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WILLY FREYTAG
[mit NS-Vergangenheit]
Der Realismus und das
Transzendenzproblem

[Versuch einer Grundlegung der Logik]
[7/8]

"Der Begriff des Gegebenen, des Vorgefundenen geht hervor aus Überlegungen, die sich auf die Begründung unserer Erkenntnis beziehen. Keine Erkenntnis scheint die volle Gewähr ihrer Richtigkeit in sich selbst zu tragen; man muß sich daher nach Gründen für dieselbe umsehen. Ich suche also andere Erkenntnisse, welche die in Frage stehende Erkenntnis zu stützen geeignet sind; ich mache mir klar, daß auch diese stützenden Erkenntnisse selbst wieder gestützt werden müssen, und suche nun letzte, schlechthin gültige Erkenntnisse, von denen aus alle anderen abgeleitet, bewiesen werden können, die aber selbst nicht erst bewiesen zu werden brauchen."

"So steht der vergangene Bewußtseinsinhalt dem erkennenden Subjekt anders gegenüber als der gegenwärtige: welche besondere Meinung man auch mit diesen Ausdrücken gegenwärtig und vergangen verbinden mag, unabhängig von ihr können wir behaupten, daß der als gegenwärtig bezeichnete Bewußtseinsinhalt unmittelbar seinem Inhalt nach gegeben ist, daß dagegen der als vergangen bezeichnete Bewußtseinsinhalt nur als ein erinnerter, gedachter, kurz: daß nicht er selbst, sondern nur die Erinnerung, der Gedanke an ihn gegeben ist."

"Diese im engeren Sinn positivistische Behauptung, daß nämlich die menschliche Erkenntnis auf das Gegebene eingeschränkt ist, widerspricht ja geradezu dem Begriff der Erkenntnis, des Urteils. Das, was das Urteil zum Urteil, die Erkenntnis zur Erkenntnis macht, ist ja nicht selbst etwas Gegebenes, sondern etwas, das zum Gegebenen hinzukommt. Wir könnten nie etwas meinen, wenn wir lediglich auf das Gegebene beschränkt wären; denn alle Versuche, mit dem Meinen, mit dem Urteilen rein im Gegebenen zu bleiben, würden zu Tautologien, zu sinnlosen Sätzen führen."

"Es handelt sich hier um Erscheinungen aus dem wissenschaftlich immer noch so wenig geklärten Gebiet der Aufmerksamkeit. Ein Tendenzbewußtsein, eine Richtung der Aufmerksamkeit auf den Inhalt schein notwendig zu sein, wenn ein Inhalt sich aus dem Komplex des schlechthin Gegebenen als ein gemeinter herausheben soll."


VII. Abschnitt
Das Gegebene

§ 1. Gänzlich unabhängig vom apriorischen Beweis der Immanenz besteht der positivistische, der ja auch, wie schon bemerkt, im Grunde zu einer etwas anderen Auffassung der Immanenz, freilich immer zum Anti-Realismus führt.

Der Gegenbeweis, den ich gegen die Immanenz in einem apriorischen Sinn geführt habe, genügt daher nicht zur Widerlegung der Immanenz im Sinne des Positivismus; ich muß also diesen Standpunkt gesondert betrachten.

Zwei verschiedene Behauptungen bildeten den wesentlichen Inhalt des positivistischen Beweises; die erste ist die in einem engeren Sinn positivistische, daß die menschliche Erkenntnis nicht über das Gegebene hinaus gelangen kann, daß nichts als wirklich anerkannt werden darf, was nicht als wirklich gegeben ist, die zweite aber ist die, daß das Gegebene Bewußtsein, Bewußtseinsinhalt, Empfindung ist.

Ich beginne mit der Erörterung der zweiten. Ich habe in den obigen Ausführungen über den Sinn des Wortes "Bewußtsein" gezeigt, daß dasselbe nur in zwei Bedeutungen für den Standpunkt des strengen Konszientialismus in Betracht kommen kann, entweder nämlich im Sinne einer Prinzipialkoordination oder aber in dem Sinn, nach welchem damit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entsprechend auf diejenigen Inhalte hingewiesen wird, welche in der Psychologie als psychische Inhalte bezeichnet werden. Und in beiden Richtungen ist, wie ebenfalls schon bemerkt, das Wort auch verwendet worden für die speziellere Behauptung: Das Gegebene sei das Bewußtsein.

Wir haben also den ersten Satz: "Das Gegebene ist in der Form einer Prinzipialkoordination gegeben"?

Nach den Ausführungen des vorigen Abschnitts werden wir uns rasch über denselben entscheiden können.

Alle Dinge der Welt stehen, wenn wir sie ihrem vollen Inhalt nach, nach allen ihren Beziehungen berücksichtigen, in einer Prinzipialkoordination [unauflösliche Wechselbeziehung zwischen Ich und Umgebung - wp]; aber es kann nicht behauptet werden, daß das, was in irgendeiner Erkenntnis gerade von diesen Dingen gegeben ist, stets als mitgegeben eine Beziehung auf ein Subjekt enthält. Da sich der Gedanke nie auf sich selbst richten kann, so ist der Inhalt desselben nie unmittelbar als gedachter, mit einer Beziehung auf den Gedanken behaftet gegeben, sondern diese Beziehung kann erst in einem zweiten Gedanken, einer zweiten Reflexion gegeben sein. In solchen Reflexionen auf Gedanken, und in Begriffen, welche die Dinge nach all ihren Beziehungen umfassen, kurz in den Gedanken allein, die sich ausschließlich oder einschließlich geradezu auf das Objektsein für ein Subjekt richten, ist dieses Objektsein Gegenstand des Denkens, vielleicht auch unmittelbar gegeben. In allen anderen Gedanken finden wir die Inhalte vor als Dinge-ansich.

Daß die Inhalte, die der Mensch vorfindet, die ihm überall entgegentreten, die er nicht bezweifeln kann, kurz: die ihm einfach gegeben sind, nicht immer Gedanken und nicht immer mit einer Beziehung auf solche gegeben sind, ist eine zu augenscheinliche Tatsache, als daß sich ihrer Anerkennung selbst die strengen Konszientialisten auf die Dauer hätten entziehen können. AVENARIUS vertritt wohl im Weltbegriff die Meinung, daß "beides: Ich und Umgebung zu jeder Erfahrung gehören" (Seite 83), aber in den späteren "Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie" (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1894/5) sieht er sich veranlaßt, die (reine) Erfahrung in zwei Arten zu scheiden, die volle Erfahrung und die Teilerfahrungen.

