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ARNOLD METZGER
Der Gegenstand der Erkenntnis
[Studien zur Phänomenologie des Gegenstandes]
[2/2]

"Meist liegt es so, daß das Individuelle in gewisse kategoriale Formen hingestellt ist, die ihm z. B. in der sich ihm zuwendenden Aktivität des urteilenden Subjekts zuwachsen. Es ist nicht das Gebilde, auf das die Vorstellung, dieses Erlebnis in seiner vollen Konkretion genommen, unvermittelt, zeitlich zuerst stößt - wobei wir nebenher darauf aufmerksam machen, daß der Gegenstand der Vorstellung, mit dem wir es allein zu tun haben, selbst schon, auch in der Konkretion genommen, in der ihn die Vorstellung hat, ein abstractum ist, herausgenommen aus der Fülle des erfahrenden Lebens."

"Die Ansicht der abendländischen Metaphysik ging, wenn wir recht sehen, dahin, daß rationale Erkenntnisse, d. h. Erkenntnisse von apriorischen Zusammenhängen von metaphysischer Bedeutung (Geltung) sind, daß, wie es heißt, Erkenntnisse begrifflicher Art den Zugang zu den Dingen, wie sie an sich selbst sind, eröffnen."


III. Das Anfangsmaterial und der
Urgegenstand der Vorstellung

In dem weiten Verstand, in dem wir den Begriff "Gegenstand" eingeführt haben, fallen Gebilde darunter, die sich ihrem deskriptiven Bau nach sehr deutlich unterscheiden. Dinge - sinnlich wahrnehmbare Individuen - sprechen wir als Gegenstand ebenso an, wie Gebilde, die zeitlos gelten: Ideen und die in ihnen gründenden Wahrheiten. Und nicht bloß Individuen, sondern die kategorialen (syntaktischen) Formen selbst, die wir an ihnen finden, wenn wir sie etwa in Beziehung zueinander setzen, unterscheiden, vergleichen usw. Halten wir uns aber an die Individuen selbst, abgesehen von diesen Formen, so finden wir hier den unendlichen Reichtumg von materialen Gestaltungen, von Typen die Mannigfaltigkeiten, betrachtet im Reichtum ihrer letzten Nuancen, dem Reichtum höherer Arten und höchster Gattungen. Unlebendigen, lebendigen, geistigen "Gegenständen" begegnen wir in der Vorstellung. Zunächst liegt offenbar kein Grund vor, irgendwelche Phänomene davon auszunehmen, Gegenstand von Vorstellungen zu sein.

Die Frage liegt auf dem Tisch: für welche Art von Gegenständen, allgemein gesprochen, wollen wir die Untersuchungen über die allgemeine "Form des Gegenstandes vornehmen? Sollen wir individuelle oder nicht-individuelle Objekte zur Unterlage der Betrachtungen nehmen? Können wir aus der Welt des Vorstellbaren irgendein beliebiges, aber offenbar der Gattung nach bestimmtes, sachhaltiges Gebilde nehmen und an ihm die phänomenologisch sich darbietenden Formen studieren? Oder verdient eine gewisse Art von Gegenständen eine aufweisbare Vorzugsstellung?

Der Frage kann offenbar nicht dadurch näher getreten werden, daß wir von außen eine Klassifikation der Gegenstände entwerfen und dabei eine Grund- oder Fundamentalklasse besonders hervorheben, sondern nur insofern, als wir uns an die gewonnene Ausgangsposition haltend, die Einstellung, die wir unter dem Begriff Vorstellung abgegrenzt haben, und das in ihr Gegebene studieren, daß wir also jene faktisch vorliegende Erlebnishaltung betrachten, in der ein Seiendes vorstellig wird, und wir fragen, wie dieses Seiende "ursprünglich" beschaffen ist. Wir werden nämlich, wie sich zeigen wird, das Recht haben, von einem ursprünglich Gegebenen, sozusagen von der Urform des Gegenstandes zu sprechen, der unter allen in der Vorstellung gegebenen Gebilden eine fundamentale Bedeutung zukommt. Der Urformcharakter zeigt sich darin, daß alle anderen Arten von Gegenständen in diesem Urgegenstand "fundiert" sind. Dieser Urgegenstand ist das Individuelle. Alle Nichtindividuen, z. B. geltende ideelle Einheiten, sind phänomenologisch Gegenstände, die nicht "ursprünglich" gegeben sind, zu denen die Vorstellung nicht unmittelbar führt, sondern über das Individuelle; sie bieten sich dar, als vom Individuellem in irgendeiner Weise abgeleitet.

