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EDUARD von HARTMANN
Kants Erkenntnistheorie
und Metaphysik

[in den vier Perioden ihrer Entwicklung]

"Von Bonnet scheint Kant beeinflußt durch die Unterscheidung des unerkennbaren Dings-ansich (chose en soi) von der Erscheinung (was etwas zu sein scheint), durch die Behauptung, daß Leibniz alles intellektuiere, Locke alles sensifiziere und durch die auch von Mendelssohn geteilte Ansicht, daß Phänomene bloß unsere subjektiven Vorstellungen und nichts weiter sind und sein können."


V o r w o r t

Die Kant-Literatur ist bereits so umfangreich, daß eine neue Schrift über KANT dem äußeren Anschein nach kaum den Anspruch erheben darf, einem Bedürfnis des Publikums zu entsprechen. Aber noch immer ist über die wesentlichsten Tendenzen der kantischen Philosophie nicht nur keine Einigung erzielt, sondern die Streitenden haben sich je länger je mehr auseinander disputiert. Dabei behauptet noch immer die kantische Erkenntnistheorie ein Ansehen, als ob sie im eigentlichen Mittelpunkt unserer aktuellen philosophischen Interessen stünde, und die Folge davon ist, daß man den Studierenden zumutet, KANTs Kritik der reinen Vernunft zu lesen und zu verstehen, trotzdem sich nicht einmal die akademischen Lehrer über ihren Inhalt einigen können.

Schon einmal habe ich zur kantischen Erkenntnistheorie und Metaphysik das Wort ergriffen in der Schrift "Das Ding ansich und seine Beschaffenheit", (1871), welche in der zweiten und dritten Auflage (1875 und 1886) den Titel erhielt "Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus". Aber diese Schrift beabsichtigte keine zusammenhängende Darstellung der kantischen Lehre zu geben, sondern griff nur einige Hauptzüge heraus, um an sie alsbald mit der Kritik anzuknüpfen. Da nun jeder etwas anderes für die Hauptsache der Lehre KANTs hält, so war es kein Wunder, daß Viele in meinen Ausführungen nicht den Kern dieser Lehre getroffen glaubten. Auch meine Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie des Neukantianismus in der von LANGE und VAIHINGER vertretenen Richtung in der Schrift "Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus" (1876 konnte nicht allgemein überzeugend wirken, weil eben der moderne Neukantianismus ein Gemenge der mannigfachsten Richtungen ist, deren jede den allein wahren Sinn der kantischen Lehre zu vertreten glaubt und sich deshalb von der gegen die übrigen gerichteten Kritik nicht getroffen fühlt. Die selbständige Darlegung meines eigenen erkenntnistheoretischen Standpunktes in der Schrift "Das Grundproblem der Erkenntnistheorie" (1889) vermochte wiederum nicht aufzukommen gegen die fast allgemeine Überzeugung der mit Erkenntnistheorie beschäftigten Philosophen, daß nur in KANT die wahre Grundlage dieser Disziplin zu suchen ist und nur von KANT aus die Erkenntnistheorie zu fördern ist.

So gelangte ich dann zu dem Entschluß, die Lehre KANTs einmal in ihrem inneren systematischen Zusammenhang darzustellen, dem Werden und Wachsen seiner Ansichten nachzugehen und aus ihren Endergebnissen hervorleuchten zu lassen, was KANT im Verhältnis zu dem von ihm Beabsichtigten wirklich geleistet hat und welche Bedeutung seine Leistungen für unsere Zeit und unser heutiges philosophisches Bewußtsein noch beanspruchen können. Ich hoffe dadurch zur Klärung sowohl der Ansichten über KANT als auch über die Aufgaben und die möglichen Lösungen der Erkenntnistheorie einen Beitrag zu liefern; ich hoffe aber auch zugleich Studierenden ein Hilfsmittel zum leichteren Verständnis und zur besseren Beurteilung der verwickelten und schwierigen Gedankengänge KANTs darzubieten, das manchem willkommen sein möchte. Insbesondere glaube ich, daß die ausführliche Darstellung des kantischen Standpunktes der zweiten Periode zu Anfang der siebziger Jahre, welche bisher noch nirgends zu finden ist, besonders geeigent sein dürfte, in das Verständnis der abschließenden dritten Periode einzuführen.

Auf eine Darstellung der gesamten kantischen Philosophie habe ich verzichtet und mich auf diejenige der theoretischen Philosophie (Erkenntnistheorie und Metaphysik) beschränkt, um nicht in Wiederholungen zu geraten, da ich die kantische Ethik, Axiologie, Ästhetik und dynamische Atomlehre schon anderswo behandelt habe (1). Aus demselben Grund habe ich mir eine nochmalige genauere Kritik der transzendentalen Ästhetik und der Lehre von der doppelten Kausalität versagt, weil beide Punkte in der "Kritischen Grundlegung etc." bereits mit hinreichender Ausführlichkeit behandelt sind. Da die maßgebenden Gesichtspunkte der Beurteilung auch hier genügende Betonung finden, so glaube ich nicht, daß durch den Verzicht auf solche Wiederholungen spürbare Lücken entstanden sind. Die Beschränkung auf Erkenntnistheorie und Metaphysik wird denjenigen Studierenden geradezu erwünscht sein, die nur im theoretischen Interesse an das Studium KANTs herantreten; denn die Schrift ist dadurch um so viel handlicher geworden. Wer aber meine Ansichten über KANTs Ethik, Axiologie und Ästhetik kennen zu lernen wünscht, wird hoffentlich die Mühe nicht scheuen, die angeführten Stellen nachzuschlagen und zu vergleichen.

