cr-4tb-2P. KampitsE. LeinfellnerR. HallerM. HerbertTractatus    
 
PETER KAMPITS
Ludwig Wittgenstein
oder die Welt als Sprache


"Der Philosophie wird Schweigen auferlegt. Aber es ist dies kein leeres, nichtssagendes Schweigen."

Es fällt schwer, zu entscheiden, ob sein Leben ungewöhnlicher, ja bizarrer verlief als das Schicksal seines Werkes. Von vielen als der größte Revolutionär der Philosophie des 20. Jahrhunderts bezeichnet, fand er - zumindest in Österreich - zu seinen Lebzeiten wenig Beachtung.

Er war kein akademisch gebildeter Philosoph und brachte es dessenungeachtet zum Philosophieprofessor in Cambridge. Er stammte aus einer Großindustriellenfamilie und brachte mehrere Jahre als Volksschullehrer in kleinen niederösterreichischen Dörfern in der Buckligen Welt zu, arbeitete als Gärtner, baute und entwarf für seine Schwester in Wien ein Haus, das erst in letzter Minute vor der Spitzhacke gerettet werden konnte, und zählt zu den wohl am meisten kommentierten Philosophen der Gegenwart.

Amerikanische Zeitungen sprechen heute bereits von einer WITTGENSTEIN INDUSTRY!, während er selbst die Befürchtung hegte, alles, was er säen würde, wäre ein gewisser Jargon. Er war davon überzeugt, daß die Philosophie alles so lasse, wie es ist, und wird doch heute sogar marxistisch zu interpretieren versucht. Er war ein scharfer Logiker und Mathematiker und dennoch der Auffassung, daß unsere Lebensprobleme auf einer ganz anderen Ebene liegen.

Selbst als Fellow in Cambridge zog er die Lektüre von Kriminalromanen denen philosophischer Zeitschriften vor und lief nach seinen Vorlesungen erschöpft in irgendein Kino. Er verzichtete zugunsten seiner Geschwister auf ein Millionenerbe, zog sich immer wieder in die Einsamkeit norwegischer Fjorde, irischer Fischerdörfer oder auf die Landsitze der Familie zurück, rastlos arbeitend, und meldete sich freiwillig bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Kriegsdienst. Die Frage, ob er homosexuell war und deshalb unter tiefen Schuldgefühlen litt, beschäftigt bis heute die zuständige Forschung, ebenso seine Neigung zum Selbstmord, die ihn vornehmlich in seiner Jugend immer wieder begleitete.

Der wohl berühmteste, immer wieder gern zitierte Schlußsatz seines Buches "Tractatus logico-philosophicus": "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen", hatte für ihn selbst existenzielle Konsequenzen. 1889 als Sohn des "österreichischen Krupp", des Großindustriellen KARL WITTGENSTEIN, geboren, verbringt er äußerlich betrachtet eine völlig unbeschwerte Jugend.

Einem kunstsinnigen Elternhaus entstammend - sein Vater finanzierte unter anderem die Wiener Sezessionisten, von KLIMT stammt auch das berühmte Porträt der Schwester LUDWIGs, MARGARETE STONBOROUGH; BRAHMS, MAHLER, WALTER und CASALS zählten zu den ständigen Gästen des Hauses -, studierte er nach dem Besuch der Realschule in Linz Ingenieurwissenschaften und Aeronautik. Über die Technik gelangte WITTGENSTEIN zur Mathematik und schließlich zur Logik, wobei er auf Anraten FREGEs nach Cambridge ging, um bei RUSSELL und MOORE zu studieren.

Während des Ersten Weltkrieges plagte er sich mit der Niederschrift jenes Werkes herum, das später seinen Weltruhm begründen sollte: mit dem "Tractatus logico-philosophicus", las aber zugleich fieberhaft TOLSTOI, DOSTOJEWSKI und das Evangelium. Nach langer Odyssee, die unter anderem auch zu einer Abkühlung seiner Beziehungen zu RUSSELL führte, erschien der "Tractatus" schließlich 1921, nachdem WITTGENSTEIN vergeblich versucht hatte, das Buch im Brennerverlag LUDWIG von FICKERs unterzubringen.

