tb-1Logik und Erkenntnistheorie
 
HEINRICH MAIER
Die Bedeutung der Erkenntnistheorie Kants
für die Philosophie der Gegenwart (1)

"Fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Kr. d. r. Vern. ist Hegels Phänomenologie des Geistes abgeschlossen. Zwei Jahrzehnte später hat die absolute Philosophie bereits die Hegemonie in Deutschland gewonnen. Es ist, als wäre Kants Lebensarbeit vergeblich gewesen."

"Die Polemik mußte wirkungslos bleiben, da die Kämpfer alle die Hauptschwäche des Materialismus teilten. Es fehlte ihnen, so gut wie ihrem gemeinsamen Gegner, an einer erkenntnistheoretischen Grundlegung, an einer kritischen Untersuchung des Verhältnisses, in welchem das denkende, erkennende Subjekt zum Objekt, zum Wirklichen steht. Das ist aber der einzige Punkt, an dem der Materialismus endgültig zu überwinden ist."

"Wenn die intellektualen Vorstellungen auf unserer inneren Tätigkeit beruhen, woher kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, und die Axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen?"

I.

Die Philosophie KANTs hat zweimal in der Geschichte aktuelle Bedeutung gewonnen. Das erste Mal im neunten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts - bald nachdem das schwere Gedankengefüge der Kritik der reinen Vernunft durch Freunde und Schüler des Philosophien dem Verständnis der Zeitgenossen nahegebracht worden war. Noch ehe das Jahrhundert zur Neige ging, war die neue Lehre, die neue Weltanschauung eine bestimmende Macht im deutschen Geistesleben geworden; und sie vermochte diese Führerstellung fast ein Menschenalter lang zu behaupten, trotzdem sich innerhalb der Schule selbst schon frühzeitig der Umschwung vorbereitet hatte, der die Entwicklung der Philosophie von der Linie der KANTischen  Kritik wieder weit abführen sollte. Die fähigeren Köpfe der jungen Generation, welche die Ideen KANTs am begeistertsten und erfolgreichsten in die Welt hinausgetragen hatten und am tiefsten in den Geist seiner Lehre eingedrungen zu sein glaubten, die REINHOLD, MAIMON, BECK waren nicht gesonnen, auf des Meisters Worte zu schwören. KANTs Lebenswerk galt ihnen lediglich als propädeutische Grundlegung, als eine kritische Vorarbeit, auf der nun das abschließende, die gesamte Wirklichkeit umfassende und ableitende System aufgebaut werden sollte. Keiner nahm diesen Gedanken mit mehr Energie auf, und keiner führte ihn mit mehr Geist durch, als FICHTE. War KANT auf dem langen Wege seiner philosophischen Entwicklung zu der Einsicht gelangt, daß die unserer Wahrnehmung zugängliche Welt nur Erscheinung, nur Vorstellung ist, während die reine Wirklichkeit, das Reich der Dinge in ihrem von unserem Erkennen unabhängigen Sein uns ewig verschlossen bleibt, so ist das für FICHTE der Ausgangspunkt; aber er geht weiter: die von uns vorgestellte und gedachte ist die reale Welt; "in unserem Bewußtsein gegeben sein" und "wirklich sein" ist identisch. Hatte KANT auf kritisch-analytischem Weg die Bedingungen festgestellt, denen unser Erkennen als