Daß ich die ganze Kant-Literatur studiert habe, kann ich nicht behaupten; dazu gehört allein ein Menschenleben. Dennoch glaube ich nicht, daß von den neueren besseren Arbeiten mir etwas Wichtiges entgangen ist, und ich hoffe, daß der Kenner die Vertrautheit mit den neuesten Forschungen nicht vermissen wird, wenn ich auch im Interesse der Lesbarkeit auf eine Schaustellung des gelehrten Apparates verzichtet habe. Den zweiten Band von VAIHINGERs Kommentar zu KANTs Kritik der reinen Vernunft habe ich erst nach der Beendigung der vorliegenden Arbeit kennen gelernt. (2)

Für diejenigen Neukantianer, welche mehr und mehr dazu hinneigen, KANT zum alten Eisen zu werfen und auf HUME als den konsequenteren Denker zurückzugreifen, kann natürlich eine Kritik KANTs nicht ausreichen, um die Grundprobleme der Erkenntnistheorie der Entscheidung zuzuführen. Für solche Leser bedarf es einer Kritik HUMEs und seiner Vorgänger, um zu einer Verständigung zu gelangen. Ich habe eine solche in meiner bisher nicht veröffentlichten "Geschichte der Metaphysik" unternommen und muß mich hier mit diesem Hinweis begnügen.


Kants Verhältnis zu seinen
Vorgängern

Bei der Beurteilung KANTs hat man sich zu vergegenwärtigen, daß er in einem durchaus unhistorischen Zeitalter lebte, welches alles aus sich und seiner Vernunft herausspinnen wollte und die Leistungen früherer Epochen weit unterschätzt hat. Die Folge davon ist ein für uns auffälliger Mangel an philosophie-historischer Bildeung, wie er heute das Kennzeichen des Dilettantismus ausmacht, damals aber von allen Fachleuten geteilt wurde. KANT kannte die lateinischen Klassiker genau, von den griechischen Philosophen aber nicht mehr, als ihm durch die Vermittlung der ersteren zugeflossen war; die griechische Lektüre auf dem Gymnasium, das er besuchte, scheint wesentlich auf das neue Testament beschränkt geblieben zu sein, und nichts deutet darauf hin, daß er später versucht hat, griechische Philosophen aus erster Hand kennen zu lernen. Er kannte DESCARTES, NEWTON, HOBBES und LOCKE (in lateinischer Übersetzung) und von den deutschen Philosophen WOLFF und seine eigenen Zeitgenossen. Von der ganzen Philosophie des Mittelalters und der Reformationszeit hatte er keine Ahnung, SPINOZA hielt er sich geflissentlich fern, von LEIBNIZ hat er bis 1765 wohl schwerlich eine Zeile gelesen, und ob er die Nouveaux Essais genauer eingesehen hat, dafür fehlt es an genügenden Beweisen. BERKELEY und HUMEs erstes Hauptwerk waren ihm fremd; nur die abgeschwächte Fassung des kürzeren zweiten Werkes HUMEs hat ihn in den sechziger und siebziger Jahren beeinflußt. Höchst auffällig sind seine gründlichen Mißverständnisse der Absichten selbst bei solchen Autoren, denen er eine genauere Beachtung geschenkt hatte; es ist daraus zu schließen, daß er überhaupt mehr seinen eigenen Gedanken als denen Anderer nachgegangen ist. Wen KANTs Stil altertümlich anmutet, der möge ihn mit dem seiner Zeitgenossen, z. B. LAMBERTs, vergleichen, den er weit überragt, und möge erwägen, daß der sprachliche Einfluß der klassischen deutschen Dichter auf die wissenschaftliche Prosa erst zu einer Zeit begann, als KANT schon bei Jahren war, und seinen Stil nicht mehr umbilden konnte, während seine Nachfolger sich schon als Jünglinge von jenen Dichtern begeistern ließen.

Die Entwicklungsgeschichte der kantischen Gedanken weist vier gegeneinander scharf unterschiedene Perioden auf. In der ersten bis 1760 reichenden Periode ist sein Standpunkt ein realistischer Leibnizianismus, genauer KNUTZENs Synthese zwischen WOLFF und NEWTON; in ihr schreibt er den Denk- und Anschauungsformen transzendente Gültigkeit zu. In der zweiten Periode von 1769-1776 ist er idealistischer Leibnizianer in dem Sinne, daß er nur noch den Denkformen, aber nicht mehr den Anschauungsformen transzendente Gültigkeit beimißt; er steht jetzt BAUMGARTEN, CRUSIUS und SWEDENBORG am nächsten. In der dritten Periode seit 1776 wird er Phänomenalist im Sinne HUMEs, indem er weder den Denk- noch den Anschauungsformen mehr transzendente Gültigkeit zuerkenen, hält aber auch jetzt ihre Apriorität innerhalb der phänomenalen Sphäre mit LEIBNIZ fest. In der vierten Periode wird die in der zweiten und dritten ganz vernachlässigte Kategorie des Zwecks zum Angelpunkt des ganzen Systems, ohne daß KANT jedoch noch die Kraft gefunden hätte, die früher bearbeiteten Teile des Systems aus diesem Gesichtspunkt umzuarbeiten.

