tb-1ra-2G. StörringF. BrentanoNietzscheP. Rée    
 
WILHELM WINDELBAND
Vom Prinzip der Moral
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"Formale Pflichten sind zwar als solche durchaus allgemeingültig, aber auch sekundär und von untergeordneter Bedeutung. Sie treffen nicht den Inhalt des Pflichtbewußtseins. Sie sind Mittel für die Herbeiführung dieses Inhalts, und sie empfangen ihren sittlichen Wert erst durch den Zweck, dem sie dienen. Dieser ihr rein formaler Charakter tritt vor allem darin hervor, daß die in diesen Pflichten verlangten Eigenschaften und Tätigkeiten keinen moralischen Wert ansich darstellen, daß sie keine selbständigen Tugenden sind. Denn da sie eben nur als Mittel verlangt werden, so können sie als Mittel, ihrem bloß formalen Charakter gemäß, auch in den Dienst anderer und sogar spezifisch unsittlicher Zwecke treten. Selbstbeherrschung z. B. ist lediglich ein bestimmtes Verhältnis der Motivation, vermöge dessen gewisse Motive eine sicher und klar beherrschende Stellung in den Vorgängen der Willensentscheidung einnehmen. Diese gewissen Motive können die sittlichen sein - und dann ist Selbstbeherrschung eine solche formale Tugend -, sie können aber auch unsittliche sein, und dann hat die Selbstbeherrschung ihren sittlichen Wert verloren. Auch wer einen tief unsittlichen Zweck der Herrschsucht, der Rache, des Eigennutzes verfolgt, kann diese formale Tugend der Selbstbeherrschung in hohem Grad besitzen."

In gewisser Hinsicht ist die Ethik, wie es auch durch die historische Wirkung der kantischen Lehre bewiesen wird, derjenige Teil der Philosophie, für welchen die kritische Methode am meisten auf Anerkennung rechnen zu dürfen scheint. Denn auf diesem Gebiet sind die Grundbegriffe der kritischen Methode, diejenigen des Sollens und der Norm, dem gewöhnlichen Bewußtsein durchaus geläufig, und auf diesem ist auch das Verhältnis des teleologischen Zusammenhangs recht eigentlich zuhause. Trotzdem erweist sich gerade dieses verlockende Feld voller geheimer Schlingen. Denn es nimmt zwar jedermann für seine moralische Beurteilung durchaus Allgemeingültigkeit in Anspruch; wenn man aber näher zusieht, so findet man den Inhalt desjenigen, was als Maßstab dafür gilt, schon von Individuum zu Individuum, noch mehr aber von Volk zu Volk und von Zeitalter zu Zeitalter so verschieden, daß man gerade der Energie gegenüber, mit der an diesen Überzeugungen jeder festhält, daran verzweifelt, ein allgemeingültiges inhaltliches Prinzip sittlicher Beurteilung aufzufinden. Verzichtet man auch auf eine faktische allgemeine Anerkennung bei allen Spitzbuben und Schurken, so gehen doch auch die Ansichten der "moralischen" Menschen, wenn wir alle vergleichen, so weit auseinander, daß die Aufstellung eines Sittengesetzes, das für alle gälte, nicht möglich erscheint.

Bei jedem ist die Beurteilung, welche er an fremden oder eigenen Handlungen und Willensentscheidungen ausübt ein Produkt naturnotwendiger Entwicklung. Wir wachsen, ohne es zu wissen, in eine bestimmte Lebensauffassung hinein. Den weitesten Umkreis dieser ethischen Atmosphäre bildet für uns Europäer eine aus dem Kampf und der Arbeit der Völker gewonnene allgemeine Kultur; in immer größerer Verengung reihen sich daran Volkssitte und Standesgeist, Familiensinn und persönliche Lebensgestaltung. Durch die Kreuzung all dieser Elemente entsteht eine solche Vielheit von Auffassungsweisen, daß es völlig glaubhaft ist, wenn diejenigen, die auch in diesen Dingen die Wunderkraft der Induktion probieren, uns schließlich versichern, daß zu etwas überall Geltendemm, zu einem "Sittengesetz", das überall als solches und als Prinzip der Beurteilung anerkannt würde, durchaus nicht zu gelangen ist.

Indessen ist das Unglück vielleicht nicht so groß, wenn die Umfrage zu keinem Erfolg führt und man desto mehr Einkehr bei sich selbst hält. Denn wenn es ein Prinzip der Moral, eine allgemeingültige Norm der sittlichen Beurteilung überhaupt gibt, so muß es schon durch die Besinnung des Individuums gefunden und in dieser durch die unmittelbare Evidenz erkannt werden können, mit der es sich als  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] für die Möglichkeit einer allgemeingültigen Beurteilung zu Bewußtsein bringt.

