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WILHELM WINDELBAND
Einleitung
in die Philosophie

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"Wer von der Philosophie verlangt oder auch nur erwartet, das zu hören, was er sich selber schon vorher auch so gedacht hat, der sollte sich lieber mit ihr gar nicht erst abmühnen. Wer also schon eine Weltanschauung hat und entschlossen ist, unter allen Umständen an sie weiter zu glauben, der hat die Philosophie für seine Person ganz und gar nicht nötig: für ihn bedeutet sie nur den Luxus, daß das, was man glaubt, den Ehrgeiz hat, auch für bewiesen zu gelten."

"Der Moment, wo man sich fragt, ob das mit naiver Sicherheit Geltende dazu in der Tat berechtigt ist, - das ist die Geburtsstunde der Philosophie. Es ist, wie  Aristoteles  sagte, das Stutzigwerden, das Irrewerden des Denkens an sich selbst. Es ist das Prüfen, womit  Sokrates  bei sich selbst, wie bei seinen Mitbürgern den Wahn naiver Selbstgewißheit zerstörte. Es ist die volle Ehrlichkeit des Intellekts gegen sich selbst. Wir können niemals ohne Voraussetzungen, die zunächst als gültig angenommen werden müssen, über die Dinge nachdenken, aber wir sollen sie doch schließlich nicht ungeprüft gelten lassen, und wir müssen darauf gefaßt, wir müssen entschlossen sein, sie preiszugeben, wenn sie eine solche Prüfung nicht bestehen. Dieses Prüfen der Voraussetzungen ist die Philosophie."

"Wir werden das Wollen aus unserem Denken nicht los; vielmehr beruth, psychologisch betrachtet, gerade auf solchen Werten alle Energie des Denkens: darin liegt freilich der Grund des Irrtums, aber ebenso auch die Kraft der Wahrheit. Dieses Verhältnis zwischen Denken und Wollen, zwischen Intellekt und Charakter lassen gerade die großen Denker deutlich erkennen; ja es ist sogar der Philosophie spezifisch eigen: in ihr stehen wertfreies und werthaftes Denken in einem ganz besonderen Verhältnis. Die Philosophie ist Wissenschaft, Begriffsarbeit, wie alle anderen Wissenschaften, Umsetzung des anschaulich Gegebenen in Begriffe."



Prolegomena

Einer Einleitung in die Philosophie als Buchtitel oder als Vorlesungsgegenstand begegnen wir jetzt häufiger als je zuvor. Zweifellos kommtman damit dem wachsenden Bedürfnis nach Philosophie entgegen, das in der gesamten Literatur, in den Erfahrungen des Buchhandels und des akademischen Lebens mit steigender Lebhaftigkeit festzustellen ist. Dieses Bedürfnis nun ist auf nichts anderes als auf eine Weltanschauung gerichtet. Der Trieb danach, den SCHOPENHAUER - auch hier mit glücklicher Prägung - das metaphysische Bedürfnis genannt hat, dieser Trieb steckt freilich unversiegbar in der menschlichen Natur. Aber er tritt in den verschiedenen Zeiten je nach ihrem geistigen Charakter verschieden hervor. Es gibt Zeitalter, in denen er fast verdeckt ist, Zeitalter, die mit ihrem Kulturleben in der Hauptsache von bestimmten, verhältnismäßig genau umgrenzten Aufgaben ihrer drängenden Gegenwart in Anspruch genommen sind, mögen das nun Aufgaben des politisch-sozialen, des künstlerischen, des religiösen oder des einzelwissenschaftlichen Lebens sein. Das sind dann Zeiten, die sich mit aller Energie auf solche besonderen Ziele richten, mit festen Direktiven dafür arbeiten und sich darin beruhigen. Man dürfte sie positive Zeitalter nennen, und ein solches war bei uns die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts sicherlich: man hat sie mit Recht wohl als das naturwissenschaftliche oder das politische oder das technische Zeitalter charakterisiert.

Das hat sich nun offenbar geändert. Unser heutiges Leben ist umstürmt von einer Mannigfaltigkeit tief an die Wurzel des Lebens greifender Aufgaben. In unserem Volk ist etwas von dem Gefühl, über sich selbst hinauszuwachsen, eines Hinausstrebens in noch Unbestimmtes und Unbekanntes. Wir stehen in einem gärenden Kräftegewoge, das, wie alle großen Erregungszustände der Menschheit, mit psychologischer Notwendigkeit von religiösen Motiven durchsetzt ist. Wir sehen das in Literatur und Kunst: da ist ein Suchen und Tasten, wohl auch mit ungesunden Auswüchsen und doch wieder mit einer gesunden, urkräftigen Ursprünglichkeit und Notwendigkeit. Wir haben das Bewußtsein, im Übergang zu stehen, und der Poet hat dafür die Formel von der Umwertung aller Wert gefunden. Es ist, möchte ich sagen, wie zur Zeit der Romantik, sondern hoffnungsvoller: wie zur Zeit der Renaissance. Und wie damals, so waltet auch jetzt wieder das Bedürfnis nach einer Weltanschauung, in der die Kraft neuen Schaffens wurzeln soll. Dazu aber kommt die in der neuen Generation Deutschlands allmählich heraufdämmernde Erkenntnis, daß es gerade noch eben Zeit ist, uns wieder auf die geistigen Grundlagen unseres nationalen Daseins zu besinnen, deren Schätzung teil im Rausch eines äußeren Erfolges, teils unter dem harten Druck der äußeren Arbeit verloren zu gehen drohte.

Eine Weltanschauung also verlangt man von der Philosophie. Freilich bringt ja eigentlich jeder schon eine solche mit: kein Mensch kommt ohne so etwas aus, jeder braucht und hat in irgendeiner Form eine Ausweitung seines Kennens und Wissens, eine Ansicht vom Ganzen der Welt und zumal von der Stellung, die der Mensch darin einnimmt oder einnehmen soll. So gibt es eine Metaphysik der Kinderstube und des Märchens - eine Metaphysik des praktischen Lebens - eine Weltanschauung des religiösen Dogmas - ein Lebensbild, das wir in den Werken des Dichters und Künstlers genießen und aus ihm uns zu eigen machen. Alle diese Formen der Weltanschauung sind mehr oder minder unwillkürlich erwachsen und erstarkt. Sie alle haben natürliche, individuelle, historische Voraussetzungen und damit die Grenzen für den Bereich ihrer Geltung. Die Philosophie soll fragen, ob es darin etwas Allgemeingültiges gibt, was gewußt werden kann und nicht bloß gewünscht, geliebt, geglaubt zu werden braucht. Nach der Anforderung, die das allgemeine Denken an die Philosophie immer gestellt hat und heute wieder mit erhöhtem Interesse stellt, soll alle Philosophie Metaphysik oder zumindest eine Kritik der Metaphysik sein. Wird unsere heutige Philosophie dieser gebieterischen Anforderung der Zeit Genüge tun? Jedenfalls ist sie redlich an der Arbeit dazu. Die Resignation, die sich mit dem Namen KANTs und mit einer durch die Stimmung der früheren Generation verengten Auffassung seiner Leistung deckte, ist einem neuen Verlangen gewichen, und der Mut der Wahrheit, den HEGEL, proklamierte, als er das Heidelberger Katheder bestieg, ist wieder erwacht.

