirken der Sinnlichkeit und des Verstandes zustande kommt, und daß jede besondere Anwendung der räumlichen und zeitlichen Synthese nur dadurch objektiven Wert erhält, daß sie durch eine Funktion des reinen Verstandes, durch eine Kategorie geregelt wird. Die beiden Erkenntnisquellen, Sinnlichkeit und Verstand, welche KANT so scharf gesondert hat, lassen ihre innere Zusammengehörigkeit und ihre gemeinsame Abstammung aus der uns unbekannten Wurzel darin erkennen, daß sie sich an demselben Material der Empfindungen in engster Verbindung betätigen, und daß die Verhältnisse der sinnlichen Synthese sich durch diejenigen der begriflichen Synthese bedingt zeigen. Indem KANT dieser Vereinbarkeit der heterogenen Funktionen nachgeht, stellt er zwischen beiden als psychologisches Zwischenglied eine Analogie zwischen den kategorialen Verhältnissen und gewissen zeitlichen Beziehungen auf, die er als den  "Schematismus der reinen Verstandesbegriffe"  bezeichnet. Die stetige Gleichzeitigkeit, z. B. von Empfindungen, steht mit der Kategorie der Substanzialität, die stetige Sukzession derselben mit derjenigen der Kausalität in einer ursprünglich unserem Denken einleuchtenden Beziehung. Während nun HUME, der diese Beziehungen wenigstens an den eben gewählten Beispielen zuerst entdeckte, dieselben lediglich als Produkte des individuellen Assoziationsmechanismus auffaßte, sieht KANT dagegen in dieser Koinzidenz sinnlicher und begrifflicher Verhältnisse die eigentliche Funktion der transzendentalen Einbildungskraft, und da das zeitliche Schema und die Formen des Denkens sich in der Tätigkeit des inneren Sinnes begegnen, so glaubt er auf diese Weise die Möglichkeit begriffen zu haben, daß eine transzendentale Urteilskraft die räumlich - zeitlichen Gebilde unter reine Verstandesbegriffe subsumiert, und dadurch die begrifflichen Regeln der Kategorien ihre Anwendung auf die Welt der sinnlichen Wahrnehmung finden. KANTs Lehre von der Zeit zeigt sich hier als ein unentbehrliches Zwischenglied seiner gesamten psychologisch - erkenntnistheoretischen Konstruktion. Die Zeit als die reine Form des inneren Sinnes gilt einerseits als transzendentale Bedingung auch für alle Erscheinungen des äußeren Sinnes und andererseits als ein allgemeines Schema für die Anwendung der Kategorien. So vermittelt sie jene Gemeinsamkeit der Funktion zwischen Sinnlichkeit und Verstand und läßt es begreiflich erscheinen, daß aus der Subsumtion der Erscheinungen unter die Kategorien sich allgemeine Sätze ergeben, welche für den gesamten Umfang der ersteren als apriorische Gesetze gelten.

Daraufhin entwickelt KANT die  Grundsätze der reinen Verstandes.  Sie enthalten dasjenige, was er die reine Naturwissenschaft nennt, d. h. die Axiome, welche, ohne durch die Erfahrung begründet zu sein, aller Erfahrung zugrunde liegen, und alle besonderen Naturgesetze nicht nur als einzelne Anwendungen auf empirische Gegenstände unter sich enthalten, sondern auch allein wirklich zu begründen imstande sind. Jeder dieser Grundsätze enthält nichts anderes als den Satz, daß die betreffende Kategorie oder Kategorienklasse auf jede Erscheinung ihre Anwendung zu finden habe. So ergibt sich der Gesichtspunkt der Quantität das allgemeine  Axiom der Anschauung,  daß alle Erscheinungen ihrer Anschauung nach extensive Größen sind. So folgt aus dem Gesichtspunkt der Qualität der Grundsatz der  Antizipation der Wahrnehmung,  daß in allen Erscheinungen das Objektive, welches den Gegenstand der Empfindung bildet, eine intensive Größe ist, d. h. einen Grad hat. So begründen die Gesichtspunkte der Modalität als  Postulate des empirischen Denkens  die Begriffsbestimmungen: möglich sei dasjenige, was der Anschauung und dem Begriff nach mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommt; wirklich dasjenige, was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung, d. h. der Empfindung zusammenhängt; notwendig endlich dasjenige, dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist. Am wichtigsten aber sind zweifellos unter diesen Grundsätzen des reinen Verstandes die  Analogien der Erfahrung,  welche sich aus der Unterordnung aller Erscheinungen unter die Kategorien der Relation ergeben. Die Anwendung der Kategorie der Substanzialität auf die Erscheinungen ergibt als erste Analogie den "Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz", nach welchem bei allem Wechsel der Erscheinungen die Substanz beharrt und das Quantum derselben in der Natur weder vermehrt noch vermindert wird. Aus der Subsumtion aller Erscheinungen unter die Kategorie der Kausalität folgt als zweite Analogie der "Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität", daß alle Veränderungen nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschehen. Die Kategorie der Gemeinsachaft erzeugt in ihrer Anwendung auf die Erscheinungen als dritte Analogie den "Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetz der Wechselwirkung", wonach alle Substanzen, insofern sie im Raum als zugleich wahrgenommen werden können, in durchgängiger Wechselwirkung stehen. Diese Analogien enthalten nicht mehr und nicht weniger als die  Grundzüge einer Metaphysik der Erfahrungswelt;  sie lehren, daß nach den Gesetzen unserer geistigen Organisation sich alle Erfahrung als ein System von räumlichen Substanzen darstellen muß, deren Zustände im Verhältnis wechselseitiger Kausalität stehen. In ihnen erst entwickelt sich die besondere Darstellung davon, daß die Natur als das System von Ordnung und Gesetzmäßigkeit, welches wir wahrzunehmen glauben, in Wahrheit auf dem Grundriß der gesetzmäßigen Funktion unseres Verstandesgebrauchs aufgebaut ist: und so hat KANT erwiesen, daß wir die Welt in diesem ihren Zusammenhang vermöge unserer Organisation so wie es geschieht anschauen und denken müssen, ganz unabhängig davon, ob sie - worüber wir nichts entscheiden können und was uns auch gar nichts angeht - außerhalb unseres Geistes so ist oder nicht.

Die so gefundenen und deduzierten Grundsätze des reinen Verstandes enthalten also die Metaphysik, d. h. die apriorische Verstandeserkenntnis der Erscheinungswelt. Allein sie bedürfen zwecks ihrer Anwendung auf die Erfahrungswissenschaften noch einer Ergänzung. Wenn die Erfahrung nur durch die gemeinsame Wirkung der Sinnlichkeit und des Verstandes erzeugt wird, so steht ihr Gegenstand, d. h. die Natur a priori unter den Gesetzen, d. h. den reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes. Nun zeigte sich zwar schon die Anwendung der letzteren durch die zeitliche Schematisierung bedingt, und in den Grundsätzen des reinen Verstandes liegt in dieser Weise schon eine Verknüpfung der beiden Prinzipien vor. Allein da alle Erscheinungen sinnlichen Charakters sind, so muß sich in ihnen auch die besondere Gesetzgebung von Raum und Zeit, d. h. die mathematische als maßgebend erweisen. Mit jenen zwölf Grundsätzen ist, da die Tafel der Kategorien als ein vollständiges System gilt, der Umfang dessen, was man durch bloße Begriffe a priori von der Erfahrung weiß und wissen kann, erschöpft. Erst die mathematische Erkenntnis fügt dieser apriorischen Metaphysik der Erscheinungen das anschauliche Element hinzu. Ohne dieses Element ist eine Verknüpfung zwischen jenen höchsten Grundsätzen und den besonderen Erfahrungen nicht denkbar, mithin auch eine Subsumtion der letzteren unter die ersteren nicht vollziehbar. Die psychologische Konstruktion, welche KANT seiner Erkenntnistheorie zugrunde legte, läßt die Formen der Sinnlichkeit als das unentbehrliche Zwischenglied zwischen dem Empfindungsmaterial und den reinen Formen des Denkens erscheinen, und deshalb ist ihm die Mathematik das einzige Medium, durch welches unsere Erfahrung von der Natur auf jene reinen Grundsätze bezogen werden kann. Darum erklärt KANT, daß in jeder Naturlehre sich nur soviel Wissenschaft (d. h. Wissenschaft im eigentlichsten Sinne oder apriorische Wissenschaft) findet, als sie Mathematik enthält. Hier zeigt sich nun, wie KANT durch seine kritische Arbeit sich die Möglichkeit geschaffen hatte, die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie ganz im Sinne NEWTONs durchzuführen, - mit dem Unterschied nur, daß die Natur für NEWTON eine absolute Realität, für KANT eine in der Organisationi des menschlichen Geistes begründete Erscheinung ist, daß Raum und Zeit bei jenem die Möglichkeit der realen, bei diesem diejenige der Vorstellungswelt bildete. Eine Metaphysik der Erscheinungen oder  Naturphilosophie reicht also für Kant soweit, als es eine mathematische Behandlung der Erscheinungen gibt;  wo diese aufhört, da gibt es auch keine apriorische Erkenntnis mehr, sondern nur noch eine Sammlung von Tatsachen. Dieses Verhältnis obwaltet nun in Bezug auf die Erscheinungen des inneren Sinnes. Es gibt für die psychischen Tatsachen weder eine meßbare Bestimmung der einzelnen noch infolgedessen eine mathematisch formulierbare Bestimmung ihrer Verhältnisse und Gesetze. Darum gibt es  keine Metaphysik des Seelenlebens,  selbst nicht einmal in dem bescheidenen Sinne, welchen die Vernunftkritik unter Metaphysik versteht. Da nun eine rationale Psychologie im alten Sinne, eine Lehre von der Seele als Ding-ansich nach KANTs Ansicht erst recht nicht möglich ist, so bleibt für die  Psychologie  nur der Charakter einer deskriptiven und mangelt ihr derjenige einer erklärenden Wissenschaft. KANTs Ansicht von der Aufgabe der Erfahrungswissenschaften ist bei seiner aprioristischen Tendenz durchaus vom NEWTON'schen Prinzip beherrscht, daß Exaktheit und wahre Wissenschaftlichkeit nur da zu finden ist, wo es eine korrekte Subsumtion der Erfahrung unter a priori aufgestellte Gesetze gibt. Diese Forderung ist eben im strengsten Sinne nur da zu erfüllen, wo das apriorische Element in mathematischen Deduktionen und das empirische in meßbare Größen besteht, so daß die Übereinstimmung zwischen beiden unmittelbar anschaulich und einleuchtend gemacht werden kann. Dieses naturwissenschaftliche Ideal läßt sich an der Psychologie nicht erfüllen: und deshalb erklärt KANT, sie werde niemals den Charakter der Exaktheit erlangen.