Fragen wir uns deshalb, was etwa in den Maximen unserer Beurteilung unerläßlich ist, wenn überhaupt ethisch geurteilt werden soll, so finden wir,, ohne uns erst bei der Ethnographie Rat holen zu müssen, daß nicht nur je nach dem Standpunkt unserer eigenen Entwicklung, sondern schon zu derselben Zeit, je nach den verschiedenen Gegenständen und Verhältnissen sehr verschiedene Maximen dabei in Betracht kommen, auf deren Erfüllung wir Wert legen. Die einzelnen Inhaltsbestimmungen dieser Maximen beziehen sich auf empirische Willensverhältnisse und zeigen vermöge ihrer Abhängigkeit von den besonderen Objekten und Zuständen des wirklichen Lebens eine solche Mannigfaltigkeit, daß es keinen allgemeinen Inhalt gibt, der sich in allen gleichmäßig fände und durch eine induktive Analyse daraus gefunden werden könnte. Dieselbe Unmöglichkeit, auf welche man beim Vergleich der Individuen, Völker und Zeiten stößt, obwaltet also, wenn auch mit etwas veränderter Beziehung, schon innerhalb des einzelnen Bewußtseins.

Daraus folgt nun von vornherein - und es ist von höchster methodischer Wichtigkeit, darauf genau aufmerksam zu sein -, daß, wenn es überhaupt ein oberstes Prinzip der Moral gibt, es zu den einzelnen sittlichen Maximen nicht im Verhältnis des Gattungsbegriffs zu seinen Arten stehen kann. Eben deshalb läßt sich die Ethik weder nach deduktiver noch nach induktiver Methode behandeln: man kann weder, von einem allgemeinen Begriff ausgehend, durch bloß logische Operationen die besonderen gewinnen, noch umgekehrt von den besonderen zum allgemeinen aufsteigen. Zwischen dem Prinzip und seinen einzelnen Sätzen besteht kein analytisches Verhältnis.

Schon am Individuum läßt sich also verstehen, weshalb bei umfassender empirischer Betrachtung keine einzelne Inhaltsbestimmung der sittlichen Maximen als unerläß´liche Bedingung für die allgemeingültige Beurteilung erscheint. Ebenso aber wird es schon durch die individuelle Besinnung klar, daß die Möglichkeit der Beurteilung sofort aufgehoben wäre, wenn nicht in jedem Fall irgendetwas durchaus verlangt und erwartet würde. So unübersehbar und unvergleichbar verschieden dasjenige sein mag, was verlangt wird, so unerläßlich für das Wesen der ethischen Beurteilung ist es, daß unter allen Umständen von der Willenstätigkeit des Menschen irgendetwas verlangt wird. Wo man nichts verlangt und nichts erwartet, da ist auch von Beurteilung keine Rede; für die Beurteilung ist ein Verlangen, ein Gebot, das erfüllt werden soll, unerläßlich.

In der ethischen Terminologie nennen wir dieses Gebot, dessen Erfüllung oder Nichterfüllung die Beurteilung bestimmt, eine Pflicht, und so läßt sich behaupten, daß von ethischer Beurteilung überhaupt nie die Möglichkeit gegeben wäre, wenn wir nicht ein Bewußtsein von Pflichten besäßen, die durchaus erfüllt werden sollen. Das  Pflichtbewußtsein  ist insofern das Prinzip der Moral, als es die oberste Bedingung ist, unter der sittliches Leben möglich ist.  Was  Pflicht ist, das mag je nach den Umständen, Völkern und Zeitläufen verschieden sein; aber, daß überhaupt eine Pflicht anerkannt wird, ist die selbstverständliche, einem jeden einleuchtende Grundbedingung des moralischen Lebens. Wer da leugnen wollte, daß es überhaupt ein Soll für den Menschen gibt, wer gar keine Pflicht anerkennt, der müßte seinerseits auf alle Beurteilung verzichten, und in einer solchen Gesinnung würden wir andererseits das absolut Unsittliche erkennen.