Wir werden darauf angewiesen sein, in einer Phänomenologie des Gegenstandes uns auf die individuellen Gegenstände zu stützen, die "Form" des Gegenstandes an Individuellem zu studieren. In Wahrheit erheben wir uns überhaupt nicht über die Sphäre des Individuellen. Alle folgenden Analysen - wir werden uns davon überzeugen - sind aus dem gegenständlichen Urphänomen geschöpft, und wo wir ausschließlich dem Ideellen zugewandt sind, verlassen wir nicht den ursprünglichen Boden, sondern wir greifen aus der konkreten Unterlage" Momente heraus und verselbständigen sie in der Betrachtung. Dieser Punkt wird in der Untersuchung in seiner Wichtigkeit erkannt werden.

Wenn wir vom Individuellen als Urgegenstand sprechen, ist damit nicht gemeint, daß wir, in der Vorstellung lebend, jedesmal, primär auf Individuen stoßen, daß wir z. B. die Vorstellung dieses schneebedeckten Berges vollziehend, in ihr das Objekt als individuelles und nur als solches, frei von allen nicht-individuellen Bestandteilen, vor uns haben. Faktisch ist es so z. B., daß das Objekt näher bestimmt ist und in der Funktion des logischen Subjekts steht, dem Bestimmungen zugesprochen werden. Oder es liegt so, daß das Objekt gar nicht als das tode ti [dieses da - wp] erfaßt wird, sondern als der singuläre Fall einer höheren Gattung. Ebenso mag es vorkommen, daß wir in der Vorstellung zwar auf das tode ti gerichtet sind, aber es vielleicht gar nicht meinen, sondern die reine Gattung und dgl. Wir wollen sagen: das Individuelle, dieses einmalige, sinnlich dort wahrnehmbare, dingliche Material, diese rein in seiner gegenständlichen Diesheit genommen, ist nicht der Gegenstand proteron pros hemas [zuerst Erkannte - wp] der Vorstellung. Meist liegt es so, daß das Individuelle in gewisse kategoriale Formen hingestellt ist, die ihm z. B. in der sich ihm zuwendenden Aktivität des urteilenden Subjekts zuwachsen. Es ist nicht das Gebilde, auf das die Vorstellung, dieses Erlebnis in seiner vollen Konkretion genommen, unvermittelt, zeitlich zuerst stößt - wobei wir nebenher darauf aufmerksam machen, daß der "Gegenstand der Vorstellung", mit dem wir es allein zu tun haben, selbst schon, auch in der Konkretion genommen, in der ihn die Vorstellung hat, ein abstractum ist, herausgenommen aus der Fülle des erfahrenden Lebens, in der er faktisch gegenwärtig ist und in der er kaum bloß als ein "Gegenstand der Vorstellung" angesprochen werden dürfte. Halten wir uns aber ein für allemal und ausschließlich an das in der Vorstellung als solcher Gegebene, d. h. den "Gegenstand", so ist zu beachten, daß das Individuelle der "Kern" eines geformten Gebildes ist, den wir erst durch einen Abbau eben dieser Formungen erhalten.

