cr-4tb-2ra-2A. MerklE. BelingP. EltzbacherF. Somlo    
 
MANFRED HERBERT
Der rechtstheoretische Ertrag
von Wittgensteins Thesen


b) Zum Leben Wittgensteins
c) Wortbedeutung - Sprachgebrauch
d) Die objektive Auslegungslehre

Die Worte des Gesetzes als solche wurden als "Träger von etwas Geistigem" angesehen.

Für WITTGENSTEIN besteht die Aufgabe der Philosophie in der Sprachkritik. Er sieht in den traditionellen philosophischen Problemen bloße Scheinprobleme, deren Fragestellung auf dem Mißverständnis der Funktionsweise unserer Sprache beruht. Die verbleibende legitime Aufgabe der Philosophie ist die Entlarvung dieser Mißverständnisse. Die Philosophie (im positiven Wortsinn) ist eine Therapie gegen die durch die philosophischen Probleme (im negativen Wortsinn) verursachte Verwirrung.

Während die im  Tractatus  vorgeschlagene Therapie in der Konstruktion einer idealen, formalisierten Sprache besteht, welche die den durch die Ungenauigkeit der Alltagssprache produzierten philosophischen Unsinn vermeiden soll, wird in WITTGENSTEINs späteren Schriften als Therapie gegen sprachliche Konfusionen eine Klärung der Funktionsweise unserer Umgangssprache angestrebt.

Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie ist die richtige Diagnose. Die Ursache sprachlicher Konfusionen liegt nach WITTGENSTEIN darin begründet, daß "in unserer Sprache ... eine ganze Mythologie niedergelegt" ist. Bedingt durch die Gleichförmigkeit, mit der uns Wörter erscheinen, glauben wir, zumal wir die Tendenz haben, nach dem Allgemeinen und Gemeinsamen zu streben, sie funktionierten alle auf dieselbe Weise, und zwar so, daß sie Gegenstände bezeichneten.

So gelangen wir zu der Vorstellung, daß sich unsere philosophischen Termini wie "Sein", "Zeit", "Geist", "Seele", usw. in gleicher Weise auf Gegenstände bezögen wie der Ausdruck "Tisch". Nach WITTGENSTEIN mißverstehen wir damit die Funktionsweise unserer Sprache, die durch Beschreibung unseres Sprachgebrauchs, durch dessen "übersichtliche Darstellung" einsichtig gemacht werden soll.

Zu diesem Zweck erfindet WITTGENSTEIN einfache künstliche Sprachen und isoliert tatsächliche Funktionseinheiten unserer Umgangssprache; für beide prägt er den Ausdruck "Sprachspiele". Diese Untersuchungen lassen ihn einsehen, daß Wörter und Sätze neben der Funktion, Gegenstände zu benennen, eine Vielzahl weiterer Funktionen erfüllen.

Mit dem Argument der Multifunktionalität sprachlicher Ausdrücke wendet sich WITTGENSTEIN gegen eine "Gegenstandstheorie der Bedeutung", d.h. gegen die Vorstellung, das Wort "Bedeutung" bedeute eine außersprachliche Entität, von der der richtige Gebrauch sprachlicher Ausdrücke abhänge. Es verhalte sich genau umgekehrt. Bedeutungen würden dadurch, daß sprachliche Ausdrücke von den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft übereinstimmend gebraucht würden, erst konstituiert.

Neben seiner Kritik an einer "Gegenstandstheorie der Bedeutung" wendet sich WITTGENSTEIN gegen die Annahme, die Bedeutungsidentität eines sprachlichen Ausdrucks werde dadurch gewährleistet, daß die durch ihn bezeichneten Gegenstände gemeinsame Merkmale, ein gemeinsames Wesen besäßen. Gegen diesen Essentialismus setzt WITTGENSTEIN sein Konzept der Familienähnlichkeiten. So besäßen z.B. die Vorgänge, die wir "Spiele" nennen, kein gemeinsames Wesen, wohl aber eine Reihe von Ähnlichkeiten bzw. Verwandtschaften.

Ein weiterer Aspekt, auf den WITTGENSTEIN mit der Verwendung des Terminus "Sprachspiel" hinweisen möchte, ist der Zusammenhang zwischen Sprache und Handeln. Die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke werden nicht durch geistige Akte des Meinens und Verstehens bestimmt, sondern durch die Handlungen der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, d.h. dadurch, daß diese in vergleichbaren Situationen auf übereinstimmende Weise von ihnen Gebrauch machen.