Das Pflichtbewußtsein ist also das allgemeingültige Prinzip der Moral. Die einzelnen Pflichten mögen noch so empirisch bestimmt sein, das Pflichtbewußtsein selbst ist  a priori,  d. h. es ist durch keine empirische Bestimmung zu begründen und begründet vielmehr erst die Möglichkeit der besonderen Pflichten, welche ihren erfahrungsmäßigen Inhalt durch die jeweiligen Verhältnisse erhalten. Gegen diese Apriorität des Pflichtbewußtseins enthält deshalb der Nachweis des empirischen Ursprungs seiner einzelnen Inhaltsbestimmungen nicht den geringsten Einwurf, und sie wird auch nicht durch die psychologische Theorie in Frage gestellt, welche die Veranlassungen entwickelt, die in der empirischen Bewegung des individuellen und des Gattungsbewußtseins zur Erfassung der moralischen Pflicht und ihrer einzelnen Inhaltsbestimmungen geführt haben und immer wieder führen. Man tut sich heutzutage viel darauf zugute, wenn man anhand der Psychologie, Ethnographie und Kulturgeschichte zeigen kann, daß das Gefühl der Verpflichtung zuerst in der Unterordnung des einzelnen Willens unter das Gebot eines fremden Willens, sei es eines Individuums oder einer Gesellschaft, entspringt; daß es sich durch Gefühle der Furcht und der Hoffnung eindringlich macht, daß die Pflichterfüllung zuerst Mittel zum Zweck der Erreichung von Lust und besonders der Vermeidung von Unlust ist und erst im Laufe der Zeit durch eine lange Gewöhnun zum selbständigen Wert wird. Diese ganze Geschichte der Überleitung der "heteronomen" in die "autonome" Willensbestimmtheit, diese "Heterogonie der Zwecke" ist freilich durchaus nichts Neues: sie ist das offene Geheimnis aller Erziehung. Aber als Theorie leidet sie an der so weit verbreiteten und nie oft genug zu bekämpfenden Verwechslung von Veranlassungen und Gründen. Keine Norm kommt anders als durch empirische Vermittlungen zu Bewußtsein: ihre Apriorität hat mit psychologischer Priorität nichts zu tun, ihre Unbegründbarkeit ist nicht empirische Ursprünglichkeit. Aber die Geschichte ihres Entstehens ist immer nur derjenige ihrer Veranlassungen. Auch vom Satz des Widerspruchs z. B. läßt sich zeigen, wie er durch den Vorstellungsmechanismus zustande gekommen ist, zustande kommen muß: aber es wäre doch wahrlich schlimm um unser Denken bestellt, wenn er dadurch begründet wäre! Wer sich gegen die Anerkennung dieses Verhältnisses wehrt, der möge doch bedenken, daß man in der mathematischen Erkenntnis ein ganz ähnliches Verhältnis fortwährend anwendet. In der Philosophie, wo es sich um die wertvollsten Überzeugungen handelt, fürchtet man offenbar stets, zugunsten der eigenen Wünsche übervorteilt zu werden, und schreckt deshalb vor derselben Anerkennung zurück, die man bei geometrischen und arithmetischen Sätzen alle Tage vollzieht. Wenn das Kind durch Auszählen erfährt, daß  7 x 7 = 49,  so ist es felsenfest überzeugt, daß es immer so und niemals anders sein wird, mag man nun statt der Stäbchen Kugeln oder statt der Äpfel Nüsse oder sonst etwas nehmen: und wem wollte es einfallen, zu meinen, daß der Grund für jene mathematische "Wahrheit" in einem empirischen Auszählen, in der Art zu suchen sei, wie ihre Einsicht psychologisch veranlaßt worden ist! Ganz so aber ist es mit unserer Überzeugung von allen Axiomen und Normen beschaffen: ihre Berechtigung reicht weit über die psychologischen Prozesse hinaus, durch welche sie uns zu Bewußtsein kommt. Unsere Überzeugung davon, daß wir eine Aufgabe, eine Pflicht haben, ist tiefer begründet, als in den individual- oder sozialpsychologischen Übertragungen, durch die wir dazu erzogen werden: sie ruht in sich selbst, denn sie ist identisch mit unserem Gewissen.

Dieses Pflichtbewußtsein ist jedoch, wie sich von selbst versteht, ein lediglich  formales  Prinzip. Es besagt nur, daß überhaupt nach einer Norm gewollt und gehandelt werden soll, aber es besagt über den Inhalt dieser Norm nichts. Der oberste Grundsatz der Sittlichkeit, das höchste Gebot lautet: tue deine Pflicht! Aber er sagt nicht, was die Pflicht ist; er verlangt nur, daß,  welches auch im einzelnen Fall die Pflicht sei,  diese getan werden soll. Er gilt also überall, wo überhaupt von Sittlichkeit die Rede ist, und er läßt doch für die ganze Fülle der Besonderheiten, die infolge des historischen Prozesses als sittliches Erfordernis hie und da erscheinen können, völlig offenen Raum.