Wir haben hier auf den Unterschied zwischen dem individuellen Anfangsmaterial der Vorstellung und dem Individuellen als Urgegenstand derselben den vordeutenden Blick zu lenken. Allerdings sind es Individuen, die das Anfangsmaterial der Vorstellung bilden, Gegenstände, die in der existenten Welt des vorstellenden Subjekts oder der vorstellenden Subjekte liegen. In der Weise der Vorstellung - von Erlebnissen des Typus der "objektivierenden" Akte - auf Phänomene eingestellt, sind die Gegenstände, auf die das vorstellende Subjekt geradewegs stößt, in der Tat Individuen, Tatsachen, die im Feld der sich um es breitenden Umwelt liegen, "diese" Blumen auf der Wiese, "diese" Personen, mit denen ich zusammen lebe usw. Mit Tatsachen, mit dem hic et nunc [hier und jetzt - wp] seienden Material, ist die Vorstellung beschäftigt, und insofern hat alle phänomenologische Betrachtung mit der exemplarischen Darstellung von Umweltdaten zu beginnen. Keineswegs aber ist in diesen Anfangsdaten die gegenständliche Urform zu sehen, das "Urmaterial", auf das die Analyse als absolutes Fundament aller Gegenstände stößt. Erst, wenn wir von den Momenten absehen, die den individuellen Gegenstand, das umweltliche Anfangsmaterial zu etwas anderem, zu etwas Komplexerem machen, als das bloße Etwas, das man mit dem Auge sehen, mit dem Finger betasten kann und dgl., erst dann haben wir das Individuelle in einem urgegenständlichen Sinn des Wortes. Wir nennen dieses, auf total sinnlich wahrnehmbare Bestandteile reduzierte Phänomen Urgegenstand, weil, wie gesagt, die Analyse ergibt, daß alles nicht in diesem prägnanten Sinn Individuelle im letzteren "fundiert", ein abstraktes unselbständiges Datum daran ist.

Anhand eines derartigen, durch Abbauprozesse gewonnenen Individuellen werden wir die "Form" von Gegenstand "überhaupt" studieren, aus ihm die formalen Bestimmungsstücke schöpfen, auf die es uns ankommt.


IV. Ding und Gegenstand.
Gegenstand als "Form".

Unsere Untersuchungen sind, wie schon vorweggenommen wurde, "formal". Sie bewegen sich in der Dimension höchster Allgemeinheit nicht bestimmte, in der Vorstellung auftretende Gegenstandsphänomene, gewisse umweltliche Typen von Gegenständen, sondern das Phänomen Gegenstand "überhaupt" ist unser Thema. Das heißt: Wir betrachten die Vorstellung und das in ihr Gegebene; wir stoßen dabei zunächst nicht auf die Form des Gegenstandes als solche, rein in sich besehen, sondern auf bestimmte Gegenstände dieses oder jenes Typus. Die Individuen, die der Analyse als exemplarische Anschauungsgrundlagen dienen, sind "material", sie sind ein so und so Seiendes, z. B. unser schneebedeckter Berg. Sie sind kein bloßes Etwas. Auf Gehalte aber, die zum Bestand des leeren Etwas, des Gegenstandes als solchen, gehören, kommt es uns an. Nicht Gegenstände irgendeiner sachhaltigen Bestimmtheit, sondern gewisse Strukturen wollen wir besprechen, die zu allem und jedem gehören, sofern es als Gegenstand ansprechbar ist und nur soweit es an dieser leeren Form teilnimmt. Über eine formalisierende Betrachtung, den Zugang zur "Form", werden wir einiges zu sagen haben.