Aus diesem Grund beziehen sie "die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft nur auf die äußere Natur, auf die Erscheinungen im Raum, auf die  Körperwelt.  Ihre Aufgabe also ist zu untersuchen, welche Folgerungen sich aus den Grundsätzen des reinen Verstandes und aus der mathematischen Gesetzgebung für unsere erfahrungsmäßige Theorie der Körperwelt ergeben. Es wird sich also darum handeln, dasjenige, was an der Körperwelt erfahrungsmäßig ist, bis zu einem gewissen Grad jener apriorischen Gesetzgebung zu unterwerfen. Nun beziehen sich alle besonderen Naturgesetze, welche die Physik aufstellt, auf die gesetzmäßigen Veränderungen der Körperwelt; jedes Gesetz ist ein Gesetz des Geschehens. Da aber die Körper nichts als Erscheinungen im Raum sind, so ist alles Geschehen der äußeren Natur eine räumliche Veränderung, d. h.  Bewegung.  Die Bewegung erweist sich aber auch dadurch als Zentralbegriff unserer Naturauffassung, weil in ihrer Messung und mathematischen Bestimmung sowohl das räumliche als auch das zeitliche Merkmal unentbehrlich ist. Deshalb gestaltet sich KANTs Naturphilosophie als eine  begriffliche und mathematische Bewegungslehre a priori.  In der Ausführung bedient sich KANT des Schemas der Kategorientafel, indem er nach den vier Gesichtspunkten derselben seine Naturphilosophie einteilt in Phoronomie [Bewegungslehre - wp], Dynamik, Mechanik und Phänomenologie. Den Begriff der Bewegung bestimmt KANT im Einklang mit jenem für seine Entwicklung wichtigen Schriftchen aus dem Jahre 1758 auch hier in dem relativen Sinn als die Entfernungsveränderung zweier Punkte. Er leitet daraus die ersten Grundsätze von der Zusammensetzbarkeit der Bewegungen oder die Prinzipien der Disziplin, welche man heutzutage  Kinematik  nennt, besonders aber die Folgerung ab, daß, sobald im Universum sich irgendetwas bewegt, nichts in absoluter Ruhe bleiben kann. Was sich bewegt, nenen wir die Materie, aber deren raumerfüllendes Dasein ist nicht als eine stoffliche Existenz, sondern vielmer als ein Produkt der ursprünglichen Kräfte zu betrachten, die einander in verschiedenem Maße das Gleichgewicht halten. Diese  dynamische Naturerklärung  steht dem Atomismus und der Korpuskularphilosophie gleich scharf gegenüber. Die unendliche Teilbarkeit des Raumes, welcher das gesamte Wesen der Körper beherrscht, läßt die Annahme der Atome als unzulässig erscheinen. Die verschiedenen Aggregatzustände, zu deren Erklärung man hauptsächlich den Atomismus benutzt, begreifen sich vielmmehr aus dem verschiedenen quantitativen Verhältnis der beiden antagonistischen Kräfte, die erst in ihrer Zusammenwirkung die Materie konstituieren, der Attraktion und der Repulsion. Ist KANTs Naturauffassung in dieser Hinsicht dynamisch, indem sie als den eigentlichen Grund der stofflichen Erscheinung ein Verhältnis von Kräften bezeichnet, so ist sie in ihrer Lehre von den Ursachen der Veränderung streng mechanistischen Charakters. In der Natur als räumlicher Erscheinungswelt kann für die Ursache einer räumlichen Bewegung immer nur eine andere räumliche Bewegung angesehen werden. Jede Abhängigkeit einer körperlichen Veränderung von nichträumlichen Prozessen würde dem gesetzmäßigen Zusammenhang der Natur, d. h. der Funktion unseres reinen Verstandes widersprechen. Deshalb sind in der exakten Naturwissenschaft alle Versuche teleologischer Erklärungen eine Absurdität. Nur die mechanischen Gesetze vom Beharren der Substanz und der Kraft und von der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung beherrschen den ganzen Ablauf des körperlichen Geschehens. Alle Vorstellungen, welche wir von demselben haben, beruhen allein darauf, daß wir imstande sind, Bewegungen als möglich zu denken, als wirklich zu konstatieren, als notwendig zu begreifen. Aber so sehr wir dazu durch unsere Erfahrung und durch die mathematisch-physikalische Gesetzgebung befähigt sein mögen, so zwingt uns doch unser Begriff der Bewegung dabei stets eine Voraussetzung zu machen, welche wir weder erfahrungsmäßig konstatieren, noch durch Anschauungen oder Begriffe zu beweisen imstande sind: es ist diejenige des leeren Raumes. Die Erfahrung zeigt nichts als erfüllten Raum. Denn wahrnehmen kann man nur, was auf unsere Sinne wirkt, und das tun nur die den Raum erfüllenden Kräfte. Um uns aber gegenüber dem mechanischen Begriff der Undurchdringlichkeit die Möglichkeit der Bewegung überhaupt vorzustellen, bedürfen wir der Annahme des leeren Raums, und die NEWTON'schen Gesetze beweisen sogar, daß die Größe dieses leeren Raumes den entscheidenden Koeffizienten für die Intensität der Kraftwirkung bildet. Hier liegt das alte Rätsel von der Wirkung in die Ferne vor, dem LEIBNIZ und NEWTON so verschiedene Lösungen geben wollten. Innerhalb der Naturauffassung bleibt KANT auch hier auf dem Standpunkt NEWTONs. Aber er fügt auch hinzu, daß der leere Raum nur eine notwendige Voraussetzung für unsere besonderen naturwissenschaftlichen Erklärungen, niemals aber selbst ein Objekt der Erkenntnis sein kann. Der leere Raum ist das Ding-ansich in der Naturphilosophie, d. h. er ist ihr Grenzbegriff, er enthält das Bewußtsein davon, daß für unsere Auffassung der Natur noch ein Etwas vorausgesetzt werden muß, was wir nicht kennen, und was sich weder durch Anschauungen noch durch Begriffe umschreiben läßt.

So schließt KANTs Naturphilosophie mit der Rückkehr zur phänomenalistischen Grundlage, auf der sie beruth, und mit der Einsicht, daß in den reinen Formen der sinnlichen und begrifflichen Erkenntnis, sobald sie auf einen empirischen Gegenstand, wie denjenigen der Bewegung angewendet werden, sich eine Hindeutung auf jene unbekannte Realität entwickelt, ohne welche der gesamte Inhalt, welchen wir für jene Formen vorfinden, uns unbegreiflich wäre. Die Stellung KANTs in der Geschichte des Phänomenalismus wird erst hier völlig klar, aber zugleich auch von einer außerordentlichen Verwickeltheit. Die transzendentale Analytik hat zu dem Resultat geführt, daß nicht nur die sinnlichen Qualitäten und die räumlichen Formen, wie das schon früher behauptet worden war, nicht nur die zeitlichen Formen, wie die transzendentale Ästhetik bewies, sondern auch die begrifflichen Beziehungen, in welche jenes gesamte Material durch den Verstand gesetzt wird, lediglich Funktionen des menschlichen Geistes sind. Das Weltbild in unserem Kopf mit seinem gesamtenn Inhalt und seinen gesamten Formen ist ein Produkt unserer Organisation, ein Produkt, welches aus derselben mit innerer Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit vorgeht, und von dem aus daher gar kein Schluß auf eine dieser Organisation etwa gegenüberstehende Welt möglich ist. Es ist in dieser Entdeckung KANTs, die bestehen bleiben wird, auch wenn die einzelnen Formen ihrer Begründung sich verändern und verschieben sollten, - es ist in ihr etwas vom Ei des Kolumbus. Daß alle Erkenntnis der Welt diese Welt nicht realiter, sondern nur in der Vorstellung enthalten und deshalb nur durch die Organisation der Vorstellungstätigkeit selbst bedingt sein kann, ist eigentlich eine Binsenwahrheit, und nur das ist das Wundersame, daß in der Geschichte der menschlichen Wissenschaft erst die Riesenarbeit des kantischen Denkens notwendig war, um dieselbe zu Bewußtsein zu bringen.