geistige Tätigkeit unterworfen ist, die subjektiven Faktoren bestimmt, die im Zusammentreffen mit dem Objektiv-realen die in der Erscheinung vorliegende Welt hervorzubringen, und nachgewiesen, daß die Gesetzmäßigkeit, welche die uns erscheinende Natur durchwaltet, aus einer einheitsschaffenden Funktion des Denkens herstammt, so will FICHTE den gesamten Bewußtseinsinhalt, das heißt aber: die ganze Wirklichkeit aus einer Tätigkeit des Ich deduzieren. Und wenn KANT das sittliche Gesetz, das sich mit der rücksichtslosen Schroffheit des Sollens, mit dem Anspruch unbedingter Geltung im Geiste ankündigt, auf das tiefste, eigenste, der Erscheinung zu Grunde liegende Wesen des Ich zurückführt, so verbindet FICHTE den sittlichen Charakter des Geistes mit seiner erkennenden Grundfunktion und läßt die Welt der Wirklichkeit aus einer sittlichen Urtat des Ich entspringen. damit war die deutsche Philosophie in die Bahn gelenkt, auf der sie, man kann fast sagen, mit immanenter Notwendigkeit dem absoluten Idealismus HEGEL zutrieb. Das schöpferische, universale Ich der "Wissenschaftslehre", dessen der sittliche Mensch in seinem Selbstbewußtsein inne wird, das aber gleichwohl mit dem individuellen Geiste sich nicht deckt, vielmehr selbst die geistigen Individuen so gut wie die Natur aus sich hervorbringt, um in den Einzelpersönlichkeiten die Schranken der Individualität zu durchbrechen und sich zur reinen, vernünftigen Geistigkeit durchzuringen, - dieses sittliche Ur-Ich verliert in SCHELLINGs Identitätssystem auch seinen ethischen Charakter und nimmt dafür wesentliche Züge der spinozistischen Substanz in sich auf. Und in HEGELs Lehre, in der sich die Gedanken der Wissenschaftslehre und des Identitätssystems in eigentümlicher Weise zu einer höheren Einheit verbinden, wird es zu der Idee, deren Selbstentwicklung identisch ist mit dem Weltprozeß. Die Idee ist Vernunft; sie trägt die Spuren ihrer Herkunft aus dem Ich deutlich an sich, und sie ist mit dem individuellen Ich im Grunde wesensgleich. Nun ist die Grundfunktion der Vernunft das Erkennen. Darum ist die Weltentwicklung ein logischer Prozeß, der mit dialektischer Notwendigkeit und in dialektischer Form vorwärtsschreitet. Und das letzte Ziel, auf welches diese Bewegung hindrängt, ist das absolute Wissen, die Philosophie, in welcher die Idee die volle Wahrheit, die gesamte Wirklichkeit in ihrem Werden begreift, indem sie sich selbst, ihre eigene Entwicklung anschaut. Die lebendigen Subjekte aber, die Träger des absoluten Wissens sind die menschlichen Individuen. So wird im erkennenden Menschengeist das Absolute seiner selbst sich bewußt, und das philosophische Wissen des Menschen ist nichts anderes, als die Selbstanschauung der Idee in ihrer Entwicklung. Damit ist die apriorische Methode gewonnen und begründet, mittels der HEGEL es wagen kann, von einem allgemeinsten, inhaltsleersten Begriff, der primitiven Form der Idee selbst, ausgehend, die ganze Fülle des Wirklichen aus dem reinen Denken heraus zu konstruieren.