Die volle Erfahrung ist nicht immer in all ihren Teilen gegeben, setzt sich vielmehr aus nicht notwendig zugleich gegebenen Teilerfahrungen zusammen, die nun ihrerseits durchaus nicht nach dem Schema einer Prinzipialkoordination gebaut zu sein brauchen. So gehört zur vollen Erfahrung der Gegenstände der Psychologie, der psychischen Inhalte, daß sie nicht nur selbst als E-Werte (Empfindungsinhalte) gegeben sind, sondern daß diese E-Werte als abhängig erfahren werden vom System C, dem menschlichen Gehirn. Diese volle Erfahrung dürfte aber streng genommen überhaupt nie gegeben sein: es wird wohl immer unmöglich bleiben, einen psychischen Inhalt, einen E-Wert, als solchen und zugleich den Gehirnvorgang zu beobachten, von dem er abhängt, ganz abgesehen von der Frage, in welcher Weise die Beziehung der Abhängigkeit überhaupt gegeben sein kann.

Die Teilerfahrungen, das tatsächlich gegebene vorgefundene, ist in diesem Fall etwa ein psychischer Inhalt, oder ein Komplex von solchen, ohne alle Beziehung zu etwas außerhalb von ihnen, zu Gehirnvorgängen. So dürfte es sehr wohl möglich sein, in einer solchen Teilerfahrung, einmal nur Gedankenhaftes rein Psychisches, also lediglich zum Ich-Bezeichneten gehöriges zu erfahren, ohne daß nur ein Stück Umgebung gegeben wäre. Damit würde die Behauptung, daß ich und Umgebung zu jeder unmittelbaren Erfahrung gehören, unhaltbar geworden sein; ob nicht aber doch zur Verteidigung derselben auch für solche Teilerfahrungen geltend gemacht werden müßte - vom Standpunkt des Empiriokritizismus aus - das Ich-Bezeichnete sei dann zwar allein, ohne Umgebung gewesen, aber es bildet jetzt nicht das Zentralglied sondern das Gegenglied in der Prinzipialkoordination des Erfahrenden, will ich nicht entscheiden; dann würden die Ausführungen in der Vierteljahrsschrift vielleicht etwas umgedeutet werden müssen, die Strenge des Standpunktes aber wäre gewahrt.

Immer aber sind diese Ausführungen doch ein Beweis dafür, wie leicht die naturgemässere anti-konszientialistische Auffassung auch in die Darlegungen eines strengen und durch klares Denken ausgezeichneten Konszientialisten störend einfließen kann.

Die Behauptung also, alles Gegebene ist in Form einer Prinzipialkoordination, einer Zusammenordnung von Objekt und Subjekt gegeben, kann nicht aufrechterhalten werden: einiges ist als Objekt für ein Subjekt, d. h. mit der Beziehung auf ein Subjekt versehen, gegeben, anderes nicht.

§ 2. Ist nun in diesem ersten Sinn die Behauptung, das Gegebene ist Bewußtsein, nicht richtig, so ist sie es dagegen in dem anderen Sinn, daß als gegeben, als vorgefunden allein die Inhalte bezeichnet werden dürfen, welche mehr oder weniger allgemein, jedenfalls in der Psychologie den Namen "psychische Inhalte" tragen.

Daß diese Behauptung, "gegeben sind allein die psychischen Inhalte", keinen begrifflichen Widerspruch enthält, ist oben im VI. Abschnitt dargelegt worden. Daß die Behauptung aber überhaupt richtig ist, läßt sich folgendermaßen zeigen.

Der Begriff des Gegebenen, des Vorgefundenen geht hervor aus Überlegungen, die sich auf die Begründung unserer Erkenntnis beziehen. Keine Erkenntnis scheint die volle Gewähr ihrer Richtigkeit in sich selbst zu tragen; man muß sich daher nach Gründen für dieselbe umsehen.

In mannigfacher Richtung nun ist das möglich; ich kann andere Erkenntnisse suchen, welche die in Frage stehende Erkenntnis zu stützen geeignet sind; ich mache mir klar, daß auch diese stützenden Erkenntnisse selbst wieder gestützt werden müssen, und suche nun letzte, schlechthin gültige Erkenntnisse, von denen aus alle anderen abgeleitet, bewiesen werden können, die aber selbst nicht erst bewiesen zu werden brauchen.

Gibt es nun aber solche Erkenntnisse? Das angegebene Verfahren führt auf zwei Arten von solchen nicht selbst beweisbaren Erkenntnissen, den sogenannten formalen Grundsätzen der Erkenntnisverbindung, und den im Gegensatz dazu etwa material zu nennenden Erkenntnissen, die als Ausgangspunkt dienen für die durch die formalen Grundsätze geregelte Ableitung aller weiteren Erkenntnisse.

Jene formalen Grundsätze nun sind mehr oder weniger allgemein als schlechthin gültig anerkannt, wenn auch über ihre Anzahl und Formulierung noch Streit herrscht. Hinsichtlich der materialen Grundsätze, der materialen Ausgangspunkte des Denkens, aber ist man noch gar nicht einig; zum Teil ist man sich selbst über das Bedürfnis solcher Ausgangspunkte noch gar nicht im Klaren: einige Philosophen schreiben auch den formalen Grundsätzen materiale Bedeutung zu, versuchen wohl gar aus ihnen die gesamte Erkenntnis zu entwickeln.

Solche Versuche sind heutzutage jedoch als abgetan zu betrachten und ohne auf die ziemlich unbestimmten, ja zweideutigen Worte "formal" und "material" viel Gewicht legen zu wollen, so können wir wohl auf die Zustimmung aller modernen Philosophen rechnen, wenn wir behaupten, daß die traditionell als formal bezeichneten Grundsätze, wie der Satz des Widerspruchs, die Regeln des Syllogismus, und ähnliche mehr, nicht ausreichen, um irgendeinen beliebigen Satz der Mathematik etwa oder der Naturwissenschaft vollständig zu begründen.

In den aller Ableitung in diesen Wissenschaften vorausgeschickten Axiomen und Erfahrungen stecken ganz andersartige Erkenntnisse, die nicht nur nicht aus jenen formalen Sätzen abzuleiten, sondern oft auch nicht einmal mit ihrer Hilfe, vielleicht überhaupt nicht durch Schlüsse beweisbar sind.

Solchen Sätzen schreibt man dann wohl ebenfalls Evidenz zu; sie sind, obgleich material, doch unmittelbar gewiß, wie die formalen Sätze.

Sind aber all diese materialen Ausgangssätze wirklich evident, können sie nie falsch sein? Von den Axiomen der Mathematik könnte man das vielleicht noch zugestehen; aber die Einzelerfahrungen, die Einzelbeobachtungen, auf denen die Naturwissenschaft ihre Induktionen, das Alltagsleben seine Schlüsse aufbaut, erweisen sich doch gar zu oft als fehlerhaft, als falsch - sie sind nicht mehr evident. Diese Beobachtungen beruhen ja ihrem eigentlichen Sinne nach selbst auf Induktionen.