Die in der Sprachgemeinschaft etablierten Handlungsmuster, die den einzelnen Sprachhandlungen ihrer Mitglieder zugrunde liegen, wirken mithin bedeutungskonstituierend. WITTGENSTEIN nennt diese Handlungsmuster  Lebensformen;  man könnte auch, um diesen schillernden Begriff zu vermeiden, von  Konventionen  sprechen.

Von diesem Ansatzpunkt her rückt die Frage, welcher Natur die Regeln sind, nach denen sich die Sprachteilnehmer verständigen, in den Mittelpunkt des Interesses. WITTGENSTEINs Analyse des Regelbegriffs wird von seiner konventionalistischen Auffassung bestimmt. Er wendet sich einerseits gegen eine Position, die man als Regelplatonismus bezeichnen kann, wonach Regeln bereits vor ihrer Anwendung existent sind und diese exakt festlegen, ohne daß hierzu auf menschliches Verhalten zurückgegriffen werden müßte.

Demgegenüber bestehen Regeln nach WITTGENSTEIN erst dann, wenn es ein ihnen folgendes Verhalten gibt, das auf einer etablierten sozialen Praxis basiert. Es ist nicht die Formulierung einer Regel, die unser Verhalten bestimmt, es ist umgekehrt unser Verhalten, das die Bedeutung der Regelformulierung festlegt. Und dieses Verhalten muß, um regelgeleitet zu sein, institutionalisiert sein. Es muß von den Mitgliedern der Gruppe, in der die Regel gilt, regelmäßig befolgt werden und als Bewertungsmaßstab in einer Weise akzeptiert werden, daß abweichendes Verhalten auf Kritik stößt.

Im Rahmen der regelgeleiteten Praxis gibt es demnach richtiges und falsches Verhalten. Von diesem Standpunkt aus verwirft WITTGENSTEIN auch die extreme Gegenposition des Regelplatonismus, den Regelskeptizismus, wonach jedes beliebige Verhalten als Regelfolge oder als Regelverstoß gedeutet werden kann. Der Fehler des Regelskeptizismus besteht nach WITTGENSTEIN darin, daß dieser nur nach der Interpretation einer Regel fragt, während es
    "eine Auffassung einer Regel gibt, die  nicht  eine  Deutung  ist, sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir  der Regel folgen,  und was wir  ihr entgegenhandeln  nennen".
Vor dem Hintergrund dieser Sprachkonzeption beantwortet sich die Frage, wie das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit nach WITTGENSTEIN zu beurteilen ist. Im  Tractatus  hatte WITTGENSTEIN die Auffassung vertreten, es existiere eine vorgegebene Wirklichkeit, die durch die Sprache abgebildet werde, wobei sich die sprachlichen Strukturen den  ontologischen  Strukturen anzupassen hätten, um dieser Aufgabe zu genügen. Für den späten WITTGENSTEIN verhält es sich genau umgekehrt: die Welt ist nicht an sich vorgegeben, sie wird durch unsere Sprachspiele erst konstituiert.
    "Unsere Begriffe regeln die Form unserer Welterfahrung ... Die Welt ist für uns das, was sich uns durch diese Begriffe hindurch darbietet."

Rechtstheoretischer Ertrag

Welcher rechtstheoretischer Ertrag läßt sich aus der Philosophie- und Sprachkonzeption WITTGENSTEINs gewinnen? Man kann zunächst auf einer noch sehr allgemeinen Ebene auf die Sprachkritik als einer notwendigen Aufgabe der Rechtstheorie verweisen. Dabei muß betont werden, daß die Sprachkritik nur  eine,  nicht  die  einzige Aufgabe der Rechtstheorie sein sollte. Diese Klarstellung erscheint deshalb angezeigt, weil WITTGENSTEIN nach seinem Selbstverständnis die Philosophie unter Verzicht auf jegliche Theorie auf Sprachkritik reduzieren will:
    "Alle  Erklärung  muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten."
Dieser Verabsolutierung ist nicht zuzustimmen. WITTGENSTEIN selbst hat sich in seinem tatsächlichen Philosophieren nicht an die von ihm postulierte Aufgabenbestimmung der Philosophie gehalten. Seine Auffassung vom Funktionieren der Sprache läßt sich sehr wohl als eine Sprachtheorie begreifen. Einige ihrer zentralen Begriffe (z.B. "Sprachspiel", "grammatischer Satz") sind weder der Umgangssprache oder einer Fachsprache entlehnt, sondern wurden von WITTGENSTEIN geprägt. Auch sie sind Teil einer umfassenden Sprachkonzeption, die zwar wesentliche Einsichten aus der empirischen Analyse der Funktionsweisen unserer Umgangssprache gewinnt, die aber doch nicht ohne theoretische Grundannahmen auskommt und die auch bestimmte Phänomene erklären will.

