cr-4tb-2ra-2A. MerklE. BelingP. EltzbacherF. Somlo    
 
MANFRED HERBERT
Sprachkritik als Aufgabe der Rechtstheorie
(zum Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie)

b) Wortbedeutung und Sprachgebrauch
c) Rechtstheoretischer Ertrag
d) Die objektive Auslegungslehre
"Rechtsanwendung ist keine Erkenntnis - sondern ein Entscheidungsvorgang."

Zum Leben Wittgensteins

LUDWIG WITTGENSTEIN wurde am 26. April 1889 in Wien als jüngstes von acht Geschwistern geboren. Seine Familie war jüdischer Herkunft. Sein Vater, KARL WITTGENSTEIN, war einer der Begründer der österreichischen Schwerindustrie und zugleich ein bedeutender Mäzen der bildenden Künste seiner Zeit. Das Haus der WITTGENSTENs war ein wichtiger Treffpunkt des kulturellen, insbesondere des musikalischen Wiener Lebens.

Nachdem WITTGENSTEIN bis zu seinem 14. Lebensjahr zu Hause erzogen worden war, besuchte er von 1903 bis 1906 die Oberrealschule in Linz. Anschließend nahm er an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg ein Ingenieurstudium auf, das er 1908 in Manchester fortsetzte. Dort beschäftigte er sich mit aeronautischen Experimenten, die sein Interesse auf die Mathematik und schließlich auf die philosophischen Grundlagen der Mathematik lenkten. 1911 besuchte WITTGENSTEIN, wahrscheinlich angeregt durch die Lektüre von BERTRAND RUSSELLs im Jahre 1903 erschienenen Buch  The Principles of Mathematics,  GOTTLOB FREGE in Jena, der ihm riet, bei RUSSELL in Cambridge zu studieren.

Anfang 1912 wurde WITTGENSTEIN in das Trinity College in Cambridge aufgenommen, wo er bis 1914 eingeschrieben war. Während dieser Zeit schloß er Freundschaft mit RUSSELL, mit dem er ausgedehnte philosophische Diskussionen führte, sowie mit GEORGE EDWARD MOORE und JOHN MAYNARD KEYNES. Von Ende 1913 bis zum Kriegsausbruch zog sich WITTGENSTEIN für die meiste Zeit nach Norwegen in völlige Einsamkeit zurück. Dort machte er Aufzeichnungen, welche die Grundlage für seine Arbeit am  Tractatus logico-philosophicus  bildeten.

Nach Kriegsausbruch im Jahr 1914 meldete sich WITTGENSTEIN freiwillig zum Kriegsdienst in der österreichischen Armee. In Olmütz wurde er zum Offizier ausgebildet, anschließend an der Ost-, später an der Südfront eingesetzt. Von November 1918 bis August 1919 geriet er in italienische Kriegsgefangenschaft.

Während der Kriegsjahre verfaßte WITTGENSTEIN philosophische Tagebücher, von denen drei Manuskripte erhalten sind. Aus ihnen entstand während des letzten Fronturlaubs von Juli bis Semptember 1918 die  Logisch-philosophische Abhandlung,  die später auf Anregung MOOREs  Tractatus logico-philosophicus  genannt wurde. Das Buch wurde erst 1921, vermutlich auf Betreiben RUSSELLs, in HEINRICH OSTWALDs  Annalen der Naturphilosophie  veröffentlicht. Ein Jahr später erschien es in England in einer zweisprachigen und mit einer Einleitung von RUSSELL versehenen Ausgabe.

WITTGENSTEIN glaubte, mit dem  Tractatus  alle philosophischen Probleme gelöst zu haben, und wandte sich nach dem Krieg konsequenterweise von der Philosophie ab. Sein Leben gestaltete er grundlegend um. Nach dem Vorbild TOLSTOIs suchte er das einfache Leben. Sein vom Vater ererbtes Vermögen, von dem er einen Teil bereits vor dem Krieg u.a. an RILKE, TRAKL und KOKOSCHKA gestiftet hatte, schenkte er seinen Geschwistern.