Ich habe im ersten Abschnitt gezeigt, daß in der gewöhnlichsten Erkenntnis des Alltagslebens, wie sie der Mensch braucht, um sich nur in dem Stück Welt zurechtzufinden, in dem er lebt, eine Reihe von Induktionen verborgen liegen, daß insbesondere in den sogenannten Erfahrungen und Beobachtungen von Dingen der Außenwelt stets eine Induktionshypothese enthalten ist.

Wenn man daher versucht hat, die Erfahrung schlechthin, vor allem die Erfahrung, Wahrnehmung der Außenwelt als selbstgewisse Erkenntnis auszugeben, oft begründet durch eine der oben besprochenen Erschleichungen: im Begriff der Empfindung, der Vorstellung liegt, daß mit ihr nicht nur das Empfinden, das Vorstellen, also das Subjektive, sondern auch das Empfundene, das Vorgestellte, also in der Vorstellung der Außenwelt diese selbst gegeben ist, - so ist die Übertreibung zu ungeheuerlich, als daß sie noch einer weiteren Widerlegung bedürfte.

Die Erkenntnis der Außenwelt als eine evidente muß aufgegeben werden; umso mehr aber möchte man geneigt sein, für die Erkenntnis der Innenwelt eine Evidenz in Anspruch zu nehmen. Ich nähere mich hiermit dem Standpunkt der Positivisten. In der Tat gibt es positivistische Ausführungen, in denen behauptet wird, daß die Urteile des Menschen über die eigenen Bewußtseinsinhalte absolute Sicherheit in sich tragen; und dieser Behauptung schließen sich auch meist die anderen sonst nicht positivistisch gesinnten Philosophen an, wie etwa SIGWART in seiner Logik, VOLKELT in Erfahrung und Denken.

Der strenge Positivismus aber und ich mit ihm muß dieser Behauptung widersprechen.

Erstens darf in dieser Frage nicht schlechthin von den Bewußtseinsinhalten des Menschen geredet werden; nicht nur stehen die Bewußtseinsinhalte die mir selbst angehören, und die meines Mitmenschen in Bezug auf eine Gewißheit der Erkenntnis auf sehr verschiedener Stufe - was natürlich durchschnittlich anerkannt wird - sondern auch die eigenen Bewußtseinsinhalte unterscheiden sich in dieser Hinsicht außerordentlich.

Ich will dabei kein Gewicht auf die mehr eine spezielle Psychologie interessierende Tatsache legen, daß die Bewußtseinsinhalte außerordentliche Abstufungen nach dem Grad der Bewußtheit zeigen, daß die Aufmerksamkeit die Sicherheit der Erkenntnis stark beeinflußt, sondern einfach auf den Gegensatz von vergangenen und gegenwärtigen Bewußtseinsinhalten hinweisen.

Wenn ich mich an ein Gefühl erinnere, das ich vor drei Jahren hatte, so wird die Erinnerung mich von demselben im allgemeinen viel weniger erkennen lassen, als die Selbstbeobachtung mir von einem gegenwärtigen Gefühl zeigt. Ja, was die Hauptsache ist, das vor drei Jahren erlebte Gefühl ist doch als solches gar nicht mehr gegeben, was ich tatsächlich von ihm habe, vorfinde, ist doch nicht das Gefühl selbst, sondern höchstens ein Nachklang, meist nur ein Zeichen, ein Erinnerungsbild, das seinem Charakter nach gar nicht selbst Gefühl, sondern Vorstellung ist.

So steht das als Vergangenes charakterisierte Gefühl, überhaupt der vergangene Bewußtseinsinhalt dem erkennenden Subjekt anders gegenüber als der gegenwärtige: welche besondere Meinung man auch mit diesen Ausdrücken "gegenwärtig" und "vergangen" verbinden mag, unabhängig von ihr können wir behaupten, daß der als gegenwärtig bezeichnete Bewußtseinsinhalt unmittelbar seinem Inhalt nach gegeben ist, daß dagegen der als vergangen bezeichnete Bewußtseinsinhalt nur als ein erinnerter, gedachter, kurz: daß nicht er selbst, sondern nur die Erinnerung, der Gedanke an ihn gegeben ist. Denn es liegt im Wesen der Erinnerung, daß sie täuschen kann; das Gegebene aber soll seinem Begriff nach frei sein von aller Täuschung, allem Irrtum. Die Erinnerung enthält eine Meinung, eine Behauptung, daß sich etwas auf bestimmte Art verhalten hat. Die Erinnerung an einen Schmerz zeigt mir etwa denselben als einen außerordentlich heftigen, d. h. ich bin der Überzeugung, daß jener Schmerz sehr heftig war, und wenn mir jemand dagegen sagt, er sei gar nicht so schlimm gewesen, so weiß ich, daß diese Aussage jener meiner Überzeugung widerspricht, daß eine von beiden falsch sein muß. Die Erinnerung ist etwas, das wahr oder falsch sein kann; sie ist ein Urteil.

An einer Erinnerung ist also zweierlei zu unterscheiden, die Meinung selbst, die wie jede Meinung unsicher ist, und der die Meinung tragende gegenwärtige psychische Zustand, der sich etwa als ein Komplex von Vorstellungen, Erinnerungsbildern darstellen würde, verbunden mit jenem eigentümlichen mehr gefühlsmäßigen Inhalt, dessen Gegenwart eben diesen Vorstellungen ihre Meinung, ihre Richtung auf die Vergangenheit gibt.

Die psychologische Analyse dieses Meinungsbewußtseins geht mich hier nichts weiter an; es genügt daran zu erinnern, daß, wenn schon dieses Meinungsbewußtsein der Erinnerung als Tatsache, als gegeben bezeichnet werden muß, doch die durch dasselbe ausgedrückte Meinung selbst nicht den Tatsachen zu entsprechen braucht, daß sie unsicher ist, wie jede Meinung.

Wenn ich somit die Behauptung der Positivisten, daß die Erkenntnis des eigenen Bewußtseins selbstgewiß ist, zunächst dahin einschränken muß, daß nur das als gegenwärtig bezeichnete Bewußtsein ein "gegebenes", "vorgefundenes" genannt werden kann, so liegt in der eben angestellten Überlegung, und das ist das zweite, was wir gegen die Behauptung einzuwenden haben, noch etwas mehr: jede Erkenntnis als Erkenntnis ist ungewiß.