Man sieht leicht, daß wir uns mit diesem rein formalen Prinzip dicht beim "kategorischen Imperativ" von KANT befinden. Auch dieser ist mit Verzicht auf jede inhaltliche Bestimmung rein formalen Charakters; auch er verlangt, recht verstanden, nur, daß jeder das tue, was er für seine Pflicht erkannt hat, und er sagt darüber, was dies sein soll, nichts aus: er geht vor allem darauf aus, das Verlangen des sittlichen Wollens von jedem Appell an ein schon empirisch bestehendes Wollen, um dessentwillen und zu dessen Befriedigung es als Mittel gefordert würde, unabhängig zu machen. Aber KANT hat in der Absicht, den Begriff der Allgemein in die Formulierung dieses obersten Grundsatzes aufzunehmen, diesem Prinzip die Wendung gegeben, man solle stets nach derjenigen Maxime handeln, von der man  wollen könne,  daß sie zum allgemeinen Naturgesetz des Wollens werde, und er hat sich, wie am besten seine eigene Darstellung (1) zeigt, mit diesem "Wollenkönnen" in unauflösliche Schwierigkeiten verstrickt. Man entgeht ihnen, wenn man einfach konstatiert, daß ethisches Leben nicht ohne die Anerkennung einer Pflicht, d. h. von etwas, das  schlechthin und bedingungslos  geschehen soll, zu denken ist.

Von vornherein aber ist damit klar, daß in den besonderen moralischen Vorschriften neben diesem allgemeinen Prinzip des Pflichtbewußtseins immer ein einzelner Inhalt gegeben sein muß, der aus dem Prinzip selbst nicht abzuleiten, sondern durch erfahrungsmäßige Verhältnisse bedingt ist. Dies ist das historische Element, dessen keine Ethik entraten kann. Wo man es abzustreifen geneigt ist, da hat man nur die Wahl, entweder bei jenem Allgemeinsten und deshalb ansich Unfruchtbaren stehen zu bleiben oder den besonderen Bestimmungen des Willenslebens, die durch historische Verhältnisse bedingt sind, unrichtigerweise einen absoluten Wert zuzuschreiben. In der Gegenwart freilich ist die letztere Gefahr viel geringer, als die entgegengesetzte, daß über jenes historische Element, auf welches alle Tatsachen der Erfahrung hinweisen, das apriorische vergessen wird.

Und doch ist dies nicht völlig unfruchtbar: denn es lassen sich aus dem Prinzip des Pflichtbewußtseins ohne jede Zuhilfenahme historischer Daten eine Reihe besonderer, freilich auch ihrerseits wieder rein formaler Pflichten ableiten: nur allerdings nicht im logischen, sondern im teleologischen Zusammenhang. Denn das Grundverhältnis der "praktischen" Welt ist dasjenige von Zweck und Mittel. Seine intimen Beziehungen zu den theoretischen Verhältnissen von Ursache und Wirkung einerseits, von Grund und Folge andererseits genauer zu betrachten, ist nicht dieses Orts: nur darauf darf im Allgemeinen hingewiesen werden, daß alle Anwendung eines Mittels für einen Zweck die, wenn auch noch so unbestimmte Vorstellung eines kausalen Verhältnisses und seiner gesetzmäßigen Geltung voraussetzt, und daß demgemäß das Wollen des Zwecks den Grund für das Wollen des Mittels enthält. In allem Werten und Wollen spielen diese Beziehungen eine entscheidende Rolle. Für die psychologische Einsicht gewähren sie das entwicklungsgeschichtliche Moment, welches den Aufbau der breiten und bunten Mannigfaltigkeit des Wertlebens im Fühlen und Wollen auf den elementaren Bestimmungen des emotionalen Daseins gestattet; für die philosophische Untersuchung bieten sie die systematische Handhabe für die Begründung der besonderen Normen aus allgemeineren, aber nicht gattungsmäßig ihnen übergeordneten Prinzipien dar.

Die letzte Konsequenz des teleologischen Zusammenhangs ist der Begriff des höchsten Zwecks, dessentwillen alle anderen Ziele als die Mittel zu seiner Herbeiführung entweder tatsächlich gewollt werden oder pflichtgemäß gewollt werden sollen. Beide Möglichkeiten sind seit dem Altertum, nicht immer genauch geschieden, durch den Begriff des  höchsten Gutes  bezeichnet worden. Psychologisch bedeutet er die Annahme eines Grundtriebes, der alle besonderen Wertungen im Fühlen und Wollen als die Mittel seiner Verwirklichung bestimmt: philosophisch enthält er die Idee einer letzten Einheit des sittlichen Bewußtseins, in der alle besonderen Bestimmungen desselben nach dem Prinzip begründet sind, daß jeder einzelne davon als ein nachweisbar unerläßliches Mittel für den höchsten Zweck gewollt, gebilligt und verlangt werden muß.