Von dieser Arbeit wünscht man etwas zu hören. Aber man meint, dazu noch einer besonderen Einleitung zu bedürfen, mehr als es bei anderen Wissenschaften üblich ist, und wohl auch in einem anderen sinn. Es ist ein altes Gerede, die Philosophie sei etwas besonders Schwieriges, etwas Abstraktes und Abstruses, wohl gar etwas, wozu eine ganz besondere Begabung erforderlich ist. Ein solches Erfordernis gilt nun allerdings für die großen schöpferischen Leistungen in der Philosophie und es gilt dafür in einem anderen Sinn und Maß als bei anderen Wissenschaften. Denn es handelt sich hier neben der Arbeit der Begriffe noch um die künstlerische Originalität in der Konzeption des Ganzen. Aber ein solches Erfordernis besonderer Begabung besteht doch nicht für das Mitdenken und Miterleben jener Leistungen: hier gilt, was KANT in Bezug auf Newton gesagt hat, daß auch in den höchsten Erzeugnissen des wissenschaftlichen Geistes nichts ist, was nicht ein jeder nachdenken und begreifen könnte.

In der Tat, nicht die Philosophie ist in diesem Sinne schwer, wohl aber die Philosophen als zum Teil mangelhafte Schriftsteller, die sich nicht aus den Schulformeln zu einer freien Berührung mit dem lebendigen Denken ihrer Umwelt herauszureißen wissen. Ihre Dunkelheit ist in gewissem Sinne nicht ohne Entschuldigung. Sie haben wohl oft in allzu ausgedehntem Maß von einem Recht und einem Erfordernis Gebrauch gemacht, das ansich durchaus nicht zu beanstanden ist. Es ist zweifellos unter Umständen nötig, dem wissenschaftlich geformten Begriff zur Unterscheidung von den unbestimmten Ausdrücken des täglichen Lebens und der vulgären Sprache eine eigene Bezeichnung zu gehen und ihn dadurch möglichst vor einer Verwechslung und vor Mißbrauch zu schützen: und dieser Aufgabe entsprechen, wie die Erfahrung lehrt und die Psychologie es leicht zu erklären vermag, am besten die den toten Sprachen entnommenen Fremdwörter, die sich als etwas Selbständiges und in sich Fixiertes aus dem Fluß der heutigen Sprache herausheben. Die Bildung solcher Termini gestatten wir dem Chemiker, dem Anatomen, dem Biologen usw. von Schritt zu Schritt ohne jeden Anstand: dem Philosophen möchte man es am liebsten ganz verbieten, und man wird unwillig, wenn er von diesem Recht einen zu weitgehenden Gebrauch macht. Das ist für die Philosophie unbequem, aber im Grunde genommen schmeichelhaft. Denn es kommt darin zum Ausdruck, daß man meint, die Dinge, von denen der Philosoph handelt, gingen jeden an, müßten deshalb auch jedem zugänglich sein oder werden und zu diesem Zweck auch in einer jedem ohne weiteres verständlichen Sprache ausgedrückt werden können. Diese Meinung ist aber nicht völlig richtig: vielmehr besteht gerade für die Philosophie, eben weil sie sich mit Dingen beschäftigt, die dem allgemeinen Vorstellen geläufig sind, ganz besonders die Aufgabe, diese Vorstellungen aus ihrer rohen, unbestimmten Gegebenheit zu wissenschaftlich brauchbaren Begriffen umzuformen und es wird deshalb, für sie immer ebenso Pflicht wie Recht sein, dem Ergebnis ihrer Arbeit auch den Stempel ihres Namens aufzuprägen. Der Einleitung in die Philosophie aber erwächst damit die Aufgabe, in diese tatsächlich unumgängliche  Terminologie  einzuführen.

Allein die intimste Klangfarbe der Kunstausdrücke ist doch eben nur aus dem Durchdenken der Probleme zu verstehen, aus welchen die darin niedergelegten Motive hervorgegangen sind. Deshalb haben wir es hier wesentlich mit dem Einleben in die Probleme und ihre wissenschaftliche Behandlung zu tun. Dazu aber bedarf es keiner besonderen Voraussetzunen und Begabungen, sondern nur der energischen Selbstzucht und der ernsten Ehrlichkeit des Nachdenkens: und eines allerdings ist unbedingt erforderlich, das Aufgeben aller Vollkommenheiten. Wer von der Philosophie verlangt oder auch nur erwartet, das zu hören, was er sich selber schon vorher auch so gedacht hat, der sollte sich lieber mit ihr gar nicht erst abmühnen. Wer also schon eine Weltanschauung hat und entschlossen ist, unter allen Umständen an sie weiter zu glauben, der hat die Philosophie für seine Person ganz und gar nicht nötig: für ihn bedeutet sie nur den Luxus, daß das, was man glaubt, den Ehrgeiz hat, auch für bewiesen zu gelten. Dieses Verhältnis betrifft nicht nur die religiös dogmatischen Meinungen, auf die man es gewöhnlich anzuwenden pflegt, sondern, was ganz besonders hervorzuheben ist, in erster Linie die Voraussetzung, mit der viele Menschen in der Philosophie wiederzufinden meinen,, was in der Breite der alltäglichen Welt- und Lebensauffassung schon umläuft. Es ist freilich leicht, aber auch wenig ehrenvoll, sich jene seichte Popularität zu erwerben, bei der die Leute sagen: der Mann hat recht; das habe ich ja schon immer behauptet. Das sind, wie der Dichter sagt, breite Bettelsuppen, die ein groß Publikum haben. Wer ernsthaft Philosophie treibt, der muß darauf gefaßt sein, daß ihm in ihrem Licht Welt und Leben ein anderes Ansehen gewinnen, als sie es vorher zu haben schienen: er muß bereit sein, wo es notwendig ist, das Opfer der Voraussetzungen zu bringen, mit denen er an sie herangetreten ist.