Ich sagte eben, eine jede Meinung, ein jedes Urteil ist zweifelhaft, denn gegeben ist in der Meinung nicht das Gemeinte, nicht das Beurteilte, sondern nur das Meinen dieses Gemeinten, das Beurteilen dieses Beurteilten.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei noch einmal betont, daß in diesem Satz, wie in der ganzen Untersuchung dieses Abschnittes Bewußtsein etwas anderes heißt, als in der des vorigen. Dort mußte ich die Behauptung zurückweisen, daß in jedem Gedanken der Gegenstand als ein gedachter, als ein Bewußtseinsinhalt gedacht oder gegeben ist, hier muß ich die den Worten nach identische Behauptung bejahen. Dort hieß eben Bewußtseinsinhalt so viel wie "Objekt für ein Subjekt", hier bezeichnet es die "psychischen Inhalte" der Psychologie, die Farben, Töne, Gefühle usw. Daß in jedem Gedanken der Inhalt als Objekt für ein Subjekt gegeben ist, ist falsch; unbestreitbar dagegen ist, daß alles, was in einem Gedanken gegeben ist, sich auf "psychische Inhalte" beschränkt, nämlich sogenannte Vorstellungen wie Farben, Töne und mehr oder weniger gefühlsmäßige Begleitzustände, zu denen auch das Meinungsbewußtsein wohl am Besten zu rechnen wäre.

Wenn ich aber zugestehen muß, daß als unzweifelhafte Erfahrung, als sichere Tatsache im Urteil, in der Meinung, nicht der Sachverhalt, der beurteilt, gemeint wird, gegeben ist, eben weil er falsch beurteilt werden kann, daß nur Vorstellungen und Gefühlszustände als Grundlagen, Träger, Begleiter des Urteils, der Meinung gegeben sind, so ist damit offenbar geworden, daß ein Urteil im Sinne unserer bisherigen Betrachtung überhaupt nie als gegeben bezeichnet werden darf. Wenn ich ein Urteil fälle über irgendetwas, so werde ich mir beim Denken des Subjekts wie des Prädikats wohl etwas vorstellen, es werden irgendwelche Farben, Töne usw. gegeben sein, dazu Gefühle mannigfacher Art, aber das Urteil ist nicht bloß ein Zusammen von solchen Vorstellungen und Gefühlen, es hat darüber hinaus eine Bedeutung, es meint etwas, das nicht selbst mitgegeben ist. Gegeben im eigentlichen Sinn ist nie etwas, das behauptet wird.

Nun haben wir aber doch Erkenntnisse, Behauptungen gefunden, die allgemein als etwas bezeichnet werden, die formalen Denkgesetze, die Axiome der Mathematik und die Erkenntnis des eigenen, gegenwärtigen Bewußtseins, die ja den oben gegen die Erkenntnis des vergangenen Bewußtseins geltend gemachten Bedenken nicht unterlag. Wenn diese Erkenntnisse selbstgewiß sind, muß dann nicht doch gesagt werden, daß etwas, das behauptet wird, doch zugleich auch gegeben ist?

Ich meine nun, daß praktisch genommen die bezeichneten Erkenntnisse als sicher, als zweifellose Voraussetzungen alles weiteren Denkens gelten können, aber es kommt hier auf absolute Genauigkeit an, und da werden wir jeder Erkenntnis, jeder Behauptung den Charakter der vollkommenen Gewißheit abstreiten müssen.

Ist es noch nie jemandem passiert, den Satz des Widerspruchs auf eine falsche Weise zu denken? Man wird sagen, dann hat er eben den Satz des Widerspruchs gar nicht gedacht, sondern einen anderen. Aber woran erkenne ich denn dies, daß ich den Satz des Widerspruchs denke und keinen anderen? Daß ich ihn denke, ist ja selbst nur Meinung! Ich gestehe, es wird nicht häufig vorkommen, daß man sich in diesen allgemeinen Sätzen irrt; aber ausgeschlossen ist der Irrtum nicht. Es ist allgemein, in jedem Urteil, möglich, daß ich beim Denken des Prädikats das Subjekt nicht mehr absolut genau in der Erinnerung habe, daß mich eine augenblickliche Verwirrung befällt und anderes mehr. Die allgemeinen Sätze müssen eben von einem denkenden Wesen gedacht werden, um gedacht zu werden, und dann sind sie auch allen psychischen Abirrungen unterworfen, denen das Denken überhaupt unterworfen ist.

Und solche Abirrungen sind natürlich auch möglich bei den Urteilen über gegenwärtige psychische Inhalte. Gerade bei diesen, die als Ausgangspunkte des Denkens so große Wichtigkeit haben würden, läßt sich zeigen, wie sehr das Urteil der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt ist.

Wenn ich aussage, der gegenwärtige, der vorgefundene Inhalt ist Schmerz, ist Röte, was meine ich damit? Der vorgefundene Inhalt ist als vorgefundener seinem Inhalt nach gegeben, der Schmerz selbst, die Röte selbst ist da. Daß nun das da ist, was da ist, will ich und kann ich offenbar mit meiner Aussage nicht meinen. Denn das wäre eine nichtssagende Tautologie, keine keine Behauptung, kein Urteil. Ich bin mir vielmehr bewußt, daß ich etwas meine, was durchaus keine Tautologie, keine bloße Wiederholung des Wortes oder des Gedankens ist. Ich meine, daß es in letzter Linie eine Benennung ist, die ich aussagen will. Daß der vorliegende Inhalt der unter dem Namen Röte bekannte, der durch diesen Namen eindeutig festgelegt ist, daß er Röte genannt wird, das ist eine wirkliche Aussage, keine sinnlose Worthäufung, und es ist eine wichtige Aussage, durch welche mein Inhalt eingeordnet wird in ein bekanntes System von Begriffen, das mich zu weiteren Erkenntnissen leiten kann.

Diese Auffassung des Urteils über gegenwärtige psychische Inhalte kann jedoch hier nur kurz erwähnt werden; aus ihr würden ja ohne Weiteres folgen, daß diese Art Urteile durchaus nicht evidenter sind als andere Urteile, jedenfalls nicht evidenter als Erinnerungen (Erinnerungsurteile). Das sie aber nicht als allgemein anerkannt vorausgesetzt werden kann, so muß die bloß negative Erkenntnis, daß unser Urteil keine Tautologie sein will, hier stärker betont werden. In ihr liegt ja ebenfalls enthalten, daß das Urteil seinem Sinn nach sich nicht darauf beschränken kann, das als gegeben anzuerkennen, was gegeben ist, daß es irgendwie über das Gegebene hinausgeht.

Es muß also auch in diesem Urteil unterschieden werden zwischen dem, was als gegeben vorliegt, und dem, was das Urteil erst zum Urteil macht, und das darum, weil es nicht mitgegeben ist, weil es sich nicht von selbst versteht, also hypothetischer Natur sein muß.