WITTGENSTEIN selbst hat dieses rätselhafte, zwischen logisch-mathematischem Scharfsinn und orakelhaften, grüblerisch-mystischen Sätzen schwankende Werk, das von mathematisch -logischen Formeln nur so strotzt, seinem Sinn nach als ethisch bezeichnet:
    "Mein Werk", heißt es in einem Brief an LUDWIG von FICKER, "besteht aus zwei Teilen: aus dem, was hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der wichtigste. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt, und ich bin überzeugt, daß es streng nur so zu begrenzen ist. Kurz, ich glaube, alles das, was viele heute schwefeln, habe ich in meinem Buch festgelegt, indem ich darüber schweige."
Gleichzeitig fordert WITTGENSTEIN am Ende dieses Buches, das nach KARL POPPER auf den "Wiener Kreis" wie eine Bombe gewirkt hat, den Leser auf, seine Sätze als unsinnig zu erkennen, sie zu überwinden, um die Welt richtig zu sehen.

Was hat es nun wirklich mit diesem knapp 115 Seiten starken Werk auf sich, von dem man sagt, es habe jenen berühmten "linguistic turn" in der Philosophie eingeleitet der die Sprache zum Kardinalthema der Philosophie macht?

Gewiß, WITTGENSTEIN schlägt einen Weg ein, der für das traditionelle Philosophieren mehr als ungewöhnlich ist. Trotz des Namens "Tractatus" ist dieses Buch keine Abhandlung, es entwirft kein System, entfaltet keine Lehre, sondern negiert eigentlich die Philosophie als Philosophie. Getreu dem selbstauferlegten Gebot, "nichts zu sagen, als was sich klar sagen läßt", oder der schon im Vorwort ausgesprochenen Feststellung, die philosophischen Probleme beruhten auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache, bestimmt er Philosophie als eine Tätigkeit, deren Resultat nicht "philosophische Sätze", sondern nur das Klarwerden von Sätzen sein könne.

Das klingt ganz nach dem Geschmack des "Wiener Kreises" und dessen antimetaphysischer Grundeinstellung. Aber WITTGENSTEIN legt seinen Überlegungen im "Tractatus" etwas zugrunde, das über dieses Programm weit hinausgeht. Man kann sagen, daß die Sprachkritik Wittgensteins eine Art Ontologie impliziert, zumindest die Intention, das zur Sprache zu bringen, was ist. In einer Tagebuchaufzeichnung zur Zeit der Entstehung des "Tractatus" formuliert WITTGENSTEIN:
    "Meine ganze Arbeit besteht darin, das Wesen des Satzes zu erklären. Das heißt, das Wesen aller Tatsachen angeben, deren Bild der Satz ist, das Wesen allen Seins angeben."
WITTGENSTEIN geht dabei von der Voraussetzung aus, daß Sprache, Denken und Welt zueinander in einer abbildenden Beziehung stehen, daß der Gedanke und der Satz ein Bild der Wirklichkeit geben. Freilich ist dies nicht im Sinne einer Photographie gemeint, sondern beruht auf einer Strukturgleichheit, die zwischen Tatsachen, Gedanken und Sätzen besteht. WITTGENSTEIN nennt den Satz darum ausdrücklich "ein Bild der Wirklichkeit".

Freilich kann nun ein Satz auch ein falsches Bild der Wirklichkeit darstellen. Darum sucht WITTGENSTEIN nach Kriterien, die es erlauben, falsche und wahre Sätze ebenso zu unterscheiden wie sinnvolle und unsinnige. Er findet sie auf dem Wege einer analytischen Zergliederung unserer Sprache.

Die komplexen Sätze unserer Sprache, denen die komplexen, zusammengesetzten Sachverhalte entsprechen, müssen auf ihre einfachste Form zurückgeführt werden, auf das, was WITTGENSTEIN dann als Elementarsätze bezeichnet. Elementarsätze stellen die Verbindung von Namen dar und reichen bis zur Wirklichkeit. Kann man nun ihre Wahrheit oder ihr Falschsein feststellen, dann kann mit Hilfe der inzwischen zum klassischen Repertoire der Logik zählenden Theorie der Wahrheitsfunktionen die Wahrheit oder Falschheit von komplexen Sätzen enthüllt werden.