Es sind also nicht Gegenstände des besonderen Typus ein sinnlich wahrnehmbares Ding, an deren Darstellung uns gelegen ist. Der Herrschaftsbereich der Form "Gegenstand" ist, zumindest dem Anspruch nach, nicht an die Gebietsgattung "Ding" gebunden, überhaupt an kein bestimmtes, sachhaltiges Gebiet. Er erstreckt sich auf alle möglichen vorkommenden Gegenstände und Gegenstandsgebiete und nicht bloß auf das Gebiet, welches durch den Titel "Ding" (natürliches Weltall) abgegrenzt ist. Es liegt, wie bemerkt, zunächst kein Grund vor, irgendein Seiendes, wie es sich auch gibt (z. B. als Geist), davon auszuschließen, Gegenstand von Vorstellungen zu sein, und insofern nimmt alles Seiende - dahin zielt der Anspruch der formalisierenden Betrachtung - an den Strukturen teil, die für die Form des Gegenstandes wesentlich sind.

Allerdings ist die Frage, ob der universelle Anspruch der Form von schlechthinniger Geltung für alles Erfahrbare zu sein, sich auch phänomenologisch aufrecht erhalten läßt, wenn wir über das Gebiet des "Dings" hinausgehen und alles Erfahrbare in Erwägung ziehen. Wir haben uns, als wir oben Betrachtungen über das Anfangsmaterial der Vorstellung anstellten, von vornherein Grenzen gezogen. Individuen nannten wir die "ersten" Gegenstände der Vorstellung und meinten damit Dinge, Naturgegenstände, mögliche Objekte sinnlich-dinglicher Anschauungen. In der Tat sind es Dinge, die wir exemplarisch den folgenden Untersuchungen zugrunde legen werden, speziell die unbelebten Gegenstände unserer Umwelt die unbelebte Materie. Was sich im Laufe unserer Arbeit an Ergebnissen auch gewinnen läßt - es ist nicht aus der Anschauung irgendeines beliebigen Individuellen gewonnen, sondern ausschließlich auf die Anschauung von Gegenständen des Typus "unbelebte Materie" werden wir uns berufen. Individuen dieser Art nehmen wir als das Anfangs- und urgegenständliche Material für unsere formalen Erwägungen. Warum wir diesem doch höchst speziellen Phänomen in einer fundamentalen Untersuchung über den Gegenstand eine so prominente Vorzugsstellung einräumen, haben die Analysen selbst erweislich zu machen; sie werden zumindest ergeben, daß sich die formalen Strukturen an diesem Gebilde einwandfrei einsichtig machen lassen. Darauf aber, auf die Darstellung anhand eines einsichtig gemachten Materials, kommt es uns an. Wir wollen aber bei der Beschränkung der Untersuchung auf die dingliche Region nicht sagen, daß der universelle Geltungsanspruch der Form zu Unrecht besteht. Es kommt in der Arbeit lediglich auf ihren phänomenologischen Aufweis an, und für den Aufweis räumen wir allerdings dem "Ding" eine fundamentale Bedeutung ein. Die gegenständlichen Fundamentalformen werden aus der formalisierenden Betrachtung des Dings gewonnen.


V. Essenz und Existenz als die
beiden Grundmomente des Gegenstandes

Wenn wir irgendein beliebiges Individuum, als das einmalige, im Raum und in der Zeit da-seiende tode ti betrachten, zeigt es sich uns in folgender elementarer, wundersamer Gestalt. Es ist
    1. ein So-seiendes, ein Etwas, das Beschaffenheiten hat. Es hat, sagen wir, Beschaffenheiten, die man an ihm abheben kann. Es ist zum Beispiel Gold, gelb usw. Alle Beschaffenheiten, die das Individuum hat, mögen sie ihm zufällig zukommen oder zu seinem Wesen gehören, machen in ihrem Inbegriff die Essenz (Quale) des Individuums aus. Die Essenz und jedes der sie komponierenden Prädikamente des Individuums ist, rein (abstrakt) in sich besehen, ideeller Natur; offenbar lassen sich die Beschaffenheiten für sich betrachten, aus ihrer Faktizität ablösen, und als reine Qualia behandeln; sie sind, wie sie Lotze einmal nennt, "geltende Einheiten", die in einem gewissen Sinn bestehen, zeitlos und unwandelbar, als identisch dieselben bestehen; sie sind, als was sie gelten: das Gold dieser Art, das Gelb dieser Art, mag ihr Schicksal am tode ti welches auch sein, mögen sie existieren oder nicht. Sie bestehen in der Identität ihres aus der individuellen (existenten) Unterlage herausgehobenen Seins unabhängig von der Erfahrung, unabhängig von ihrer Faktizität, vom Ding hic et nunc, an dem sie doch abgehoben sind.