Ist nun die Erfüllung der Pflicht, welches auch immer ihr Inhalt sei, der höchste Zweck, dessen Realisierung vom sittlichen Gewissen unter allen Umständen verlangt wird, so müssen mit teleologischer Konsequenz auch alle diejenigen besonderen Formen des Seelenlebens als Pflichten betrachtet werden, welche sich als unerläßliche Bedingungen für die Erfüllung der inhaltlich bestimmten Pflichten erweisen. Auf diesem Weg lassen sich aus dem Zweck der Erfüllung des Pflichtbewußtseins mit Rücksicht auf die psychologischen Formen des Motivationsprozesses eine Auswahl von  formalen Pflichten  entwickeln, welche ganz allgemein gelten, welches auch immer in der einzelnen Gesellschaft oder in der einzelnen Seele der Inhalt des Pflichtbewußtseins sei. Wer jedem beliebigen Treib des Moments folgt, wer sich gehen läßt, wer da unüberlegt aufs Geratewohl hin sich entscheidet und handelt, wer leicht von einem zum andern Plan überspringt, wer schwach jedem Widerstand nachgibt, der wird schwerlich der Pflicht genügen können. Selbstbeherrschung also, Überlegtheit, Konsequenz, Energie usw. - das werden Anforderungen sein, die man im Interesse der Pflichterfüllung überall und immer an den Menschen zu stellen hat, wie auch immer im besonderen sich der Inhalt seiner sittlichen Aufgabe gestalten möge. Diese aus dem Pflichtbewußtsein teleologisch abzuleitenden Pflichten sind deshalb nur formale, und sie sind es in mehr als einem Sinn. Sie bleiben dieselben, unabhängig von den Inhaltsbestimmungen, die bei den Individuen oder den Gesellschaften die materialen Pflichten ausmachen, und sie beziehen sich lediglich auf die psychologischen Verhältnisse, welche als Mittel zur Pflichterfüllung verlangt werden müssen. Eine vollständige Darstellung dieser formalen Pflichten müßte am Leitfaden der empirischen Psychologie alle Momente und Phasen des Motivationsprozesses verfolgen und für jedes davon dasjenige Verhältnis bestimmen, durch welches die Pflichterfüllung ermöglich wird: daraus würden sich in jedem Falle Gebot und Verbot ableiten lassen. Eine solche systematische Darstellung kann hier nicht beabsichtigt und nicht einmal angedeutet werden; es kommt nur darauf an, zu zeigen, in welcher Weise eine solche teleologische Ableitung möglich ist, und dafür mögen die obigen Beispiele genügen.

Endlich sind diese formalen Pflichten nun zwar als solche durchaus allgemeingültig und von den historischen ebenso wie von den individuellen Verhältnissen abhängig, dafür aber auch sekundär und von untergeordneter Bedeutung. Sie treffen eben nicht den Inhalt des Pflichtbewußtseins. Sie sind Mittel für die Herbeiführung dieses Inhalts, und sie empfangen ihren sittlichen Wert erst durch den Zweck, dem sie dienen. Dieser ihr rein formaler Charakter tritt vor allem darin hervor, daß die in diesen Pflichten verlangten Eigenschaften und Tätigkeiten keinen moralischen Wert  ansich  darstellen, daß sie keine selbständigen Tugenden sind. Denn da sie eben nur als Mittel verlangt werden, so können sie als Mittel, ihrem bloß formalen Charakter gemäß, auch in den Dienst anderer und sogar spezifisch unsittlicher Zweck treten. Selbstbeherrschung z. B. ist lediglich ein bestimmtes Verhältnis der Motivation, vermöge dessen gewisse Motive eine sicher und klar beherrschende Stellung in den Vorgängen der Willensentscheidung einnehmen. Diese "gewissen Motive" können die sittlichen sein - und dann ist Selbstbeherrschung eine solche formale Tugend -, sie können aber auch unsittliche sein, und dann hat die Selbstbeherrschung ihren sittlichen Wert verloren. Auch wer einen tief unsittlichen Zweck der Herrschsucht, der Rache, des Eigennutzes verfolgt, kann diese formale  virtus  [Tugend - wp] der Selbstbeherrschung in hohem Grad besitzen. In diesem Fall hegen wir dafür eine Art von ästhetischem (bekanntlich oft in der Tragödie benutztem) Wohlgefallen, aber wir versagen ihr den ethischen Beifall. Ganz dasselbe gilt von der Festigkeit und der Energie des Willens usw. Alles diese psychologisch-formalen Bestimmungen erhalten ihre ethische Bedeutung erst durch ihre Unterordnung unter den seinem Inhalt nach sittlich bestimmten Willen, dessen Zwecken gegenüber sie die unerläßlichen Bedingungen der Realisierung darstellen.