In KANTs Begriffsbestimmungen und Formulierungen begründet sich die Lehre vom  absoluten Phänomenalismus  des menschlichen Wissens gerade durch seine Theorie der Erfahrung. In der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe erwies sich, daß dieselben die synthetischen Formeln sind, in denen die transzendentale Apperzeption das Material der sinnlichen Empfindungen zu Gegenständen gestaltet. Daraus ergibt sich zunächst, daß die Kategorien nur Sinn haben, insofern ein Material vorliegt, dessen Mannigfaltigkeit der Vereinheitlichung bedar. Eine synthetische Form ohne etwas, was verknüpft werden soll, ist eine leere Abstraktion. Zweitens aber zeigte sowohl die Deduktion als auch der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, daß die begriffliche Synthese des Vorstellungsmaterials nur durch eine Vermittlung einer sinnlichen Synthese einzutreten vermag. So ist bewiesen, daß die Kategorien nur als Verknüpfungsformen einer sich sinnlich anordnenden Vorstellungswelt in Funktion treten. Ohne Anschauungen sind diese Begriffe leer, wie andererseits die bloßen Anschauungen ohne die begriffliche Verknüpfung "blind", d. h. ohne Erkenntniswert sind. Alle Anwendung der Kategorien ist also durch Anschauung bedingt. Weil nun aber wir Menschen nur eine sinnliche Anschauung haben, so haben für uns die Kategorien nur Sinn, insofern sie auf die Welt unserer sinnlichen Erfahrung bezogen werden. Nach der psychologisch-erkenntnistheoretischen Ansicht KANTs beruth die Phänomenalität der reinen Formen des Verstandes nicht sowohl in ihnen selbst, als vielmehr darin, daß ihre Anwendung stets als Bedingung ein anschauliches Material voraussetzt. Ansich würden also die Kategorien für einen anderen Vorstellungsinhalt sehr wohl verwendbar sein, sofern derselbe nur anschaulich wäre. Da wir Menschen aber keine andere als unsere sinnliche Anschauung haben, so wird dadurch für uns die Anwendung der Kategorien auf die sinnliche Welt - und das ist nach der transzendentalen Ästhetik nur eine Erscheinungswelt - beschränkt. Unsere nur sinnliche Anschauungsweise also ist es, welche den Gebrauch der Kategorien außerhalb der Erfahrungswelt als unberechtigt erscheinen läßt. Hätten wir eine andere Anschauungsform, so wäre es denkbar, daß auch für diese durch einen ähnlichen Schematismus, wie jetzt den zeitlichen sich die Kategorien als anwendbar erwiesen.

Eine solche andere als eine sinnliche Anschauungsweise fehlt uns. Aber es ist gar kein Grund, anzunehmen, daß sie überhaupt unmöglich ist, daß es nicht andere Wesen geben könnte, denen eine solche Art von Anschauung innewohnt. Andererseits aber liegen auf theoretischem Gebiet auch gar keine Veranlassungen vor, die Existenz einer solchen anderen Anschauungsweise bei anderen Wesen anzunehmen, und der Begriff einer nicht sinnlichen Anschauung ist daher rein problematisch, d. h. es gibt, theoretisch betrachtet, weder Gründe, seine Existenz anzunehmen, noch solche, sie zu leugnen.

Mit diesem Begriff einer nicht sinnlichen Anschauung steht nun aber derjenige des  Dings-ansich  in einer sehr innigen Beziehung, und durch diese Beziehung ist KANTs Lehre auf diesem Höhepunkt ihres theoretischen Teils zu einer ganz außerordentlich schwierigen geworden. Denkt man zurück an das gemeinsame Kriterium, welches seiner Begründung und Rechtfertigung der Apriorität sowohl der mathematischen Gesetze als auch der reinen Grundsätze des Verstandes die Richtschnur gab, so beruhte dasselbe darauf, daß wir eine allgemeingültige und notwendnige Erkenntnis nur von demjenigen haben können, was wir aus der inneren Organisation unseres Geistes heraus selbst erzeugen. Das ist aber nicht der besondere Empfindungsinhalt, sondern es sind die allgemeinen Formen der Erfahrung, Raum, Zeit und die Kategorien. Wir erkennen a priori nur, was wir nach der Organisation unseres Geistes selbst schaffen. Wir würden daher Dinge-ansich auch nur dann a priori erkennen können, wenn wir sie erzeugten. Eine Erkenntnis der Welt ansich ist a priori nur für ihren Schöpfer möglich. Der Anspruch auf apriorische Erkenntnis der Dinge ansich wäre identisch mit demjenigen, sie zu schaffen. Was wir schaffen, ist unsere Vorstellungsweise von den Dingen, d. h. ihre Erscheinung, und von dieser haben wir in der Tat eine apriorischen Erkenntnis. So bedingen sich das positive und das negative Resultat der Vernunftkritik gegenseitig. Der Apriorismus ist nur als Phänomenalismus möglich.

Allein wenn es eine Erkenntnis der Dinge ansich nicht gibt, wie kommen wir dazu, sie uns überhaupt vorzustellen und mit Rücksicht auf ihre Annahme unsere Vorstellungswelt als eine Welt der Erscheinungen zu bezeichnen? Diese Frage, welche von KANT auf dem Übergang aus der transzendentalen Analytik in die Dialektik in dem Abschnitt "Über den Grund der Unterscheidung aller Gegenstände in Phänomena und Noumena" behandelt wird, bildet den Herd der Widersprüche, welche man in der Kritik der reinen Vernunft und weiterhin in KANTs gesamtem System aufzufinden vermocht hat, und zwar deshalb, weil es gerade diese Frage ist, in deren Lösung die verschiedenen Gedankenströmungen, die sich bei KANT entwickelt hatten, sich kreuzen, und weil KANTs Darstellung keines der ihn bewegenden Motive unterdrückt, aber auch keine endgültige Aussöhnung derselben erzielt hat. Fixiert man sich nämlich auf dem rein erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt, so ist durch die obigen Ausführungen begründet, daß es sich zwar nicht verbietet, daß aber auch nicht die geringste Veranlassung vorhanden ist, Dinge-ansich außerhalb der Vorstellungstätigkeit anzunehmen. Schon die Begriffe, welche wir bei dieser Annahme anwenden, z. B. diejenigen des Dings und der Realität sind ja Kategorien, gelten also im eigentlichen Sinne wiederum nur in einer anschaulichen Vermittlung für die Welt der Erfahrung und dürfen streng genommen auf das außerhalb der Vorstellung Befindliche gar nicht angewendet werden. Das Letztere bleibt danach also ein völlig unbekanntes  X,  für welches, wie keine unserer Anschauungen so auch keiner unserer Begriffe gilt. So wenig es eine Tür gibt, durch welche eine Außenwelt, so wie sie da ist, in die Vorstellungen "hineinspaziert", so wenig gibt es eine Tür, durch welche die Vorstellungstätigkeit ihren eigenen Kreis zu überschreiten und eine solche Außenwelt zu erfassen vermöchte. Damit aber wird der Begriff des Dings ansich hinfällig. Für die rein theoretische Analyse gibt es nichts als Vorstellungen, deren verschiedener Inhalt nach verschiedenen Kategorien geformt ist, und innerhalb deren dasjenige, was wir ein Ding nennen, nur eine allgemeingültige und notwendige Verknüpfung nach der Kategorie der Substantialität enthält. Ist dies die eine Tendenz des kantischen Denkens, so spricht sie sich darin aus, daß er erklärt, jene Unterscheidung aller Gegenstände in Phänomena und Noumena, welche er im Anschluß an LEIBNIZ in der Inauguraldissertation selbst noch vorgetragen hatte, sei völlig grundlos. Alles, was wir Gegenstände nennen, ist Erscheinung in dem Sinne, daß es ein Produkt unserer Vorstellungstätigkeit bildet, und jeder dieser Gegenstände ist Objekt nur dadurch, daß er durch die Anschauung und den Verstand zugleich vorgestellt wird. Will man die Art und Weise, wie wir den Zusammenhang der Erfahrung nach Begriffen in der wissenschaftlichen Theorie denken, als intelligible Welt, dagegen die unmittelbaren Erfahrungen des gewöhnlichen Bewußtseins als sensible Welt bezeichnen, so ist dagegen nichts einzuwenden: aber man muß sich klar bleiben, daß das Objekt von beiden immer nur die Erfahrung ist und beide nur eine notwendige und gesetzmäßige Vorstellungsweise derselben darstellen. Noumena dagegen im Sinne von Dingen-ansich, die vom reinen Verstand ohne Anschauung erkannt werden, gibt es für uns nicht. Die Vorstellung eines Gegenstandes ansich ist vielmehr geradezu ein innerer Widerspruch. Gegenstände gibt es nur in der Vorstellungstätigkeit und nicht außerhalb derselben. Jenes unbekannte  X  wird nur so angenommen, daß man die allgemeine Funktion der Vergegenständlichung, ohne die es kein Bewußtsein gibt, selbst für ein Ding, für etwas Bestehendes außerhalb der Vorstellung ansieht. Das Ding-ansich ist das hypostasierte [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] Korrelat der synthetischen Funktion, welche das gemeinsame Wesen der Kategorien ausmacht. Die alte rationalistische Metaphysik besteht darin, daß die Gesetze unseres Verstandes, deren Gültigkeit für unsere Erfahrung unzweifelhaft, aber auch auf diese eingeschränkt ist, als Gesetze einer außerhalb des Verstandes bestehenden Welt angesehen werden; aber die bloße Annahme der letzteren ist, rein theoretisch betrachtet, nur dadurch möglich, daß die allgemeine synthetische Funktion der Gegenständlichkeit sich den Vorstellungen gegenüber zu einer Welt ansich hypostasiert.

