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Zum Begriff des Wesens [1/2] Es gibt philosophische Grundbegriffe, deren metaphysischer Charakter sie am weitesten von der realen Basis des Denkens entfernt und deren gleichbleibender Inhalt in den verschiedensten philosophischen Theorien am ehesten die Idee einer "philosophia perennis" zu rechtfertigen scheint. An diesen "höchsten Punkten" der Philosophie setzt sich die geschichtliche Entwicklung weniger in einer Veränderung des Begriffsinhalts als in einer Veränderung der Stellung und Funktion solcher Begriffe innerhalb des jeweiligen Systems durch. Dann zeigt es sich, daß gerade sie ein deutlicher Index für die historische Verwandlung der Philosophie sind als Begriffe, die ihrem Inhalt nach der Faktizität weit näher stehen. Zu solchen Kategorien gehört der Wesensbegriff. Seinen mannigfachen Gestalten liegt als gleichbleibender Inhalt die Abhebung eines Einen wahren Seins von der stets wechselnden Vielheit der Erscheinungen zugrunde. Unter dem Titel "Wesen" wird dieses Sein zum Gegenstand der "eigentlichen", sicheren und gewissen Erkenntnis In der gegenwärtigen Gestalt der Wesenslehre sind die wahren Erkenntnisse, die zur Trennung von Wesen und Erscheinung geführt haben, nicht mehr aufbewahrt, ebensowenig aber in der abstrakten Aufhebung dieser Trennung, wie sie der Positivismus verlangt. Eine Theorie, welche den Wesensbegriff aus der Wissenschaft ausmerzen will, verfällt einem hilflosen Relativismus und fördert so selbst die Mächte, deren rückschrittliches Denken sie bekämpfen will. Der Positivismus kann keine überwindende Kritik der idealistischen Wesenslehre leisten; eine solche bleibt die Aufgabe der materialistischen Dialektik. Bevor diese Aufgabe anzudeuten versucht wird, sollen einige typische Formen der idealistischen Wesenslehre charakterisiert werden. Wo der Wesensbegriff seine erste entscheidende philosophische Formulierung gefunden hat: in der platonischen "Ideenlehre", war er eine Antwort auf die Frage nach der Einheit und Allgemeinheit des Seins gegenüber der Mannigfaltigkeit und dem Wechsel des Seienden. Daß die Dinge, obwohl jedes ein "Individuum"; doch aneinander gleich und ungleich, ähnlich und unähnlich sind, daß sie in der endlosen Vielheit ihrer Bestimmungen als selbig-eine begriffen werden, daß ganz verschiedene Phänomene darin übereinkommen, als gut, schön, recht, unrecht usw. zu gelten, - kurz: daß das Seiende sich in Gattungen und Arten spaltet, unter höchsten Kategorien sich ordnet, unter Allgemeinbegriffen erkannt wird, das ist der philosophische Tatbestand, welcher der Frage nach dem Wesen zugrunde liegt. Sie wird hier nicht als ein Problem der reinen Erkenntnis gestellt. Indem vielmehr die Einheit in der Vielheit, das Allgemeine als das Wesen, als das wahrhaft Seiende gefaßt wird, gehen kritisch-ethische Motive in den Wesensbegriff ein. Die Bestimmungen dieses Wesensbegriffs deuten somit keineswegs auf einen primär logischen oder erkenntnistheoretischen Sachverhalt. Bei aller Beruhigung der kritischen Spannungen des Wesensbegriffs hat die thomistische Philosophie doch daran festgehalten, daß die Differenz von Wesen und Dasein einen Sachverhalt am Seienden selbst DESCARTES geht in seinem Versuch einer Neubegründung der Philosophie auf eine absolut gewisse, notwendige und allgemeingültige Erkenntnis aus, und er sucht das Fundament dieser Erkenntnis im Bewußtsein des Individuums, im Ego cogitans. Der DESCARTES leitende Begriff von Theorie ist weitgehend von der