Es gibt also überhaupt keine Erkenntnisse, die als Gegebenes bezeichnet werden könnten. Jede einzelne Erkenntnis, jedes einzelne Urteil hat etwas Unsicheres an sich, es kann falsch sein; aber in jedem Urteil liegt doch wieder etwas, das nicht selbst schon Urteil ist, das einfach da, einfach Tatsache einfach gegeben ist, und das ist der Komplex von Inhalten, die wir mit der Psychologie gegenwärtige psychische Inhalte nennen, Vorstellungsinhalte auf der einen Seite, Meinungsbewußtsein, Gefühle auf der anderen.

§ 3. Die zweite Behauptung des Positivismus also, das Gegebene ist Bewußtseinsinhalt, ist psychischer Inhalt, kann als erwiesen betrachtet werden; aber aus dem Beweis, den ich gegeben habe, folgt unmittelbar weiter, daß die erste Behauptung des Positivismus falsch sein muß. Diese im engeren Sinn positivistische Behauptung, daß nämlich die menschliche Erkenntnis auf das Gegebene eingeschränkt ist, widerspricht ja geradezu dem Begriff der Erkenntnis, des Urteils. Das, was das Urteil zum Urteil, die Erkenntnis zur Erkenntnis macht, ist ja, wie wir sahen, nicht selbst etwas Gegebenes, sondern etwas, das zum Gegebenen hinzukommt. Wir könnten nie etwas meinen, wenn wir lediglich auf das Gegebene beschränkt wären; denn alle Versuche, mit dem Meinen, mit dem Urteilen rein im Gegebenen zu bleiben, würden zu Tautologien, zu sinnlosen Sätzen führen.

Das Urteil, die Erkenntnis gehen ihrem Sinn nach über das Gegebene hinaus; das in ihnen Gemeinte ist dem Gegebenen und daher ihnen selbst, sofern sie nur als Gegebenes, als gegenwärtiger psychischer Inhalt betrachtet werden, transzendent.

Jeder Gedanke, wurde oben bewiesen, ist sich selbst transzendent, insofern er sich selbst nie meinen kann; jetzt sehen wir weiter, daß er sich selbst als psychischem Inhalt ebenfalls transzendent ist.

Aber bei dieser zweiten Art der Transzendenz ist eines wohl zu beachten, wodurch dieselbe zu der ersten Art noch weiter in einen Gegensatz tritt. Infolge des Daseins der ersten ist es unmöglich, daß ein Gedanke sich selbst zum Gegenstand macht, das Subjekt eines jeden Gedankens ist diesem selbst transzendent; dagegen ist nicht notwendig, daß sich die zweite Art der Transzendenz auch im Subjekt zeigt: das Subjekt eines Urteils kann ja etwas Gegebenes sein, dann liegt die Transzendenz eben im Prädikat. So in dem oben als Beispiel angeführten Urteil über einen vorliegenden psychischen Inhalt Röte, in dem dieser gegebene Inhalt das Subjekt ausmacht, während im Prädikat notwendigerweise über ihn hinausgegangen werden muß, soll ein sinnloses Nochmaldenken vermieden werden.

Unserem Beweis von der Transzendenz des Urteils im zweiten Sinn läßt sich nun auch eine exaktere Form geben.

Im Begriff des Gegebenen liegt, daß es absolut sicher, ohne jede Möglichkeit des Irrtums ist; sofern ich im Gegebenen bleibe, ist daher ein falsches Urteil nicht möglich; und umgekehrt, sofern es ein falsches Urteil gibt, muß dasselbe versucht haben, über das Gegebene hinauszugehen, es muß eine Meinung gemacht haben, die das Gegebene transzendiert.

Mache ich nun die Annahme, daß die Urteile in Bezug auf unsere Frage alle gleichartig sind, d. h. entweder jedes oder kein einziges transzendent ist, so kann ich folgendermaßen schließen: Entweder ist meine Behauptung, daß das Urteil das Gegebene transzendiert, richtig oder sie ist falsch. Nehme ich aber an, daß sie falsch ist, so muß ich nach dem Obigen zugeben, daß sie selbst das Gegebene ihrem Sinn nach transzendiert; das heißt aber, ich stoße unter der Annahme, daß kein Urteil das Gegebene transzendiert, auf einen Widerspruch gegen diese Annahme, sie muß daher falsch sein.

Die Behauptung, daß das Urteils seinem Sinn nach über das Gegebene hinausgeht, ist daher richtig.

Will ich aber die genannte Annahme nicht machen, so kann ich mit Sicherheit zunächst nur sagen, daß einige Urteile, genauer alle falschen Urteile das Gegebene ihrem Sinn nach transzendieren, daß es also überhaupt eine Transzendenz gibt. Es ist aber weiter allgemein anerkannt, ja vielfach geradezu als Definition des Urteils gegeben, daß ein Urteil das ist, was wahr oder falsch sein kann. Und diese Erklärung wird wohl auf mancherlei Weise ausgelegt, sie kann jedenfalls auch so gefaßt werden, daß sie bedeutet: Jedes Urteil kann wahr sein und jedes Urteil kann falsch sein. Es läßt sich dem Urteil selbst nicht ansehen, ob es wahr oder falsch ist.

Und wir haben gesehen, es ist unleugbar, daß ein jedes Urteil, worüber es auch immer gefällt wird, selbst wenn es Denkgesetze betrifft oder etwa den gegenwärtigen psychischen Inhalt, der Möglichkeit des Irrtums unterliegt.

Wenn es aber im Wesen des Urteils liegt, unsicher zu sein, das Gegebene aber absolut sicher ist, so muß es im Wesen des Urteils liegen, über das Gegebene hinaus zu gehen. Es gibt also nicht nur einige das Gegebene transzendierende Urteile, sondern jedes Urteil, ob es schließlich wahr ist oder falsch, transzendiert das Gegebene.

Es ist der Zusammenhang des Begriffs der Wahrheit und Falschheit mit dem der Transzendenz, auf den wir hier gestoßen sind; er ist bisher so wenig beachtet worden, daß es gestattet sein mag, ihm noch einige weitere Bemerkungen zu widmen.

Ein jedes Urteil fällen wir mit dem Bewußtsein seiner Gültigkeit, wir meinen, daß es wahr ist, aber wir wissen doch alle, daß es dieses Bewußtseins wegen noch nicht wahr zu sein braucht. Die Entscheidung also über die Wahrheit eines Urteils liegt nicht im Wahrheitsbewußtsein, sondern außerhalb desselben; die Wahrheit ist etwas transzendentes.