Er ließ sich ein Jahr lang an der Lehrerbildungsanstalt in Wien zum Volksschullehrer ausbilden und unterrichtete sodann, nachdem er kurzfristig als Gärtnergehilfe im Stift Klosterneuburg bei Wien gearbeitet hatte, in den Jahren 1920 bis 1926 an verschiedenen Volksschulen in Niederösterreich. Nach Konflikten mit Schülereltern schied er im April 1926 freiwillig aus dem Schuldienst. Er nahm für kurze Zeit eine Stelle als Gärtnergehilfe in einem Kloster bei Hütteldorf in der Nähe von Wien an. Seine Absicht, selbst Mönch zu werden, gab er wieder auf. Ab dem Herbst 1926 widmete sich WITTGENSTEIN als Architekt dem Bau eines Hauses für seine Schwester bis zu dessen Fertigstellung Ende 1928.

In diese Zeit fällt seine Rückkehr zur Philosophie. Den Kontakt zur Philosophie hatte WITTGENSTEIN während seiner Tätigkeit als Volksschullehre nie ganz verloren. Es war zu Begegnungen mit dem junen Philosophen FRANK RAMSEY gekommen, der eine Rezension des  Tractatus  veröffentlicht hatte. Ab dem Frühjahr 1927 traf sich WITTGENSTEIN regelmäßig mit MORITZ SCHLICK, dem Begründer und Haupt des sog. Wiener Kreises, später auch mit dessen anderen Mitgliedern RUDOLF CARNAP, FRIEDRICH WAISMANN, HERBERT FEIGL und MARIE KASPAR-FEIGL. 1928 besuchte WITTGENSTEIN zusammen mit WAISMANN und FEIGL einen Vortrag des holländischen Mathematikers BROUWER, der nach FEIGLs Einschätzung den entscheidenden Anstoß für WITTGENSTEINs Rückkehr zur philosophischen Tätigkeit gab.

Im Januar 1929 ging WITTGENSTEIN wieder nach Cambridge, wo er im Juni desselben Jahres nach einer mündlichen Prüfung bei RUSSELL und MOORE, die sich nach seiner Rückkehr für ihn einsetzten, mit dem  Tractatus  promoviert wurde. Von 1930 bis 1936 hatte er ein Fellowship am Trinity College in Cambridge inne.

In den ersten Jahren als Fellow löste er sich allmählich von den Grundgedanken des  Tractatus.  Von seinen maschinenschriftlichen Aufzeichungen aus dieser Periode wurden die  Philosophischen Bemerkungen  und die  Philosophische Grammatik  veröffentlicht, außerdem existieren Vorlesungsmitschriften. Etwa ab 1933 entwickelte er grundlegend neue Gedanken, die sein weiteres philosophisches Schaffen beherrschen sollten. Aus dieser Zeit stammen  Das Blaue Buch  (1933/34) und  Das Braune Buch  (1934/35), die er Studenten diktierte.

1935 fuhr WITTGENSTEIN für mehrere Wochen in die Sowjetunion. Aus Abneigung gegen die englische und akademische Lebensform beabsichtigte er, dorthin überzusiedeln, verwarf diesen Plan aber wieder, offenbar aufgrund der Verschlechterung der dortigen Verhältnisse.

Nach Ablauf seiner Fellowship im Frühjahr 1936 zog sich WITTGENSTEIN nach Norwegen zurück. Dort begann er, den ersten Teil der  Philosophischen Untersuchungen,  des Hauptwerks seiner zweiten philosophischen Schaffensperiode, zu schreiben, den er 1945 vollendete. Weitere Aufzeichnungen WITTGENSTEINs aus dieser Zeit sind Teile der aus dem Nachlaß herausgegebenen  Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. 

1937 kehrte WITTGENSTEIN nach Cambridge zurück, wo er 1939 zum Nachfolger MOOREs auf dessen philosophischen Lehrstuhl berufen wurde. WITTGENSTEIN hatte den Lehrstuhl acht Jahre lang inne, übte seine Lehrtätigkeit aber nur zeitweise aus. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges übernahm er zunächst Hilfsdienste am Guys Hospital in London, später arbeitete er in einem medizinischen Laboratorium in Newcastle. 1947 gab WITTGENSTEIN seinen Lehrstuhl auf, um sich ganz auf seine philosophischen Forschungen zu konzentrieren.

Von 1947 bis 1949 lebte er zurückgezogen an verschiedenen Orten in Irland. Seine Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind als Teil II der  Philosophischen Untersuchungen  und als  Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie  sowie als  Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie  erschienen. Im Sommer 1949 besuchte er seinen Freund und Schüler NORMAN MALCOLM in den USA.