mathematischen Naturwissenschaft vorgebildet, aber das erschöpft keineswegs die Bedeutung seines Ansatzes. Warum greift DESCARTES in einer Epoche, wo diese mathematische Naturwissenschaft eben ihre bahnbrechenden Entdeckungen gemacht hatte, wo das Ideal einer "objektiv" gesicherten Erkenntnis und seine Erfüllung in der berechneten und beherrschten Natur so nah wie nie zuvor ereichbar schien, auf die "subjektive" Gewißheit des Ego cogito zurück? Warum steht die Verankerung der Theorie im Bewußtsein der Subjektivität unmittelbar neben seiner mechanistischen Philosophie, neben seiner analytischen Geometrie und seinem Traktat über Maschinen? Die Bedeutung des DESCARTESschen Ansatzes ist deshalb so schwer zu umschreiben, weil er durchaus zwiespältiger Natur ist: Befreiung und zugleich Ohnmacht, Bejahung und zugleich Flucht und Protest des von den mittelalterlichen Ordnungen gelösten Individuums gegenüber dem Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft. Der universale Zweifel, die Forderung einer Ausweisung aller Urteile von der souveränen Vernunft des Individuums, die Aufnahme der Mathematik und Mechanik in die Philosophie sind ein Ausdruck der neuen selbstbewußten Individualität, die mit dem Anspruch auf freie Gestaltung ihrer Lebensbeziehungen, auf Unterwerfungg der Natur und ihres neu erschlossenen Reichtums in die Welt hinaustritt. Ein starker Aktivismus offenbart sich in der programmatischen Verbindung von Theorie und Praxis, die DESCARTES betont: die ihrer Erkenntnis absolut gewisse Theorie soll der Praxis als sicheres Organon dienen. "Il suffit de bien juger pour bien faire, et de juger le mieux qu'on puisse pour faire aussi tout son mieux, c'est-á-dire pour acquérir ... tous les autres biens qu'on puisse acquérir." [um so gut zu urteilen, wie man kann und auch nach seinem Besten zu handeln und zugleich auch alle anderen Güter zu erwerben, die man erwerben kann. - wp] (4) DESCARTES glaubt an eine "philosophie pratique" anstelle der alten "philosophie spéculative", eine praktische Philosophie, "par laquelle, connaissant la force et les actions du feu, de l'eau, de l'air, des astres, des cieux et de tous les autres corps qui nous enviroment ... nous les pourrions employer en même facon á tous les usages auxquels ils sont propres, et ainsi nous rendre comme maîtres et possesseurs de la nature." [durch die wir die Kraft und Wirkungsweisen des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen uns umgebenden Körper ebenso deutlich kennen lernen und die wir auf eben diese Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, anwenden und so zu Herren und Eigentümern der Natur werden könnten. - wp] (5) Aber die Beherrschung der Natur durch rationale Produktionsmethoden, welche die Theorie DESCARTES' vor Augen hat, ist in der ihm vorliegenden Gestalt der gesellschaftlichen Organisation mit der souveränen Vernunft der vergesellschafteten Individuen nicht vereinigt und von ihr nicht geleitet. Das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft kündigt sich an in ihrer Philosophie. Wie das befreite Individuum als Subjekt der Praxis nun faktisch an die Gestaltung seiner Lebensbeziehungen geht, sieht es sich den Gesetzen des Warenmarktes unterworfen, als blinden ökonomischen Mächten, die sich hinter seinem Rücken durchsetzen. Sein erster Schritt: der Anfang seiner Laufbahn kann noch als frei und nur von der eigenen Vernunft diktiert erscheinen; alle anderen Schritte sind ihm durch die Verhältnisse der warenproduzierenden Gesellschaft