Wir wissen, daß von zwei widersprechenden Urteilen im strengen sinn das eine wahr sein muß, daß ein Urteil, das wirklich wahr ist, auch wahr bleibt und nicht nur für den Urteilenden wahr ist, sondern überhaupt wahr ist. Die sophistischen Einwände gegen diese Sätze sind ja, soweit sie wissenschaftlich in Betracht kommen, dadurch beseitigt, daß ich das ihnen zugrunde liegende konszientialistische Prinzip widerlegt habe: das Denken verändert seinen Gegenstand nicht, sondern läßt ihn so, wie er ansich ist.

Wenn ich daher behaupte, in diesem Augenblick fährt vor meinem Haus ein Wagen vorbei, und diese Behauptung ist wahr, so ist sie nicht bloß für mich wahr, sondern für jedermann, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Man muß sich nur an den Sinn des Urteils halten, nicht bloß an die Worte. So wie die obige Behauptung ausgedrückt ist, kann sie natürlich nicht jeder andere ebenfalls ausdrücken. Die Worte "dies", "mein" sind Worte für Beziehungsbegriffe, bezeichnen, bestimmen etwas durch die Beziehung auf mich, den Sprechenden. Wollte ein Anderer diese Worte anwenden, so würde er mit ihnen notwendigerweise etwas anderes meinen als ich, einfach weil er nicht mit mir identisch ist. Er kann aber aber doch meine Behauptung richtig verstehen, indem er eben die Worte in dem Sinn faßt, den sie tatsächlich haben. Durch die Angabe "in diesem Augenblick" ist die Zeit des beurteilten Ereignisses eindeutig festgelegt, es ist der Augenblick in dem ich, der Sprechender, diese Worte gesagt habe; und durch die Angabe "vor meinem Haus" ist der Ort in derselben Weise eindeutig bestimmt.

Diese zeitlichen und räumlichen Angaben gehören also zum Inhalt des Urteils, zum beurteilten Sachverhalt, sie sind nicht Bestimmungen, welche die Gültigkeit des Urteils über diesen Sachverhalt einschränken.

Ich habe ein etwas zweifelhaft scheinendes Urteil als Beispiel gewählt, um von vornherein solche Bedenken auszuschließen, wie sie gerade aufgrund derartiger Urteile gegen die absolute Natur der Wahrheit erhoben werden möchten. Ein richtiges Urteil über einen Ort ist nicht bloß am betreffenden Ort richtig, es kann an jedem beliebigen anderen Ort gefällt werden, wie der Geograph in Deutschland richtige Urteile über eine Stadt in Amerika aussprechen kann; ein richtiges Urteil über einen bestimmten Zeitpunkt ist nicht bloß in diesem Zeitpunkt möglich wie die Wissenschaft der Geschichte beweist. Und so ist auch ein richtiges Urteil über mich selbst nicht bloß bei mir, für mich richtig, es ist überhaupt richtig.

In dieser allgemeinen Überzeugung von der objektiven Natur liegt aber die Transzendenz des Urteils als notwendige Voraussetzung eingeschlossen. Dann wäre das Urteil nicht transzendent, hätte es keine Bedeutung, die über das in ihm Gegebene hinausführt, läge alle seine Bedeutung in dem, was es als psychischer Vorgang ist, so würde ja die Wahrheit vom Urteil selbst geradezu gemacht werden; gleichgültig, ob ich urteile "a ist b" oder "a ist nicht b", jedes Urteil würde in sich richtig sein, weil ja im ersten eben das a gemeint wäre, das tatsächlich als b seiend beurteilt und darum auch gegeben wäre, im zweiten das a, das tatsächlich als nicht b seiend beurteilt und darum auch so gegeben wäre.

Es würde somit ohne Transzendenz überhaupt nicht möglich sein, daß sich zwei Urteile widersprechen: ich könnte ja in keinem Urteil etwas anderes meinen als das, was in ihm gegeben ist, niemals das, was in einem anderen Urteil gegeben ist; denn da jedes Urteil gleich seinem Gegebenen wäre, so müßten zwei Urteile, sofern sie nicht identisch sind, auch in ihrem Gegebenen verschieden und dann völlig verschieden sein.

Mit der Transzendenz fällt die Möglichkeit, daß mehrere Urteile sich auf ein und denselben (identischen) Inhalt beziehen, daß sie sich gegenseitig wie widersprechen, so auch bestätigen, kurz: daß sie sich kontrollieren können, es fällt die Möglichkeit der Wissenschaft, die Möglichkeit der objektiven Wahrheit, die Wahrheit bleibt, was auch der einzelne Mensch in seinen Gedanken denken mag.

Ich kann daher unmittelbar folgern: Wird zugestanden, daß es sich in der Wissenschaft, daher auch im Streit um die Transzendenz, um Wahrheit handelt, will der Gegner der Transzendenz dem Verteidiger der Transzendenz überhaupt widersprechen können, so muß er um die Behauptung dieses Verteidigers nur zu treffen, nur zu meinen, schon über das ihm Gegebene hinausgehen, so muß es Transzendenz geben.

Aus der Definition des Urteils also, kann man sagen, folgt, daß es transzendent ist. Aber nicht alle Gedanken sind Urteile, nicht allen kommt Wahrheit oder Falschheit zu. Sind auch die Begriffe, die Fragen und was sonst Gedanke heißt, transzendenter Natur?

Wir wollen nur kurz auf diese weiteren Probleme eingehen. Das Entscheidende ist ja der Nachweis, daß die Urteile, die Erkenntnisse notwendigerweise das Gegebene überschreiten; denn um die Tragweite der Erkenntnis handelt es sich in der ganzen Frage des Realismus. Ob dann auch noch für die einzelnen Bestandteile der Urteile, wie die Begriffe es sind, oder für besondere Hilfsmittel zur Gewinnung von Erkenntnissen, wie die Fragen, Transzendenz anzunehmen ist, hat ein mehr speziell logisches oder psychologisches Interesse, ist aber im Ganzen leicht zu entscheiden.

Die Frage ist ja nicht selbst ein Urteil, ihr kommt nicht Wahrheit oder Falschheit zu, man kann sie nur zweckmäßig oder unzweckmäßig, sinnvoll oder unsinnig nennen. Auf jede Frage aber, die überhaupt Sinn hat, also einen Gedanken enthält, ist eine Antwort in demselben Sinn möglich, und diese Antwort ist ein Urteil, ein bejahendes oder ein verneinendes. Wenn nun der Sinn von Antwort und Frage derselbe ist, und der Sinn der Antwort Sinn eines Urteils, also transzendent ist, so muß auch die Frage ihrem Sinn nach transzendent sein.