Im Oktober kehrte er, zwischenzeitlich an Krebs erkrankt, nach England zurück. In der darauffolgenden Zeit lebte er bei Freunden in Oxford, Cambridge und London und unternahm Reisen nach Wien und nach Norwegen. Seine Krankheit hinderte ihn weitgehend an seiner philosophischen Arbeit; nur zeitweise, vor allem in seinen letzten Lebensmonaten, war er imstande, thematisch zusammenhängende Bemerkungen zum Problem der Gewißheit aufzuschreiben, die nach einem Urteil von WRIGHTs zu den besten Gedanken gehören, die er hervorgebracht hat. WITTGENSTEIN starb am 29. April 1951 in Cambridge.

WITTGENSTEIN war, was die zahlreichen Schilderungen seines Charakters belegen, eine außergewöhnliche und eigentümliche Persönlichkeit, von der eine starke und suggestive Wirkung auf andere Menschen ausging. Für RUSSELL war WITTGENSTEIN "vielleicht das vollendetste Beispiel eine Genies der traditionellen Auffassung nach, das mir je begegnet ist: leidenschaftlich, tief, intensiv und beherrschend".

WITTGENSTEIN war, allerdings nicht im Sinnes eines christlichen Glaubensbekenntnisses, ein religiöser Mensch. Musik bedeutete ihm viel. Über weite Strecken seines Lebens war er unglücklich, quälte sich mit Selbstzweifeln, Schuldgefühlen und Gedanken an den Selbstmord. Der Fortschrittsgläubigkeit seiner Zeit stand er äußerst ablehnend und pessimistisch gegenüber. Aus vielen ironischen Bemerkungen WITTGENSTEINs spricht andererseits eine heitere Gelassenheit.

WITTGENSTEINs Persönlichkeit und seine Philosophie stehen nicht beziehungslos nebeneinander, und es mangelt nicht an Versuchen, sein philosophisches Schaffen aus seiner Persönlichkeit heraus zu deuten. (in den siebziger Jahren wurde eine erregte Debatte darüber geführt, ob WITTGENSTEIN aus seiner Homosexualität heraus zu begreifen sei.) Die vom Menschen WITTGENSTEIN ausgehende Faszination, die ihn zu einer Kultfigur werden ließ, wirkt indes, wenn man die Rezeption seines Werkes betrachtet, teilweise irritierend und beeinträchtigt einen nüchternen und vorbehaltslosen Blick auf seine Philosophie.


Wittgensteins Einfluß

Bereits seit ARISTOTELES ist die Sprache ein Thema der abendländischen Philosophie, aber erst im 20. Jahrhundert ist sie in das Zentrum philosophischen Interesses gerückt. Hauptursache dieser Entwicklung ist eine Skepsis gegenüber der Zuverlässigkeit der Sprache als den notwendigen Mediums, mit dem Philosophen ihre Fragen und Antworten formulieren. Mit dieser "Wende der Philosophie", dem  linguistic turn,  ist der Name WITTGENSTEINs untrennbar verknüpft.

Zwei bedeutende und einflußreiche philosophische Strömungen sahen WITTGENSTEIN als ihren geistigen Vater an. Auf den  Tractatus  berief sich der logische Positivismus oder logische Empirismus des Wiener Kreises, der zwischen den beiden Weltkriegen vorherrschend war und als dessen Erbe man "vieles von dem, was heute unter der Bezeichnung philosophische Logik, mathematische Grundlagenforschung und Wissenschaftstheorie betrieben wird" (von WRIGHT), ansehen kann.

Die wichtigste Wirkung des  Tractatus  auf den logischen Positivismus dürfte darin zu erblicken sein, daß diese Schule dessen Grundhaltung übernahm, wonach die Behandlung philosophischer Probleme eine formalisierte Sprache erfordere, um den durch die Ungenauigkeit der Alltagssprache produzierten philosophischen Unsinn zu vermeiden.

Auf WITTGENSTEINs Spätwerk berief sich die "ordinary language philosophy", auch sprachanalytische Philosophie oder "Philosophie der normalen Sprache" genannt, die ihren Höhepunkt in der sog. Cambridge-School der dreißiger Jahre sowie in der sog. Oxford-Philosophie der vierziger und fünfziger Jahre hatte. Im Gegensatz zum logischen Positivismus, der zur klaren Formulierung philosophischer Probleme eine ideale Sprache konstruiert, versucht die "ordinary language philosophy", philosophische Probleme durch eine Analyse der Umgangssprache zu erhellen.