Innerhalb der ersten Periode hat man wiederum verschiedene Entwicklungsstufen (einen Fortgang vom Rationalismus durch Empirismus zu einem relativen Skeptizismus) unterschieden; indessen scheint mir das bisher verfügbare literarische Material für eine solche Rekonstruktion doch nicht ausreichend. Auch ist das Interesse, das diese dem endgültigen System am Fernsten stehende erste Periode gewährt, weit geringer als das der drei folgenden, und deshalb kein so lebhaftes Bedürfnis nach ihrer genaueren Gliederung vorhanden.

In fast wörtlicher Übereinstimmung mit PYRRHO bezeichnet er in seiner zweiten und dritten Periode als den Inhalt der Philosophie die Beantwortung der drei Fragen:
    - Was kann ich wissen?
    - Was soll ich tun?
    - Was darf ich hoffen?
und teilt danach die Philosophie in Metaphysik, Moral und Religion ein. (In der zweiten Periode lautet die vierte Frage: "Was ist der Mensch?" und die Antwort obliegt der Anthropologie.)

Mit HOBBES verknüpft ihn der mathematische Rationalismus, nicht bloß im Sinne der Analyse, sondern auch in dem der synthetischen Konstruktion und die dem entsprechende Vorliebe für genetische Definitionen im Vergleich zu bloß deskriptiven, alsdann die rationalistische Unterscheidung eines reinne, deduktiven apriorischen Teils der Naturwissenschaft (Metaphysik der Natur) von einem induktiven, empirischen Teil derselben, ferner die Zurückführung aller Veränderungen in der Natur auf eine mechanische Bewegung der Teile und in der zweiten und dritten Periode die Abneigung gegen einen leeren Raum.

Von NEWTON ist KANT namentlich in seiner ersten Periode in hohem Maß beeinflußt; von ihm übernimmt er nicht nur die mechanische Erklärung aller Veränderungen in der Körperwelt, sondern auch die Zurückführung der Naturmechanik auf atomistisch gegliederte Kräfte und den real existierenden Raum als den Schauplatz ihres Wirkens. Dagegen vermag KANT nicht, sich NEWTONs Gedanken der Kraftwirkung in die Ferne anzueignen und setzt anstelle der abstoßenden molekularen Zentralkräfte sogenannte Oberflächenkräfte von wechselnder Ausdehnung, die erst bei der Berührung wirksam werden.

Von LOCKE übernimmt KANT die Unterscheidung von äußerem und innerem Sinn, von Nominalwesen und Realwesen (logischem und realem Wesen), spielenden (analytischen) und belehrenden (synthetischen) Sätzen (Urteilen).

Mit den englischen Phänomenalisten (COLLIER, BERKELEY, HUME) stimmt er in der zweiten und dritten Periode überein in der Aufhebung von LOCKEs Unterscheidung zwischen sekundären und primären Eigenschaften, in der Verwerfung eines leeren Raumes, in der Annahme einer empirischen Realität der subjektiven Erscheinungswelt trotz ihres rein phänomenalen, d. h. vorstellungsmäßigen Charakters. Mit anderen Worten: in der Verdinglichung und phänomenalen Substantialisierung bloßer Vorstellungen des Bewußtseins. Auch darin ist er mit ihnen einverstanden, daß unsere Sinnlichkeit zur Hervorbringung der Empfindungen nicht durch die Produkte ihrer Hervorbringung (die vorstellungsmäßigen Phänomene) angeregt oder affiziert werden kann, und daß die sinnliche Materie, weil sie eine bloß subjektive Erscheinung ist, nicht Substanz im transzendentalen Sinn des Wortes sein kann.

Bei BERKELEY wie bei KANT ruht der empirische Realismus der subjektiven Erscheinungen auf dem tieferen Untergrund eines transzendentalen Realismus in Bezug auf ein nicht Erscheinendes; aber BERKELEY faßt die nicht erscheinende uns affizierende Ursache als eine einheitliche, KANT faßt sie im Großen und Ganzen als eine vielheitliche auf, obschon er an dieser Vielheit kritische Zweifel hegt. BERKELEY nennt sie demgemäß, als einheitliche und einzig wirksame Ursache Gott, KANT nennt sie Dinge-ansich, die von Gott geschaffen sind und durch einen gesetzmäßig geordneten influxus physicus realis [realen physischen Einfluß - wp] uns beeinflussen. Beide erkennen real existierende Geister neben mir an, und beide bestreiten, daß zwischen diesen Geistern in dieser Welt irgendeine direkte Wechselwirkung in Bezug auf ihre Bewußtseinsinhalte stattfindet; aber BERKELEY kennt auch keinen solchen für eine jenseitige Welt, während KANT für eine solche einen unmittelbaren influxus idealis [Einfluß idealer Art - wp] annimmt, der unbewußterweise schon jetzt besteht. BERKELEY läßt alle Beziehungen der Bewußtseinsinhalte der Geister direkt durch Gott vermitteln, KANT hingegen durch den gottgesetzten influxus physicus realis der dynamisch wirksamen Dinge ansich, die den körperlichen Erscheinungen zugrunde liegen.