Der wahre Elementarsatz - für den WITTGENSTEIN allerdings sich selbst als unfähig erklärt, Beispiele anzugeben - reicht bis zur Wirklichkeit und berührt sie. Die Summe aller wahren Elementarsätze, die das Bestehen eines Sachverhaltes behaupten, beschreiben nach WITTGENSTEIN die Welt vollständig. Freilich fallen Wahr- und Falschseinkönnen des Satzes nicht unmittelbar mit seinem Sinn zusammen. Denn das, was der Satz sagt, muß nach WITTGENSTEIN wohl unterschieden werden von dem, was er zeigt. Darauf legt WITTGENSTEIN großen Nachdruck, wie etwa auch ein Brief an BERTRAND RUSSELL zeigt:
    "Nun befürchte ich, daß Du meine These nicht recht verstanden hast, im Vergleich zu der die ganze Angelegenheit der logischen Sätze nur eine Begleiterscheinung ist. Das Wichtigste ist die Theorie von dem nicht durch Sätze, d.h. durch Sprache Ausdrückbaren, sondern nur Zeigbaren; dies halte ich für das Kardinalproblem der Philosophie."
Damit steht WITTGENSTEIN gewissermaßen in der Herzmitte seines eigenen Unternehmens, sinnvolle Sätze von unsinnigen, Aussagen der Empirie oder Naturwissenschaft von denen der Philosophie im traditionellen Verständnis, das heißt als Metaphysik, zu unterscheiden. Wo der "Tractatus" einerseits als ein Buch gelesen werden kann, in dem messerscharf eine Art Unsinnsverdikt über nicht auf Tatsachen oder Sachverhalte bezogene Sätze gefällt wird, ist er sich andererseits wohl der Voraussetzungen bewußt, die dieses Verdikt erst ermöglichen:
    "Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann das nicht darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemeinsam haben muß, ums sie darstellen zu können: Die logische Form."
Was der Satz also sagt, was er über die Wirklichkeit, die Tatsachen feststellt, und was er zeigt, nämlich seinen Sinn, fallen auseinander. Während die logischen Positivisten des "Wiener Kreises", vor allem der radikal antimetaphyisch eingestellte CARNAP, Wahrheits- und Sinnkriterium zusammenfallen ließen, denkt WITTGENSTEIN differenzierter. Wohl versucht auch er die Sätze der Philosophie als unsinnig zu entlarven, wohl ist auch für ihn der Versuch, das zu sagen, was sich eigentlich sagen läßt, zum Scheitern verurteilt, aber er gibt sich darüber Rechenschaft, daß wir die Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem nur ziehen können, wenn wir sie gewissermaßen überschreiten.

Denn es gibt gleichwohl Unaussprechliches: "Dies zeigt sich, es ist das Mystische." Es ist sicher nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß für WITTGENSTEIN der Versuch im Vordergrund stand, ständig gegen die Grenzen der Sprache anzurennen. Einerseits hat er im "Tractatus" eine klare Grenze zwischen demjenigen zu ziehen versucht, was gesagt werden kann - die Betonung des abbildenden Charakters der Sprache und die Theorie der Wahrheitsfunktionen legen davon Zeugnis ab - und was wir nich mehr sagen können, ohne uns in Unsinniges zu verlieren; andererseits ist sich WITTGENSTEIN völlig im klaren darüber, daß unsere eigentlichen Probleme damit keineswegs gelöst sind.