Diesen Überlegungen läuft nun aber eine zweite Tendenz des kantischen Denkens zuwider. Die theoretisch unbegründbare und unverwendbare, aber auch nicht widerlegbare Annahme einer übererfahrungsmäßigen Welt war für KANT selbst durch das sittliche Bewußtsein begründet. Diesen praktischen Nerv seiner Überzeugung konnte er jedoch in der "Kritik der reinen Vernunft" nicht bloßlegen, sondern nur andeuten. Aber dieselbe machte sich natürlich trotzdem in seiner Auffassung vom Ding-ansich geltend. Von ihr erfüllt, wich er von der bloß theoretischen Konsequen, daß es für unser Wissen nichts gibt, als die Vorstellungen mit ihren immanenten begrifflichen Beziehungen, wieder ab und identifizierte sich mit jenem naiven Realismus, dem nichts gewisser ist, als die Annahme einer Existenz von Dingen-ansich außerhalb der Vorstellungen. Ja, er scheute selbst gelegentlich nicht vor der Benutzung des plausibelsten Arguments der gewöhnlichen Meinung zurück, eine solche Welt außerhalb der Vorstellungen müsse als Ursache der Empfindungen oder als das, was der Erscheinung entspricht, angenommen werden, obwohl er sich doch nicht hätte verbergen können, daß er die Anwendung der Kategorien des Seins, der Substantialität und der Kausalität über die Erfahrung hinaus soeben verboten hatte.

Danach mußte der Begriff des Dings-ansich noch anders formuliert werden, und auch dafür ließ sich das psychologische Schema seiner Lehre benutzen. Die Beschränkung der Kategorien auf die Erfahrung hatte ihren Grund darin, daß die Anschauung, welche die Anwendung derselben stets vermitteln muß, beim Menschen nur die sinnlich-rezeptive ist. Wir schaffen nur Erscheinungen und können nur solche erkennen. Dinge-ansich würden nur einem (göttlichen) Geist erkennbar sein, der durch seine Vorstellungen nicht nur Erscheinungen, sondern eben diese Dinge-ansich erzeugt. Fr einen solchen Geist müßte also der Gebrauch der Kategorien durch eine Anschauung vermittelt sein, welche sich zu den Dingen-ansich ebenso verhielte, wie unsere Anschauung zu den Erscheinungen, nämlich erzeugend. Eine solche Anschauung wäre nicht mehr von sinnlicher Rezeptivität, sondern von jener Spontaneität, die nach KANTs Lehre nur dem Denken zukommt. Es wäre ein "anschauender Verstand" oder eine  intellektuelle Anschauung.  Sollen daher Dinge-ansich überhaupt möglich sein, so müssen sie gedacht werden als die Objekte zugleich der Erzeugung und der Erkenntnis eines anschauenden Verstandes, d. h. einer Intelligenz, bei der jene beiden Stämme der Erkenntnis, welche im menschlichen Geist nur in ihrer Besonderung auftreten, von vornherein und in ihrer ganzen Ausdehnung identisch sind. Die Annahme eines solchen Geistes enthält keinen Widerspruch, und danach erscheint für die theoretische Vernunft die Existenz von Dingen-ansich als unmöglich.

Aus dieser Möglichkeit folgt nun zwar noch nicht die Wirklichkeit, und es bleibt in KANTs Lehre eben der praktischen Vernunft vorbehalten, diese Möglichkeit zu realisieren. Die theoretische muß sich damit begnügen, nachzuweisen, daß die Annahme von Dingen-ansich keinen Widerstand involviert. Aber sie gibt noch eine weitere Hindeutung. Es ist zwar richtig, daß sich die rein theoretische Erkenntnis diesen problematischen Begriffen der Dinge ansich und der intellektuellen Anschauung gegenüber völlig indifferenz zu verhalten hat: allein sobald jemand behaupten wollte, daß, weil sich kein Beweis für die Realität dieser Dinge auf theoretischem Weg erbringen läßt, dieselben gänzlich eliminiert werden müssten, so würde das so viel heißen, als ob unsere sinnliche Anschauungsweise die einzige und die Welt unserer erfahrungsmäßigen Vorstellungen das einzig Reale wäre. Sofern wir daher nicht die ungeheuerliche Behauptung machen wollen, daß es nicht nur im Hinblick auf unsere Erkenntnis, sondern überhaupt und ansich gar nichts weiter gibt als unsere Vorstellungen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß es eine solche nicht sinnliche, d. h. intellektuelle Anschauung und damit als Objekt derselben  Noumena,  Dinge-ansich gibt. Jene problematischen Begriffe der intellektuellen Anschauung und des Dings-ansich erweisen sich daher als echt kritische  Grenzbegriffe,  als das Bewußtsein davon, daß unsere Sinnenwelt, auf welche wir mit unserer Erkenntnis beschränkt sind, nicht das einzig Reale ist. Freilich auch dieses Bewußtsein ist theoretisch nur in seiner Möglichkeit zu deduzieren, nicht aber zu beweisen, und der entscheidende Grund für diese Überzeugung liegt in dem sittlichen Bewußtsein, daß unsere Bestimmung über diese erfahrungsmäßige Sinnenwelt in ein Reich des Übersinnlichen hinaufreicht.

So vollendet sich KANTs theoretische Lehre, indem sie die praktische als ihre unentbehrliche Ergänzung verlangt. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Teilen des kantischen Systems ist der innigste, den es überhaupt geben kann. Die "Kritik der praktischen Vernunft" ist nicht ein Anhängsel, ist nicht, wie sie verlästert worden ist, ein Abfall des alternden KANT vom Geist der "Kritik der reinen Vernunft", sondern sie enthält die Entwicklung desjenigen Gedankens, ohne welchen der Höhepunkt der kantischen Erkenntnistheorie, die Lehre vom Ding ansich, die verworrendste und törichteste Phantasie wäre, die sich je in der Philosophie breit gemacht hätte.

Von diesem Höhepunkt aus gibt nun KANT seine berühmte Kritik der rationalistischen Metaphysik, welche sich als die "zermalmende" Analyse der LEIBNIZ-WOLFF'schen und der beherrschenden Popularphilosophie darstellt. Er beginnt dieselbe im Abschnitt über die "Amphibolie der Reflexionsbegriffe", indem er zu zeichen versucht, daß alle ontologischen Grundbestimmungen des LEIBNIZ-WOLFF'schen Systems eine rein verstandesmäßige Ausdeutung der Kategorien enthalten, welche in Wahrheit nur für anschauliche Gegenstände gelten, daß also Sätze, welche nur auf das Verhältnis von Begriffen Anwendung finden dürften, auf dasjenige von Gegenständen gelten, daß also Sätze, welche nur auf das Verhältnis von Begriffen Anwendung finden dürften, auf dasjenige von Gegenständen bezogen werden. Daraus habe sich dann die monadologische Metaphysik mit allen ihren einzelnen Lehrsätzen notwendig ergeben, und dadurch habe LEIBNIZ sich genötigt gesehen, der sensiblen Welt die intelligible Welt von Substanzen gegenüber zu stellen, die doch im Grunde keine eigentlich intelligible, sondern vielmehr heimlich mit sinnlichen Bestimmungen durchsetzt geblieben sei.