    2. Das andere Moment am Individuum ist seine Faktizität, sein Dasein, seine zeitliche Existenz, ein Moment, das sozusagen das Individuum mit allem, was es an Gehalt hat, durchdringt und es zu einem da-seienden oder existierenden, die Beschaffenheiten zu sinnlich-tatsächlichen, individuellen Beschaffenheiten macht.
Jedes der beiden Momente - wir nennen sie Essenz und Existenz - ist für sich zu betrachten, nicht als ob sie selbständig wären, wie das Individuum, an dem sie als "abstrakte Momente" herauszulösen sind, ohne dabei evidentermaßen den Charakter der Unselbständigkeit zu verlieren; sie "begegnen" sich im Individuum, dem absolut selbständigen, urgegenständlichen Phänomen der Vorstellung, in dem sie ihre gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit stillen. Wir werden unsere besondere Aufmerksamkeit auf jene wichtige und oft übersehene Tatsache zu lenken habe, daß die Essenz, das Ideelle, niemals den Charakter verliert, letztlich das abstrakte Moment am Individuellen (oder "gleichsam Individuellen") zu sein, daß ihr die Losgerissenheit vom individuellen Mutterboden nicht bloß in der Urform als zufällige Beschaffenheit (Gehalt), sondern auch den höheren essentiellen Formen, speziell dem Wesen (Eidos), anhaftet.

Daher bewahrt die Essenz ihre Eigenart, ihre eigentliche, dem Moment der Existenz ganz und gar heterogene Natur ; es gibt kaum ein radikaleres Verhältnis des Andersseins, als dasjenige, das zwischen den beiden Momenten besteht, die sich in einem Individuum zu einer "apriorischen" Einheit "begegnen". Es ist nicht die Heterogenität [Ungleichartigkeit - wp] verschiedener Gattungen, Arten, Singularitäten, die hier vorliegt; sie ist nicht vergleichbar mit dem Anderssein von "Kategorien", z. B. der Ausdehnung und der Farbigkeit, die in der Gattung Ding zu einem "Ganzen" vereinigt sind. Zwei Welten sozusagen, Sphären verschiedener Seinsarten, kommen zusammen, ideelle, daseinsfreie Einheiten werden am Individuum vorgefunden als faktisch daseiende Gegenstände, durchdrungen gewissermaß vom Charakter der Existenz, der Individuation. Das Individuum, von dessen ungegenständlicher Anschauung wir uns ständig leiten lassen, stellt in sich die Einheit der beiden Momente dar, keine zufällige, sondern eine "Wesenseinheit", eine "Einheit der Fundierung"; es kann nicht ohne die Vereinigung von Essenz und Existenz bestehen.