Er behauptet wohl, daß die Wahrheit der in diesem Buch niedergelegten Gedanken als definitiv anzusehen sei, ist sich aber darüber klar, daß damit keineswegs das, was die Philosophie beunruhigt und umtreibt, anvisiert worden ist:
    "Ich bin also der Meinung, die Probleme im wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß die Probleme gelöst sind."
Der Philosophie wird im Grund genommen für jene Fragen, die sie durch zwei Jahrtausende beschäftigt hatten, Schweigen auferlegt. Aber es ist dies kein leeres, nichtssagendes Schweigen. Sosehr WITTGENSTEIN überzeugt ist, daß die Grenzen der Sprache mit den Grenzen der Welt zusammenfallen so sehr beunruhigt ihn zugleich gerade dasjenige, was diese Grenzen übersteigt. WITTGENSTEIN weiß auch genau, daß bei strikter Anwendung seines eigenen Sinnkriteriums sich die Sätze des "Tractatus" selbst als unsinnig enthüllen würden:
    "Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinaus gestiegen ist."
Wie stark WITTGENSTEIN neben seinen Bemühungen, die innere Sprachlogik in ihrer Beziehung auf die Welt, das Insgedamt der Tatsachen, aufzuweisen, von dem, was er selbst Lebensprobleme nennt, umgetrieben wurde, zeigen nicht allein seine Tagebücher und Briefe, sondern auch viele Passagen des "Tractatus" selbst. Gewiß bleiben nach seinem eigenen Sinnverdikt Sätze der Ethik oder metaphysische Fragestellungen im traditionellen Sinn aus der Philosophie ausgeschlossen.

Sie sind etwas, was sich nicht sagen läßt, worüber wir schweigen müssen. Er geht aber selbst hart an die Grenze dieses Sinnverdiktes, wenn er beispielsweise formuliert:
    "Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert."
Darum lassen sich Sätze der Ethik nicht aussprechen:
    "Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. Die Ethik ist transzendental."
WITTGENSTEINs Sprachauffassung führt zu einer Deutung der Welt, die in sich gleichsam als statisch verstanden werden muß:
    "Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen, nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann."
Darum kann WITTGENSTEIN, dem es immer auch um eine Selbstrechtfertigung des Lebens geht, sagen:
    "Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen."
Denn das glückliche Leben rechtfertigt sich von selbst als das richtige Leben.

Daß WITTGENSTEIN in diesen Jahren ein glückliches Leben geführt habe, läßt sich hingegen kaum behaupten. Sein Streben nach einer auch ethisch verstandenen Vollkommenheit und Reinheit, das er etwa mit einem OTTO WEININGER teilte oder mit dem existentiellen Ernst eines FERDINAND EBNER, brach sich immer wieder an seiner vermeintlichen oder echten Unzulänglichkeit.

Nicht nur, daß es mehr als schwierig war, mit WITTGENSTEIN auszukommen - BERTRAND RUSSELL weiß davon ein Lied zu singen -, immer wieder verdüsterte sich auch seine Stimmung bis hin zu Selbstmordgedanken. Seine Schwester HERMINE äußert sich bekümmert über den Zustand ihres Bruders nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft (und damit nach der Abfassung des "Tractatus"):
    "Ich hätte lieber einen glücklichen Menschen zum Bruder als einen unglücklichen Heiligen! Denn bei einem Heiligen weiß man nie, wie es weitergeht!"
WITTGENSTEIN machte mit seiner im "Tractatus" geäußerten Grundeinstellung ernst. Das Schweigen transformierte sich in eine Abstinenz von aller Philosophie und auch in Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Sicherheiten. Nach dem Verzicht auf sein Erbe tritt der Dreißigjährige in eine Lehrerbildungsanstalt ein und wird, nach einem kurzen Intermezzo als Gärtnergehilfe, Volksschullehrer in kleinen niederösterreichischen Dörfern.

Besonders glücklich hat er auch in dieser neuen Umgebung und unter diesen geänderten Verhältnissen nicht agiert: Zwar führte er eine Menge von Abwechslungen im Unterricht ein, indem er die Kinder auch handwerklich beschäftigte, mit ihnen Tierskelette präparierte und aus den Aufsätzen der Schüler eine Sammlung von häufig gebrauchten Wörtern anlegte, das spätere "Wörterbuch für Volksschulen", das 1926 veröffentlicht wurde - bald aber führte seine nervöse und gelegentliche überreizte Art zu Zerwürfnissen.