vorgeschrieben, auf deren Einhaltung es angewiesen ist, wenn es nicht zugrunde gehen will. An die Stelle der durchsichtigen Abhänigigkeitsverhältnisse der mittelalterlichen Ordnung ist ein dem Individuum undurchschaubares System von Abhängigkeiten getreten; die Arbeitsbedingungen verselbständigen sich und machen das Schicksal des Individuums für es zu einer bloßen Zufälligkeit. Die raum-zeitliche Wirklichkeit wird zu einer nur "äußeren" Welt, die mit dem, was der Mensch eigentlich sein kann, mit seiner "Substanz", seinem "Wesen" nicht vernünftig verbunden, Es wird gegenwärtig betont, daß DESCARTES' Ansatz des Ego cogito den Sündenfall der neueren Philosophie bedeute, daß er einen ganz abstrakten Begriff des Individuums Daß diese Freiheit nun eine Freiheit "nur" des Denkens wird, daß nur noch das "abstrakte" Individuum frei ist, Seitdem DESCARTES das Wesen des Menschen als "Denken" und das Denken als "fundamentum inconcussum" [nicht weiter kritisierbare Grundlage - wp] der Theorie bestimmt hatte, rückt das Wesensproblem in die Sphäre der erkennenden Subjektivität. Die Frage nach dem Wesen: nach der Einheit, Wahrheit und Eigentlichkeit des Seins verwandelt sich in die Frage nach der Einheit, Wahrheit und Eigentlichkeit der Erkenntnis. Daß die "Organisation" des Seienden Bei KANT kehren die Charaktere des Wesens: Einheit, Allgemeinheit, Ständigkeit usw. im Zusammenhang der reinen theoretischen Vernunft wieder, und zwar gehen sie teils in die reinen Verstandesbegriffe bzw. in deren transzendentale Apperzeption, teils in die transzendentalen Vernunftideen ein. Sie erscheinen also einmal als die kategorialen Formen der begrifflichen Synthesis, die jeder künftigen Erfahrung gegenüber apriori sind, und andererseits als Begriffe aus reinen Verstandesbegriffen, welche "die Grenze aller Erfahrung übersteigen" und in denen "niemals ein Gegenstand vorkommen kann, der der transzendentalen Idee adäquat wäre." (10) Im ersten Fall ist der kritisch-dynamische Gegensatz des Wesens zur Erfahrung völlig in der zeitlosen Geschichte der Erkenntnis aufgehoben. Im zweiten Fall ist die Aufnahme der Wesensproblematik in die "Vernunft" unmittelbarer und unverdeckter deutlich, - nicht nur deshalb, weil KANT durch die Bezeichnung der Vernunftbegriffe als "Ideen" bewußt an die platonische Wesenslehre anknüpft. Die Vernunft ist der Ort der letzten Einheit, Ganzheit und Allgemeinheit der Erkenntnis: das "Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien" (11); die Idee als reiner Vernunftbegriff geht auf die "Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten": sie ist der "Begriff des Unbedingten." (12) Von diesen Ideen wird nun gesagt, daß sie "vielleicht von den Naturbegriffen zu den praktischen einen Übergang möglich machen." (13) Die seit alters in der Wesenslehre lebendige Frage der Verwirklichung des Wesens zum Dasein wird hier als der Übergang von den Begriffen der theoretischen zu denen der praktischen Vernunft aufs neue zum Problem. KANT hat betont, daß es "ein praktisches Interesse" sei, das die Vernunft an diesen Ideen habe: es gehe in ihnen um die "Grundsteine der Moral und der Religion." (14) Und gerade hier verwickelt sich jenes Denken, dessen Struktur KANT entfaltet, in Paralogismen und Antinomien, in einen "natürlichen und unvermeidbaren Schein", der, "selbst wenn man nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer täuscht." Es kennzeichnet die historische Situation des idealistischen Denkens, daß die "Ideen" als Vernunftbegriffe nun in die