Es ist also wohl möglich, ja vielleicht notwendig, daß die Ergebnisse der Philosophie weit abliegen von den Vorstellungen, die man zu ihr mitbringt: aber die Aufgaben und die Anfänge der Philosophie sind nicht entlegene oder verborgene und erst künstlich aufzudeckende Gegenstände. Sie bestehen vielmehr in nichts anderem, als dem Denkinhalt, den das Leben selbst und die Einsichten der besonderen Wissenschaften einem jeden gewähren können. Das Wesen der Philosophie besteht nur darin, das so auf der Hand und allgemein bereit Liegende zuende zu denken. Wir arbeiten intellektuell alle mit undurchdachten Voraussetzungen, mit dem vorläufig Geltenden in Leben und Wissenschaft. Das praktische Menschenleben ist durchsetzt und bestimmt von den naiv entwickelten  vorwissenschaftlichen Begriffen,  die durch das gemeinsame Vorstellen in der Sprache niedergelegt sind. Diese Vorstellungen sind dann zum großen Teil schon durch die Einzelwissenschaften bis zu dem Grad umgeformt und festgelegt, worin sie genügen, um die besonderen Erkenntnisgebiete für den Zweck dieser Einzelwissenschaften zu übersehen, zu ordnen und zu beherrschen. Aber sie bilden in diesem ihrem Bestand nun auch noch die Aufgabe für die Problembildungen und Untersuchungen der Philosophie. Wie das Leben in seinen vorwissenschaftlichen Begriffen das Material für jede wissenschaftliche Arbeit, so geben das Leben und die Wissenschaften zusammen in den  vorwissenschaftlichen  und den  vorphilosophischen Begriffen  das Material für die Arbeit der Philosophie ab. Deshalb ist die Grenze zwischen den Sonderwissenschaften und der Philosophie nicht eindeutig, sondern immer nur für jede Zeit durch den Stand der Einsichten zu bestimmen. Das alltägliche Leben hat den Begriff des Körpers als eines raumerfüllenden, mit mancherlei Eigenschaften ausgestatteten Dings. Aus dieser vorwissenschaftlichen Vorstellung machen Physik und Chemie die Begriffe von Atomen, Molekülen und Elementen. Ihre erste Bildung geschah im Gesamtgetriebe der Wissenschaft, den die Griechen  Philosophie  nannten. Heute sind diese Begriffe der Naturwissenschaften vorphilosophische Begriffe geworden, die für uns ebensoviele Probleme der Philosophie bedeuten.

Jene nicht zuende gedachten Voraussetzungen haben ihr volles Recht auf dem Gebiet, für welches sie bestimmt sind. Die Praxis des Lebens kommt mit ihrem vorwissenschaftlichen Körperbegriff vollständig aus, und für die besonderen Einsichten von Physik und Chemie genügen ebenso die vorphilosophischen Begriffe vom Atom usw. Deren Verwendbarkeit für die empirische Theorie läßt jedoch immer die Möglichkeit offen, daß sie in den allgemeineren Zusammenhängen, worin die Philosophie sie zu behandeln hat, sich als schwere Probleme enthüllen. Der Begriff des Naturgesetzes ist eine unumgängliche Voraussetzung, wie für das praktische Leben, so auch für die Forschung, die ja nur die Aufgabe hat, die besonderen Naturgesetze zu erkunden. was aber ein Naturgesetz ist, was die Abhängigkeit bedeutet, in der die konkreten Vorgänge, die wir erleben, von diesem Allgemeinen bestimmt sind, - das sind schwere Probleme, die sich nicht die empirische Forschung, umso mehr aber die philosophische Reflexion zu stellen hat.

Für die Einzelwissenschaft wie für das Leben stehen also derartige Grundvoraussetzungen mit dem Recht des Erfolges fest: der Moment aber, wo sie ins Schwanken geraten, wo man sich fragt, ob dies mit naiver Sicherheit Geltende dazu in der Tat berechtigt ist, - das ist die Geburtsstunde der Philosophie. Es ist, wie ARISTOTELES sagte, das  thaumatein,  das Stutzigwerden, das Irrewerden des Denken an sich selbst. Es ist das  exetazein,  das Prüfen, womit SOKRATES bei sich selbst, wie bei seinen Mitbürgern den Wahn naiver Selbstgewißheit zerstörte. Es ist die volle Ehrlichkeit des Intellekts gegen sich selbst. Wir können niemals ohne Voraussetzungen, die zunächst als gültig angenommen werden müssen, über die Dinge nachdenken, aber wir sollen sie doch schließlich nicht ungeprüft gelten lassen, und wir müssen darauf gefaßt, wir müssen entschlossen sein, sie preiszugeben, wenn sie eine solche Prüfung nicht bestehen. Dieses Prüfen der Voraussetzungen ist die Philosophie.

Durch diese  Erschütterung  des Geltenden ist jeder große Philosoph hindurchgegangen, und dieselbe Erschütterung ist es auch, die jeden einzelnen zur Philosophie treibt. In jedem ernsten Leben kommt ein Moment, wo alles, was uns als gewiß gegolten hat, worauf wir vertrauten und bauten, wie ein Kartenhaus vor uns zusammenstürzt und wo, wie bei einem Erdbeben, auch das Sicherste ins Schwanken gerät. Am ergreifendsten hat diese Erschütterung wohl DESCARTES in seiner ersten Meditation mit einer lapidaren Einfachheit und Großartigkeit dargestellt. Bei ihm, wie bei SOKRATES, erfüllt sich damit die Mission des Skeptizismus, der in der Geschichte, wie im Wesen des menschlichen Denkens eben nur diese Aufgabe hat, durch die Zersetzung des unwillkürlich Geglaubten den Weg zu einer letzten Gewißheit zu bahnen. So hat es auch HERBART gemeint, wenn er in seiner "Einleitung in die Philosophie" - freilich mit der ihm eigenen Trockenheit und Nüchternheit - vom Skeptizismus handelt.

Von dieser Erkenntnis her soll auch hier die Einleitung in die Philosophie die Aufgabe haben, die Grundprobleme aus der Erschütterung der unwillkürlich geltenden Voraussetzungen des Lebens und der Wissenschaften zu entwickeln. Ihr Weg beginnt beim Geläufigen und scheinbar Selbstverständlichen. In ihm entdecken wir, von der Geschichte belehrt, den springenden Punkt der Probleme; und es soll damit die sachliche Notwendigkeit aufgezeigt werden, mti der diese aus dem energischen und rückhaltlosen Durchdenken der Voraussetzungen unseres geistigen Lebens entspringen. Versteht man das, so wird sich daraus in jedem Moment auch die Struktur des Zusammenhangs zwischen den Denkmotiven ergeben, deren Verhältnis das Problem ausmacht, und damit auch zugleich die Einsicht in die Verschiedenheit der Lösungsversuche, die sich für jedes dieser Probleme darbieten. Wir dürfen also hoffen, mit dem Einblick in die Notwendigkeit der Probleme auch das Verständnis und die Wertung der Richtungen zu finden, in denen ihre Lösung versucht worden ist, versucht werden kann und versucht werden muß.