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Kr. d. r. Vern. ist Hegels Phänomenologie des Geistes abgeschlossen.  Zwei Jahrzehnte später hat die absolute Philosophie bereits die Hegemonie in Deutschland gewonnen. Es ist, als wäre KANTs Lebensarbeit vergeblich gewesen. Heutigen Tags, sagt HEGEL einmal, ist man über die KANTische Philosophie hinausgekommen. Die absolute Philosophie kann sich nicht mit der Einschränkung der Erkenntnis auf die Sphäre der Erscheinungen zufrieden geben: es gibt noch ein höheres Land, ein Land, das für die KANTische Philosophie ein unzugängliches Jenseits geblieben war. Die fundamentale Forderung der Kritik, vor allem Spekulieren solle das Erkenntnisvermögen selbst und seine Tragweite geprüft werden, wird mit der ironischen Bemerkung abgefertigt, die Untersuchung des Erkennens könne nicht anders als erkennend geschehen, erkennen wollen aber, ehe man erkenne, sei ebenso ungereimt, als der weise Vorsatz des Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage.  Die kantische Erkenntnistheorie ist vergessen.  Man hat für sie kaum noch historisches Interesse.

So blieb es, bis im fünften Jahrzehnt unseres Jahrhunderts die hegelsche Schule, durch innere Kämpfe und äußere Anfechtungen erschüttert, aus ihrer führenden Stellung langsam verdrängt wurde.  Erst als der Zauber der absoluten Philosophie gebrochen war, begannen die Philosopheme an Boden zu gewinnen, die KANTs Kritizismus näher standen. Dahin gehört vor allem HERBARTs kritischer Realismus, der sich von vornherein den idealistischen Systemen, ihrer konstruktiven Methode und ihrer Identifizierung von Denken und Sein mit voller Schroffheit entgegengestellt hatte. Von KANT übernimmt HERBART die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich. Gegeben ist uns nur die Welt der Erscheinungen; aber wo Erscheinung ist, da ist auch Sein; die Erscheinung setzt ein Reales voraus, das in ihr zur Erscheinung kommt. Allein zu dem unserem Bewußtsein Gegebenen, in dem uns eine Wirklichkeit entgegentritt, gehört nicht bloß die Empfindung: auch die Formen, in denen wir die Empfindungen anschauen und denken, sind gegeben und schließen eine solche Beziehung auf ein Wirkliches ein. So weisen die Erscheinungen auf eine reale Welt hinaus, in der eine intelligible Ordnung herrscht, eine Ordnung, die dem kritischen Denken erreichbar ist, wenn auch das Wesen der Realen und ihre gegenseitigen Beziehungen nur analogiemäßig vorgestellt werden können. Damit ist zweifellos ein bedeutender Schritt zu KANT zurück, freilich auch wieder, nach einer anderen Richtung, über ihn hinaus getan: HERBART will KANTianer sein, aber ein solcher, der des Meisters Lehre verbessert und weiterbildet. Um dieselbe Zeit fand eine andere Philosophie mehr Beachtung, die sich noch enger an die Erkenntniskritik KANTs anschließt: die FRIESsche Lehre, welche die Erkenntniskritik KANTs in psychologischem Sinn umbildet und auf psychologischem Weg eine Scheidung der objektiven und subjektiven Faktoren unseres Erkennens gewinnen will. Durch sie wurde tatsächlich die Bewegung vorbereitet, die das philosophische Denken aufs neue zu KANT zurückführte.