Dialektik des transzendentalen Scheins fallen und daß die Dialektik, wo sie innerhalb des Idealismus zuerst wieder auftritt, eine solche des Scheins, So spiegelt sich in dieser Lehre wieder das Schicksal einer Welt, in der die vernünftige Freiheit des Menschen immer nur den ersten Schritt frei tun kann, um dann auf eine unbeherrschte Notwendigkeit zu stoßen, die der Vernunft gegenüber zufällig bleibt. Die einseitig gerichtete Kausalität der Vernunft, die eine Wirkung der empirischen Welt auf das intelligible Wesen des Menschen abschneidet, verfestigt dieses Wesen in einer zukunftslosen Vergangenheit: "Das intelligible Wesen jedes Dings, und vorzüglich des Menschen, ist diesem [dem Idealismus] zufolge außer allem Kausalzusammenhang, wie außer oder über alle Zeit. Es kann daher nie durch irgendetwas Vorhergehendes bestimmt sein, indem es selbst vielmehr allem anderen, das in ihm ist oder wird, nicht sowohl der Zeit, als dem Begriff nach als absolute Einheit vorangeht ..." In der Entwicklung der nach-kantischen Transzendental-Philosophie wird die Verfestigung des Wesensbegriffs durchbrochen und eine dynamische Lehre vom Wesen erreicht. HEGELs Dialektik, in der sich die dynamische Wesenslehre entfaltet, ist in der idealistischen Philosophie nicht weitergebildet worden; ihre Auswirkung gehört einer anderen Richtung des Denkens an und soll später behandelt werden. Wenn HUSSERL die Neubegründung der Wesenslehre unternimmt, so geschieht das zunächst auf dem Boden jener Theorie der transzendentalen Subjektivität, wie sie von DESCARTES bis KANT erarbeitet worden ist. Die Phänomenologie hat allerdings nicht als Transzendentalphilosophie begonnen. Das Pathos rein deskriptiver Wissenschaftlichkeit, von dem die "Logischen Untersuchungen" getragen sind, weiß auf eine innere Verbindung mit dem Positivismus, auch dort wo dieser angegriffen wird. HUSSERL selbst hat HUME als denjenigen in Anspruch genommen, der zuerst mit "der reinen Inneneinstellung DESCARTES' ernst machte." (18) Aber wo die Wesenslehre ins Zentrum der HUSSERLschen Philosophie tritt, da zwingt ihre Ausarbeitung die Phänomenologie immer radikaler auf den Boden des Transzendentalen Apriorismus. Die Stufe der "Logischen Untersuchungen" kann daher hier unberücksichtigt bleiben." HUSSERL bestimmt das Wesen im Gegenzug gegen das individuelle, räumlich-zeitlich daseiende Reale, gegen die "Tatsache", wie sie Gegenstand aller Erfahrungswissenschaften ist: "Der Sinn dieser Zufälligkeit, die da Tatsächlichkeit heißt, begrenzt sich darin, daß sie korrelativ bezogen ist auf eine Notwendigkeit, die nicht den bloßen faktischen Bestand einer geltenden Regel der Zusammenordnung räumlich-zeitlicher Tatsachen besagt, sondern den Charakter der Wesens-Notwendigkeit und damit eine Beziehung auf Wesens-Allgemeinheit hat." Es gehört "zum Sinn jedes Zufälligen ..., eben ein Wesen und somit ein rein zufassendes Eidos zu haben, und dieses steht nun unter Wesens-Wahrheiten verschiedener Allgemeinheitsstufe." (19) Auf den ersten Blick unterscheiden sich diese Bestimmungen in nichts von der traditionellen Fassung des Wesens als "quidditas" [Washeit - wp] und "essentia", wie sie durch die scholastische Formulierung in die Philosophie eingegangen ist. Aber der Zusammenhang, in dem die Phänomenologie mit dem Wesensbegriff arbeitet, ist ein völlig anderer: die Sphäre des von allen auf räumlich-zeitliches Dasein bezüglichen Setzungen "gereinigten" transzendentalen Bewußtseins. In der "Formalen und transzendentalen Logik" hat