Die biederen Dorfbewohner waren von seiner Fähigkeit, die Nähmaschinen der Bäuerinnen oder die Dampfmaschine einer kleinen nahegelegenen Fabrik reparieren zu können, mehr beeindruckt als von seinen Fähigkeiten als Lehrer. Nach einer unglücklichen Ohrfeigenaffäre, bei der ein Schüler in der Folge ohnmächtig zusammenbrach, reichte WITTGENSTEIN um seine Entlassung ein. Aus jener Zeit stammt auch die Passage aus einem Brief an BERTRAND RUSSELL:
    "Du hast recht: nicht die Trattenbacher allein sind schlechter als alle übrigen Menschen, wohl aber ist Trattenbach ein besonders minderwertiger Ort in Österreich und die Österreicher sind - seit dem Krieg - bodenlos tief gesunken, daß es zu traurig ist, davon zu reden!"
Nach Wien zurückgekehrt, entwirft er für seine Schwester ein Haus, das in seiner asketischen Sachlichkeit und Schmucklosigkeit an ADOLF LOOS erinnert und von seiner Konzeption her auch als "hausgewordene Logik" empfunden werden konnte.

Inzwischen hatte sich vor allem der "Wiener Kreis" für den "Tractatus" zu interessieren begonnen, und MORITZ SCHLICK versuchte WITTGENSTEIN zu den Diskussionsrunden des Kreises zu gewinnen. WITTGENSTEIN blieb allerdings zurückhalten, gelegentlich verblüffte er die Mitglieder des Kreise auch durch das Vorlesen von Gedichten anstelle philosophischer Diskussionen. Nur mit SCHLICK und FRIEDRICH WAISMANN kam es zu näheren Kontakten.

Die den "Wiener Kreis" international bekannt machende Schrift "Wissenschaftliche Weltauffassung - Der Wiener Kreis", die 1929 erschien, veranlaßte WITTGENSTEIN zur Bemerkung:
    "Eben weil SCHLICK ein nicht gewöhnlicher Mensch ist, so verdient er, daß man sich davor hütet, ihn und die Wiener Schule, deren Exponent er ist, in 'guter Absicht' durch Großsprecherei lächerlich zu machen ... Absage an die Metaphysik! Als ob das was Neues wäre. Was die Wiener Schule leistet, muß sie zeigen, nicht sagen ..."
1929 kehrte WITTGENSTEIN nach Cambridge zurück und nahm seine philosophische Arbeit wieder auf. Zwar verließ er in der Folge die Grundpositionen des "Tractatus" - im Vorwort zu seinem späten Werk "Philosophische Untersuchungen" spricht er sogar von "schweren Irrtümern" in seinem früheren Denken -, seine sprachkritische Intention blieb erhalten. Philosophie hat den Sinn von Sätzen zu klären, sie hat weiterhin die Funktion einer Kritik der Sprache, aber WITTGENSTEIN verläßt nun die Orientierung am abbildenden Charakter der Sprache, an der Theorie der Elementarsätze und der Namen-Gegenstands -Beziehung in bezug auf die Bedeutung.

Zwar gilt, daß die "Philosophie ein Kampf ist gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache". Sie hat grundsätzlich eine klärende, ja nachgerade therapeuthische Aufgabe:
    "Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen."
WITTGENSTEIN wendet sich in seinem Spätwerk von der logischen Analyse der Sprache ab und stellt jetzt die Alltagssprache in den Mittelpunkt. Damit wird er in dieser Phase zum Ahnherrn der sogenannten "Ordinary language theory", deren Bedeutung vornehmlich im anglo-amerikanischen Bereich unvermindert anhält:
    "Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück."
Die Philosophie, meint WITTGENSTEIN nun, darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache nicht antasten, sie könne ihn nur beschreiben:
    "Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles, wie es ist."
In Cambridge arbeitete WITTGENSTEIN, der inzwischen mit seinem "Tractatus" den Doktorgrad erworben hatte, rastlos weiter. Zunächst als Fellow, dann ab 1939 als Professor trug er seine Gedanken in Vorlesungen vor, die freilich gewaltig vom üblichen akademischen Lehrbetrieb abwichen. WITTGENSTEIN saß, umgeben von seinen Jüngern, in düster-feierlicher Atmosphäre auf einem einfachen Holzsessel, er sprach stets frei, nicht ohne gelegentlich in minutenlanges Schweigen zu versinken.