Die Frage arbeitet ja mit demselben Begriffsmaterial wie das entsprechende Urteil, nur daß das Verhalten, welches im Urteil behauptet wird, in der Frage in Zweifel gezogen, jedenfalls unbestimmt gelassen wird. Die Art des Meinens also ist eine andere, aber ein Meinen ist es auch und gestützt auf dasselbe gedankliche Material, auf dieselben psychischen Inhalte, dasselbe Gegebene. Wenn nun im Urteil etwas behauptet wird, was nicht im Gegebenen liegt, so muß auch in der Frage, weil eben nach dem gefragt wird, was das Urteil behauptet, etwas gefragt, gemeint werden, was nicht im Gegebenen liegt. Die Meinung der Frage ist andersartig als die des Urteils, aber sie ist auf denselben Gegenstand gerichtet wie die des Urteils, sie ist daher transzendent in all den Fragen, deren entsprechende Urteile, deren Antworten transzendente Gegenstände haben. In den Urteilen über immanente Gegenstände ist, wie wir gesehen haben, das Prädikat transzendent; und da in der Frage alles außer der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat ebenso ist, wie im Urteil, so muß auch das Prädikat einer Frage über immanente Gegenstände transzendent sein.

Die Frage ist also stets transzendent. Wie steht es aber mit dem Begriff? Daß Allgemeinbegriffe transzendent sind, ist eigentlich selbstverständlich: das Psychische, das Gegebene des Begriffs ist etwas Wirkliches, das Wirkliche ist stets ein konkretes Einzelnes, in seiner Bedeutung muß also der Allgemeinbegriff über das Gegebene hinausgehen. Schwieriger aber ist die Frage nach der Transzendenz des Einzelbegriffs zu beantworten. Sofern der Einzelbegriff ein Begriff vom Gegenstand ist, wie er in den Urteilen mit einem transzendenten Subjekt ein Subjekt ist, ist er natürlich transzendent. Aber wir sahen, es gibt Urteile über Gegenstände, die als gegeben bezeichnet werden mußten. Wird im Subjekt eines solchen Urteils ein gegebener Inhalt gedacht und nennen wir einen solchen Gedanken einen Begriff - entsprechender der aristotelischen Definition, daß der Begriff Teil des Urteils ist, also Gedanke des Subjekts für sich, Gedanke des Prädikats für sich - so muß ich zugestehen, daß ein solcher Einzelbegriff nicht transzendent ist.

Dieses Ergebnis aber hat etwas Unbefriedigendes an sich. Alle anderen Gedanken sind, soweit ich gesehen habe, transzendent, nur diese wenigen Einzelbegriffe sollten eine Ausnahme bilden? Ist denn, möchte man wohl fragen, die Art, wie ein gegebener Inhalt Subjekt eines Urteils wird, überhaupt ein Denken zu nennen? Wenn wir den Begriff des Denkens nicht mit dem des Bewußtseins überhaupt zusammenfallen lassen wollen, so müssen wir doch fordern, daß zum bloßen Dasein eines psychischen Inhalts noch irgendein besonderer Bewußtseinsinhalt, ein "Meinungsbewußtsein" tritt, damit ein Gedanke zustande kommt.

Im Urteil ist so ein Meinungsbewußtsein vorhanden, in der Frage ebenfalls, nur anderer Art, im *Allgemeinbegriff ist es offenbar im Bewußtsein von der Allgemeinheit gelegen; sollte es für den Einzelbegriff nicht auch vorausgesetzt werden dürfen?

In der Tat glaube ich einen psychischen Unterschied feststellen zu können zwischen dem Bewußtseinszustand, in dem ein psychischer Inhalt, z. B. "Röte", lediglich da ist wie andere auch, und dem Zustand, in welchem dieser Inhalt als ein gemeinter bewußt ist, selbst wenn das meinen noch nicht Urteilen oder Fragen bedeutet.

Es ist Sache der Psychologie, hierüber Aufklärung zu geben. Wahrscheinlich dünkt uns, daß es sich hier um Erscheinungen aus dem wissenschaftlich immer noch so wenig geklärten Gebiet der *Aufmerksamkeit handelt. Ein Tendenzbewußtsein, eine Richtung der Aufmerksamkeit auf den Inhalt schein notwendig zu sein, wenn ein Inhalt sich aus dem Komplex des schlechthin Gegebenen als ein gemeinter herausheben soll.

Nehme ich nun die aristotelische Definition des Begriffs an, und ist jeder Begriff ein Gedanke, der als psychische Grundlage ein Meinungsbewußtsein fordert, so müßte im Urteil über einen gegenwärtigen psychischen Inhalt, im Subjekt des Urteils dieser psychische Inhalt nicht nur schlechthin, sondern als ein gemeinter vorhanden sein. Dann ist, - das ganze Urteil als einheitlichen Komplex genommen, - wohl dieser psychische Inhalt des Subjekts samt dem auf ihn gerichteten Meinungsbewußtsein ein Gegebenes, aber er ist nicht mehr im selben Sinn, auf gleicher Stufe gegeben wie das Meinungsbewußtsein: er ist diesem Meinungsbewußtsein transzendent.

Aber er ist nicht dem Gegebenen transzendent, da er selbst mit ihm gegeben ist.

Einfacher wäre es, wenn wir die aristotelische Definition des Begriffs nicht so genau nehmen würden und Subjekte von Urteilen zulassen, die ohne begrifflich erfaßt zu sein, unmittelbar Gegenstand des Urteils wurden.

Aber nach dem oben Gesagten würde dies wohl nur eine Ausflucht sein. Denn wenn es auch vielleicht möglich ist, daß solche Urteile vorkommen, so scheint doch eben sicher, daß in einigen Fällen gegenwärtige psychische Inhalt als Gemeintes charakterisiert sein können, und dann gibt es derartige Begriffe, deren Inhalt nicht dem in ihnen Gegebenen transzendent ist.

Obgleich es also vielleicht nicht unmöglich ist, auch den fraglichen Einzelbegriffen eine Transzendenz zuzuschreiben, so dürfte es doch vorsichtiger sein, diesen Begriffen zunächst ihre Sonderstellung zu lassen. Dann kann der Satz, daß der Gedanke transzendent ist, nicht auf absolute, sondern nur auf eine annähernde Allgemeingültigkeit Anspruch erheben. Das aber, woraus es in der Erkenntnisfrage vor allem ankommt, daß in jeder Erkenntnis, in jedem Urteil, Transzendenz zu finden ist, das bleibt bestehen.

§ 4. Der positivistische Immanenzgedanke ist also in seinem Hauptsatz, daß die Erkenntnis auf das Gegebene beschränkt ist, falsch. Seine andere Behauptung, daß das Gegeben ein psychischer Inhalt ist, habe ich als richtig nachgewiesen; ich muß aber diesem Nachweis noch einige Bemerkungen hinzufügen.