HUSSERL über sein Verhältnis zu DESCARTES und zur Transzendentalphilosophie Rechenschaft abgelegt. Er sieht bei DESCARTES den Anfang der Transzendentalphilosophie und nimmt diesen Anfang als auch für ihn gültigen an: "daß alle objektive Erkenntnis auf die einzige apodiktische [unumstößliche - wp] Gegebenheit ... des ego cogito gegründet werden müsse." (22) Aber er bezeichnet es als die große "Verirrung", daß DESCARTES in diesem Ego ein "erstes, zweifellos seiendes Endchen der Welt" gesehen und aus ihm die übrige Welt "erschlossen" habe. Eine solche Durchschneidung steht aber programmatisch am Anfang der phänomenologischen Reduktionen. Die räumlich-zeitlichen Tatsachen in ihrer räumlich-zeitlichen Relevanz werden aus dem Bereich der eigentlich phänomenologischen Forschung ausgeschaltet. Als Resultat dieser ersten Reduktion verbleiben die Tatsachen des Bewußtseins, eine Welt, deren Tatsächlichkeit und Fülle "dieselbe" ist wie der "natürlichen" Welt - mit einem sehr entscheidenden Unterschied: der phänomenologische Index modifiziert den Sinn von Tatsächlichkeit derart, daß alle Tatsachen als Tatsachen des intentionalen Bewußtseins gleich-gültig werden; sie haben einen prinzipiell "exemplarischen" Charakter. So wird "die ganze räumlich-zeitliche Welt, der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zurechnen, ihrem Sinn nach bloßes intentionales Sein, also ein solches, das den bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewußtsein hat. Es ist ein Sein, das das Bewußtsein in seinen Erfahrungen setzt, das prinzipiell nur als Identisches von motivierten Erscheinungsmannigfaltigkeiten anschaubar und bestimmbar - darüber hinaus aber ein Nichts ist." (26) Die volle Bedeutung dieses Herabsinkens der Tatsachen zu "Exemplaren" enthüllt sich erst in der phänomenologischen Bestimmung des Verhältnisses von Wesen und Tatsache bei der Wesenserfassung. In der zweiten Reduktion wird Wesensgehalt und Wesensordnung der Bewußtseinstatsachen gegen ihre Tatsächlichkeit abgegrenzt. Hierbei fungieren alle Bewußtseinsvorkommnisse in gleicher Weise als "exemplarisch": die Wesenserklärung kann sowohl aufgrund einer Wahrnehmung wie jeder anderen Art von Vergegenwärtigung erfolgen, - ja bezeichnenderweise gewinnen sogar "freie Phantasien eine Vorzugstellung gegenüber den Wahrnehmungen." (27) Das Wesen ergibt sich als die Invariante innerhalb der unendlich mannigfaltigen Variationen, welche die vergegenwärtigenden Akte an ihrem Gegenstand vornehmen. Die das Wesen gebende Variation wird "in der Freiheit der reinen Phantasie und im reinen Bewußtsein der Beliebigkeit - des "reinen" Überhaupt - vollzogen ..., womit sie sich zugleich in einem Horizont offen endlos mannigfaltiger freier Möglichkeiten für immer neue Varianten hineinerstreckt. in einer derartig völlig freien, von allen Bindungen an im voraus geltende Fakta gelösten Variation stehen nun alle Varianten des offen unendlichen Umfangs - in die auch das von aller Faktizität befreite Exempel selbst, als "beliebiges", einbezogen ist ... in einer kontinuierlich durchgehenden Synthesis der "Deckung im Widerstreit". Eben in dieser Deckung tritt aber das in dieser freien und immer wieder neu zu gestaltenden Variation notwendig Verharrende, das Invariante hervor, das unzerbrechlich Selbige im Anders und Immer-wieder-anders, das allgemeinsame Wesen - an das alle "erdenklichen" Abwandlungen des Exempels ... gebunden bleiben." Diese Stelle, die am tiefsten in den inneren Mechanismus der phänomenologischen Wesenserfassung