Umso mehr aber zeigt sich, daß die Moral sich mit dem formalen Prinzip des Pflichtbewußtseins und den daraus nach teleologischer Konsequenz folgenden formalen Pflichten nicht begnügen kann. Da sich aber aus der bloßen Form der Inhalt nicht ableiten läßt (2), so müssen die Prinzipien der materialen Pflichten unabhängig von jenem formalen Prinzip festgestellt werden. Es zeigt sich damit in der Ethik eine ähnliche Zweiheit von Prinzipien, wie sie auch die Logik zu statuieren hat. Wenn diese die Normen des Denkens darstellen will, so begegnet sie auf der einen Seite jenen formalen Regeln, nach denen, welches auch immer der gegebene Inhalt der Vorstellungen sein möge, der korrekte Fortschritt des Denkens, der auf Allgemeingültigkeit Anspruch haben soll, sich schlechthin vollziehen muß, auf der anderen Seite aber den allgemeinen Axiomen, welche über die Beziehungen aller Erfahrungsgegenstände gewisse Voraussetzungen aussprechen, worauf sich allein eine Bearbeitung des Gegebenen nach jenen formalen Regeln gründen kann. Beide, die Regeln der formalen Logik und die Grundsätze der Erkenntnistheorie, stehen unabhängig nebeneinander; sie lassen sich nicht auseinander ableiten, und sie sind beide erforderlich, um die Erkenntnistätigkeit der besonderen Wissenschaften zu begründen. Dabei verteilen sie sich, in ganz analoger Weise, wie hier von den formalen und den materialen Prinzipien der Ethik die Rede ist, auf die Form und den Inhalt des Denkens. Die Regeln der formalen Logik gelten für jeden beliebigen Inhalt: ihre Befolgung hat aber eben deshalb nur hypothetischen Wert. Gerade so, wie die von den formalen Pflihten verlangten Verhältnisse der Motivation auch in den Dienst unsittlicher Zweckinhalte treten können, so kann nach den formalen Denkregeln das Törichste korrekt erschlossen werden, wenn die Elemente, die Prämissen, inhaltlich falsch sind: und gerade so, wie deshalb die formalen Denkregeln durch die Grundsätze der Erkenntnistheorie ergänzt sein wollen, welche über den Inhalt der Vorstellungen und seine sachlichen Beziehungen bestimmte Voraussetzungen statuieren, gerade so hat auch die Ethik den formalen Prinzipien andere, davon unabhängige Bestimmungen über den Inhalt des Pflichtbewußtseins hinzuzufügen.

Wenn nun schon oben bemerkt worden ist, daß in den letzteren sich das historische Element als das maßgebende geltend macht und daß eben deshalb die vergleichende Induktion zu keinem Resultat führt, so bleibt nur noch die Aussicht übrig, durch die teleologische Reflexion auf das Wesen dieser historischen Bedingtheit zu allgemeingültigen Inhaltsbestimmungen des Pflichtbewußtseins zu gelangen.

Alle Versuche, welche in der Moralphilosophie gemacht worden sind, das Prinzip der Moral in der allgemeinen "Natur" des Menschen zu suchen, haben daran scheitern müssen daß der Inhalt der sittlichen Zwecke nicht durch einen allen Individuen gleichen Begriff des Menschen gefunden werden kann, sondern überall dem konkreten Menschen angehört. Der konkrete Mensch aber steht immer in irgendeiner Art von historisch bedingtem Lebenszusammenhang mit der Gattung, welchen wir mit dem allgemeinsten Namen eine  Gesellschaft  nennen. Mag das nun eine Familie oder eine Horde, mag es ein Volk oder ein Völkerkomplex, mag es endlich eine ideale kosmopolitische Gemeinschaft sein -, niemals existiert das Individuum andersa als in einem solchen gesellschaftlichen Verband, und der bestimmte gesellschaftliche Verband, welchem es angehört, bedingt in seiner besonderen historischen Gestaltung auch den Inhalt seines Pflichtbewußtseins und den Maßstab der sittlichen Beurteilung.