Wenn WITTGENSTEIN nur beschreiben würde, müßte er auch einen allgemeinen oder einen überwiegend akzeptierten philosophischen Sprachgebrauch anerkennen. Philosophische Sprachspiele werden genaus gespielt wie andere Sprachspiele auch. WITTGENSTEIN lehnt sie jedoch ab und versucht zu erklären, daß es sich um "Luftgebäude" handle. Diese Kritik kann nicht durch eine bloße Beschreibung der Umgangssprache geleistet werden, sondern bedarf auch theoretischer Kriterien, die angeben, weshalb die philosophischen Probleme durch eine mißbräuchliche Sprachverwendung erzeugt werden.

Auch WITTGENSTEINs therapeutische Methode, die durch eine "übersichtliche Darstellung" der Verwendungsweisen unserer Sprache die philosophischen Probleme vermeiden will, zieht eine theoretische Grenze zwischen dem "festen Grund der Umgangssprache" und den philosophischen "Luftgebäuden". In praxi läßt sich eine solche Grenze nicht beobachten: philosophische Aktivitäten sind untereinander familienähnlich und lassen sich von anderen Sprachspielen nicht scharf abgrenzen.

Auch abgesehen von der Diskrepanz, die zwischen WITTGENSTEINs philosophischem Selbstverständnis und seinem tatsächlichen Philosophieren besteht, erscheint eine Einengung der Philosophie auf die Funktion der Sprachkritik einseitig. Es ist nicht einsehbar, daß sich die Philosophie hierauf beschränken soll. Weshalb sollte sie nicht auch Phänomene erklären bzw. konstruktive Theorien entwickeln dürfen?

Ist die Beschränkung der Philosophie auf die Rolle der Sprachkritik auch zu kritisieren, so ist es doch als Verdienst WITTGENSTEINs anzusehen, ihr einen zentralen Platz in der Philosophie verschafft zu haben. Darin ist ein wesentlicher Fortschritt der Philosophie in diesem Jahrhundert zu erblicken (den es nach WITTGENSTEINs engem Philosophiebegriff eigentlich gar nicht geben darf), der für die Rechtstheorie in zweifacher Hinsicht von unmittelbarer Relevanz ist:
  • Rechtstheoretische Probleme sind auch sprachkritisch zu behandeln.
  • Der Rechtstheorie ist die Aufgabe zugewachsen, die Sprache der Rechtsdogmatik und der Rechtspraxis zu kritisieren.
Als Motto für beide Punkte könnte der bereits erwähnte Satz aus SHAKESPEAREs  King Lear  "Ich werd' dich Unterschiede lehren" dienen, den WITTGENSTEIN seinen  Philosophischen Untersuchungen  ursprünglich als Motto voranstellen wollte. So führt es zu größerer Klarheit in juristischen Diskursen bzw. es vermeidet nur schwer entwirrbare Konfusionen, wenn man das Recht betreffende begriffliche Fragen, empirische Beschreibungen bzw. Erklärungen und normative Wertungen voneinander trennt.

Das bedeutet nicht, daß keine Beziehungen zwischen ihnen bestünden und daß man sie nicht in ein und derselben Untersuchung miteinander kombinieren könnte. Zu fordern ist lediglich, die verschiedenen Kategorien auseinanderzuhalten, da hiervon abhängt, welcher Art von Begründung eine Aussage bedarf: die Seins-Sätze, die eine empirische Aussage verifizieren, sind von ganz anderer Qualität als die Sollens-Sätze, die ein Werturteil stützen; Sätze, welche die Adäquanz einer Begriffsdefinition begründen, sind wiederum anderer Natur.