Wenn man von dieser Auffassung her den Bestand der Philosophie aufrollt, so erledigen sich damit am besten eine Reihe von Bedenken, welche in der vulgären Betrachtungsweise wohl der Philosophie entgegenzustehen pflegen. Solche Vorurteile erwachsen leicht aus dem Eindruck, den die Geschichte der Philosophie auf den Außenstehenden macht. Aber sie treten merkwürdigerweise - und das sollte wohl zum Nachdenken anregen - in zwei entgegengesetzten Richtungen auf. In der Tat verhält es sich ja mit dieser Geschichte wesentlich anders als mit dermenigen anderer Wissenschaften. Diese haben ihren mehr oder minder fest umgrenzten Gegenstand, und ihre Geschichte ist die allmähliche Annäherung an dessen Erkenntnis. Betrachtet man etwa die Geschichte der Physik oder die der griechischen Philologie, so wächst auf jedem solchen Gebiet mit den Zeiten die Ausdehnung gesicherten Wissens und die Eindringlichkeit des Verständnisses: extensiv und intensiv stellt sich, wenn auch kein stetiger, so doch im ganzen ein unverkennbarer Fortschritt heraus. Eine solche Geschichte hat Errungenschaften zu verzeichnen, die als bleibende anerkannt sind, und sie darf die Irrtümer als werdende Wahrheiten behandeln. Anders in der Philosophie. Schon wenn man ihren Gegenstand definieren will, scheitert man an der ersten Instanz, bei den Philosophen selbst. Es gibt keine allgemein anerkannte Begriffsbestimmung der Philosophie, und es wäre nutzlos, an dieser Stelle die bunte Mannigfaltigkeit der Versuche dazu, wie die Geschichte sie darbietet, vorzuführen. Für den Eindruck des Fremden ist es daher, als ob in der Philosophie so etwas de omnibus rebus et de quibusdam aliis [Fast alles und dazu noch etwas mehr - wp] die Rede wäre; jeder Philosophe scheint zu arbeiten, als ob die andern vor ihm gar nicht dagewesen wären, und gerade bei den bedeutendsten scheint dies der Fall zu sein. So macht die Geschichte der Philosophie den Eindruck des Unzusammenhängenden, des ewig Wechselnden, des Launenhaften und Willkürlichen, und bei diesem Mangel an Kontinuierlichkeit gibt es schließlich in ihr nichts Unbestrittenes, nichts was man aufzeigen könnte als das, was dabei herausgekommen ist. Es gibt nicht "die" Philosophie, wie es "die" Mathematik, "die" Rechtsgeschichte usw. git. So scheinen den Leuten die recht zu haben, welche in einer so ergebnislosen Reihe von Denkbemühungen schließlich nur die Geschichte der menschlichen Schwachheit oder der menschlichen Narrheit erblicken wollen.

Aber auf der anderen Seite hat man dann wieder, zumal wenn man die größeren Gebilde dieser Entwicklung kritisch miteinander vergleicht, den Eindruck, als sei es trotz allen Wechsels der Meinungen doch immer wieder dasselbe. Es kommen immer die gleichen Fragen wieder, jene "qualvoll uralten Rätsel des Daseins". Sie wechseln mit den Zeiten nur das Gewand des sprachlichen Ausdrucks und die äußere Form der anschaulichen Beziehungen: der begriffliche Inhalt bleibt dieselbe unbeantwortete Frage. Aber auch die Versuche der Antwort haben etwas Stereotypes an sich. Gewisse Gegensätze der Welt- und Lebensauffassung treten immer wieder von neuem auf, befehden sich und zerstören sich in gegenseitiger Dialektik. Und so entsteht auch hier, obgleich aus anderen Gründen, der Eindruck eines Versuchs mit unzulänglichen Mitteln, der Ergebnislosigkeit und der törichten Wiederholung.

Wie dieser recht gut begreifliche Eindruck zu überwinden und worin trotzdem ein höchst wertvoller Sinn dieser Geschichte der Philosophie zu finden ist, haben wir an dieser Stelle nicht zu entwickeln. Aber auf einen Punkt dürfen wir doch gerade solchen Bedenken gegenüber aufmerksam machen. Allerdings beweist jenes unleugbare Hin- und Herschweben zwischen den Gegenständen auf das eindringlichste, daß das Ganze und der Zusammenhang der Probleme für die Philosophie nicht so eindeutig gegeben ist, wie bei den übrigen Wissenschaften, sondern daß die Totalität und das System der Probleme selber erst gesucht werden soll und daß dies vielleicht das letzte und höchste Problem der Philosophie ist. Aber die Diskontinuierlichkeit im Auftauchen der Fragen erklärt sich doch am einfachsten, wenn wir bedenken, daß von jenen Voraussetzungen des Lebens und der Wissenschaften, deren Erschütterung zur Philosophie führt, die einzelnen Momente nach besonderen historischen Veranlassungen, die teils im individuellen und teils im allgemeinen Geistesleben beruhen, im Verlauf der Zeit sukzessive ins Schwanken geraten und das Nachdenken erfordern. Darum wird der Problemstand der Philosophie hier von dem einen, dort von dem anderen Punkt aus aufgerollt, und die verschiedene Energie, mit der sich bald die eine, bald die andere Frage in den Vordergrund drängt, wird weniger von den systematischen Zusammenhängen, als von den geschichtlichen Konstellationen der Denkmotive bestimmt.

Wenn aber dann schließlich doch immer wieder dieselben Probleme und dieselben Gegensätze der Lösungsversuche sich geltend machen, so ist gerade das der beste Rechtstitel für die Philosophie. Es beweist, daß ihre Probleme notwendig sind, unentfliehbar sachlich gegeben, unweigerlich aufgegeben, so daß sich kein ernstes Denken, einmal erwacht, ihnen entziehen kann. Und jene auf den ersten Blick beschämende Konstanz in der Wiederkehr der Lösungsversuche zeigt auch nur, daß in der Beziehung des Denkens auf jene Gegenstände dauernde Notwendigkeiten entspringen, die sich eben deshalb trotz des Wechsels der historischen Anlässe stetig wiederholen. Diese sachlichen Notwendigkeiten in Fragen und Antworten begreiflich zu machen, ist die Hauptaufgabe einer Einleitung in die Philosophie. Sie soll zeigen, daß die Philosophie nicht ein leeres Spiel der Einbildungskraft ist, nicht die nutzlose Entwirrung selbstgeschaffener Schwierigkeiten, sondern daß es sehr reale Dinge und sehr ernste Fragen sind, mit denen sie sich beschäftigt und an denen sie immer wieder die inneren Nötigungen der unaufhebbaren Sachlage entfaltet.