Von HUME übernimmt KANT den falschen Gebrauch des Wortes "Skeptizismus" anstatt Agnostizismus oder Ignoranztheorie; weil KANT auf eine positive Erkenntnistheorie und nicht auf eine Ignoranztheorie hinauswollte, darum blieb er zeitlebens ein Gegner von HUMEs "Skeptizismus". KANT nimmt mit HUME an, daß der Begriff des Seins dem sonstigen Inhalt eines Begriffes nichts hinzufügt, daß es synthetische Funktionen des erkennenden Subjekts sind, welche die Empfindungseindrücke nach bestimmten Regeln zur Einheit von Erscheinungsobjekten verknüpfen und dadurch erst Erfahrungserkenntnis ermöglichen, daß unter diesen Verknüpfungsgesichtspunkten die Kausalität die wichtigste Rolle spiel, daß die Verknüpfungsbegriffe nicht über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus ausgedehnt und angewendet werden dürfen, daß wohl die bestimmte Verknüpfung dieser Ursache mit dieser Wirkung aus der Erfahrung zu entnehmen ist, daß aber der Grundsatz einer ursächlichen Verknüpfung der Erscheinungen überhaupt schlechterdings nicht aus der Erfahrung zu schöpfen ist.

Während er in seiner zweiten Periode das Jenseits der Grenzen der Erfahrung noch wesentlich anders bestimmt als HUME, rückt er ihm in seiner dritten Periode ziemlich nahe und entlehnt auch von ihm die Einsicht, daß die logische Konstanz des Bewußtseins-Ich nichts für die reale Substantialität des Ich beweist. Dagegen weicht er darin von HUME ab, daß er für die Frage, woher die Empfindungseindrücke stammen, eine dogmatisch formulierte Antwort gibt (aus den die Sinnlichkeit affizierenden Dingen-ansich), während HUME die Frage als eine falsch gestellte, weil auf transzendentem Gebrauch des Kausalbegriffs beruhende, abweist. Daran schließt es sich an, daß KANT unbedenklich mit dem Kraftbegriff operiert, den HUME verwirft. KANT hat HUME darin mißverstanden, daß er meint, dieser nehme die Gegenstände der Erfahrung dogmatisch für Dinge-ansich, und gelange eben dadurch zu seinem schärfsten Skeptizismus (Rosenkranz, Werke VIII 170). Tatsächlich ist aber gerade HUME der Vertreter des Phänomenalismus in einer Reinheit, wie sie von KANT auch nicht annähernd erreicht worden ist.

Mit REID stimmt KANT darin überein, daß die Wahrnehmung (Erfahrung) erst durch instinktive, vorbewußte Funktionen des Geistes aus den Empfindungen aufgebaut wird, daß aus ihr vom Bewußtsein nachträglich durch Reflexion die allgemeinen Verstandesgrundsätze abgeleitet werden können, und daß der Phänomenalismus ohne die transzendentale Beziehung der Erscheinungen auf ihnen zugrunde liegende Dinge-ansich die Erscheinungswelt zum trügerischen Schein verflüchtigt und die Möglichkeit der Erkenntnis aufhebt. Aber im Gegensatz zu REID mißachtet er den gesunden Verstand als den unkontrollierten Gebrauch des gemeinen Verstandes und verlangt ihm gegenüber einen wissenschaftlich kontrollierten, d. h. kritischen Verstandesgebrauch in abstracto.

Von LEIBNIZ übernimmt KANT die Lehre, daß die sogenannten angeborenen Vorstellungen nur als typische Regeln des formalen Funktionierens dem Verstand angeboren sind, daß das Gebiet der dunklen, d. h. gar nicht bewußten Vorstellungen in der Seele sehr ausgedehnt und von äußerster Wichtigkeit ist, und daß die Teleologie als die höhere Ansicht sehr wohl mit der Naturkausalität vereinbar ist, ohne diese zu stören oder zu beeinträchtigen. KANTs vierte Periode ist als eine direkte Erneuerung und Fortbildung von LEIBNIZ' Teleologie auf höherer Stufe und in einem erweitertem Sinn zu betrachten. Auch LEIBNIZ' Glauben an die Entwicklung der Individualseele von einem geistigen Schlummer vor der Geburt zu einem bewußten intellektuellen Zustand nach dem Tod hält er fest, und legt nur den Schwerpunkt der Individualentwicklung auf den moralischen Fortschritt zur vollen Glückwürdigkeit. Dagegen bekämpft er LEIBNIZ' Ansicht, daß die sinnliche Erkenntnis nur eine verworrene Verstandeserkenntnis ist, zugunsten eines schroffen und unvermittelten Gegensatzes von Sinnlichkeit und Verstand, und ebenso entschieden die prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie, weil sie die natürliche Gesetzmäßigkeit des influxus physicus realis aufhebt. Auch wendet er sich allmählich von dem zuerst übernommenen eudämonologischen Optimismus wohl unter dem Einfluß von CRUSIUS ab, um nach dem Durchgang durch den Indifferentismus [Gleichgültigkeit, Uninteressiertheit - wp] beim eudämonologischen Pessimismus zu münden, während er dem teleologisch-evolutionistischen Optimismus niemals untreu wurde.