Hervorzuheben ist, daß Fragen der Bedeutungsanalyse eine wesentliche und im Hinblick auf die beiden anderen Elemente insoweit vorrangige Rolle spielen, als ihre Klärung Voraussetzung für eine sinnvolle Verständigung über empirische und normative Probleme darstellt. Noch erhöht wird die Bedeutung begrifflicher Fragen durch den Umstand, daß unklare oder unklar gemachte Begriffe im juristischen Meinungskampf als Waffen einsetzbar sind, die das Postulat einer offenen, auf sachliche Gründe gestützten Argumentation unterlaufen.

Will man die bisher allgemein gehaltenen Betrachtungen zur sprachkritischen Aufgabe der Rechtstheorie unter wittgensteinianischem Blickwinkel spezifizieren, so wird man dessen Einsichten wie folgt übertragen werden können:

Juristen im allgemeinen wie Rechtstheoretiker im besonderen sind - wie alle Menschen - in einem negativen Sinne Philosophen. Sie werden durch die Mythologie, die unsere Sprache in sich birgt und die nicht leicht als solche erkennbar ist, zu philosophischen Fehlvorstellungen verleitet. Die aufklärerische Funktion der Rechtstheorie besteht in diesem Zusammenhang darin, diese Mythologie zu entlarven, die uns anfällig macht für pseudowissenschaftliche Überredung durch andere und die unsere eigenen Forschungen in die Irre leiten kann.

Man kann diese Mythologie unter einem einheitlichen Gesichtspunkt als "Gegenstandstheorie der Bedeutung" charakterisieren. Die in der Rechtssprache verwendeten Ausdrücke wie z.B. "Juristische Person" oder "Gewalt" (im Tatbestand einer Rechtsnorm) scheinen sich, wenn sie uns - geschrieben oder gesprochen - entgegentreten, auf real existierende, wenn auch nur mental erfaßbare Entitäten zu beziehen oder scheinen ein gemeinsames Wesen, das allen durch einen Ausdruck bezeichneten Gegenständen innewohnt und das dessen korrekte Verwendung bestimmt, zu verkörpern. Aber dies ist nicht der Fall. Unsere juristischen Ausdrücke sind "an sich", als bloße Zeichen inhaltsleer. Ihre Bedeutungen werden durch die Sprachkonventionen der Rechtsgemeinschaft festgelegt. Diese Einsicht ist vor allem für die folgenden Problembereiche von Bedeutung.


Erklärung grundlegender rechtlicher Begriffe

Der erste Punkt betrifft die Erklärung grundlegender rechtlicher Begriffe. Um ein Beispiel noch einmal resümierend aufzugreifen: Will man den Begriff der  juristischen Person  erklären, muß man zunächst der Frage nachgehen, in welchen Zusammenhängen er in der Rechtssprache verwendet wird. Man wird feststellen, daß hierunter eine durch Rechtsnormen bestimmte Zuordnung von Rechten und Pflichten zu Personenvereinigungen oder zu Vermögensmassen als solchen verwendet wird, die in deren Namen von natürlichen Personen wahrgenommen werden.

Kriterien für das Vorhandensein einer juristischen Person sind u.a., daß diese Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen kann und daß sie im Prozeß parteifähig ist. Mit der Angabe dieser und weiterer Charakteristika sind der Begriff und seine Funktion in der Rechtssprache erklärt. Für eine über die Präzisierung und die Bewußtmachung der Implikationen des Begriffs hinausgehende Frage, was denn nun eine juristische Person sei, bleibt kein Raum.

Daß sie dennoch gestellt wird, beruht auf irreführenden Assoziationen, die der Ausdruck "juristische Person" nahelegt. Rechte und Pflichten werden gewöhnlich natürlichen Personen zugeordnet, auf die man deuten kann. In Analogie hierzu wird auch bei "juristischen Personen" ein Etwas gesucht, das ihnen entspricht. Da kein wahrnehmbares Etwas existiert, konstruiert man Theorien über dieses Etwas. Diese Theorien sind fruchtlos, da es nichts Reales gibt, wofür der Ausdruck "juristische Person" steht. Erkenntnisse, die man aus ihnen zu gewinnen glaubt, erweisen sich als Zirkelschlüsse.