Ihre volle Energie aber entwickelt KANTs Kritik erst in der  transzendentalen Dialektik,  welche hintereinander die einzelnen metaphysischen Wissenschaften, die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie, als prinzipiell verfehlte nachweist. Auch diese Wissenschaften und ihre kritische Betrachtung konstruiert KANT in das psychologische Schema hinein. Er geht dabei von der Frage aus, wie Metaphysik (in der alten Terminologie) d. h.  rationale Erkenntnis des Übersinnlichen  als Versuch oder als Bestreben möglich sei, wenn nachgewiesen worden ist, daß keine Berechtigung für sie existiert. Synthetische Urteile a priori über Dinge ansich sind nur für die intellektuelle Anschauung möglich, die dem Menschen versagt ist. Wie kann es nun kommen, daß wir jemals glauben, die Überschreitung der Grenze der Erfahrung zu vollziehen, die uns doch unmöglich ist? Die Beantwortung dieser Fragen gibt, wie man sieht, nicht nur die kritische Verwerfung, sondern auch die psychologische Erklärung der bisherigen Metaphysik. KANT hat diese Beantwortung ebenso nach der in der formalen Logik üblichen Lehre vom Schluß schematisiert, wie die Kategorienlehre nach demjenigen vom Urteil, offenbar hier noch viel mehr künstlich und äußerlich. Was die Anwendung der Schlußlehre dabei sichtlich veranlaßt hat, ist die Tatsache, daß das Übersinnliche, welches den Gegenstand der metaphysischen Erkenntnis bilden soll, niemals durch Erfahrung erkannt, sondern immer nur durch begriffliche Operationen erschlossen werden kann. Schlüsse auf die Existenz nicht unmittelbar erfahrender Gegenstände sind nun nach KANTs transzendentaler Logik vollkommen berechtigt, solange sie sich eben in den Grenzen der sinnlichen Vorstellung halten. KANTs Definitionen von "wirklich" und "notwendig" in den Postulaten des empirischen Denkens geben ja das ausdrückliche Recht, etwas als existierend zu erschließen, was selbst nicht unmittelbar wahrgenommen worden ist. Aber dieses zu Erschließende muß so beschaffen sein, daß es sich in den immanenten Zusammenhang der Erscheinungen einreiht. KANT hat niemals verlangt, daß für die wissenschaftliche Erkenntnis nur das als existierend gelten soll, was direkt wahrgenommen worden ist, sondern sein rationaler Empirismus verlangt durchaus die Anerkennung des aus den Erfahrungen begrifflich Erschlossenen: nur darf dieses Erschließen aus der Sphäre des Erfahrbaren, d. h. der sinnlichen Welt nicht herausgehen. Denn da die Kategorien für uns nur Verknüpfungsformen des anschaulichen Inhalts sind, so gibt es keine Erkenntnistätigkeit, welche einen sinnlichen mit einem übersinnlichen Inhalt in allgemeingültiger und notwendiger Weise zu verknüpfen imstande wäre. Allein die Vorstellung der übersinnlichen Welt existiert, wenn nicht als Objekt einer Erkenntnis, so doch als eine tatsächliche Bildung im menschlichen Denken. Auf diese Weise nun läßt sich begreifen, wie es möglich ist, daß das ungeschulte und unkritische Denken die kategorialen Beziehungen auf das Verhältnis eines sinnlichen und eines übersinnlichen Inhaltes anzuwenden, sich berechtigt glaubt. Auch ist diese Anwendung ungefährlich, solange man sich bewußt bleibt, dabei die Gegenstände der Erfahrung nur so zu  betrachten,  als ob sie in irgendeiner solchen Beziehung zu etwas Übersinnlichem und Unerfahrbaren stünden. Sobald man aber eine solche Betrachtung für eine  Erkenntnis  ausgibt, so überschreitet man die durch die transzendentale Analytik gesteckten Grenzen. Eine Erkenntnis spräche in einem solchen Fall das Verhältnis zweier Gegenstände aus. Nun sind aber nur die anschaulichen Begriffe, niemals aber die übersinnlichen auf Gegenstände zu beziehen. Die Umwandlung also einer solchen Betrachtung in den Versuch einer metaphysischen Erkenntnis setzt jedesmal die Täuschung voraus, als ob der Inhalt einer übersinnlichen Vorstellung, deren Erzeugung im Denken möglich ist, einen Gegenstand der Erkenntnis bilden könnte. Diese Täuschung nennt KANT den  transzendentalen Schein.  In ihm erblickt er das  proton pseudos  [erster Irrtum, erste Lüge - wp] aller rationalistischen Metaphysik, und indem er nachzuweisen versucht, daß dieser Schein in der menschlichen Erkenntnistätigkeit selbst begründet ist, spricht er der darauf beruhenden rationalistischen Metaphysik mit derselben Untersuchung, welche ihre erkenntnistheoretische Unberechtigtheit ein für allemal in der entscheidensten Weise festgestellt hat, eine gewisse psychologische Berechtigung zu.

Die Veranlassung, das Übersinnliche, das nicht erfahren, nicht erkannt werden kann, wenigstens zu denken, ist für KANT freilich in erster Linie auf dem Gebiet der Ethik zu suchen. Allein davon ist hier nicht die Rede, und es fragt sich daher, ob nicht auch theoretische Veranlassungen vorliegen, den Kreis der Erfahrung, in den das Erkennen gebannt ist, mit dem Denken zu überschreiten. Sollten sich solche aus gewissen Aufgaben der Erfahrungswissenschaft ergeben, so würde sich dadurch die Ansicht über den Begriff des Dings-ansich noch weiter ergänzen. Zunächst in der Weise, daß die allgemeinen Möglichkeit, welche ihm als dem Grenzbegriff der Erkenntnis innewohnt, sich für verschiedende Richtungen der Erkenntnis in besonderer Weise gestaltete, und zweitens in der Weise, daß sich innerhalb der theoretischen Funktion selbst zumindest eine Tendenz geltend machte, dem Erkennbaren ein Unerkennbares problematisch gegenüberzustellen.

Im Grund genommen handelt es sich also darum, zu untersuchen, ob der Erkenntnistrieb durch die Erfahrung, in welcher er allein befriedigt werden kann, wirklich befriedigt wird. Stellt sich heraus, daß das nicht der Fall ist und nicht der Fall sein kann, so muß sich die Erkenntnistätigkeit selbst auf all den Punkten, wo dies einleuchtet, ihre Grenze setzen; aber es wird dann auch begreiflich, daß, wo sie dieser kritischen Vorsicht entbehrt, sie den Versuch machen wird, ihre Aufgabe, deren Notwendigkeit sie erweisen kann, jenseits der Erfahrung zu lösen, und dadurch dem "transzendentalen Schein" verfallen muß. Die transzendentale Dialektik hat deshalb die höchst interessante Aufgabe, einen  inneren Widerspruch im Wesen der menschlichen Erkenntnistätigkeit  aufzudecken. Sie hat zu zeigen, daß aus dieser Erkenntnistätigkeit selbst mit Notwendigkeit Aufgaben entstehen, welche durch dieselben nicht zu lösen sind. Sie hat die Unhaltbarkeit jedes Versuchs zu zeigen, diese Aufgaben mit der Erkenntnistätigkeit zu bewältigen, und sich mit der Resignation zu bescheiden, daß die Einschränkgung auf die Erfahrung, welche das Wesen des Erkennens konstituiert, dasselbe zugleich auf immer von der Erreichung der Ziele fernhält, denen es immer und immer wieder nachstreben muß.

Die transzendentale Dialektik hat deshalb zunächst zu bestimmen, worin jener Erkenntnistrieb besteht, welcher das für die wirkliche Erkenntnis unmögliche Überschreiten der Erfahrung verlangt, sie hat das Bedürfnis zu definieren, aus welchem alle Versuche hervorgehen, die Sinnenwelt an eine übersinnliche Welt anzuknüpfen. Und sie geht deshalb von einer Beschreibung desjenigen aus, was man später das metaphysische Bedürfnis genannt hat. Sie trifft auch zweifellos den Kern der Psychologie der Metaphysik, wenn sie sagt, daß dieses Bestreben immer darauf hinausläuft, den ganzen Zusammenhang des Bedingten, welchen uns die Erfahrung darbietet, auf ein  "Unbedingtes"  zu beziehen. Alle besonderen Aufgaben der Erkenntnis kommen doch schließlich darin überein, die einzelnen Gegenstände der Erfahrung miteinander in denjenigen Beziehungen zu denken, durch welche sie sich gegenseitig bedingen. Dieser Prozeß des Bedingtseins geht aber, nach welcher Kategorie man ihn auch zu denken beginnt, stets ins Endlose. Soll daher die Erkenntnis diesen ganzen Prozeß vollständig begreifen, so ist sie selbst zu einer endlosen Funktion verurteilt. Sie würde jedoch dieser Endlosigkeit mit einem Schlag enthoben sein, wenn es ihr möglich wäre, ein Unbedingtes zu begreifen, welches den Abschluß jener Kette bildete. Dieses Unbedingte ist in der Erfahrung nicht gegeben und kann nicht in ihr gegeben sein, da jeder ihrer Gegenstände unter den Bedingungen der Kategorien steht. Um die Aufgabe der Erkenntnis zu lösen, würde also ein Unbedingtes erkannt werden müssen, welches in der Erfahrung, auf die das Erkennen beschränkt ist, niemals enthalten sein kann. Das Unbedingte ist also die Vorstellung von der Lösung der Aufgabe, die durch das Erkenen wirklich nicht gelöst werden kann. Das Unbedingte ist das niemals zu realisierende Ideal der Erkenntnis, und trotz dieser Unerfüllbarkeit ist doch die ganze Arbeit der Erkenntnis durch dieses Ideal beherrscht und bestimmt. Denn die Aufsuchung der einzelnen Zusammenhänge, die Einsicht in die Verhältnisse der Bedingtheit hat nur dadurch Wert, daß dieselben in immer höheren und tieferen Zusammenhängen durchschaut werden und daß die Erkenntnis damit auf das Ziel des letzten und absoluten Zusammenhangs hinstrebt, welches sie niemals erreichen kann. Das ist das Erschütternde, es ist das Tragische in dieser kantischen Untersuchung, daß der Wert der menschlichen Erkenntnistätigkeit nur in der Arbeit für ein Ziel besteht, welches seinem Begriff nach niemals erreicht werden kann, daß ein unlösbarer Widerspruch hervortritt zwischen den Aufgaben der Erkenntnis und den Mitteln, welche sie zur Lösung derselben besitzt. In diesem Geist verlangt KANT von der Erkenntnistätigkeit dieselbe klar und bewußte Resignation wie LESSING. Bei beiden Männern ist dieses Verlangen der Ausfluß ihres sittlichen Bewußtseins. Aber bei KANT ist es zugleich eine die verborgenste Tiefe des menschlichen Denklebens enthüllende Theorie. Wer nun diese Klarheit und Resignation nicht besitzt und die Notwendigkeit jener Aufgabe begriffen hat, daß sich die Erkenntnis des Bedingten nur in derjenigen des Unbedingten vollenden kann, der wird geneigt sein, den Begriff der Lösung der Aufgabe für die Lösung selbst zu halten, der wird versucht sein, das Unbedingte, welches nichts als die ideale Vorstellung von einem Abschluß der Kette des Bedingten enthält, als einen Gegenstand möglicher Erkenntnis aufzufassen und zu einem Bedingten in die Beziehungen der Verstandeserkenntnis zu setzen. Da nun das Unbedingte seinem Begriff nach außerhalb der sinnlichen Erfahrung steht, so entspringen auf diese Weise Vorstellungen von unbedingten übersinnlichen Gegenständen, welche in ihrem Wesen und in ihren Beziehungen zu einer sinnlichen Welt erkannt werden sollen.