Der so gestaltete Bau des Individuums hat seit jeher das höchste Interesse der Philosophie erregt. Er war die phänomenologische Unterlage zu Problemen, die ganze Zeitalter bewegt haben. In der Tat ist dieser Bau recht wunderbar. Es wurde gefragt: Wie ist die "Vereinigung a priori" der beiden Momente zu begreifen? Zunächst galt sie, wenn man sich an die deskriptive Sachlage hielt, als unbegreiflich. Denn es handelt sich hier nicht um jene Verbindung "begreiflicher" Art, d. h. um die "Verbindung a priori von Begriffen", sondern um das Phänomen der "Begnung" von Existenz und "Begriffen", wie es bei KANT heißt, der einen Teil seines Lebens daran gehängt hat, das "Geheimnis", wie er es nannte, zu "erklären". Die Motive, die ihn zu der berühmten Frage in einem Brief an MARCUS HERZ vom Jahr 1772 geführt haben, knüpfen, wenn wir von anderen Gründen, die in der Frage wirksam sind, absehen, an den eigenartig komplexen Bau des Dings an, an dem ihm die "notwendige Beziehung" von gewissen "geltenden Begriffen und Axiomen" zu der Existenz, den "Sachen" rätselhaft erscheint. Bei diesen noch dunklen Andeutungen soll es hier bleiben; wir werden Gelegenheit haben, den kantischen Problemansatz im Zusammenhang mit unseren analytischen Erwägungen zu studieren.


VI. Vordeutende Bemerkungen über
den Gang der Untersuchungen

Wir wenden uns in den folgenden Betrachtungen zwei Phänomengruppen zu
    1. Einmal studieren wir das Phänomen der Essenz. Die Untersuchung gipfelt letztlich in einer systematischen Typologie der essentiellen (ideellen) Gegenstände; wir wollen, ausgehend von der am Individuum vorfindlichen essentiellen Urform, dem zufälligen Gehalt, zu den "höheren" formalen Typen essentieller Gegenstände aufsteigen. Jeder dieser Typen zeichnet sich durch eine eigene formale Struktur aus, die phänomenologisch aufgewiesen werden muß, d. h. wir müssen die sehr mannigfaltigen Erfahrungen (Prozesse) charakterisieren, in denen sie sich ursprünglich darbieten, sie beschreiben als dasjenige, als was sie sich in den Prozessen, die zu ihnen führen, geben. In dieser Abhandlung aber wollen wir nur auf die eine höhere essentielle Form (formalen Typus) hinweisen, auf das Wesen (essentia, Eidos). Doch auch dies soll nur in den ersten Anfängen geschehen. Zunächst kommt es auf die Darstellung der essentiellen Urform selbst des Gehaltes an. Alle essentiellen Gegenstände (1) haben das Gemeinsame, daß sie in einem Gehalt fundiert sind, daß die Gehaltserfahrung sozusagen die essentielle Urerfahrung ist. Der Gehalt ist das am Individuum vorfindliche Was und Wie, der Inbegriff von Beschaffenheiten, welche sich am Individuum in aller Zufälligkeit des Zusammenseins darbieten und die, in abstrakter Reinheit besehen, den Gehalt als die Grundform der Ideen ausmachen. Von ihm aus führen die Prozesse, die uns die höheren Typen sichtbar machen, sie in der darin darbietenden formalen Konkretion phänomenologisch erfassen lassen. Der schwere und verhängnisvolle Irrtum der traditionellen Beschreibung ideeller Formen, speziell des Wesens, besteht meines Erachtens darin, daß der Zusammenfassung des Ideellen mit dem Urboden alles gegenständlich Seienden, dem Individuellen, zu leicht genommen wurde und, anstatt sich der phänomenologischen Erfahrung zu vergewissern, meist räsonnierende, wenn auch manchmal sehr kluge Distinktionen [Unterscheidungen - wp], von denen man nicht wußte, woher sie ihr Recht nahmen, geboten wurden. Phänomenologie im allgemeinen und die des Gegenstandes im besonderen, beruth aber auf einem wesentlich systematischen Vorgehen. Sie hat sich an das in der jeweiligen Erfahrung ursprünglich Gegebene zu halten und von da aus sich den Zugang zu den Objekten zu erarbeiten. Die Phänomenologie des Gegenstandes beginnt mit der Darstellung des Individuellen; im Individuellen hat sie die ersten Data der Vorstellung und von da aus, vom Boden des Anfangs herkommend, vermag sie erst zu der Darstellung der Ideen überzugehen.