Aus einem "Wesen" der juristischen Person läßt sich ihre Rechts- und Parteifähigkeit nicht ableiten. Es verhält sich umgekehrt: weil einer Personenvereinigung oder einer Vermögensmasse von der Rechtsordnung die Rechts- und Parteifähigkeit verliehen wird, ist es gerechtfertigt, von einer juristischen Person zu sprechen. Das "Wesen" der juristischen Person wird von der Rechtsordnung erzeugt und ggf. durch Gesetzes- bzw. Rechtsprechungsänderungen verändert. Nur aus einem solchermaßen geschaffenen "Wesen" lassen sich Gründe für die Lösung einschlägiger Rechtsprobleme herleiten. An dieser Stelle verdienen zwei Probleme eine nähere Betrachtung:
  • Begriffe wie "juristische Person", "subjektives Recht", "Vormerkung" oder "Anwartschaftsrecht" sind präzise definierbare Begriffe einer künstlich geschaffenen juristischen Fachsprache. Bei ihnen ist es verhältnismäßig leicht einsehbar, daß ihr Inhalt Menschenwerk ist. Weitaus zahlreichere rechtliche Begriffe entstammen der Umgangssprache. Da diese natürlich gewachsen ist, erscheint hier die Gefahr größer, die in ihr verwendeten Begriffe zu hypostasieren [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp]. Aber auch für sie gilt, daß außerhalb des von der Sprachgemeinschaft geschaffenen - und durch sie veränderbaren - Sprachgebrauchs nichts existiert, was ihre Bedeutung bestimmen könnte.

    Die Methode der  ordinary language philosophy,  begriffliche Fragen auf der Basis des allgemeinen Sprachgebrauchs zu erörtern, ist ein probates Mittel, sie als Probleme sprachlicher Abgrenzung zu begreifen und metaphysischer Spekulation z.B. über das "Wesen" des Rechts zu entgehen. HOERSTER stellt insoweit treffend fest:

      "Es gilt, die - zwar im Sprachgebrauch enthaltenen, dem Teilnehmer an diesem Sprachgebrauch aber gewöhnlich nicht bewußten - Implikationen der Begriffe ans Licht zu bringen, explizit zu machen und die auf diese Weise erhellten Begriffe auf ihre logische Verträglichkeit hin zu prüfen".

  • Will man bei der Erörterung begrifflicher Fragen vom Sprachgebrauch ausgehen, so setzt dies voraus, daß man Feststellungen über den Sprachgebrauch trifft. Problematisch ist, wie derartige Feststellungen gewonnen werden können. Autoren in der Tradition der  ordinary language philosophy  rechtfertigen die von ihnen getroffenen Feststellungen vielfach mit ihrer Sprachkompetenz als "native speaker".

    Die Berufung auf sprachliche Intuitionen hat ihnen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, mit dem Etikett "Lehnstuhl-Methode" versehen, eingetragen. Es wurde gefordert, anstelle von Reflexionen vom Lehnstuhl aus empirische Untersuchungen über den Sprachgebrauch durch die mit dem notwendigen methodischen Instrumentarium ausgestatteten Linguisten anstellen zu lassen.

    Hiergegen wurden wiederum Vorbehalte unter dem Aspekt der Unzuverlässigkeit linguistischer Methoden erhoben. Adäquate Verfahren zur Feststellung von Sprachgebräuchen seien eher eine Hoffnung für die Zukunft als gegenwärtige Wirklichkeit. Der Linguist sei wie der Philosoph auf seine sprachlichen Intuitionen angewiesen, er müsse andere Sprecher fragen, nach Gegenbeispielen und Grenzfällen suchen oder Lexika befragen.

    Als heuristische Verfahren - darüber dürfte Einigkeit bestehen - sind die genannten Instrumente durchaus brauchbar. Es scheint aber an geeigneten Verfahren zur Überprüfung der gefundenen Ergebnisse zu fehlen. Folglich bleibt, wie es von SAVIGNY auf den Punkt gebracht hat, "das ungute Gefühl, daß man schwimmt".
Dieses Defizit an Wissenschaftlichkeit, das man gezwungenermaßen hinnehmen muß, dürfte allerdings - zumindest im vorliegenden Zusammenhang - keinen allzu großen Schaden anrichten, zumal die in dieser Studie behandelten Autoren zur Erklärung grundlegender rechtlicher Begriffe zwar am allgemeinen Sprachgebrauch ansetzen, diese aber nicht in der Weise definieren, daß sie lediglich einen Sprachgebrauch deskriptiv feststellen.