Wenn ihm eine Antwort seiner Gesprächspartner mißfiel, konnte er äußerst ungehalten werden. WITTGENSTEIN hat zeitlebens mit der Philosophie gerungen, sein Denken war gewissermaßen ein unablässiger Versuch, die Philosophie und sich selbst zur Ruhe zu bringen:
    "Die eigentliche Entdeckung ist, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. Die die Philosophie selbst zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellt",
formuliert er einmal in den "Philosophischen Untersuchungen". Oder an anderer Stelle heißt es:
    "Der Philosoph behandelt eine Frage wie eine Krankheit."
Schließlich greift er auch zu einem Bild:
    "Was ist dein Ziel in der Philosophie? - Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen."
Die in diesen Jahren entwickelte Spätphilosophie gipfelt in der Theorie der Sprachspiele. WITTGENSTEIN stellt sie im Absprung von der Forderung nach der Kristallreinheit der Logik dar und bezieht dabei die Mannigfaltigkeit der sprachlichen Möglichkeiten und Verwendungen in seine Überlegungen ein. Es geht darum,
    "radikal mit der Idee zu brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck, Gedanken zu übertragen - seien dies nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse oder was immer."
Dem stellt WITTGENSTEIN die verschiedenen Möglichkeiten gegenüber, Zeichen, Sätze, Wörter zu verwenden. Die vermeintliche Wesensgleichheit etwa von allgemeinen Begriffen weicht dem, was WITTGENSTEIN die Familienähnlichkeit des in verschiedenen Zusammenhängen stehenden Wortes nennt. Ähnlich wie Spiele in Ball-, Karten-, Brett- und andere Spiele eingeteilt werden können, lassen sich je nach Verwendung der Wörter unzählige solcher Sprachspiele ausdenken.

Erst im Zusammenhang dieses Sprachspiels, das ein für sich geordnetes, nach bestimmten Regeln ablaufendes Ganzes ist, kann der Sinn oder die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung erschlossen werden. Die den "Tractatus" leitende Vorstellung der Funktion der Benennung durch die Sprache zeigt sich so als nur eines der möglichen Sprachspiele:
    "Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel, Schrauben. So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter."
Damit verschiebt sich aber auch die Frage nach der Bedeutung, die WITTGENSTEIN ursprünglich in seiner atomistisch orientierten Name-Gegenstands -Beziehung angesiedelt hatte. Jetzt ist es die Verwendung, der Gebrauch, der zur Instanz für die Bedeutung wird:
    "Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes 'Bedeutung' - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache."
Wie wir ein Wort innerhalb eines bestimmten Sprachspieles gebrauchen, das bestimmt nun seine Bedeutung, die nicht vom Kontext des jeweiligen Sprachspieles abgelöst werden kann. WITTGENSTEIN weist aber auch hier jede Letztbegründung entschieden zurück. Es hat keinen Sinn, immer weiter nach Erklärung zu heischen, im Gegenteil:
    "Alle Erklärung muß fort und nur Beschreibung an ihre Stelle treten ... Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als Urphänomene sehen sollten. Das heißt, wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt."
Denn zum Sprachspiel gehört nach WITTGENSTEIN auch die Lebensform, inder die Sprachspiele verwurzelt sind, weisen sie auch auf einen Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit, der aller abbildenden Beziehung zwischen beiden vorausliegt.