Ich habe in dem Beweis, um früher besprochenen Einwänden zu entgehen, unter psychischen Inhalten nicht etwas seinem Begriff nach zum Subjekt Gehöriges verstanden, sondern vielmehr das Wort "psychischer Inhalt" als bloßen Gesamtnamen für Dinge wie Farben, Gestalten, Töne, Gefühle angenommen; ich sagte über die Natur dieser von uns mit der Psychologie psychisch genannten Inhalte nichts aus, ich ließ völlig dahingestellt, ob diese Dinge tatsächlich subjektiv sind oder nicht, ich betrachtete sie lediglich, wie sie sich selbst gaben, ihrem Inhalt nach. Und diese Dinge, habe ich zu zeigen versucht, sind sofern sie als solche nicht bloß als Gedachte, Gemeinte auftreten, gegeben, und über sie als das Gegebene geht jedes Urteil, jede Erkenntnis hinaus.

Für diesen ganzen Nachweis ist also das Gegebene noch nichts Subjektives, und es ist auch für den strengen Positivismus nichts Subjektives, wenn auch der einzelne positivistische Philosoph, wie der Konszientialist überhaupt, sich mitunter etwas mißverständlich über diesen Punkt ausdrückt, oder sich selbst eine Begriffsverwechslung zuschulden kommen läßt.

Für den strengen Positivismus, wie er von AVENARIUS besondern klar in seinen späteren Schriften und von *MACH [vstern] vertreten wird, ist das Subjektive nur ein Teil des Gegebenen: die Gefühle und Gedanken - letztere etwa nach unserer Terminologie das Meinungsbewußtsein - sind subjektiv, die als Sachen charakterisierten Farben, Formen, Töne sind etwas Objektives. Und das ist auch der Standpunkt anderer Denker, die wie *BRENTANO kaum als Positivisten bezeichnet werden können.

Obgleich diese Auffassung der Farben, Töne, Gestalten, Bewegungen als objektiver, physischer Dinge somit durchaus nichts Vereinzeltes ist, so haben wir doch den Terminus "psychischer Inhalt" darauf angewandt, erstens: weil die moderne Psychologie ihn für diese Gegenstände braucht, und zweitens: weil ich der Meinung bind, daß alle diese Inhalte tatsächlich doch subjektiv sind, abhängig vom Subjekt.

Sie sind gerade in dem Sinn psychische Inhalte, wie ihn AVENARIUS in seinen schon angeführten Bemerkungen zum Gegenstand der Psychologie angibt: sie sind Abhängige des Systems C, des menschlichen Gehirns. Der einfache Beweis dafür ist, daß sich eben diese Inhalte, genau so, wie sie uns gewöhnlich entgegentreten, auch in den Träumen, Halluzinationen vorfinden, also dann, wenn keine physischen Dinge in der Außenwelt vorhanden sind, die auf das Gehirn wirkend Abbilder von sich im Bewußtsein erzeugen könnten. Diese Inhalte hängen also, so wie sie sind, von Vorgängen im Gehirn ab, sie sind subjektiv.

Eben diese Behauptung, darauf möchte ich hier ausdrücklich hinweisen, mußte oben als unmögliche Deutung der positivistischen Sätze zurückgewiesen werden; damit war aber nicht gesagt, daß sie überhaupt falsch ist. Gewiß, solange der Satz gilt, daß alle Erkenntnis auf das Gegebene beschränkt ist, solange kann nicht alles Gegebene in diesem angenommenen Sinn subjektiv genannt werden: ist das System C, das Gehirn, selbst etwas Gegebenes, so kann die Abhängigkeit vom System C nicht allem Gegebenen zukommen. Jetzt aber, nachdem jener positivistische Satz als unrichtig erwiesen ist, kann an der Bestimmung des Gegebenen als eines Subjektiven kein Anstoß mehr genommen werden.

Der Satz, daß alle Erkenntnis das Gegebene transzendiert, ist daher eine notwendige Voraussetzung des Satzes, daß das Gegebene subjektiv ist; er ist es auch noch in einem zweiten Sinn. Wie schon bemerkt, kann man kaum annehmen, daß ein Gehirnvorgang und sein psychisches Korrelat jemals zugleich gegeben sein sollten, daß daher, wenn irgendwelche psychischen Inhalte, wie Farben, Töne gegeben sind, der ihnen kausal zugeordnete Gehirnvorgang mit gegeben wäre; dieser als unabhängige Variable eines derartigen gegebenen Inhaltes liegt also, wenn nicht immer, so doch in den meisten Fällen außerhalb des Gegebenen.

Die Erkenntnis, daß das System C die Ursache jener Inhalte ist, setzt daher die Möglichkeit voraus, überhaupt über das Gegebene hinausgehen zu können, besonders dann, wenn der Begriff "Ursache" im strengen Sinn genommen wird, also eine ausnahmslose Zuordnung des verursachenden und des verursachten Inhaltes meint.

In einem engen logischen Zusammenhang also steht der Satz von der Subjektivität des Gegebenen mit der Frage des strengen Positivismus, mit dem allgemeinen Transzendenzgedanken. Aber er beruth nicht rein auf allgemeinen begrifflichen Überlegungen, sondern mehr auf speziellen Erkenntnissen psychologischer oder naturwissenschaftlicher Art, Erkenntnisse, welche im allgemeinen außerhalb des Gebietes dieser Betrachtungen liegen, in einem Punkt aber doch wieder unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nämlich da, wo sie die unserem allgemeinen theoretischen Problem gleichsam zur konkreten Ergänzung dienende Frage der Außenwelt berühren: Alles Gegebene ist subjektiv, gehört zur Innenwelt, nur Stücke der Innenwelt also, nichts von der Außenwelt ist gegeben; diese aber ist die Ursache von jener! Wie passen diese Erkenntnisse zusammen?

Die Frage nach der Erkennbarkeit der Außenwelt erhebt sich hier von Neuem, aber sie hat ein anderes Gesicht bekommen: nach der Klärung des allgemeinen Problems tritt auch ihr Sondercharakter schärfer ausgeprägt hervor. Ähnliches gilt von einigen weiteren Fragen, die unmittelbar an den positivistischen Gedanken anknüpfend sich auf das Problem des Realismus zuspitzen; ein speziell anti-realistischer Gedanke ist ja nach dem in Abschnitt V. dargelegten Programm noch zu besprechen - so wird es zweckmäßig sein, alle diese Fäden, die von den allgemeineren logischen Überlegungen auf jenes besondere Problem des Realismus hinführen, zusammenzuknüpfen zu einer natürlich nur auf das prinzipiellere gerichteten Erörterung des Realismus selbst.

LITERATUR - Willy Freytag, Der Realismus und das Transzendenzproblem, Halle a. d. Saale 1902