hineinführt, läßt auch die veränderte Funktion der Wesenslehre am besten erkennen. Alle entscheidenden Begriffe, die in der Lehre vom Wesen seit den Anfängen wirksam waren, treten hier wieder auf, und alle in einer charakteristisch verwandelten Form. Freiheit ist zu einem Index der reinen Phantasie geworden: als die freie Beliebigkeit der ideirenden Variationsmöglichkeiten. Das Verharrende, Selbige, Notwendige wird nicht mehr als das Sein des Seienden gesucht, sondern als die Invariante in der unendlichen Mannigfaltigkeit der vergegenwärtigten Abwandlungen der "Exemplare". Die Möglichkeit ist nicht mehr als Kraft auf die Wirklichkeit hin gespannt: in ihrer offenen Endlosigkeit gehört sie der bloßen "Imagination" an. Das Ego cogito und die ihm erscheinenden Wesen, wie sie Gegenstand der Phänomenologie werden, stehen zu allem tatsächlichen Dasein nicht mehr in kritischer Spannung. Die Phänomenologie ist dadurch eine prinzipiell deskriptive Philosophie: sie will immer nur beschreiben was ist, so wie es ist, wie es sich an ihm selbst zeigt, - nicht etwa zeigen, was sein könnte und sollte. Die theoretische Radikalität, die aus der Forderung "zu den Sachen selbst" herausgehört wurde, enthüllt sich im Fortgang der Phänomenologie in ihrem quietistischen, ja positivistischen Charakter: die "Sachen" der Phänomenologie sind dies erst, nachdem sie ihrer faktischen Sachlichkeit entkleidet und in die "nivellierende" Sphäre der transzendentalen Subjektivität eingegangen sind, vor der jede Sache als Tatsache des Bewußtseins gleich-gültig ist. In dieser Dimension hat die Rede vom Wesen nicht mehr den Sinn, die Wirklichkeit gegen ihre Möglichkeit, das Dasein gegen sein Seinkönnen zu stellen: auch sie hat rein deskriptiven, erkenntnistheoretischen Charakter. Eine Philosophie, der in gleicher Weise "jedes vorgegebene Seiende mit seiner geraden Evidenz als Vorurteil" gilt (30), hat überhaupt keinen Boden mehr, von dem aus sie innerhalb eines solchen Seienden kritisch unterscheiden kann. Die universale Voraussetzungslosigkeit wird hier gleichwertig der universalen Anerkennung. Der Wesensbegriff der Phänomenologie ist so entfernt von jeder kritischen Bedeutung, daß vor ihm das Wesentliche wie das Unwesentliche, das Phantasierte wie das Wahrgenommene gleichermaßen zunächst zu "Tatsachen" werden. Der erkenntnistheoretische Anti-Positivismus dieser Lehre verdeckt nur wenig ihren positivistischen Grundzug. Die Stillstellung der im Wesensbegriff liegenden Dynamik gibt auch den wenigen Resten einer Stellungnahme HUSSERLs zur Erkenntnis der (raum-zeitlichen) Faktizität ihre Prägung. Die formal-erkenntnistheoretische Fassung des Wesensbegriffs läßt die Faktizität als ein in sich geschlossenes Reich "neben" dem Reich der Wesenheiten bestehen: ihre Erkenntnis will an ihr nichts aufheben und nichts ändern; sie will "nur verstehen". "Die transzendente Welt ... wird durch meine phänomenologische Besinnung nicht aufgehoben, entwertet, geändert, sondern nur verstanden ..." (31) Die phänomenologische epoche, die an Radikalität über den DESCARTESschen Ansatz hinausgehen will, enthält eine quietistische Indifferenz gegenüber dem Bestehenden, die hinter DESCARTES zurückfällt. Bei HUSSERL ist aus der Sorge um die Gegenwart die Sorge um die Ewigkeit geworden - die Ewigkeit der reinen Wissenschaft, deren zeitlos-absolute Wahrheit jeder Gegenwart Sicherheit geben soll. Er hält die "geistige Not" unserer Zeit für die "radikalste Lebensnot", Die positivistische Gleichgültigkeit ist jedoch