    2. An zweiter Stelle untersuchen wir das Verhältnis von Essenz und Existenz, genauer die Phänomengruppe, die an diesen Titel anknüpft. Dabei haben wir Folgendes zu bemerken: es handelt sich zunächst nicht darum, die Problematik zu behandeln, die in diesem Verhältnis liegt, sondern um die nackte Herausstellung einer am urgegenständlichen Material aufweisbaren phänomenologischen Sachlage; dort am Individuum stoßen wir auf den anfänglich sich gebende Typus, sozusagen die Urform des Verhältnisses, wo nämlich Gehalt und Existenz schlicht zusammentreffen und die urgegenständliche Einheit des tode ti bilden.
Wir sprachen von der "Urform des Verhältnisses", weil es sich zeigt, daß in der Geschichte der Philosophie unter dem Titel "Idee und Individuum" nicht das am Individuum vorfindliche Urverhältnis das Interesse auf sich gezogen hat, jenes primitive Phänomen der Realisierung eines beliebigen Gehalts oder beliebiger Beschaffenheiten. Im Zusammenhang mit den vorherrschenden metaphysischen Bestrebungen stand ein besonderer essentieller Typus im Vordergrund des Interesse: das Eidos, der Gehalt als apriorischer oder rationaler Gehalt, als "Einheit der Fundierung". Die Ansicht der abendländischen Metaphysik ging, wenn wir recht sehen, dahin, daß rationale Erkenntnisse, d. h. Erkenntnisse von apriorischen Zusammenhängen von metaphysischer Bedeutung (Geltung) sind, daß, wie es heißt, Erkenntnisse "begrifflicher" Art den Zugang zu den Dingen, wie sie an sich selbst sind, eröffnen. Man wandte sich dem eidos gemäß, einem speziellen ideellen Typus zu, diesem aber nicht aus einem deskriptiven Interesse, sondern weil sich an diesen Typus der "dogmatische" Glaube heftete, daß ihm ein metaphysischer Erkenntniswert zukommt. KANT hat in seinen kritischen Studien, schon in seiner frühesten Zeit, an dieses Dogma angeknüpft: er fragte sich, wie die Geltung der Erkenntnisse a priori für die Sphäre des Daseins begreiflich ist. Denn von Anfang an war er von der Unterschiedenheit der beiden Reiche des Daseins und der Geltung, und zumal der apriorischen Geltung überzeugt; es war für ihn gerade das ein Problem, was die Metaphysik gläubig hingenommen hatte, daß mit der Einsicht in die rationalen "Möglichkeiten" die Einsicht in die Tatsachen, in das Existente gewährleistet ist. Es war ihm klar, daß die apriorischen Begriffe und Wahrheiten am individuellen Ding wohl vorgefunden werden (als "Formen", leges), aber nichts mit der Existenz des Dinges zu tun haben; beide Momente sind ihm von verschiedenem "Ursprung", von verschiedener "Art". Man beachte nun, daß KANT überhaupt nicht an den vom Moment der Existenz zu trennenden Moment der Essenz, sondern gemäß den ihn beherrschenden metaphysischen Trieben am Typus der apriorischen Essenz (der "Begriffe und der Axiomata der reinen Vernunft") interessiert war und zwar in dem Umfang, als ihnen die "objektive Realität, die Geltung für die Welt der Existenz, zugesprochen wurde.