Es dürfte auch zweifelhaft sein, ob man aus der bloßen Beschreibung eines bei Wörtern wie "Recht" und "Handlung" diffusen Sprachgebrauchs einen befriedigenden Begriff gewinnen kann. Ihr Ziel besteht vielmehr darin, auf der Basis eines vorgefundenen Sprachgebrauchs - bei allen Schwierigkeiten, die dessen Ermittlung mit sich bringt - eine bedeutungs festsetzende Theorie, wie ein Begriff verwendet werden  sollte,  zu liefern.


Auf Psychisches gerichtete Begriffe

Zur Analyse von Begriffen, die auf Psychisches gerichtet sind, haben sich sprachphilosophische Einsichten WITTGENSTEINs als fruchtbar und zugleich, weil in eklatanter Weise Alltagsvorstellungen widersprechend, als große Herausforderung erwiesen. Im Vergleich zu den eben behandelten Begriffen nehmen "psychologische" Begriffe eine Sonderstellung ein und sollen deshalb unter einer eigenen Kategorie zusammengefaßt werden.

Im Recht spielen sie eine große Rolle, vor allem im Strafrecht. Man denke nur etwa daran, daß zur Verurteilung eines Straftäters festgestellt werden muß, ob er  schuldfähig  ist, ober  vorsätzlich  oder  fahrlässig  gehandelt hat, ob er ggf. die Grenzen des Notwehrrechts aus  Furcht  überschritten hat, ob er ggf. von der versuchten Straftat  freiwillig  zurückgetreten ist, usw. Nach der von WITTGENSTEIN angegriffenen "Gegenstandstheorie der Bedeutung" werden Ausdrücke wie die genannten ontologisiert: sie beziehen sich auf innerseelische Ereignisse.

"Schuld" wir nach dieser Auffassung nicht bzw. - je nach Akzentierung - nicht nur normativ, sondern - zumindest auch - als psychische Realität verstanden. Im Unterschied zu "äußeren", öffentlich beobachtbaren Tatsachen seien derartige innerseelische Ereignisse nur demjenigen zugänglich, in dem sie sich abspielten. Das hierdurch aufgeworfene Problem, wie Fremdpsychisches erkannt werden kann, muß konsequenterweise dahingehend beantwortet werden, daß jeder Mensch seine eigenen innerseelischen Vorkommnisse auf andere Menschen übertrage, wodurch Begriffe wie "Schuld" ein sinnvoller Bestandteil der öffentliche Sprache seien.


Realistische Semantik

Die Autoren, die WITTGENSTEIN für die juristische fruchtbar gemacht haben, stimmen darin überein, daß aus seiner Sprachtheorie die Unhaltbarkeit einer realistischen Semantik folgt, nach der die im Normtext verwendeten Zeichen für eine außersprachliche Wirklichkeit stehen, von der ihre Bedeutung bestimmt wird. Unterstellt, diese Annahme träfe zu, wäre die Aufgabe des Norminterpreten  theoretisch  einfach zu bestimmen. Er müßte die objektiv vorgegebene Bedeutung eines Normtextes "als solchen" herausfinden und sie auf einen Sachverhalt beziehen.

Die Rechtsfindung ließe sich als Erkenntnisakt beschreiben, bei welchem dem Richter eine bloß passive Rolle zukommt. Auslegung und Rechtsfortbildung ließen sich nach diesem Modell klar voneinander abgrenzen, je nachdem, ob sich eine Entscheidung an die objektiv vorgegebene Bedeutung der Norm hält oder nicht. Wie SCHIFFAUER treffend analysiert hat, erweist sich diese Konzeption in der  Praxis  aber als unbefriedigend, da in den problematischen Fällen keine tauglichen Kriterien existieren, die angeben, wann eine Wortverwendung unter einen Begriff fällt und wann nicht. Eine Entscheidung hierüber ist mithin spekulativ, sie ist eine Frage der "Wesensschau", weshalb die - möglicherweise verschiedenen - Meinungen, die sich bilden, rational nicht diskutierbar sind.

Sämtliche der im vorliegenden Zusammenhang auf WITTGENSTEIN rekurrierenden Autoren unterstellen ohne weiteres, daß der vorherrschenden Methodenlehre - zumindest implizit - die eben skizzierte realistische Semantik zugrundeliegt. Es stellt sich die Frage, ob diese Gegenposition gegenwärtig tatsächlich vertreten wird. Ein vereinfachender und typisierender Blick auf die Geschichte der Methodenlehre zeigt, daß sich die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von BINDING, KOHLER und WACH begründete objektive Auslegungslehre ursprünglich auf eine realistische Semantik stützte. Diese Methode entstand aus der Unzufriedenheit mit der Starre der bis dahin dominierenden subjektiven Auslegungslehre, die das Ziel der Gesetzesinterpretation in der Ermittlung des Willens des historischen Gesetzgebers sah.