Von WOLFF und seiner Schule ist KANT in hervorragendem Maß abhängig, insbesondere darin, daß er Philosophie als Wissenschaft nur soweit gelten läßt, als sie eine Erkenntnis von apodiktischer Gewißheit bietet, und daß er eine Erkenntnis von apodiktischer Gewißheit nur von einer Erkenntnis a priori erwartet. In seinen ersten beiden Perioden schließt er sich WOLFFs Wiederherstellung von DESCARTES' Dualismus von geistigen und körperlichen Substanzen oder Monaden an; während seines ganzen Lebens ist er von WOLFFs Lehre über die atomistisch-dynamische Konstitution der Materie beeinflußt; in seiner zweiten und dritten Periode stimmt er auch WOLFFs Annahme zu, daß die dynamische Einwirkung der Körpermonaden (Atomkräfte als Dinge-ansich) aufeinander sich unräumlich vollzieht, während er in der ersten Periode mit NEWTON die Räumlichkeit dieser Einwirkung, d. h. die objektive Realität der Bewegung im real existierenden Raum, angenommen hatte. Gleich WOLFF nimmt er in seiner ersten Periode an, daß die Urteile der Metaphysik auf rein analytischem Weg und darum a priori gewonnen werden, weil nach WOLFFs Sprachgebrauch a priori mit analytisch und rational, und a posteriori mit synthetisch und empirische zusammenfällt, ferner, daß logischer Grund und Realgrund zu unterscheiden sind, daß nur das Einzelwesen Substanz, d. h. Kraft, oder Subjekt einer selbständigen Kraftäußerung von innen heraus, ist. Mit WOLFF bezeichnet auch er den Rückschluß von der gegebenen Existenz eines Bedingten auf ein vorauszusetzendes Unbedingtes (d. h. den aposteriorischen ontologischen Beweis des SPINOZA) unpassend als kosmologischen Gottesbeweis, und legt nicht nur in seiner zweiten, sondern auch noch in seiner dritten Periode dem scholastischen Spiel mit den Begriffen unum, verum, bonum [Einheit, Wahrheit, das Gute - wp] einen übertriebenen Wert bei. Gleich WOLFF läßt er für die Einwirkung der Körper auf Körper und der Geister auf Geister LEIBNIZ' Lehre von der prästabilierten Harmonie fallen, verwirft sie aber (mit KREUTZER und CRUSIUS) auch da, wo WOLFF sie wenigstens hypothetisch noch festhält, in der Wechselwirkung zwischen Körper und Geist.

ANDREAS RÜDIGER vertrat genau die entgegengesetzte Ansicht wie KANT in seiner ersten Periode, indem er behauptete, daß gerade die Mathematik analytisch, die Philosophie aber synthetisch verfährt. Wenn KANT in seiner zweiten Periode ebenfalls zu der Ansich überging, daß die Metaphysik synthetisch verfährt, so näherte er sich dadurch RÜDIGER an; dagegen blieb er in dem anderen Punkt seiner abweichenden Ansicht treu, daß nämlich auch die Mathematik synthetisch verfährt.

Von KREUTZER übernimmt KANT die Synthese von WOLFF und NEWTON, den Ersatz der prästabilierten Harmonie durch den als Wechselwirkung der Substanzen verstandenen influxus physicus, den Beweis für die Unfähigkeit der Materie zum Denken, gewisse Bestandteile seiner Antinomienlehre und die Neigung zur Verschmelzung des wolffischen Rationalismus mit dem Pietismus.

An BAUMGARTENs Terminologie und systematische Gliederung des zu bearbeitenden Stoffes schließt KANT sich noch in seiner zweiten Periode auf das Engste an und nimmt selbst in seiner dritten Periode nur die durch eine veränderte Problemstellung unumgänglich gewordenen Modifikationen vor. Die gelegentlichen identitätsphilosophischen Anwandlungen KANTs noch in seiner dritten Periode, denen er allerdings nirgends Folge gibt, sind ohne Zweifel auf BAUMGARTEN zurückzuführen, ebenso die in KANTs zweiter Periode noch stark hervortretende Neigung, die Veränderungen in den Monaden und in ihren realen Beziehungen zueinander auf ihre wurzelhafte Einheit im Wesen und in der Vorstellung Gottes zurückzuführen.

Durch CRUSIUS ließ KANT sich davon überzeugen, daß es nicht bloß formale, sondern auch materiale metaphysische Fundamentalsätze gibt, daß nicht bloß der Realgrund vom logischen Grund, sondern auch innerhalb des ersteren "Prinzip der Wirklichkeit" (Ursache) und "Prinzip der Möglichkeit" zu unterscheiden ist. Von ihm lernte er ferner, daß der apriorische ontologische Gottesbeweis auf einer Verwechslung der Begriffe "existieren" und "als existierend gedacht werden" beruth: von ihm wurde er auch auf den Unsterblichkeitsbeweis des CICERO aus dem postulierten künftigen Ausgleich zwischen Verdienst und Glück hingewiesen und gegen die prästabilierte Harmonie und den eudämonologischen Optimismus eingenommen. Die skeptische Kritik der rationalen Kosmologie, Psychologie und Theologie, die KANT selbst an der wolff-baumgartnerischen Metaphysik ausübte, wäre schwerlich ohne das Vorbild des CRUSIUS zustande gekommen.