So wollen also die Probleme wie ihre Lösungen verstanden werden als ein notwendiges Wechselverhältnis zwischen dem erkennenden Geist und den zu erkennenden Gegenständen. Auch dieses Verhältnis freilich ist bereits eine jener Voraussetzungen, eine vorphilosophische Betrachtungsweise, die gewiß nicht ungeprüft bleiben darf, von der aber selbstverständlich gerade die einleitende Betrachtung auszugehen genötigt ist. Hinsichtlich dieses Verhältnisses aber zwischen dem Intellekt und seinem Objekt ist von vornherein ein Gesichtspunkt hervorzuheben, der hier noch nicht begrndet, sondern nur verkündet werden kann, weil ihn erst die gesamten folgenden Untersuchungen im einzelnen wie im ganzen zu bestätigen haben: wir nennen ihn den Standpunkt des  Antinomismus. 

Alle unsere Erkenntnis ist ein Deuten von Tatsachen durch Nachdenken: zum Nachdenken aber brauchen wir die Natur unseres Intellekts. Dieser jedoch enthält als sein intimes Wesen gewisse Voraussetzungen, die man in diesem wissenschaftlichen Sinn des Wortes als "Vorurteile" bezeichnen mag, d. h. als die Urteile, die all unserem Nachdenken als seine ersten Gründe sachlich vorhergehen. Solche Vorurteile nennen wir, insofern sie für uns als die Normen gelten, nach denen wir denken sollen,  Axiome  - insofern aber, als sie auch für die Gegenstände gelten sollen und als wir erwarten, daß auch diese sich danach richten,  Postulate.  Aufgrund dieser Beziehung dürfen wir, um eine moderne Vorstellungsweise vorläufig einzuführen, den Prozeß unserer Erkenntnis als die gegenseitige Anpassung jener beiden Momente betrachten, eine Anpassung der Voraussetzungen an die Tatsachen und der Tatsachen an die Voraussetzungen. In der Auswahl und der Verknüpfung der Tatsachen, die wir mit unseren Axiomen und Postulaten vollziehen, entwickelt sich stetig dieser doppelte Vorgang der Anpassung. Aber dabei stellt sich nun heraus, daß neben der prinzipiellen Angemessenheit beider Momente zueinander, auch eine gewisse Unangemessenheit zwischen ihnen bestehen bleibt. Jene Angemessenheit ist, wie KANT und LOTZE gesagt haben, die glückliche Tatsache, durch die es überhaupt möglich ist, daß das Material, das wir erleben, sich in die Formen unseres Nachdenkens, in seine vergleichenden und beziehenden Tätigkeiten aufnehmen läßt. Die partielle Unangemessenheit dagegen, die zwischen beiden Momenten besteht, bildet eben den springenden Punkt, von dem jene Revision der Voraussetzungen ausgeht, welche das Wesen der Philosophie ausmacht.

Das Ergebnis einer solchen Revision kann entweder zur Ausgleichung und Aufhebung der Differenzen führen oder wenigstens die Wege zeigen, auf denen nach dem bisherigen Erfolg das Ziel erreichbar erscheint, oder es kann schließlich mit der Einsicht in die Unlösbarkeit des Problems abschließen. Welchen dieser Ausgänge die Untersuchung nehmen wird, läßt sich selbstverständlich zu Beginn nicht übersehen: umso mehr möchte hervorzuheben sein, daß es sich durchaus nicht erwarten läßt, die Untersuchung werde bei allen Problemen auf denselben Ausgang gedrängt werden. Es ist vielmehr nicht nur durchaus möglich, sondern sogar wahrscheinlich, daß eine Anzahl von Problemen sich, wenn nicht schon als gelöst, so zumindest als lösbar herausstellt, während vielleicht bei anderen die Aussichtslosigkeit der darauf gerichteten Bemühungen aufgezeigt werden kann. Denn wenn in der Tat bestimmt zu umschreibende Grenzen für die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis bestehen, so ist zu erwarten, daß, obgleich viele der Fragen, mit denen das metaphysische Bedürfnis die Philosophie bestürmt, über diese Grenzen hinausgehen, doch zumindest eine Anzahl von ihnen innerhalb dieser Grenzen eine genügende Beantwortung finden kann. Jedenfalls aber wird es hier die Aufgabe sein, aus jenem Verhältnis der Anpassung die sachliche Notwendigkeit zu verstehen, vermöge deren mit dem Problem und der darin enthaltenen Gegensätzlichkeit der Denkmotive auch die verschiedenen Versuche seiner Lösung entspringen. Damit soll nicht verkannt sein, daß die tatsächliche Aufstellung und Formung, die solche Lehren in der Geschichte gefunden haben, durchweg die persönliche Tat großer Individualitäten gewesen ist. Auch dieses Moment wird vollauf gewürdigt werden müssen; und insbesondere bei der Verschürzung verschiedener Probleme, wodurch deren Lösung bestimmt und verwickelt worden ist, kommt zum Teil gerade dieses individuell historische Verhältnis zu bedeutsamer Entfaltung. Allein daneben liegen doch stets die Möglichkeiten dazu in den sachlichen Verhältnissen selbst, und auf diese wird hier prinzipiell die Aufmerksamkeit in erster Linie zu richten sein, wenn man mit den Problemen auch ihre Lösungsversuche verstehen und bewerten will. Daher faßt sich die Aufgabe, um die es sich hier handelt, dahin zusammen, die Hauptprobleme der Philosophie und die Richtungen, nach denen ihre Lösung zu suchen ist, mit umfassender Darlegung ihrer historischen Erscheinungen zu entwickeln, zu begründen und zu beurteilen: auf diesem Weg gestaltet sich die Einleitung in die Philosophie zu einer kritischen Untersuchung über die möglichen Formen philosophischer Weltansicht.