Hinter all diesen Problemen stecken gewichtige und nicht leicht zu entwirrende phänomenologische Sachlagen. Es wurde auf das Phänomen des eidos, auf das der Realisierung des Eidos der Blick zu lenken sein und weiter auf das vom letzteren Phänomen zu unterscheidende "metaphysische" Gebilde, daß gewisse (nicht alle) eidetische Einheiten einen notwendigen Existenzbezug haben. Kantisch gesprochen: es würde das Phänomen zu besprechen sein, daß ideelle Einheiten "Bedingungen der Möglichkeit" der existierenden Dinge sind, daß, wie es heißt, Begriffe und Axiome für die Dinge eine konstitutive ("transzendentale") Bedeutung haben, und dgl. Ohne damit eine Stellungnahme zu den vergangenen großen Systemen der Metaphysik zu verbinden, darf man sagen, daß sie sich um die phänomenologischen Untergründe ihrer Probleme zu wenig gekümmert haben, daß ihnen an der Befriedigung metaphysischer oder kritischer Interessen gelegen war, ohne sich allzusehr für die Sachlagen selbst zu interessieren, die ihnen doch zu einem guten Stück die Motive zu ihren Aufgaben stellten.

In der vorliegenden Abhandlung werden wir auf die zweite Phänomengruppe nur in den rohesten Anfängen hinweisen. Es soll auf das Verhältnis von Tatsächlichkeit und Idee in seiner Urgestalt am Individuellen hingewiesen werden. Wir wollen dann auf der Grundlage dieses Befundes zur Besprechung des "Problems" übergehen, das dieser Befund in sich birgt. Deutlicher: wir wollen speziell den Problemansatz besprechen, der für die transzendentale Theorie KANTs entscheidend geworden ist, ein Ansatz, den wir anhand einer Interpretation der theoretischen Frühschriften KANTs bis zu dem Punkt durchführen wollen, wo der spezifische Ansatz des Kritizismus - wie sind Begriffe und Urteile a priori möglich? - seine Ausprägung findet. Lediglich auf die Herausstellung dieser Problematik und nicht auf die Besprechung der sie erklärenden Theorie soll es uns ankommen. Worauf aber letztlich bei der Herausstellung des kantischen Problemansatzes Wert zu legen ist, ist dies zu zeigen, daß der "Gegenstand", jener Leertitel der Logik, nicht bloß die Unterlage eines phänomenologischen Befundes, sondern einer auf diesem Befund sich aufbauenden formalen Problematik ist. Es wird sich herausstellen, daß das Problem KANTs, ursprünglich anhand des Naturobjekts gewonnen, ein Problem des Gegenstandes überhaupt ist. -

Alle diese Darlegungen steuern letztlich einem Ziel zu. Es sollen die Anfänge einer universalen Phänomenologie des Gegenstandes geleistet werden, gezeigt werden, welche kategorialen Bestände das Phänomen "Gegenstand" aus sich hergibt. Es soll - um es populär zu sagen - gezeigt werden, in welcher Form Leben und Welt stehen, wenn sich das Ich an das, was wir faktisch erleben, erfahren, erfassend und bestimmend wendet. Jenes Faktum, das unserem naturalistischen Zeitalter zu einer "Selbstverständlichkeit" geworden ist: die Gegenständlichkeit allen Seins soll besprochen werden. Wir sagen: dieses Faktum gilt den Menschen unserer Zeit, und zumal dem herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb, als eine "Selbstverständlichkeit". Für den Phänomenologen ist es nichts weniger als dies: Seine Aufgabe ist es, festzustellen, als was sich die in unserem Lebenskreis auftretenden Phänomene charakterisieren, welches der Typus ihres "Wie" ist, in dem sie sich da geben. Er hat der Behauptung von der Gegenständlichkeit allen Seins ihren dogmatischen Charakter zu nehmen, zu zeigen, daß sich an den Titel "Gegenstand" ein eigenartiges System von Formen knüpft, und daß dieses System in einem eigenartigen Stellung-Nehmen, in einem erfassenden Interesse, das das Ich an seinen Phänomenen nimmt, seinen Ursprung hat.
LITERATUR - Arnold Metzger, Der Gegenstand der Erkenntnis, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung Bd. VII, Halle/Saale, 1925
    Anmerkungen
    1) Wozu außer einem "morphologischen" Wesen z. B. das mathematisch exakte Wesen, der mathematische Idealbegriff, gehört.