Von TETENS übernimmt KANT die Dreiteilung der Seelenvermögen in Gefühl, Verstand und Willen, die schon von MENDELSSOHN angeregt worden war. Es ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß auch TETENS' Unterscheidung einer immanenten und einer transzendenten Aktivität auf die kantische Unterscheidung einer immanenten und transzendenten Aktivität und dadurch mittelbar auf den zweifachen Gebrauch des Wortes "Kausalität" im immanenten (empirischen) und im transzendenten (intelligiblen) Sinn von Einfluß geworden ist.

Mit LAMBERT stimmt KANT darin überein, daß sowohl die Mathematik als auch die Metaphysik ein synthetisches Verfahren hat und daß beide apriorische Wissenschaften sind. Von LAMBERT übernimmt er in wenig modifizierter Fassung die Problemstellung für die gesamte Erkenntnistheorie oder Kritik der reinen Vernunft: Wie sind zusammengesetzte (synthetische) Begriffe (Urteile) a priori möglich, und warum haben solche synthetischen Urteile a priori objektive Gültigkeit? Auch daß LAMBERT Raum, Zeit und Bewegung als einfache apriorische Grundbegriffe mit homogenen gleichartigen Teilen bestimmt und den apriorischen Wissenschaften der Geometrie und Phoronomie (Bewegungslehre) zugrunde legt, scheint nicht ohne Einfluß auf KANT geblieben zu sein.

Von BONNET scheint KANT beeinflußt durch die Unterscheidung des unerkennbaren Dings-ansich (chose en soi) von der Erscheinung (ce que chose paraît être), durch die Behauptung, daß LEIBNIZ alles intellektuiere, LOCKE alles sensifiziere und durch die auch von MENDELSSOHN geteilte Ansicht, daß Phänomene bloß unsere subjektiven Vorstellungen und nichts weiter sind und sein können.

Wenn KANT in seiner Annahme einer durchgängigen Korrelation zwischen Nervenphysiologie und Psychologie und in seiner Ansicht über die Bedeutung des Gehirns für das Seelenleben schon völlig modern erscheint, und von seinen deutschen Vorgängern vorteilhaft absticht, so dürfte er das wesentlich BONNET zu verdanken haben. Den Satz von BONNET, daß das Ding-ansich und seine Erscheinung in einem widerspruchsfreien Verhältnis zueinander stehen müssen, hat KANT leider nicht verfolgt. Er weicht darin von BONNET ab, daß er zwar für die Dauer der Verbindung von Geist und Körper die Ungestörtheit der Korrelation von geistigen und körperlichen Vorgängen als Bedingung eines ungestörten Geisteslebens anerkennt, wie die willige Fahrbarkeit eines Karrens als Bedingung der ungestörten Ortsbewegung für einen Menschen, solange derselbe an den Karren gebunden ist, aber nicht über die Dauer der Verbindung hinaus. Damit wird BONNETs Annahme eines Ätherleibes für KANT überflüssig und berechtigungslos, während BONNETs Metempsychosenlehre [Seelenwanderung - wp] von KANT zumindest in seiner ersten Periode geteilt wird, wo er noch an die Wanderung der Seele durch verschiedene Gestirne glaubt.

Gegen Ende seiner ersten Periode entfernt er sich dann noch weiter von BONNETs Ansichten über die Zukunft der abgeschiedenen Geister und geht in das Lager SWEDENBORGs über, jedoch ohne dessen Glauben an ein Hineinwirken der körperlosen Geister in diese Welt zu billigen. Er findet SWEDENBORGs Gedanken über ein raum- und zeitloses Geisterreicht mit idealem oder intelligiblem Commercium [Handelswert - wp] untereinander sehr erhaben und die Annahme eines solchen rein geistigen Lebens nach dem Tod der Philosophie am allerangemessensten. Was KANT sich eigentlich bei seinem mundus intelligibilis [geistige Welt - wp] im Gegensatz zum mundus sensibilis [Welt der Sinne - wp] vorgestellt hat, erfährt man erst aus seiner Billigung der bezüglichen Lehre SWEDENBORGs, wie er sie in seiner zweiten Periode (Vorlesungen über Metaphysik, von Pölitz, Seite 257) zusammenfaßt. Wenn er auch später die Begründung für jene transzendenten Ansichten geändert, bzw. auf die moralischen Beweise eingeschränkt hat, so ist doch kein Anzeichen vorhanden, daß er den Inhalt seines hier formulierten Glaubens in der dritten Periode irgendwie modifiziert hat. Unter diesem Gesichtspunkt wird es von Bedeutung, daß SWEDENBORGs Geisterreich raum- und zeitlos sein soll; denn dieser Umstand könnte für KANT im Jahr 1769 dafür mitbestimmend geworden sein, Raum und Zeit von der intelligiblen Welt als Formen des Daseins und Geschehens auszuschließen.

Mit LESSING stimmt KANT darin überein, daß der Begriff der Entwicklung, der bei LEIBNIZ nur erst eine individualistische Geltung hat, auch universalistisch übertragen werden muß, mit HERDER darin, daß die Entwicklung der Menschheit selbst wieder nur ein Glied in der teleologischen Entwicklung des Universums bildet und im Zusammenhang mit dieser aufgefaßt werden muß. Was LESSING und HERDER anstrebten, findet in KANTs vierter Periode seine metaphysische Grundlegung.