Die moralische Funktion ist, wie die logische und die ästhetische, sozialer Natur. Im isolierten Individuum ist weder weder moralische noch logische oder ästhetische Beurteilung denkbar. Denn das isolierte Individuum ist überhaupt nicht denkbar: es ist eine Fiktion. Wie schon physisch der einzelne nur aus der Gattung heraus entsteht, so tut er es auch geistig. Selbst der abgeschiedenste Einsiedler ist in seinem geistigen Leben durch die Gesellschaft bedingt, die ihn erzeugt hat, und das ganze Leben eines ROBINSON beruth auf den Resten der Zivilisation, aus der er in die Einsamkeit verschlagen worden ist. Der abstrakte "natürliche" Mensch existiert nicht; nur der historische, der gesellschaftliche lebt. Wie der ganze Inhalt unseres individuellen Daseins, so ist auch der unserer sittlichen Überzeugung durch die Gesellschaft bestimmt. Alles ethische Leben wurzelt in der Beziehung des Individuums zu seiner Gesellschaft: wäre der einzelne absolut allein, ohne jeden anderen Menschen, dem unendlichen Weltall gegenübergestellt, so wüßten wir nicht, wie es für ihn Sittlichkeit geben sollte. Alle unsere Sittlichkeit wurzelt in der Sitte.

Die Verschiedenheit der Lebensverhältnisse - das Wort im weitesten Sinne verstanden -, worin sich die historisch bestimmten Gesellschaften befinden, genügt deshalb völlig, um die Verschiedenheit der sittlichen Lebensauffassungen, die darin zutage treten, genetisch zu erklären. Das ist das Geschäft der Ethnographie und der Kulturgeschichte, die dabei für die theoretische Formung der Tatsachen ihre Anleihen bei der Psychologie zu machen haben. Die philosophische Frae dagegen ist die, ob sich in der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft durch eine teleologische Besinnung ein allgemeingültiger Inhalt des Pflichtbewußtseins auffinden läßt.

Als die einfachste und nächstliegende Beziehung, welche hier denkbar ist, erscheint es, die Gesellschaft selbst als den Zweck zu betrachten, um dessentwillen die Tätigkeit des Individuums da sein soll, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß in der teleologischen Unterordnung des Individuums unter die Gesellschaft aller Inhalt des ethischen Gewissens gesucht werden muß. Wenn man aber vielfach, namentlich in der modernen Ethik, der Lehre begegnet, daß die Existenz der Gesellschaft das höchste Prinzip der Moral sei und daß aller Inhalt der sittlichen Vorschriften darauf hinausläuft, die Förderung all dessen, was diese zu erhalten, und die Vermeidung all dessen, was sie in Frage zu stellen oder zu zerstören geeignet ist, in kategorischer Weise zu verlangen, so kann das durchaus nicht zugegeben werden. Die Existenz der Gesellschaft ist kein absoluter Zweck, dessen Geltung von selbst einleuchtete und der als Abschluß der teleologischen Kette den gesamten Inhalt des sittlichen Bewußtseins bestimmen dürfte. Denn diese bloße, nackte Existenz hat ansich gar keinen ethischen Wert. Sie hat ihn bei der Gesellschaft ebensowenig wie beim Einzelnen. Wie überall, so muß man auch hier dem modernen Vorurteil gegenübertreten, als ob die Qualität durch die Quantität geändert werden könnte! Ist die Existenz des Einzelnen kein absoluter Zweck, so ist es auch nicht diejenige einer Masse, sei sie noch so groß. Aus lauter Nullen addiert man keine positive Größe zusammen.

Freilich tragen wir unter Umständen kein Bedenken, die Existenz des einzelnen "für die Gesellschaft" zu opfern. Aber man besinne sich wohl! Geschieht das wirklich nur, damit die übrigen einzelnen existieren können? Gibt es ein sittliches Recht, welches die bloße Existenz der Masse über die bloße Existenz des Einzelnen stellt? In der Natur freilich erhält sich die Majorität auf Kosten der Minorität: aber das "Recht" der Majorität ist das Recht des Stärkeren und hat keinen sittlichen Grund. Umgekehrt wird es Fälle geben, in denen usner ethischer Wunsch gern die Existenz der Masse für diejenige eines oder weniger Einzelner hingäbe. Nicht also auf die bloße Existenz, sondern auf den Wert dessen, was da existiert, kommt es an, wenn das eine für das andere geopfert wird. Auch dem Individuum kann ein so selbständiger Wert beiwohnen, daß wir es niemals für die bloße Existenz noch so vieler anderer hingeben würden. Die bloße Existenz hat als leeres Dasein niemals einen sittlichen Wert, und daß die Gesellschaft auch nur so einfacht existiert, das kann niemals den absoluten Inhalt des Pflichtbewußtseins ausmachen. Ob ein Individuum existiert oder nicht, ist sittlich gleichgültig, solange es nicht einen bestimmten Wert repräsentiert: und ganz ebenso ist es sittlich gleichgültig, ob eine ganze Gesellschaft existiert oder nicht, solange sie noch nicht und sobald sie nicht mehr einen bestimmten Wert besitzt.