Von dieser Auffassung aus deutet WITTGENSTEIN Probleme wie die des Verstehens und Meinens, der Privatsprache, der Bewußtseinszustände,d er Empfindungen und vieles andere mehr. Freilich hat er auch hier nie die ethischen und religiösen Fragestellungen aus dem Blick verloren. Das, was sich nicht sagen läßt, das Unaussprechliche, ist auch hier der geheime Impetus (Antoß) seines Denkens:
    "Das Unaussprechbare gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt."
Gelegentlich nähert sich WITTGENSTEIN in seinen Hinweisen auf die Bedeutung und Kraft der Sprache sogar einem FERDINAND EBNER oder MARTIN HEIDEGGER, wenn er etwa der Sprache als Sprache bereits entscheidende Sinvoraussetzung zuerkennt:
    "Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik ..." Oder: "Die Sprache muß für sich selber sprechen."
Bei Ausbruch des Krieges leistet er als bereits britischer Staatsbürger und Professor in Cambridge freiwilligen Hilfsdienst in einem Londoner Spital. Schwer erkrankt, treibt es ihn immer wieder in die Einsamkeit irischer Küsten. 1951 starb WITTGENSTEIN an Krebs. Seine letzten Worte waren: "Sagen Sie ihnen, daß ich ein wundervolles Leben gehabt habe."

Man kann die Wirkungen WITTGENSTEINs auf die philosophische Szene des 20. Jahrhunderts kaum überschätzen, auch wenn die inzwischen etablierte "WITTGENSTEIN INDUSTRY" mit ihrer Neigung, ihn zu einem Säulenheiligen emporzustilisieren, manches verfälschen mag. Er selbst hätte diese Entwicklung zutiefst verabscheut. Man kann auch über die Berechtigung streiten, mit der zahlreiche Richtungen der Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft sich auf WITTGENSTEIN berufen.

Die Verachtung für alles akademische Philosophieren, für alle scholastischen Grabenkämpfe, die heute in seinem Namen ausgetragen werden, hat er deutlich genug bekundet. Quer zum Zeitgeist plädierte er für die Einsamkeit des Philosophierenden: "Der Philosoph ist nicht Bürger einer Denkgemeinde. Das ist, was ihn zum Philosophen macht."

Überhaupt fühlte sich WITTGENSTEIN in der kulturellen Situation seiner Zeit alles andere als zu Hause. Er stellt sich selbst abseits des "großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation", den er als unsympathisch empfindet, und findet es auch keineswegs
    "unsinnig, zu glauben, daß das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; ... daß an der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und daß die Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft".
Er blieb ein großer Einzelgänger, dessen Auffassung von Philosophie Schule gemacht hat, der aber zugleich in seiner mitunter qualvollen, immer wieder von neuem vollzogenen Denkanstrengung daran erinnert, daß die Mühe des Selberdenkens uns von niemandem abgenommen werden kann. Daß er nicht allein das Thema Sprache zu einem seither nicht mehr zu übersehenden in der Philosophie gemacht hat, sondern daß seine Ansätze und Gedanken über die Philosophie und Sprachwissenschaft hinaus vor allem die österreichische Dichtung der Gegenwart beeinflußt haben - INGEBORG BACHMANN, PETER HANDKE, THOMAS BERNHARD sind nur einige Beispiele -, hätte ihn sicher amüsiert.

Heute beziehen sich unzählige Sprach-, Kommunikations- und Sozialisationstheorien auf WITTGENSTEIN. Komponisten haben den "Tractatus" vertont, jährlich erscheinen beängstigend viele Bücher über WITTGENSTEIN. Sein Nachlaß wird minutiös durchforstet und in allen Details herausgegeben. Er hat nicht allein in Amerika eine Welle der Beschäftigung mit der österreichischen Kultur und dem österreichischen Geist der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit ausgelöst, sondern ist zu einer Art Kultfigur der Gegenwartsphilosophie geworden.

Dieser große österreichische Sprachdenker, der nicht über die Sprache, sondern letztlich wie sein Antipode FERDINAND EBNER aus der Sprache heraus gedacht hat, der immer wieder am Versuch scheiterte, nur das zu sagen, was sich klar sagen läßt, war sich hingegen der Fragwürdigkeit aller sogenannten Revolutionen, nicht nur in der Philosophie, wohl bewußt. Nicht zufällig hat er seine "Philosophischen Untersuchungen" mit dem Ausspruch eines anderen Österreichers, der auf seine Art ein großer Philosoph war, nämlich JOHANN NESTROY, versehen:
    "Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, der er viel größer ausschaut, als er wirklich ist."

LITERATUR - Peter Kampits, Zwischen Schein und Wirklichkeit, Eine kleine Geschichte der österreichischen Philosophie, Wien 1984