Kants erste Periode
(bis 1769)

In der ersten Periode lehnt KANT sich noch auf das Engste an die Philosophie WOLFF-BAUMGARTENs und an die Lehrbücher dieser Richtung an, die er mit dem Dynamismus NEWTONs und dessen Glauben an die objektive Realität von Raum und Zeit und Bewegung zu vereinigen sucht. In der Mechanik bemüht er sich, den Streit zwischen DESCARTES und LEIBNIZ um die Formel der Kraft dahin zu schlichten, daß jede der beiden mathematischen Formulierungen in einem anderen Sinn richtig ist, wenngleich ihm die nähere Bestimmung für die Geltung des einen und der andern noch nicht recht gelingt. In Bezug auf das Zustandekommen der Anziehung entscheidet er die von NEWTON offen gelassene Frage im Gegensatz zu NEWTONs Schule zugunsten der Vermittlung durch eine elastische Materie und zu ungunsten der aetio in distans, die er im Gegensatz zu NEWTON selbst auch für die Abstoßung auf molekulare Entfernungen verwirft. In Bezug auf die Fortpflanzung des Lichts entscheidet er sich gegen die Emissionshypothese [etwas, das in die Welt freigesetzt oder ausgestoßen wird - wp] und für die Undulationshypothese [Wellenbewegungen, Schwingungen - wp] (also gegen NEWTON und für EULER). Eine richtige Theorie der Winde und ebenso eine natürliche Entstehungsgeschichte des Planetensystems stellte er selbständig auf. Diese naturwissenschaftlichen Interessen verhinderten zunächst eine systematische Darstellung seines philosophischen Standpunktes; es sind nur einzelne Punkte, über welche seine zerstreuten Abhandlungen Aufschluß geben, und unter diesen wieder sind nur wenige von systematischer Bedeutung.

Den Grundsatz der numerischen Identität des begrifflich Ununterscheidbaren verwirft KANT folgerichtigerweise, weil er hier noch die bloße Ortsverschiedenheit zweier begrifflich gleichen Dinge als eine reale Daseinsverschiedenheit anerkennt. Aus dem Prinzip des bestimmenden (nicht: "zureichenden") Grundes folgert er, daß die Veränderung an einer Substanz ihren Grund nur in anderen Substanzen und in ihrer realen Beeinflussung durch diese haben kann, und daß verschiedene Substanzen nicht miteinander in realer Beziehung stehen können, wenn sie nicht durch eine gemeinsame Ursache, den göttlichen Verstand, in solche Beziehungen gesetzt und erhalten werden.

Die reale Opposition entgegengesetzt gerichteter Größen oder Kräfte (+ und -) unterscheidet er von der logischen (Bejahung und Verneinung desselben Prädikats), und demgemäß den Realgrund vom logischen Grund; alle positiven und negativen Realgründe in der Welt zusammengenommen sind gleich Null. Die Verschiedenheit des logischen Grundes vom Realgrund oder der Ursache macht es unmöglich, irgeneinen realen Kausalzusammenhang aus bloß logischen Beziehungen, d. h. am Leitfaden des Satzes vom Widerspruch einzusehen oder etwas Tatsächliches aus reiner Vernunft zu behaupten. In der realen Kausalität und in der Tatsächlichkeit wird also logisch ein undurchdringlicher Rest anerkannt, dessen Erkenntnis nur aus der Erfahrung zu schöpfen ist. Ob aber dieser Rest nur für unseren diskursiven nachbildlichen Verstand unauflöslich und für den göttlichen, alle Beziehungen konformierenden Verstand logisch auflöslich ist, oder ob die reale Kausalität und Tatsächlichkeit auch für den göttlichen urbildlichen intuitiven Verstand einen logisch unauflöslichen, alogischen Rest übrig läßt, der aus einem alogischen Prinzip in Gott entspringt, dieser Frage ist KANT in keinem Punkt seines Lebens näher getreten. Sie läßt sich aber aus seinen Prämissen heraus mit ziemlicher Bestimmtheit dahin entscheiden, daß KANT beides zugleich annehmen mußte: einen bloß für unseren Verstand und einen selbst für den göttlichen Verstand logisch unauflöslichen Rest. Denn nach KANTs Ansicht sind die Dinge ansich nichts weiter als Ideen, die mit allen ihren ideellen Bestimmungen durch eine absolute Position realisiert sind. Sofern sie nun Ideen sind, müssen sie zwar dem intuitiven göttlichen Verstand logisch durchsichtig sein, aber darum nicht ohne Rest auch dem unseren, der diskursiv und abstrakt ist; sofern sie aber absolute Positionen darstellen, durch die zu ihren logischen Bestimmungen nichts hinzukommt, haftet ihnen um ihrer Realität willen etwas Alogisches an, das auch für den göttlichen Verstand nicht in logische Bestimmungen auflösbar ist, weil es aus der transzendenten Freiheit oder dem Willen in Gott entspringt.

Daß der absolute Raum unabhängig vom Dasein aller Materie eine eigene Realität hat, will er noch im Jahr 1768 aus der Verschiedenheit symmetrisch gleicher Raumgebilde beweisen, weil diese nur in einem verschiedenen Lagenverhältnis gegen den absoluten Raum bestehen kann. (Später in der zweiten Periode dient dasselbe Argument zum Beweis der transzendentalen Idealität des Raumes.) LEIBNIZ' niedere Monaden wandelt er in einfache Körperelemente um, die durch Abstoßungskraft einen endlichen (molekularen) Raum dynamisch erfüllen.