Neben dem späten WITTGENSTEIN werden JOHN L. AUSTIN und GILBERT RYLE als geistige Väter dieser Schule angesehen. AUSTIN hob wie WITTGENSTEIN hervor, daß der deskriptive Gebrauch der Sprache nicht deren einzige oder wesentliche Funktion ist. Er entwickelte eine systematische Theorie der Sprechakte, in der untersucht wird, welche Dinge man mit Wörtern tun kann.

RYLE sah wie WITTGENSTEIN die Ursache philosophischer Verwirrung in der Irreführung durch die Sprache begründet. Konfusionen entstünden dadurch, daß man infolge der gleichförmigen "Oberflächengrammatik" von Wörtern grammatikalisch richtige Sätze bilden könne, die jedoch sinnlos seien, weil die verwendeten Wörter einer anderen Kategorie angehörten. Der Satz "Gestern habe ich Hans getroffen" ist sinnvoll, während der Satz "Gestern habe ich den durchschnittlichen Steuerzahler getroffen" sinnlos ist. Im Gegensatz zu Hans kann ich den durchschnittlichen Steuerzahler nicht treffen. RYLE arbeitete vor allem den kategorialen Unterschied zwischen Ereignis- und Dispositionswörtern heraus und machte diese Unterscheidung für seine Theorie des Geistes fruchtbar.

Es ist indes problematisch, ob sich die beiden Strömungen mit Recht in der Nachfolge WITTGENSTEINs betrachten dürfen. WITTGENSTEIN selbst stand seiner Wirkung äußerst ablehnend gegenüber. Er fürchtete, mißverstanden zu werden und nur einen bestimmten Jargon zu hinterlassen.
    "Ich kann keine Schule gründen, weil ich eigentlich nicht nachgeahmt werden will. Jedenfalls nicht von denen, die Artikel in philosophischen Zeitschriften veröffentlichen."
WITTGENSTEIN empfand, in einem anderen Geist als dem "des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation" zu schreiben und war sich "durchaus nicht klar, daß ich eine Fortsetzung meiner Arbeit durch Andere mehr wünsche, als eine Veränderung der Lebensweise, die alle diese Fragen überflüssig macht".

Das Problem, ob WITTGENSTEINs Wirkung seinen eigenen Intentionen entspricht, kann hier nicht vertieft werden. Sie steht selbstständig neben der philosophiegeschichtlichen Frage, welche Gedanken und Strömungen unter dem Einfluß WITTGENSTEINs heraus entstanden sind, sei es auch nur aufgrund von Mißverständnissen.


Wittgenstein - Die Aufgabe der Philosophie

WITTGENSTEINs Auffassung von der Aufgabe der Philosophie ist, wie für den  Tractatus,  auch für seine späteren Gedanken von grundlegender Bedeutung. Im  Tractatus  ist von Philosophie in einem doppelten Sinn die Rede: im negativen Sinn hält WITTGENSTEIN die traditionellen philosophischen Probleme für bloße Scheinprobleme, deren Fragestellung "auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruht; im positiven Sinn kommt der Philosophie eine sprachkritische Aufgabe zu: sie soll sinnvolle und unsinnige Sätze voneinander abgrenzen und dadurch den Scheincharakter philosophischer Probleme entlarven.

An diesem ambivalenten Philosophiebegriff hält WITTGENSTEIN Zeit seines Lebens fest. Auch in seinen späteren Schriften geht er davon aus, daß philosophische Probleme durch sprachliche Mißverständnisse hervorgerufen werden und daß es Aufgabe der Philosophie ist, diese Mißverständnisse aufzulösen, wenngleich sich seine Ansichten hinsichtlich der Methode, mit welcher die philosophischen Probleme zum Verschwinden gebracht werden sollen, grundlegend ändern.

Über das Wesen philosophischer Probleme schreibt WITTGENSTEIN in den  Philosophischen Untersuchungen: 
    "Ein philosophisches Problem hat die Form:  Ich kenne mich nicht aus." 
Philosophische Probleme sind demnach dadurch gekennzeichnet, daß man verwirrt ist, weil etwas rätselhaft ist. So vergleicht WITTGENSTEIN einen Menschen, der sich in einem Zustand philosophischer Verwirrung befindet, mit einem Mann, der aus einem Zimmer heraus will, aber nicht weiß wie, oder mit einer Fliege, die in einem Fliegenglas gefangen ist.