nur die eine Weise, in der sich die veränderte Funktion der Transzendentalphilosophie in der Phänomenologie ausdrückt. Die Phänomenologie ist mit dem radikalen Anspruch eines Neubeginns aufgetreten, und daß sie ausdrücklich wieder vom "Wesen" im Gegensatz zur "Tatsache" Das Opfer der Idee der Vernunftkritik bereitet die Resignation der Wesenslehre, ihr Abgleiten in eine neue Ideologie vor. Die bürgerliche Philosophie hat den archimedischen Punkt verloren, an dem sie die Freiheit des erkennenden Individuums festgemacht hatte; sie hat keinen Boden mehr, auf dem die Waffe der Kritik gegen die Inanspruchnahme bestimmter Sachverhalte und Ordnungen als "wesenhafter" Die Funktion der Wesensanschauung in der materialen Eidetik führt zur Abdankung der kritischen Freiheit der Vernunft, zur Aufhebung ihrer Autonomie. Die Idee der Autonomie der Vernunft war seit DESCARTES mit den fortschrittlichen Tendenzen des Bürgertums verbunden; ihre Einschränkung auf die abstrakte erkennende Vernunft bezeichnet deren Zurücktreten; in der monopolkapitalistischen Epoche wird die Vernunft durch die hinnehmende Anerkennung "wesenhafter" Gegebenheiten ersetzt, bei deren Ausweisung sie anfangs noch eine sehr abgeleitete, später gar keine Rolle mehr spielt. Es ist diese materiale Eidetik, welche der positivistische Angriff gegen den Wesensbegriff vor Augen hat. Die positivistische Opposition gegen die "Metaphysik" der Wesenslehre versteht sich selbst zunächst als eine erkenntnistheoretische Kritik: unsere Erfahrung von der Wirklichkeit (wobei Wirklichkeit keineswegs mit dem unmittelbar Gegebenen zusammenfallen muß) rechtfertige durchaus nicht jene Annahme von zwei seinsverschiedenen "Welten", die dem Gegensatz von Ding und Erscheinung, Wesen und Tatsache zugrundeliegt. "Es gibt keine Tatsache, die zu einer derartigen Gegenüberstellung zweier irreduzibler Realitäten zwänge oder auch nur berechtigte ... Wir gelangen zu einem befriedigenden Weltbild nur dann, wenn wir allem Wirklichen, den Bewußtseinsinhalten sowohl wie allem außerbewußten Sein die gleiche Art und den gleichen Grad von Realität ohne jeden Unterschied zuerkennen. Alle sind im gleichen Sinne selbständig, alle aber auch im gleichen Sinn voneinander abhängig." LITERATUR - Herbert Marcuse, Zum Begriff des Wesens, Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941
1) Die dynamische Gestalt der platonischen Ideenlehre ligt im Sophistes 247ff und im Philebos 23b-27b, unter den hier angedeuteten Zusammenhängen vor. 2) "Die Wirklichkeit ist etwas, was zum Was eines Seienden hinzukommt. Die Existenz ist kein Teil der Realität, sondern kommt hinzu." (THOMAS von AQUIN, Quodlibet 12, a5). - "Aber das kann von Gott nicht wahr sein, weil wir Gott die erste Ursache nennen. Deshalb ist es unmöglich, daß sich Gottes Existenz von seinem Wesen unterscheidet." (THOMAS von AQUIN, Summa Theol. I, qu. 3, a4). 3) Die durch die Stillstehung der kritischen Spannungen der Wesenslehre eingetretene Veränderung wird durch den gewandelten Sinn der in sie eingearbeiteten Begriffe der antiken Ontologie beleuchtet. Das Wesen als solches ist nicht mehr "eigentliches" Sein, sondern reine Möglichkeit. Die Möglichkeit ist gegenüber der Wirklichkeit ein Minderes, ein Mangel. So hatte auch ARISTOTELES das Verhältnis von dynamis und energeia bestimmt, aber das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit war für ihn ein Bewegungsverhältnis; das on dynamei war als vorhandene "Kraft" gefaßt, die in sich selbst zum Wirklichwerden gespannt ist (ARISTOTELES, Metaphysik, 1045b, 33f). - Das Wesen als potentia transzendentalis hingegen ist nicht mehr die "reale Möglichkeit" der "Kraft", und eine Beziehung zur Wirklichkeit ist nicht mehr ein dynamischer Bewegungszusammenhang. 