Ist nun die Aufgabe des Verstandes die begriffliche Synthese der Anschauung, so versteht KANT unter Vernunft im engeren Sinne des Wortes das Bewußtsein der Unterwerfung aller Verstandestätigkeiten unter das Prinzip einer gemeinsamen Aufgabe, und jene Vorstellungen des Unbedingten, in denen sich diese Aufgaben erfüllen müßten, nennt er  Ideen Idee ist also nach KANT die notwendige Vorstellung von einer Aufgabe der menschlichen Erkenntnis (5). Insofern sind die Ideen a priori. Auch sie gehören zum Wesen und zur Organisation der menschlichen Gattungsvernunft. Aber diese Aufgaben sind ebenso unerfüllbar, wie sie unentfliehbar sid. Die Ideen bezeichnen eine Aufgabe der Erkenntnis, aber sie sind nicht selbst Erkenntnis. Es entspricht ihnen kein Gegenstand. Der transzendentale Schein besteht darin, daß diese Ideen für Erkenntnisse, daß diese notwendigen Vorstellungen für Vorstellungen von Gegenständen gehalten werden. Jede Idee ist daher als solche berechtigt; sie ist das Licht, welches den erkennenden Verstand durch das Reich der Erfahrung leitet; aber sie wird zum Irrlicht, sobald sie dasselbe überschreiten und in eine übersinnliche Welt hinüberführen will.

Diese Ideen sind nun nach KANTs Systems drei. Die Vorstellung eines unbedingten Substrats aller Erscheinungen des inneren Sinnes ist die Idee der  Seele Die Vorstellung eines unbedingten Zusammenhangs aller äußeren Erscheinungen ist die Idee der  Welt.  Die Vorstellung schließlich eines unbedingten Wesens, welches allen Erscheinungen überhaupt zugrunde liegt, ist die Idee der  Gottheit Sobald man diese Ideen als Objekte der Erkenntnis betrachtet, entspringen daraus die drei metaphysischen Spezialwissenschaften, welche sich an die Ontologie anzuschließen pflegen, die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie. Aber zunächst zeigt sich schon die Wertlosigkeit dieser drei vermeintlichen Wissenschaften darin, daß es für alle Zeiten unmöglich ist aus der Idee der Seele irgendeine Tatsache des psychischen Lebens, aus der Idee der Welt irgendein Geschehen in der Körperwelt, aus der Idee der Gottheit irgendeinen besonderen Verlauf des Weltprozesses wissenschaftlich abzuleiten. Es gibt gar keine Beziehungen zwischen der rationalen Metaphysik und der empirischen Erkenntnis, und wenn jene Ideen gebildet worden sind, um die Aufgaben der Erfahrungserkenntnis zu lösen, so erfüllen sie diesen Zweck offenbar nicht, da die Erscheinungen nicht unter die Ideen der Vernunft wie unter die Kategorien des Verstandes in konkreter Anschaulichkeit zu subsumieren sind. Allein der tiefere Grund dieser Wertlosigkeit der rationalen Metaphysik für die empirische Wissenschaft liegt eben darin, daß diese eine nur scheinbare und prinzipiell unmögliche Erkenntnis zu besitzen vorgibt, und in ihrer Kritik handelt es sich also hauptsächlich darum, aufzuzeigen, daß der Grundfehler dieser Disziplinen darin besteht, die notwendige Idee als einen Gegenstand möglicher Erkenntnis zu betrachten.

Am klarsten tritt das bei der ersten hervor, indem sich die Kritik der rationalen Psychologie in KANTs Lehre von den  Paralogismen der reinen Vernunft  entwickelt. Er sucht hier nämlich zu zeigen, daß alle Schlüsse, mit denen man in der Schul- und Popularphilosophie die Substanzialität, die Simplizität, die Personalität und die erkenntnistheoretische Priorität der Seele zu beweisen pflegte, Fehlschlüsse seien. Sie beruhen alle auf eine  Quaternio terminorum  [Fehlschluß durch zwei verschiedene Mittelbegriffe - wp], indem das Ich, welches im einen Satz als die allgemeine Form des Denkens verwendet wird, im anderen als ein substanziell bestehendes Wesen angesehen werden soll. KANT führt zunächst im Hinblick auf die transzendentale Analytik aus, daß die Anwendung der Kategorie der Substanzialität auf den äußeren Sinn beschränkt bleiben muß, daß infolgedessen die Identität des empirischen Selbstbewußtseins nur eine identische Funktion, nicht ein gleichbleibendes Ding bedeutet und daß der Cartesianische Versuch, das Selbstbewußtsein zum Ausgangspunkt des Wissens zu machen und von ihm aus erst auf einem Umweg die Erkenntnis der äußeren Substanzen, der Körper, zu gewinnen, geradezu umgekehrt werden muß. (6)

Erweisbar also ist die Seele als Ding-ansich nicht, aber sie ist ebensowenig widerlegbar. Dieselbe Kritik, welche sich gegen den Spiritualismus richtet, trifft auch den Materialismus. Der transzendentale Idealismus aber will auch nicht dem metaphysischen Dualismus das Wort reden, der die Frage nach em Konnex zwischen Leib und Seele durch keine seiner drei Formen, weder durch den  influxus physicus  [Beeinflussung der Seele durch den Leib - wp] noch durch den Occasionalismus [die Wechselwirkung von Leib und Seele wird auf einen Einfluß Gottes zurückgeführt - wp], noch durch eine prästabilierte Harmonie, zu lösen vermag. Aber KANT stellt sich hier zunächst auf den Standpunkt eines  phänomenalistischen Dualismus.  Statt des landläufigen Gegensatzes von Körperwelt und Geisterwelt tritt für ihn der prinzipielle Unterschied zwischen äußerem und innerem Sinn in den Vordergrund, und es gibt für ihne keine Möglichkeit, die Frage zu entscheiden, ob das Ding-ansich, welches im äußeren Sinne, und dasjenige, welches im inneren Sinn erscheint, vielleicht identisch sind oder nicht. Auf einem transzendentalen Standpunkt verwandelt sich die Frage nach dem Verhältnis der körperlichen zur geistigen Welt - diese wahre  crux metaphysica  - vielmehr in die psychologische Frage nach der Möglichkeit der Verknüpfung des äußeren und inneren sinnes in demselben Bewußtsein. Da nun zum inneren Sinn dem Inhalt nach die Funktionen des Denkens gehören, so läßt sich die Frage auch dahin formulieren: wie ist die Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand im selben Bewußtsein möglich? Diese Frage aber ist unlösbar; sie bildet die Grenze der Psychologie. Sie betrifft nicht mehr und nicht weniger als die Organisation unserer Intelligenz, und diese ist für unsere Erkenntnis eine letzte Tatsache, über welche die Forschung nie hinausgehen kann. Allein es ist die Aufgabe aller Psychologie, die Vereinigung der Funktionen der Sinnlichkeit und des Verstandes auf allen Gebieten des psychischen Lebens zu erforschen. Das letzte Ziel aller psychologischen Erkenntnis würde die Einsicht in die absolute Einheit unserer gesamten psychischen Funktionen sein. Nennen wir die Vorstellung dieser Einheit  Seele,  so bildet diese Idee das regulative Prinzip für alle psychologische Erkenntnis, aber sie selbst ist kein Gegenstand mehr, der sich begreifen ließen.