WITTGENSTEIN hält diesen Zustand für krankhaft und versteht die Philosophie als eine Therapie gegen die durch die philosophischen Probleme verursachte Verwirrung:
    "Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit."
Ziel der Philosophie ist es, um im oben erwähnten Bild zu bleiben, der "Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen". Sie soll den durch philosophische Probleme verwirrten zur Klarheit führen.
    "...die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine  vollkommene.  Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme  vollkommen  verschwinden sollen."
WITTGENSTEINs Auffassung von der Aufgabe der Philosophie ist, wie für den  Tractatus  auch für seine späteren Gedanken von grundlegender Bedeutung. Im  Tractatus  ist von Philosophie in einem doppelten Sinn die Rede: im negativen Sinn hält WITTGENSTEIN die traditionellen philosophischen Probleme für bloße Scheinprobleme, deren Fragestellung "auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruht"; im positiven Sinn kommt der Philosophie eine sprachkritische Aufgabe zu: sie soll sinnvolle und unsinnige Sätze voneinander abgrenzen und dadurch den Scheincharakter philosophischer Probleme entlarven.

An diesem ambivalenten Philosophiebegriff hält WITTGENSTEIN Zeit seines Lebens fest. Auch in seinen späteren Schriften geht er davon aus, daß philosophische Probleme durch sprachliche Mißverständnisse hervorgerufen werden und daß es Aufgabe der Philosophie ist, diese Mißverständnisse aufzulösen, wenngleich sich seine Ansichten hinsichtlich der Methode, mit welcher die philosophischen Probleme zum Verschwinden gebracht werden sollen, grundlegend ändern.

Die Parallele zu dem im  Tractatus  vertretenen Philosophiebegriff ist aufgenfällig. Die Aufgabe der Philosophie (im positiven Sinn) besteht darin, philosophische Probleme (im negativen Sinn) zu vermeiden. Wird Philosophie als Therapie gegen philosophische Schwierigkeiten verstanden, so ist zunächst eine Diagnose zu stellen, d.h. es ist nach den Ursachen dieser Schwierigkeiten zu fragen. Für WITTGENSTEIN besteht die Hauptquelle philosophischer Verwirrung in sprachlichen Mißverständnissen.

Die in diesem Zusammenhang zentrale Einsicht von WITTGENSTEINs Spätphilosophie ist die Erkenntnis, daß Wörter verschiedenartige Funktionen haben. Den verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten von Wörtern und den jeweils zugrunde liegenden Regeln der "Tiefengrammatik" stellt WITTGENSTEIN deren "Oberflächengrammatik" gegenüber, womit das gemeint ist, was man umgangssprachlich unter Grammatik versteht, d.h. die Regeln des Satzbaus, usw.

Die Ursache sprachlicher Konfusionen besteht für WITTGENSTEIN zum einen darin, daß die Gleichförmigkeit der Oberflächengrammatik irreführend ist:
    "Freilich, was uns verwirrt ist die Gleichförmigkeit ihrer Erscheinung, wenn die Wörter uns gesprochen, oder in der Schrift und im Druck entgegentreten. Denn ihre  Verwendung  steht nicht so deutlich vor uns. Besonders nicht, wenn wir philosophieren!"
Die Tatsache, daß sich Wörter und Sätze in ihrer Erscheinung ähnlich sind, verleitet zu der irrigen Annahme, daß sie alle in gleicher Weise gebraucht werden.

Eine ergänzende Ursache für diese Fehlvorstellung ist die Tendenz des Menschen, nach dem Allgemeinen und Gemeinsamen zu streben. Wir suchen danach, hinter der Vielfalt der Erscheinungen deren Wesen zu entdecken, also etwas, was ihnen gemeinsam ist. Auf die Sprache bezogen bedeutet dies, daß man sich eine bestimmte Vorstellung davon macht, wie Wörter und Sätze allgemein funktionierten.

Wenn man an Wörter denkt, fallen einem zunächst vertraute Substantive ein wie "Tisch", "Stuhl", "Brot" oder Eigennamen wie "Peter", dann bestimmte einfache Verben wie "gehen", "schlafen" sowie bestimmte Adjektive wie "gut", "rot". In der Regel wird man nicht an die anderen Wortarten wie Konjunktionen, Adverbien und Präpositionen denken.

Der Grund für diese Vorstellung ist einleuchtend: man ist mit dem Umgang dieser einfachen Wörter und Wortarten von Kindheit an am besten vertraut. In gleicher Weise denkt man zunächst an einfache Sätze und Satzarten, wenn man allgemein den richtigen Gebrauch von Sätzen erkennen will.