4) DESCARTES, Discours de la Méthode. Oeuvres Choisier, Paris, Garnier, 1930, Bd. 1, Seite 24f 5) DESCARTES, a. a. O., Seite 54 6) DESCARTES, a. a. O., Seite 22 7) DESCARTES, Méditations Métaphysiques, a. a. O., Seite 150 8) HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke, Originalausgabe, Band XVI, Seite 338 9) HEGEL, a. a. O., Seite 336 10) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Werke, Ausgabe CASSIRER, Berlin 1913, Bd. III, Seite 264 11) KANT, a. a. O., Seite 250 12) KANT, a. a. O., Seite 262 13) KANT, a. a. O., Seite 265 14) KANT, a. a. O., Seite 334 15) KANT, a. a. O., Seite 303 16) KANT, a. a. O., Seite 503 und 509 17) SCHELLING, Vom Wesen der menschlichen Freiheit, Werke, Stuttgart 1856f, 1. Abteilung, Bd. 7, Seite 383 18) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band X, Halle 1929, Seite 227. 19) HUSSERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band 1, Halle 1913, Seite 9. 20) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik. In: Jahrbuch für Philosophie etc., Band X, Halle 1929, Seite 237 und 241 21) HUSSERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, a. a. O. Seite 13 22) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, a. a. O., Seite 201 23) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, a. a. O., Seite 202 24) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, a. a. O., Seite 225 25) EUGEN FINK, Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik, Berlin-Charlottenburg, 1934, Seite 20 26) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, a. a. O., Seite 93 27) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, Seite 130 28) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, Seite 219 29) HUSSERL, Méditations Cartésiennes, Paris 1931, Seite 49 30) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, a. a. O., Seite 244 31) HUSSERL, Formale und transzendentale Logik, a. a. O., Seite 243 32) HUSSERL, Philosophie als strenge Wissenschaft, in Logos, Bd. 1, 1910/11, Seite 337 33) HUSSERL, Philosophie als strenge Wissenschaft, a. a. O., Seite 315br> 34) MAX SCHELER, Zur Ethik und Erkenntnislehre (Schriften aus dem Nachlaß, Band I), Berlin 1933, Seite 288 35) SCHELER, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. In HUSSERL, Jahrbuch für Philosophie a. a. O. Band II, Halle 1916, Seite 465 36) SCHELER, Vorbilder und Führer. In: Ethik und Erkenntnislehre, a. a. O., Seite 163f. 37) Eine charakteristische Äußerung von repräsentativer Stelle macht diese Verbindung offenbar: "Wenn die neuere Philosophie sagt, daß die intuitive Wesensschau die unmittelbare Anschauung des Gesetzmäßigen ist, dann findet dieses Eigenschaft in der Persönlichkeit ADOLF HITLERs ihre stärkste Ausprägung ... Der Führer besitzt nicht nur die so unendlich wertvolle Fähigkeit, das Wesentliche in den Dingen zu sehen, sondern auch in hohem Maße den Instinkt zu kühnem, zeitlich richtigem Handeln" (OTTO DIETRICH, Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus, Breslau 1935, Seite 36f). 38) MORITZ SCHLICK, Erscheinung und Wesen. In: Kant-Studien, Bd. 23, Heft 2-3, Berlin 1918, Seite 206 39) SCHLICK, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918, Seite 205 40) SCHLICK, Erscheinung und Wesen, Kant-Studien, Bd. 23, Berlin 1918, Seite 194 |