Einer solchen Aufgabe kann man nun entweder vorwiegend historisch oder vorwiegend systematisch näher treten. Das erstere würde nach dem, was oben ausgeführt wurde, bedenklich sein, weil, die Philosophen selbst, zumindest nur in ihrer historischen Reihenfolge zu hören, leicht ein verwirrendes Geschäft ist, bei dem man in Gefahr gerät, die sachliche Deutlichkeit zu verlieren oder an den Hauptpunkten vorbeizusteuern. Am geringsten ist diese Gefahr, wenn man dazu die griechische Philosophie und zumal ihre Anfänge nimmt. Diesen wohnt in der Tat ein im hohen Maße instruktiver Charakter bei wegen der großartigen Einfachheit und der rücksichtslosen Einseitigkeit, womit die genialen Begründer der Wissenschaft, noch wenig beirrt von Massen des Wissensstoffes, die begrifflichen Aufgaben in naiver Deutlichkeit erfaßt und geformt haben. Aber so groß dieser didaktische Wert ist, so erweisen sich doch diese grandiosen Urgebilde gegenüber den viel verwickelteren Problemen der heutigen Welt nicht immer ausreichend. Ihre einfachen, strengen Linien vermögen die feinere, in die Mannigfaltigkeit des Einzelnen ausgearbeitete Struktur des modernen Denkens nicht zum Ausdruck bringen.

Die systematische Form der Lösung hat sich den Philosophen unächst im Sinne einer Einführung in  ihre  Philosophie empfohlen. So etwa hat FICHTE seine beiden "Einleitungen in die Wissenschaftslehre" gemeint: demm für ihn bedeutet Wissenschaftslehre, was man im allgemeinen Philosophie nennt, und jene beiden Einleitungen haben die Aufgabe, die eine, solche die schon eine Philosophie haben, auf FICHTEs Standpunkt zu leiten. Ebenso ist HERBART, der einzige von den größeren Philosophen, der eine "Einleitung in die Philosophie" unter diesem wörtlichen Titel geschrieben hat, dabei doch wesentlich darauf ausgegangen, den Leser in  seine  Philosophie, in die Schwierigkeiten seiner Ontologie einzuführen.

Diese Behandlung dürfte indessen mehr dem Wunsch des Verfassers, als dem des Lesers entsprechen; denn dieser will in der Regel nicht in eine besondere Philosophie, sondern in die Philosophie überhaupt eingeführt werden. Freilich wird nun niemand, der diese Aufgabe übernimmt, es je vermeiden können, daß seine eigene Auffassung sich im Entwurf des Ganzen wie in der Darstellung und Bewertung des Einzelnen geltend macht. Daraus wird auch dem hier folgenden Versuch kein Vorwurf gemacht werden dürfen. Man kann über diese Dinge, die den denkenden Geist bis in seine Tiefe bewegen, nicht reden, ohne daß die eigene Stellung dazu erkennbar wird. Aber das soll nicht der Zweck und darf nicht die Hauptsache sein.

Die Einleitung in die Philosophie soll ebensowenig wie einen bloß historischen Bericht, die Apologie [Rechtfertigung - wp] einer bestimmten Lehre geben. Ihre Aufgabe ist vielmehr die Einführung in das Philosophieren selbst, in die lebendige Arbeit des Nachdenkens, in das unmittelbare Verständnis seiner Motive, seiner intellektuellen Bedrängnisse und der Rettungsversuche, womit es ihnen zu entgehen strebt. Nur in diesem sinne hat sie sich für die systematische Entwicklung der Notwendigkeit, die dem Ursprung der Probleme innewohnt, bei den historischen Formen der Philosophie über die Prägungen der Probleme zu orientieren, in denen oft auch die Richtung ihrer Lösung, wenn nicht schon die ganze versuchte Lösung selbst, enthalten ist. So steht die Einleitung dem systematischen und dem historischen Material gegenüber gleichmäßig auf dem Standpunkt einer  immanenten Kritik  und soll auf diese Weise in den Formen des heutigen Denkens dasselbe leisten, was dereinst HEGEL mit seiner "Phänomenologie des Geistes" unternahm: die Notwendigkeit aufzuzeigen, mit der das menschliche Denken von seiner naiven Welt- und Lebensauffassung durch die darin enthaltenen Widersprüche auf den Standpunkt der Philosophie getrieben wird.

Die Art freilich, wie HEGEL diese Aufgabe löste, würden wir uns heute nicht mehr gefallen lassen. Weder seine Verschlingung der logischen, psychologischen, kulturgeschichtlichen und philosophiegeschichtlichen Bewegung, noch die geheimnisvollen Andeutungen, worin dieser Wechsel des Standpunktes verdeckt ist, können wir heute vertragen - umso weniger als die Polyhistorie, die eine solche Darstellung beim Leser ebenso wie beim Verfasser vorausgesetzt, nicht mehr vorhanden ist. Insbesondere aber vermögen wir nicht mehr das Vertrauen zu teilen, mit dem HEGEL, wenigstens prinzipiell, in seinem historischen Optimismus an die Identität der geschichtlichen und der logischen Notwendigkeit des Fortschritts glaubte. Wir müssen vielmehr, wie vorhin schon angedeutet, rückhaltlos anerkennen, daß die Reihenfolge, worin die Geschichte die Probleme der Philosophie aufgerollt hat, in Bezug auf den systematischen Zusammenhang zufällig ist, daß deshalb dieser systematische Zusammenhang der Probleme nicht aus der Geschichte entnommen werden kann, sondern vielmehr ihr gegenüber das letzte und höchste Problem der Philosophie selbst bleibt. Aber das unvergängliche Verdienst HEGELs ist es, daß er in der Geschichte der Begriffe das Organon der Philosophie erkannt hat. Ihm verdanken wir die Einsicht, daß die Gestaltung der Probleme und Begriffe, wie sie die Entwicklung der menschlichen Vernunft in der Geschichte herbeigeführt hat, für uns die allein zureichende Form ist, um die Aufgaben der Philosophie für ihre systematische Behandlung vorzubereiten. Nur diese historische Grundlage kann davor schützen, längst Erkanntes von Neuem zu entdecken oder Unmögliches zu wollen. Nur sie aber ist auch imstande, uns mit Sicherheit und Vollständigkeit über den Problembestand des Philosophierens zu orientieren. Denn die Besinnung auf den notwendigen Inhalt des vernünftigen Bewußtseins überhaupt, welche die letzte Aufgabe der Philosophie bildet, kann der Mensch nicht aus seiner natürlichen Unmittelbarkeit, sondern nur aus der Vermittlung seines eigenen Wesens durch seine Geschichte gewinnen.