Dazu kommt noch mehr. Wer in der bloßen Existenz der Gesellschaft den höchsten Zweck sehen wollte, zu welchem alle besonderen moralischen Vorschriften nur die Mittel der Realisierung verlangten, der würde sich damit jeder Möglichkeit eines Urteils über den sittlichen Wert der verschiedenen Gesellschaften begeben. Jede wirkliche Gesellschaft existiert: wen das der höchste Zweck ist, so erfüllen ihn alle, und alle gleichmäßig. Dann trifft die sittliche Beurteilung immer nur die Individuen nach Maßgabe ihrer Unterordnung unter die jeweilige Gesellschaft; dann hat es keinen Sinn mehr, davon zu reden, daß die eine Gesellschaft, das eine Volk, die eine Zeit usw. als Ganzes sittlicher sind als die anderen. Wenn ein ethisches Urteil über die Gesellschaften möglich sein soll, so muß es auch für die Gesellschaften eine Aufgabe geben, nach deren Erfüllung oder Nichterfüllung ihr Wert bestimmt sein wird. Es besteht eine Pflicht nicht nur für das Individuum, sondern auch für das Volk, für die Zeit, - für die Gesellschaft! Eben darum kann das Pflichtbewußtsein nicht die bloße Existenz der Gesellschaft zu seinem Inhalt haben.

Erkännten wir ferner in der Existenz jeder beliebigen Gesellschaft einen absoluten, unter allen Umständen zu billigenden und zu befördernden Zweck an, so wäre nicht abzusehen, wie sich unser sittliches Urteil jemals mit der Zerstörung der einen Gesellschaft durch die andere einverstanden erklären könnte. Und doch sehen wir nicht nur unbedenklich, sondern mit entschiedenem Beifall zu, wenn die europäische Gesellschaft durch die Ausbreitung ihrer Zivilisation, durch unsere Missionen und Eroberungen, durch Feuerwaffen und Feuerwasser, eine nach der andern von den "wilden" Gesellschaften physisch und geistig ruiniert und mit der Zeit vom Erdboden verdrängt. Wir würden mit dieser Zustimmung lediglich das brutale Recht der Gewalt sanktionieren, wenn wir nicht der Überzeugung wären, daß die siegreiche Gesellschaft den höheren ethischen Wert repräsentiert.

Hieraus ergibt sich, daß, wenn das materials Prinzip der Sittlichkeit im Verhältnis des Individuums zu Gesellschaft gesucht werden muß, die letztere dabei nicht bloß als Koexistenz einer Massen von Individuen, sondern als ein teleologisches System gedacht werden muß, das selbst noch als Ganzes eine Pflicht zu erfüllen hat und das eben damit auch die Pflicht des Individuums erst bestimmt. Die Pflichten der Individuen erwachsen aus den  Pflichten der Gesellschaft.  Der teleologische Zusammenhang, um dessen Aufweis es sich in der Ethik handelt, endet nicht bei der Gesellschaft als dem höchsten Zweck, sondern weist über sie hinaus.

Lassen wir es zunächst dahingestellt, wie diese Pflicht der Gesellschaft, welche hier vorerst nur als ein selbstverständliches Postulat der ethischen Beurteilung erscheint, im besonderen inhaltlich zu bestimmen ist, so läßt sich nun zeigen, in welchem Sinn und in welcher Beschränkung die Existenz der Gesellschaft als Inhalt des individuellen Pflichtbewußtseins gedacht werden muß. Sie hat nur insofern Wert und ist folglich nur insofern auch das Objekt des sittlichen Wollens, als durch sie die Pflicht der Gesellschaft erfüllt werden soll. Die Existenz der Gesellschaft ist nicht der höchste Zweck, aber sie ist wiederum das Mittel zu dessen Realisierung: sie muß deshalb um jenes höchsten Zweckes willen gewollt werden und darf nur in Beziehung auf ihn gewollt werden.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Präludien - Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1907
    Anmerkungen
    1) KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt, Werke Bd. IV, Seite 421f
    2) Auch Kant hat aus dem kategorischen Imperativ die besonderen Pflichten nur dadurch abgeleitet, daß er ihm durch eine Reihe von Zwischengliedern die materiale Formulierung der Maxime von der Wahrung der Menschenwürde unterschob. Vgl. meine "Geschichte der neueren Philosophie II, Seite 119 und 139.