KANTs Kritik der rationalen Kosmologie schlägt einen ganz anderen Weg ein. Die Unerkennbarkeit der Idee der Welt wird von ihm durch die  Antinomien der reinen Vernunft  bewiesen. Alles, was wir sollen erkennen können, muß sich den formallogischen Gesetzen unterworfen zeigen. Zu diesen gehört in erster Linie der Satz des Widerspruchs, daß von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Behauptungen nicht beide richtig sein können. Wenn man über einen vermeintlichen Gegenstand mit logischer Unanfechtbarkeit das positive und das negative Urteil gleichen Inhalts beweisen kann, so folgt daraus unmittelbar, daß derselbe kein wirklicher Gegenstand sein kann. Betrachtet man nun die Totalität aller Gegenstände des äußeren Sinnes selbst als einen Gegenstand der Erkenntnis, so sucht KANT in den Antinomien nachzuweisen, daß sich von demselben im Hinblick auf alle vier Gesichtspunkte der Kategorien die kontradiktorischen Sätze gleichmäßig beweisen lassen. Hinsichtlich der Quantität läßt sich zeigen, daß die Welt in Raum und Zeit begrenzt und daß sie in beiden unendlich ist. Hinsichtlich der Qualität läßt sich beweisen, daß die Welt aus Atomen besteht, und daß sie nicht daraus bestehen kann. Hinsichtlich der Relation ergibt sich, daß es im Prozeß des Geschehens unbedingte, selbst nicht mehr kausal vermittelte Ursachen gibt, und daß solche nicht vorhanden sind. Hinsichtlich der Modalität läßt sich die Annahme eines unbedingt notwendigen Wesens ebenso begründen, wie widerlegen. Den Beweis für diese vier Paare von Thesis und Antithesis führt KANT (mit Ausnahme der vierten These) apagogisch [negativer Beweis aus der Falschheit - wp], so daß schon darin die dialektische Antinomie zutrage tritt, indem stets die Thesis durch die Widerlegung der Antithesis und umgekehrt bewiesen wird. Selbst wenn sich nun herausstellen sollte, daß diese acht Beweise nicht so absolut stringent und unanfechtbar sind, wie sie von KANT angesehen wurden, so würde das doch nichts an der wertvollen Entdeckung ändern, die KANT an diesem Punkt gemacht hat. Es wird nämlich dadurch die Tatsache aufgedeckt, daß unserer gesamten Weltauffassung eine solche Antinomie zugrunde liegt. Es ist ein Bedürfnis unserer Verstandeserkenntnis, die Totalität der Dinge als ein Fertiges und Geschlossenes zu betrachten. Aber jeder Versuch, dies in einer bestimmten Vorstellung zu tun, scheitert daran, daß die sinnliche Anschauungsweise über jede Grenze hinaus, welche wir im Raum, in der Zeit, in der Kausalreihe des Geschehens ansetzen wollen, ihre konstruktive Tendenz fortführen muß. Die Gegensätze, die KANT hier behandelt, sind deshalb so alt, wie das philosophische Denken überhaupt. Räumliche Begrenztheit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit der Welt, Atomismus und Monismus, Freiheitslehre und Mechanismus, Schöpfungstheorie und Naturalismus, - diese Thesen und Antithesen stehen sich notwendig immer und immer wieder gegenüber.

Indem nun KANT annimmt, daß diese Antinomien notwendige und allgemeingültige Behauptungen sind, so folgt ihm daraus, daß der Gegenstand dieser Urteile, den ja in allen Fällen der Begriff der  Welt  repräsentiert, nicht ein Gegenstand möglicher Erkenntnis sein kann. Wenn Thesis und Antithesis gleich wahr sind, so sind sie auch gleich falsch. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten hat hier deshalb keine Gültigkeit, weil es überhaupt von vornherein sinnlos ist, den Begriff der Welt zum Subjekt eines Erkenntnisurteils zu machen. Die Rätselhaftigkeit eines den Gesetzen der formalen Logik so vollkommen widersprechenden und doch mit Notwendigkeit aus der Vernunft entspringendenn Verhältnisses erklärt KANT daraus, daß Thesis und Antithesis beide auf der gleichen falschen Voraussetzung beruhen, als sei die Welt, diese unerfahrbare Idee eines totalen Zusammenhangs der Erscheinungen, das Objekt einer möglichen Erkenntnis.

Bis zu diesem Punkt bewegt sich die Antinomienlehre durchaus in der gesamten Tendenz der transzendentalen Dialektik. Dadurch aber, daß KANT nun noch mit Hilfe der transzendentalen Ästhetik eine "kritische Auflösung" des notwendigen Widerstreits, in welchen die Vernunft mit sich selbst gerät, zu geben versucht, beginnen sich in diesem Abschnitt gleichfalls die verschiedenen Richtungen seines Denkens durcheinander zu schlingen, und so ist derselbe zu einem zweiten Nest von schwer entwirrbaren Widersprüchen geworden. Ganz im Gegensatz nämlich zum Resultat der transzendentalen Analytik behandelt KANT die beiden letzten Antinomien unter dem Gesichtspunkt, daß möglicherweise die Thesen für die Dinge ansich, die Antithesen dagegen für die Erscheinungen gelten sollten. Für die "mathematischen" Antinomien, diejenigen der Quantität und Qualität, in denen es sich um die räumliche und zeitliche Ausdehnung und um die materielle Teilbarkeit der äußeren Welt handelt, bot die Lösung des Widerspruchs durch die transzendentale Ästhetik keine Schwierigkeiten. Wenn die räumliche Welt nichts als Erscheinungen enthält, so sind jene Widersprüche nicht real, sondern nur in unserer Auffassungsweise der Dinge begründet. Es ist die erwähnte Antinomie zwischen unserem Begriff der Totalität und der Unaufhörlichkeit unseres anschauenden Prozesses, welcher sich darin ausspricht. In gleicher Weise hätte sich die Lehre der transzendentalen Analytik auf die beiden letzten, die "dynamischen" Antinomien anwenden lassen, und es wäre dann wiederum die Entscheidung gefallen, daß, da auch die begrifflichen Beziehungen nur phänomenalen Charakters sind, jene Antinomien ihre Wurzel in dem Widerstreit haben, welcher zwischen den Begriffen und der als Bedingung für ihre Anwendung unerläßlichen Zeitanschauung besteht. Allein die Fragen, welche diese beiden Antinomien behandeln, diejenigen der  Kausalität durch Freiheit und der Existenz der Gottheit,  betrafen gerade diejenigen Punkte, an welchen KANT überzeugt war, mit dem sittlichen Bewußtsein den Bann der empirischen Erkenntnis durchbrechen und eine Gewißheit der übersinnlichen Welt gewinnen zu können. Hier bejahte er also die Thesen aus ethischen Gründen. Wenn sich nun zeigte, daß auch die Antithesen beweisbar sind, so ging er der Möglichkeit nach, ob nicht vielleicht diese für die Erscheinungen gelten. Dann war auch der Widerspruch aufgehoben, aber anders als im ersten Fall. In den mathematischen Antinomien verschwindet die Kontradiktion dadurch, daß beide Urteile falsch sind, weil sie auf derselben falschen Voraussetzung beruhen, in den dynamischen dadurch, daß beide Urteile richtig sind, nur mit der Einschränkung, daß das eine für Dinge ansich, das andere für Erscheinungen gilt. Dieses Prinzip verwendet KANT, um die wesentlichsten Punkte seiner praktischen Philosophie schon in der "Kritik der reinen Vernunft" durchschimmern zu lassen. Die dritte und vierte Antithese haben den gemeinsamen Inhalt, daß der Prozeß des Weltgeschehens eine anfang- und endlose Kette notwendiger Veränderungen endlicher Dinge darbietet. Diese Sätze sollen nun unbedingt und ausnahmslos für alle erscheinungen gelten. Aber damit, lehrt KANT, sei nicht ausgeschlossen, daß das Geschehen in der Welt der Dinge-ansich einen Akt ursachloser Freiheit bildet, und daß es unter den Dingen ansich ein unbedingtes und absolut notwendiges Wesen gibt. Die Erscheinungswelt in diesem gesamten kausal bedingten Ablauf ihres Geschehens sei eben nur eine Erscheinung. Der für unsere Erkenntnis durchaus bedingte und kausal notwendige Entwicklungsgang, welchen die Willensentschließungen im empirischen Charakter eines einzelnen Menschen darstellen, sei nichts weiter als die durch Raum, Zeit und die Kategorien bedingte Erscheinungsform eines  intelligiblen Charakters,  dessen Handlung nicht unter dem Gesetz der Kausalität steht. Freilich ist sich nun KANT bewußt, daß ein Beweis, d. h. eine theoretische Begründung für die Realität der Freiheit und der Gottheit in der Welt der Dinge ansich niemals gefunden werden kann. Aber die Einschränkung der menschlichen Erkenntnis auf die Erscheinungswelt läßt auch nicht das Gegenteil behaupten, und es bleibt danach für die theoretische Vernunft die Möglichkeit derselben offen. So muß man es in Kauf nehmen, daß jene Möglickeit, Dinge-ansich anzunehmen, die am Schluß der transzendentalen Analytik gewonnen war, sich hier schon dahin spezialisiert, daß als diese Dinge-ansich teils die intelligiblen Charaktere, teils die Gottheit betrachtet werden, daß also die Anwendung bestimmter Kategorien, wie derjenigen von Wesen und ihren Handlungen auf jenes unbekannte Etwas, welches dort Dinge-ansich genannt wurde, schon hier "als möglich betrachtet" und damit die Auffassung von KANTs Inauguraldissertation, wenn auch unter veränderten Gesichtspunkten wieder gestreift wird. Allein ein einer Hinsicht kehrt sich nun diese Auflösung der Antinomien offenkundig gegen ihren Beweis. Denn indem KANT annimmt, daß die Antithesen für die Erkenntnis der Erscheinungen gelten und daß in der Erscheinungswelt das wissenschaftliche Bewußtsein die Thesen verwirft, so wird es umso unbegreiflicher, wie es vorher möglich gewesen ist, auf rein theoretischem Weg Thesis und Antithesis gleichmäßig zu beweisen. Hierien liegt also ein noch tiefere Antinomie zwischen KANTs theoretischem und praktischemm Denken vor, eine Antinomie, welche wie diejenige des Dings-ansich die Weiterentwicklung der Philosophie bestimmt hat.