Die Literatur, die für eine so gemeinte Einleitung in die Philosophie herangezogen werden kann, ist einerseits äußerst ausgedehnt, insofern als, im Grunde genommen, die gesamte philosophische Literatur dabei in Betracht kommt, andererseits, sofern es auf eine besondere Behandlung dieses Themas ankommt, außerordentlich gering. Von früheren enzyklopädischen Darstellungen der Einleitung in die Philosophie, die diesen Namen trugen, verdient keine ihrer Vergessenheit entrissen zu werden. Von den auf dem heutigen Büchermarkt unter diesem Titel umlaufenden Werken ist das wenigst glückliche das von WILHELM WUNDT: der berühmte Psychologie hat in diese Vorlesung offenbar hauptsächlich seine wenig tiefgehenden Auffassungen der Geschichte der Philosophie einbeziehen zu sollen gemeint und hat daran schließlich nur einige schematische Übersichten über die sogenannten philosophischen Richtungen geschlossen, die überraschend unausgiebig ausgefallen sind. Das liebenswürdigste, für den Leser erfreulichste dieser Bücher ist das von FRIEDRICH PAULSEN: es beschränkt sich in der Hauptsache auf die theoretischen Probleme und ergänzt sich durch seine Ethik, indem beide Werke mit anschaulicher und leichtfaßlicher Darstellung die verständige Durchschnittsmeinung des gebildeten Menschen von heutzutage vortragen. Das weitaus wissenschaftlichste und instruktivste Werk ist das von OSWALD KÜLPE: aber auch dieses gibt in der Gliederung nach den einzelnen philosophischen Disziplinen mehr eingehende und lehrreiche Referate, als eine organische Entwicklung aus einem gestaltenden Grundprinzip. Unbedeutendere Versuche, wie der wesentlich erkenntnistheoretisch gehaltene von CORNELIUS und der ganz psychologisch angelegte von JERUSALEM mögen nur registriert werden. Im allgemeinen wird man diese Spärlichkeit der direkt auf unseren Zweck gerichteten Hilfsmittel durchaus begreiflich finden. Je elementarer der Gegenstand ist, umsoweniger können sich Anfänger in Lehre und Schrift daran wagen; denn die Aufgabe verlangt nicht nur eine umfassende Kenntnis der historischen Formen der Philosophie, sondern auch die eigene Verarbeitung dieses gesamten Stoffes und die Neuerzeugung der Probleme und ihrer Lösungen im eigenen lebendigen Philosophieren. In diesem Sinne sind mehr als alle die genannten Bücher zu empfehlen, welche sachlich die Aufgabe einer Einleitung in die Philosophie ohne den Titel erfüllen: dahin rechne ich vor allem OTTO LIEBMANN "Zur Analysis der Wirklichkeit" (4. Auflage, Straßburg 1911) mit seiner Fortsetzung "Gedanken und Tatsachen" (2. Bde. Straßburg 1904) und sodann CHARLES RENOUVIER, "Esquisse d'une classification systématique des doctrines philosophiques" (Paris 1885f).

Als Wissenschaft der Weltanschauunge hat die Philosophie zwei Bedürfnisse zu befriedigen. Man erwartet von ihr einen umfassenden, sicher gegründeten und womöglich abschließenden Ausbau aller Erkenntnis und daneben eine auf einer solchen Einsicht errichtete Überzeugung, die den inneren Halt im Leben zu gewähren vermag. Darin besteht die theoretische und die praktische Bedeutung der Philosophie: sie soll Weltweisheit und Lebensweisheit zugleich sein, und jede Form der Philosophie, die nur die eine oder die andere dieser Aufgaben erfüllen wollte, würde uns von vornherein als einseitig und unzulänglich erscheinen. Die Verknüpfung beider Momente ist für die Philosophie so charakteristisch, daß aus dem Wechsel der Beziehungen zwischen ihnen die Gliederung ihrer historischen Erscheinungen in sachgemäß unterschiedene Perioden am besten gewonnen werden kann. Wir sehen das, was sich Philosophie nennt, im Griechentum aus rein theoretischem Interesse erwachsen und allmählich unter die Macht des praktischen Bedürfnisses kommen, und wir verfolgen den Triumph des letzteren in den langen Jahrhunderten während die Philosophie wesentlich eine Lehre von der Erlösung des Menschen sein will. Mit der Renaissance kommt von neuem ein vorwiegend theoretisches Bestreben zur Herrschaft, und dessen Ergebnisse stellt wieder die Aufklärung in den Dienst ihrer praktischen Kulturzwecke: bis dann in KANT der intime Zusammenhang zwischen beiden Seiten der Philosophie mit eindrucksvoller Deutlichkeit zu Bewußtsein und zum Verständnis gebracht wird.

Dieses Verhältnis hat aber, wie wir uns jetzt leicht deutlich machen können, seine sachlichen Gründe in der Natur des Menschen, der nicht nuur ein vorstellendes, sondern ein wollendes und handelndes Wesen, nicht nur Trieb- und Bewegungsmaschine, sondern ein von Urteilen bewegter Organismus ist. Schon das Urteilen selbst, worin alles Erkennen besteht, ist ein Akt, bei welchem Vorstellen und Wollen zusammen tätig sind. Alle unsere Einsichten setzen sich von selbst in Wertauffassungen und Willensmotive um: und andererseits verlangt unser Wollen, wenn nicht Einsichten, so wenigstens Ansichten als seine Bestimmungsgründe. Wissen und Wollen sind nicht zwei zufällig in uns verbundene Mächte, sondern die untrennbar verknüpften, nur in der psychologischen Reflexion auseinanderzulegenden Seiten ein und desselben ansich unteilbaren Wesens und Lebens. Daher hat jede Erkenntnis die Tendenz, eine Macht im Willensleben zu werden, die Wertauffassung der Dinge zu verschieben. Bedürfnisse zu verändern, zu schaffen, zu befriedigen oder zu vernichten. Daher besteht andererseits im Willen die Neigung, das Erkennen nach Ziel und Richtung zu bestimmen. Nun treten wohl freilich bei den einzelnen Menschen die Extreme, in denen das eine oder andere Moment überwiegt, bemerkbar auseinander. Der großen Masse, die wesentlich praktisch lebt, ist der einsame Denker entfremdet, dem die Seligkeit der  theoria  genügt: und eine solche Scheidung ist richtig, weil auch hier das Prinzip der Arbeitsteilung Platz greift, wonach das wahrhaft fruchtbare Erkennen immer nur dem völlig uninteressierten Forschen als Lohn zufällt. Aber im Großen und Ganzen des menschlichen Lebens und seiner historischen Bewegung durchdringt sich beides, Theoretisches und Praktisches, fortwährend. Die Ergebnisse des Wissens werden stetig in das Wertleben aufgenommen, und aus den Wertbedürfnissen stammen die Aufgabe des Forschens.