Bedingt durch die gleichförmige Erscheinung der Sprache und durch unser Streben nach Allgemeinheit gelangt man zu der Vorstellung, alle Wörter und Sätze würden so funktionieren wie die gängigen Wort- und Satzarten. So stellt man sich philosophische Begriffe wie "Erkenntnis", "Geist", "Wahrheit" oder "Zeit" nach dem Vorbild alltagssprachlicher Begriffe vor, was dazu führt, daß man sich ein bestimmtes Bild von diesen Begriffen macht. Diese Tendenz wird dadurch noch verstärkt, daß die Alltagssprache in vielen Ausdrucksweisen bildhaften Charakter hat.

Der Ausdruck, "sich ein Bild von etwas machen", wird von WITTGENSTEIN in einer Bedeutung verwendet, die man umschreiben kann mit "etwas unter einem bestimmten Blickwinkel, nach dem Vorbild eines bestimmten Modells betrachten". Diese Sichtweise ist nicht per se negativ zu bewerten. Es kann durchaus nützlich sein, in Bildern zu sprechen, wenn man sich der Tatsachen bewußt ist, daß es sich um Bilder handelt, wenn man sich richtig anwendet und wenn man erkennt, daß diese Betrachtungsweise Grenzen hat. Sieht man diese Grenzen aber nicht oder übersieht man, daß man nicht ein Phänomen selbst, sondern nur ein bestimmtes Bild eines Phänomens vor sich hat, dann ist es irreführend, wenn man sich - unbewußt - ein Bild von etwas macht. Man wird dann von dem Bild gefangen gehalten.

Wenn der Philosophie lediglich die Aufgabe zukommt, philosophische Probleme zum Verschwinden zu bringen, stellt sich die Frage, weshalb man sich überhaupt mit ihr beschäftigen sollte. Die Antwort liegt nahe, daß es viel bequemer wäre, sich nicht mit philosophischen Problemen auseinanderzusetzen. So einfach verhält es sich nach WITTGENSTEIN jedoch nicht.

In seinem Nachlaß findet sich folgende Bemerkung:
    "Philosophie ist ein Instrument, das nur zum Gebrauch gegen Philosophen und gegen den Philosophen in uns dient".
Nach WITTGENSTEINs Auffassung sind alle Menschen notgedrungen Philosophen, sie werden durch die Sprache in philosophische Vewirrung geführt. In den  Bemerkungen zu Frazers "Golden Bough"  faßt WITTGENSTEIN in prägnanter Weise zusammen: "In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt."

Obschon WITTGENSTEIN keine generell ablehnende Einstellung gegenüber Mythen hat, gebraucht er den Begriff "Mythologie" in diesem Zitat aber in einem negativen Sinn: die Mythologie, die unsere Sprache in sich birgt, wird nicht als solche erkannt, weshalb wir durch die Sprache in die Irre geführt werden. Die Philosophie soll uns helfen, den Versuchungen, zu denen uns die Sprache verleitet, zu widerstehen.

Diese Aufgabenbestimmung der Philosophie verweist auf den Einfluß von KARL KRAUS. Darüber hinaus deutet sie auf die geistige Verwandschaft hin, die WITTGENSTEIN mit LICHTENBERG und NIETZSCHE verbindet. LICHTENBERGs Aphorismus "Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, also, die Berichtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten" wirkt wie die Vorwegnahme der Funktion, die WITTGENSTEIN der Philosophie zuweist.

Auch NIETZSCHE stellte bereits ähnliche sprachskeptische Überlegungen an, wie dies WITTGENSTEIN einige Jahrzehnte später tat. So heißt es in  Menschliches  und  Allzumenschliches:
    "Es liegt eine philosophische Mythologie in der  Sprache  versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag."
Weshalb sollte man also Philosophie betreiben? Eine Antwort im Sinne WITTGENSTEINs hat KENNY zu geben versucht. Demnach schütze die Philosophie einerseits vor pseudowissenschaftlicher Überredung durch andere bzw. helfe, Theorien als pseudowissenschaftlich zu erkennen, etwa die bereits erwähnte Vorstellung des Geistes als eine Art zweiter Wirklichkeit neben der körperlichen Welt, in der geistige Tätigkeiten stattfinden; andererseits bewahre die Philosophie davor, daß unsere eigenen wissenschaftlichen Forschungen durch die in der Sprache verborgenen philosophischen Irrtümer in die Irre geleitet werden.
LITERATUR - Manfred Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik - Zum Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie, Baden-Baden 1995