In der vierten Antinomie ist nun auch schon der Gegenstand berührt worden, welcher das letzte Objekt der transzendentalen Kritik bildet: die wissenschaftliche Behandlung der Gottesidee. KANT nennt dieselbe das  Ideal der reinen Vernunft,  weil sie die Idee des Unbedingten im Hinblick auf die Möglichkeit aller Erscheinungen überhaupt, der äußeren und der inneren, bildet. Auch dieses Ideal ist nun nach KANT eine notwendige, es ist die letzte und höchste Aufgabe, welche die Erkenntnistätigkeit sich setzen kann und setzen muß. Aber auch hier ist die idee kein Gegenstand der Erkenntnis, und jeder Versuch, diese Notwendigkeit des Denkens umzudeuten in einen Beweiß von der Notwendigkeit der Existenz der Gottheit, muß durchaus verworfen werden. In diesem Zusammenhang der Gedanken erscheint es selbstverständlich, daß für KANT den Nerv aller Beweise, welche die spekulatie Theologie und die Metaphysik für das Dasein Gottes angetreten haben, das Argument bildet, welches man das  ontologische  nennt, und welches ja gerade darauf hinausläuft, aus dem Begriff des allerrealsten Wesens dessen Existenz zu erschließen. In der Kritik desselben trägt nun KANT mit schärferer Formulierung der schon in der vorkritischen Zeit von ihm entwickelten Gedanken eine seiner tiefsten und für die Erkenntnistheorie wertvollsten Lehren vor. Er zerstört jenen ontologischen Beweis von Grund auf, indem er zeigt, daß  "Existenz" keine Merkmal  ist, welches wie andere Merkmale zum Inhalt eines Begriffs gehört und deshalb durch logische Analysis aus demselben gewonnen werden könnte. Ein Begriff bleibt genau derselben, ob man ihm die Existenz zuschreibt oder nicht. Die Existenz ist vielmehr ein Verhältnis, in welchem sich unsere Erkenntnis zu einem bestimmten begrifflichen Inhalt befindet: sie ist eine Kategorie der Modalität. Die Anwendung dieser Kategorie aber ist nur durch die Anschauung zu vermitteln. Ein theoretischer Beweis für die Existenz ist also immer nur dadurch zu gewinnen, daß die Wirklichkeit des Begriffs, d. h. die Beziehung desselben auf einen Gegenstand in der Anschauung direkt oder indirekt nachgewiesen wird. Existentialsätze sind immer synthetisch, und die Begründung der Synthesis liegt stets in der Anschauung. Deshalb ist es unmöglich, den Begriff der Gottheit als das Subjekt eines Existentialsatzes theoretisch zu behandeln. Aus dem Begriff allein folgt niemals die Existenz.

Aber auch alle anderen Versuche, die Notwendigkeit des Daseins Gottes zu beweisen, sind damit umso mehr widerlegt, als sie das ontologische nocht mit anderen unberechtigten Argumenten komplizieren. Der  kosmologische  Beweis (eigentlich schon durch die vierte Antinomie widerlegt) schließt von der Bedingtheit und Zufälligkeit der endlichen Gegenstäne auf die Existenz eines absolut notwendigen Wesens. Er hat kein Recht, mit der Kategorie der Kausalität die Erscheinungswelt zu überschreiten, er hat ebensowenig Recht, von den endlichen Dingen auf eine unendliche, von den bedingten auf eine unbedingte Ursache zu schließen und damit eine  metabasis eis allo genos  [unzulässiger Übergriff in ein anderes Gebiet - wp] zu vollziehen. Aber wenn man ihm all dies zugeben wollte, so würde er doch seine Behauptung, daß diese letzte Ursache aller Dinge zugleich das allerrealste und absolut notwendige Wesen sei, d. h. dem Begriff der Gottheit entspricht, immer wieder nicht durch sich selbst, sondern nur durch das ontologische Argument erhärten können. Und wie so der kosmologische auf den ontologischen, so führt der  physiko-theologisch  auf den kosmologischen Beweis zurück. Gesetzt er hätte das Recht, als die Ursache der Zweckmäßigkeit, Güte, Schönheit und Vollkommenheit der Welt (die KANT als Tatsachen behandelt und nach deren Beweis er gar nicht erst einmal fragt) eine höchste Intelligenz anzunehmen, so würde dieser Beweis nur bis zum Begriff eines weltbildenden, nicht aber bis zu demjenigen eines weltschaffenden Gottes führen. Für diesen müßte immer wieder auf den kosmologischen und in letzter Instanz auf den ontologischen Beweis rekurriert werden.

Diese Widerlegung richtet sich mit echt kritischem Bewußtsein nicht gegen den Satz von der Existenz der Gottheit selbst, sondern nur gegen die Versuche einer  theoretischen  Beweisführung für denselben, und der Scharfsinn dieser Kritik, deren Argumentationen von den besonderen Eigentümlichkeiten der transzendentalen Erkenntnistheorie durchaus unabhängig sind, (wie sie ja auch von KANT im Wesentlichen schon ihm Jahre 1763 vorgetragen worden waren), hat demit jene Lieblingsgebildet der spekulativen Theologie und der rationalen Metaphysik für immer aus dem Sattel gehoben. Aber auch in diesem Fall richtet sich die Widerlegung der positiven Behauptung mit gleicher Energie gegen ihre negative Kehrseite. Dasselbe Argument, welches den wissenschaftlichen Beweis für die Existenz der Gottheit verbietet, schlägt auch jeden Versuch, diese Existenz zu leugnen oder zu widerlegen, nieder. Der Atheismus ist wissenschaftliche ebenso unmöglich wie der Theismus. Gerade wie die Kritik der rationalen Psychologie gleichmäßig den Spiritualismus und den Materialismus als Anmaßungen der Metaphysik verdammte, so sieht die kantische Kritik auch die rationale Theologie und den Atheismus für gleich unbewiesene dogmatische Behauptungen an. Der eine überschreitet die Grenze der menschlichen Erkenntnisfähigkeit so gut wie die andere. Aber die rationale Theologie unterliegt nur in verzeihlichem Eifer dem transzendentalen Schein, als könne das Ideal der Vernunft Gegenstand einer objektiven Erkenntnis sein: der Atheismus macht den viel schlimmeren Fehler, dieses Ideal der menschlichen Erkenntnis als eine Jllusion zerstören zu wollen. Er sträubt sich daher, meint KANT, gegen ein in der Organisation des menschlichen Geistes selbst angelegte Notwendigkeit. Wenn wir die Zusammenhänge der inneren und diejenigen der äußeren Erscheinungen, wenn wir die geheimnisvolleren Zusammenhänge, die zwischen beiden obwalten, in der wissenschaftlichen Erkenntnis zu begreifen versuchen, so schwebt uns als der Trieb für diese gesamte Arbeit des Verstandes die Idee der Vernunft vor, einen letzten und absoluten Zusammenhang aller Erscheinungen in einem höchsten Wesen zu begreifen. Dieses Ideal der Vernunft ist durch den Verstand und seine Erkenntnis nie zu erreichen. Aber aller Wert der Verstandesarbeit liegt in der Annäherung an das unerreichbare Ziel.

Und wohe denn nun - das ist die letzte Frage - diese Wertschätzung und jener ihr zugrunde liegende Trieb? Woher jenes metaphysische Bedürfnis, welches unsere Erkenntnis erst vollendbar erscheinen läßt in einem Unerkennbaren? Aus dem bloßen Material der Erscheinungen ergäbe sich für die Erkenntnis nur der Trieb, ihre endlosen Ketten endlos weiter zu verfolgen. Wenn daher in unserem Denken das Bedürfnis auftritt, aus dieser Sinnenwelt herauszugehen und ein von ihr Verschiedenes zu erfassen, so liegt die Veranlassung dafür nicht mehr in unserem theoretischen Verhalten. Die theoretische Betrachtung kann nur die Tatsache konstatieren, daß sie selbst in ihrem ganzen Fortschritt durch das wenn auch niemals zu erfüllende Streben bestimmt ist, ihren Horizont zu überschreiten. Aber die Erklärung dieser Tatsache liegt in einem tieferen Bedürfnis, welches das theoretische Leben beherrscht, und dieses tiefere Bedürfnis kann nur in einem sittlichen Bewußtsein von unserer Bestimmung bestehen, welche über die Welt unserer Erkenntnis hinausreicht. So zeigt sich, daß das Leben der Erkenntnis in seiner ganzen Ausdehnung durch den ethischen Trieb nach der übersinnlichen Welt bedingt ist, dem es doch selber niemals genüge tun kann. Das ist es, was KANT den  Primat der praktischen über die theoretische Vernunft  genannt hat, und was den innersten Zusammenhang seiner wissenschaftlichen so gut wie seiner persönlichen Überzeugung am klarsten hervortreten läßt.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Die Blütezeit der deutschen Philosophie, Leipzig 1880
    Anmerkungen
    5) Damit gibt KANT dem Terminus  Idee  eine neue Bedeutung, welche sowohl vom ursprünglichen platonischen Sinn, als auch vom Gebrauch des Wortes in der scholastischen und neueren Philosophie genau zu unterscheiden ist. Da ber auch für ihn die Ideen ein Überschreiten der sinnlichen Erfahrung involvierten, so ist es begreiflich, daß die platonische und die kantische Bedeutung des Worts in der Folge vielfach ineinander griffen.
    6) Es ist zu bemerken und unrichtigen Deutungen gegenüber zu betonen, daß die erste Auflage der Vernunftkritik an dieser Stelle genau denselben Gedanken ausspricht, den die zweite Auflage in der oben erwähnten "Widerlegung des Idealismus" mit entschiedener Polemik gegen die mißverständliche Auslegung des transzendentalen Idealismus ausführte. KANT widerlegt auch in der zweiten Auflage nur den "empirischen Idealismus", und zwar tut er dies lediglich vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus aus.