Und nicht nur die Aufgaben. Auch die Motive der Problemlösung, auch die Entscheidungen der Fragen stammen zum großen Teil aus Wertgesichtspunkten. Das kann beklagt und angegriffen, - das kann begründet und gepriesen werden (wir kommen darauf noch zurück): hier muß es nur vorläufig als eine Tatsache festgestellt werden, die im folgenden überall ihre Erläuterung und ihre kritische Berücksichtigung wird finden müssen. Wenn schon die Ansichten des Individuums, die Richtung seiner Aufmerksamkeit, der Umkreis seiner intellektuellen Interessen, die Auswahl und Verknüpfung der Gegenstände, ihre Auffassung und ihre Beurteilung überall von den Bedürfnissen der Lage, des Berufs, des Standes, kurz vom Wollen der Persönlichkeit bedingt sind, - sollte das beim ganzen menschlichen Geschlecht in seiner historischen Entwicklung anders sein? Sollten etwa beim Ausgleich der individuellen Vorstellungsprozesse jene Willensmotive durchgängig eliminiert werden, oder sollten ich nicht vielmehr die verwandten unter jenen Motiven in diesem Prozeß gegenseitig verstärken und ihre Macht über das Urteil erhöhen? Wir werden auch in der Gesamtheit das Wollen aus unserem Denken nicht los; vielmehr beruth, psychologisch betrachtet, gerade auf solchen Werten alle Energie des Denkens: darin liegt freilich der Grund des Irrtums, aber ebenso auch die Kraft der Wahrheit.

Dieses Verhältnis zwischen Denken und Wollen, zwischen Intellekt und Charakter lassen gerade die großen Denker deutlich erkennen; ja es ist sogar der Philosophie spezifisch eigen: in ihr stehen, wie eine der folgenden Untersuchungen genauer zu zeigen haben wird, wertfreies und werthaftes Denken in einem ganz besonderen Verhältnis. Die Philosophie ist Wissenschaft, Begriffsarbeit, wie alle anderen Wissenschaften, Umsetzung des anschaulich Gegebenen in Begriffe. Aber in ihr waltet zugleich das Bedürfnis, aus dem Abstrakten und Begrifflichen in das Leben, in Anschauung und Wirken zurückzugelangen. Sie bedarf der Gestaltung zu einer lebendigen Gesamtanschauung, die damit eben auch eine tatkräftige Überzeugung bedeutet. Philosophie kann niemals bloß Wissen, sie will und soll künstlerisches und sittliches Lebens sein. Man hat die philosophischen Systeme wohl Begriffsdichtungen genannt: und sie sind das wirklich, aber nicht in dem tadelnden Sinn, mit dem darin das Unwirkliche ihrer begrifflichen Konstruktion charaktierisiert werden sollte, sondern in dem höchsten Sinne, daß wahre Dichtung überall nichts anderes ist, als gestaltetes und gestaltendes Leben. Dieses ästhetisch-ethische Moment in der Philosophie ist zugleich das persönliche, es begründet die Bedeutung und die Wirksamkeit der großen Individualitäten in ihrer Geschichte.

Die innige Gemeinschaft des Theoretischen und des Praktischen mußte besonders hervorgehoben werden, gerade weil die Teilung zwischen beiden in der folgenden Orientierung über die Probleme und Lehren zugrunde gelegt werden soll. Wie sich dievon ARISTOTELES vollzogene Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische bis auf den heutigen Tag als die dauerhafteste erwiesen hat, so werden wir am besten auch die Gegenstände, von denen hier zu handeln sein wird, in Probleme des Wissens und Probleme des Lebens, in Seinsfragen und Wertfragen, in  theoretische  und praktische oder, wie man neuerdings gern sagt,  axiologische  Probleme auseinanderlegen.

Aber nur die Probleme scheiden sich so, die Gegenstände, die Aufgaben, die Fragen. Bei den Lösungsversuchen dagegen wird sich überall erweisen, daß im tatsächlichen Denken der Geschichte, dessen Ergebnisse hier kritisch durchmustert werden sollen, jene Scheidung sich nicht aufrechterhalten hat. Das zeigt sich von beiden Seiten her. Die praktischen oder axiologischen Probleme, worunter die Gesamtheit der ethischen, ästhetischen und religiösen verstanden werden soll, alle Wertfragen überhaupt können wissenschaftlich immer nur beantwortet werden mit Rücksich auf theoretische Einsichten. Zwar wird niemals dabei die Entscheidung nur von einer rein rationalen Erkenntnis des Tatsächlichen bestimmt sein können oder dürfen; es bleibt dabei immer zuletzt ein "stat pro ratione voluntas" [an Stelle einer Begründung steht der Wille - wp] Aber die Entscheidungen können doch auch niemals ohne das wissenschaftliche Verständnis des Gegebenen erfolgen. Keine Erkenntnis des Sollens ist auszuführen ohne die des Seins. So werden die theoretischen Urteile zu Motiven, wenn auch nicht zu allein ausschlaggebenden, in den praktischen Problemen der Philosophie. Auf der anderen Seite aber ragt in das rein theoretische Nachdenken zur Frageentscheidung schließlich doch immer auch das praktische Interesse herein. Wir brauchen nur wieder mit historischem Hinweis an die vielen Ablenkungen zu erinnern, welche der rein sachliche Gedankengang (nach LOTZEs bekannten Wort im Eingang des Mikrokosmus) durch die Bedürfnisse des Herzens zu erfahren pflegt. Es gibt aber in der Philosophie noch einen besonderen, häufig eintretenden Fall: es ist der, wo bei theoretischer Unentschiedenheit das praktische Postulat entscheidend eintritt, wo die theoretisch gleichwertigen Möglichkeiten der Ansicht die Problemlösung von der Absicht abhängig werden lassen und wo es also wiederum gilt: "stat pro ratione voluntas". Dieses Verhältnis hat sein hervorragendes Beispiel an KANT: hier macht es den intimsten Zusammenhang und geradezu den entscheidenden und charakteristischen Punkt seiner gesamten Lehre aus und hat es deshalb auch eine ausdrückliche Behandlung gefunden, worin das Fürwahrhalten aus einem Interesse der Vernunft seine Rechtfertigung finden soll.

Auf solche Verquickungen theoretischer und praktischer Motive in den Problemlösungen werden wir also bei den Problemen beider Gruppen gefaßt sein müssen; sie machen sogar einen besonderen Reiz der Untersuchung aus. Aber eben deshalb weist auch die stetige Beziehung auf einen letzten Zusammenhang beider Gruppen hin. Sie erheischt gebieterisch eine abschließende Verknüpfung der Seinsfragen mit den Wertfragen. Sachlich muß das so ausgesprochen werden, daß die höchsten aller philosophischen Probleme auf das Verhältnis des Seins zu allen Werten, des Wertes zum Sein gerichtet sind. Daraus ergeben sich, wie später des Näheren gezeigt werden wird, als Abschluß der axiologischen Gruppe die religiösen Probleme.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1920