Um eine flexible und zeitgerechte Gesetzesauslegung zu gewährleisten, sollte nicht mehr die vom Urheber intendierte, sondern eine unabhängig davon bestehende, "objektive" Bedeutung des Gesetzes die rechtlich maßgebende sein. Das Ziel der Auslegungsbemühungen sollte demnach die Klarstellung des vernünftigen Sinnes des Gesetzes als eines "geistigen Organismus" sein. Diese Vorstellung stand sprachphilosophisch auf einer begriffsrealistischen Grundlage, die ihren klassischen Ausdruck in folgender Formulierung THÖLs fand:
    Mit dem Momente der Gesetzespublikation ... verschwindet mit einem Schlage der ganze Unterbau von Absichten und Wünschen des geistigen Urhebers des Gesetzes, ja das ganze Gesetz ruht von nun an auf sich, gehalten durch die eigene Kraft und Schwere, erfüllt von eigenem Sinn.
Die Worte des Gesetzes als solche wurden als "Träger von etwas Geistigem" angesehen, den "Begriffen" des Volkes wurde ein eigener Wille zugesprochen, der auch in den Gesetzen ruhe.
    "Was aber in Wahrheit das Gesetz denkt, also auch will, darüber entscheidet nach seiner Publikation kein persönlicher Wille mehr. Das Gesetz denkt und will, was der vernünftig auslegende Volksgeist aus ihm entnimmt." (BINDING)
Im 20. Jahrhundert hat in dem Streit um das richtige Auslegungsziel trotz einiger Wiederbelebungsversuche der subjektiven Auslegung die objektive Methode eine beherrschende Stellung erlangt. Man wir insbesondere die folgende, vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung vertretene Formel im Sinne der objektiven Auslegung zu interpretieren haben:
    "Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist."
Es bleibt zwar dunkel, was man sich unter dem "objektivierten Willen des Gesetzgebers" vorstellen soll. Klar erscheint jedoch, daß es sich um etwas handeln muß, das sich vom Willen des historischen Gesetzgebers unterscheidet.

Die begriffsrealistischen Vorstellungen, auf die sich die objektive Auslegungslehre einst gründete, können aber als überholt angesehen werden, was nicht zuletzt dem Einfluß der Analysen HARTs und ESSERs zur offenen Strukur des Rechts bzw. zur Vorverständnisproblematik zu verdanken sein dürfte. In keinem der aktuellen Lehrbücher der juristischen Methode wir die These vertreten, daß durch die in einem Normtext verwendeten Begriffe "als solche" die Bedeutung einer Norm dem Richter objektiv vorgegeben ist.

Statt dessen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß nicht das Gesetz klüger ist als der Gesetzgeber, sondern allenfalls der Gesetzesinterpret bzw. die Gemeinschaft der Gesetzesinterpreten. Wenn z.B. Befürworter der objektiven Auslegungslehre wie LARENZ und ZIPPELIUS im Anschluß an NICOLAI HARTMANN Gesetze ebenso wie andere Geisteswerke der Seinsschicht des objektiven Geistes zurechnen, so wird hierunter nicht eine außerhalb der konkreten Wirklichkeit existierende und dieser vorgegebenen Atmosphäre verstanden, sondern es sind damit die in der Rechtsgemeinschaft akzeptierten und von ihr gestalteten Vorstellungen gemeint.

Der "Wille des Gesetzes" wird, sofern hierunter etwas vom "Willen des Gesetzgebers" Abweichendes verstanden wird, nach dieser Auffassung nicht passiv erkannt, sondern von der Interpretationsgemeinschaft konstitutiv ermittelt. Gesetzestexten werden Bedeutungen zugeordnet, die z.B. auf Prinzipien der Rechtsordnung, auf Gerechtigkeitsvorstellungen oder auf Folgenerwägungen gestützt werden. Insofern ist der "Wille des Gesetzes" identisch mit dem Willen des Gesetzesinterpreten bzw. der Interpratationsgemeinschaft. Dies dürfte kaum ernsthaft bestritten werden.
LITERATUR - Manfred Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik - Zum Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie, Baden-Baden 1995