Den ontologischen Beweis a priori für das Dasein Gottes stößt KANT um durch die Erwägung, daß das Dasein keines der Prädikate eines Subjekts ist. Anstelle desselben setzt er einen transzendentalen Beweis aus dem Begriff der Möglichkeit. Er unterscheidet den logischen und realen Grund der Möglichkeit, und findet ersteren im Ausschluß des Widerspruchs, letzteren im Vorhandensein eines Materials von Daten, an welchen erst eine logische Beziehung gesetzt werden kann. Logische oder formal unmöglich ist dasjenige, was in widerspruchsvoller Beziehung zueinander steht; die reale oder materiale Unmöglichkeit tritt da ein, wo alle Daten oder alles Material zur Aufstellung logischer Beziehungen fehlen.

Nun liegt zwar in der Verneinung aller Existenz kein innerer Widerspruch, sofern sie unmittelbar genommen nicht logisch oder formal unmöglich ist; wohl aber ist dieselbe darum unmöglich, weil mit ihr der reale oder materiale Grund aller Möglichkeit aufgehoben wäre. Dasjenige aber, dessen Aufhebung oder Verneinung alle Möglichkeit vertilgt, ist schlechterdings notwendig; denn dasjenige, wodurch alle Möglichkeit aufgehoben wird, ist schlechterdings unmöglich, und beides sind gleichbedeutende Ausdrücke ("Der einzig mögliche Beweisgrund etc.", zweite und dritte Betrachtung).

Der Fehler der Beweisführung liegt in der Voraussetzung, daß "Unmöglichkeit" und "Aufhebung aller Möglichkeit" gleichbedeutend sind; die Aufhebung aller Möglichkeit schließt aber gerade die Aufhebung aller Unmöglichkeit und Notwendigkeit in sich, und es ist unstatthaft, überhaupt noch von Unmöglichkeit zu reden, wenn nach der gemachten Voraussetzung alle Möglichkeit aufgehoben ist. Der Fehler entspringt daraus, daß KANT sein Denken von der gemachten Voraussetzung (Aufhebung des Wirklichen) unvermerkt ausnimmt, wo dann freilich von diesem fortbestehenden Denken aus auch noch von Möglichkeit, Unmöglichkeit, Notwendigkeit und dgl. logischen Bestimmungen weiter geredet werden kann. Die Unaufhebbarkeit der eigenen Vernunft und ihrer Gesetze, das unvertilgbare Gegebensein der Vernunft selbst als eines Wirklichen ist also die stillschweigende Voraussetzung, die der Argumentation zugrunde liegt; nicht die dialektische Sophistik des Möglichkeitsbegriffs, sondern das empirische Datum der Vernunft ist es eigentlich, woraus auf ein unbedingtes Sein geschlossen wird. Zu dieser Einsicht ist KANT selbst in seiner zweiten Periode fortgeschritten und hat danach seine Beweisführung umgestaltet.

Die mechanische Kausalität, welcher KANT in seinen naturphilosophischen Untersuchungen nachgegangen ist, hat er ebensowenig in seiner ersten, wie in seiner zweiten und dritten Periode für ein Letztes gehalten, sondern hat die gesetzmäßige Wirkung der Naturkräfte durchaus vereinbar erachtet mit einer harmonischen Zweckmäßigkeit der aus ihr entspringenden Ergebnisse. Da er schon die kausalen Beziehungen derselben im göttlichen Verstand ableitet, und in diesem Teil durch das Ganze bestimmt werden läßt, so ist es klar, daß auch die Übereinstimmungen und Schönheiten der Natur aus ihrer einheitlichen Ursache, d. h. aus dem sie in Beziehung zueinander und zum Ganzen entwerfenden göttlichen Verstand abgeleitet werden müssen. Diesen Gesichtspunkt hält KANT auch bei seinen astronomischen Betrachtungen fest, wo sonst die Mechanik des Geschehens sich fast ausschließlich der Beachtung aufzudrängen pflegt.

Je mehr Einfluß die metaphysische Skepsis gegen Ende der ersten Periode über KANT gewinnt, desto wichtiger wird es für ihn, die Moral von aller Metaphysik unabhängig zu machen und auf sich selbst zu stellen. Diesen Schritt vollzieht er im Jahr 1766 und bereitet damit die Umkehrung des bisherigen Verhältnisses vor, wie er sie in der dritten Periode durch die ausschließlich moralische Begründung der transzendenten Metaphysik vornimmt.
LITERATUR - Eduard von Hartmann, Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Perioden ihrer Entwicklung, Leipzig 1894
    Anmerkungen
    1) Vgl. "Das sittliche Bewußtsein", zweite Auflage, speziell die im alphabetischen Namensregister unter "Kant" angegebenen Stellen: "Kant als Vater des modernen Pessimismus" in "Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus", zweite Auflage, Nr. IV, Seite 29-137; "In welchem Sinn war Kant ein Pessimist?" in "Philosophische Fragen der Gegenwart", V, 4, Seite 112-120; "Die deutsche Ästhetik seit Kant", I. "Die Begründung der wissenschaftlichen Ästhetik seit Kant", Seite 1-27 und die im Register unter "Kant" angeführten Stellen; "Gesammelte Studien und Aufsätze", dritte Auflage, Seite 526-529.
    2) Vgl. meinen Aufsatz "Zur Kant-Literatur" in den Preußischen Jahrbüchern 1893, Heft 2, Seite 340-346.