Es währte nicht lange, so bedurfte man der KANTischen Erkenntniskritik zur Abwehr eines Feindes, dem gegenüber die bisherigen Kampfmittel versagten. In der Mitte der fünfziger Jahre brach der bekannte  Materialismusstreit  aus. Während SCHELLING und im Anschluß an ihn HEGEL durch reines Denken ins Innere der Natur zu dringen und derselben gleichsam durch Versenkung in den eigenen Geist ihre Geheimnisse abzulauschen versucht, tatsächlich aber die Philosophie der Natur auf Grund verhältnismäßig weniger Erfahrungstatsachen mit Hilfe ihrer dialektischen Kunst konstruiert hatten, hatte sich langsam und in aller Stille die exakte Naturforschung von dem ihr lästigen Bunde mit der "Naturphilosophie" losgelöst. Als das Vertrauen in die spekulative Methode zu schwinden begann, war die Naturwissenschaft auch in Deutschland bereits eine Macht geworden. Jetzt wird in ihrem Namen den philosophisch-spekulativen Systemen die spezifisch wissenschaftliche Weltanschauung entgegen gestellt, die anstatt metaphysischer Dichtungen eine auf exakte Untersuchungen, auf sichtbare und greifbare Tatsachen gegründete Erklärung des Wirklichen geben soll. Und die Wortführer der Bewegung identifizieren geradezu mechanisch-naturwissenschaftliche Forschung und Materialismus. Der Erfolg konnte der neuen, in Wahrheit freilich alten "Wissenschaft" nicht fehlen, um so weniger, als in weiten Kreisen der Geschmack für Philosophie infolge der endlosen Fehden zwischen den philosophischen Schulen allmählich verloren gegangen war. Was den Materialismus so rasch populär machte, war nicht bloß die glänzenden, volkstümliche Darstellungskunst, nicht bloß der frische, häufig zu drastischer Ausdrucksweise greifende Radikalismus seiner literarischen Vertreter und nicht bloß der unbestreitbare Erfolg, der ihm als methodischem Forschungsprinzip in der Naturwissenschaft zu verdanken ist. Als Weltanschauung ist auch er Spekulation, Metaphysik, und zwar ein grobe, plumpe Metaphysik, die mit der Erhebung des Stoffs zum Prinzip allen Seins und Geschehens, mit der Ableitung auch der psychischen Funktionen aus der Materie die uralten metaphysischen Probleme, auf die sie stoßen muß, teils verdeckt, teils mit naiven Kraftsprüchen entscheidet und namentlich an der erkenntnistheoretischen Hauptschwierigkeit, die in der Frage nach dem Verhältnis von Erkennen und Sein liegt, ahnungslos vorübergeht. Aber sie hat vor den abstrakten, konstruierenden Spekulationen die sinnliche Anschaulichkeit ihres Welterklärungsversuchs und die solide Fundamentierung ihrer Hypothesen auf eine breite Basis von Erfahrungstatsachen voraus. - Die bisherigen System, die um ihre Existenz ringen mußten, waren dem Kampfe nicht gewachsen. Die Waffen der absoluten Philosophie selbst konnten um so weniger genügen, als kurz vorher ein Philosoph HEGELscher Deszendenz [Abkunft - wp] durch eigene Entwicklung, unabhängig von der naturwissenschaftlichen Denkweise, vom HEGELtum zum Materialismus gelangt war. LUDWIG FEUERBACH, der ursprünglich mit HEGEL die Vernunft, den abstrakten Geist als das Organ für die Erkenntnis des Seienden betrachtet hatte, setzte bald an deren Stelle die sinnliche Wahrnehmung. Aber wie in der HEGELschen Philosophie der Geist das Seiende nur darum zu denken, zu treffen vermag, weil Sein und Denken wesensgleich sind, so erfaßt nach FEUERBACHs veränderter Theorie die sinnliche Wahrnehmung das Wirkliche lediglich deshalb, weil der Gegenstand der Wahrnehmung sinnlich ist; wahrnehmen kann allein der ganze, konkrete, lebendige Mensch, und Wahrnehmen ist seine ursprüngliche, eigentümliche Tätigkeitsform; wahrnehmendes Subjekt in diesem Sinn aber uns wahrgenommenes Objekt sind ihrer eigensten Natur nach gleichartig. Von diesem metaphysischen Sensualismus bis zu der Anschauung, welche die sinnliche Wahrnehmung als Funktion der Materie auffaßt, ist nur ein kleiner Schritt. FEUERBACH hat ihn getan. So wurde aus dem Schüler HEGELs ein Materialist. Es ist bekannt, daß ein anderer Apostel der absoluten Philosophie, DAVID FRIEDRICH STRAUSS, später gleichfalls den Weg zum Materialismus gefunden hat. Im Grunde waren aber die übrigen spekulativ gerichteten Schulen dem Feinde gegenüber in derselben Lage, wie die HEGELsche. Sie alle konnten wohl einzelne Mängel und Schwächen des Materialismus hervorheben, sie konnten ihm andere Systeme entgegenstellen, nicht aber ihn widerlegen. Das gilt nicht bloß von den  theistischen Eklektikern,  die am eifrigsten in den Streit eintraten, sondern ebenso von selbständigen Denkern wie LOTZE und FECHNER, die, selbst von der Naturwissenschaft ausgehend, auf naturwissenschaftlicher Grundlage originale idealistische Systeme entworfen hatten, und nicht minder von dem feinsinnigen Aristoteliker TRENDELENBURG, der der materialistischen gegenüber eine teleologisch-organische Weltanschauung vertrat; es gilt auch von den realistisch gerichteten HERBARTianern. Die Polemik mußte wirkungslos bleiben, da die Kämpfer alle die Hauptschwäche des Materialismus teilten. Es fehlte ihnen, so gut wie ihrem gemeinsamen Gegner, an einer erkenntnistheoretischen Grundlegung, an einer kritischen Untersuchung des Verhältnisses, in welchem das denkende, erkennende Subjekt zum Objekt, zum Wirklichen steht. Das ist aber der einzige Punkt, an dem der Materialismus endgültig zu überwinden ist.

In dieser Notlage blieb nur  ein  Ausweg, und es ist charakteristisch, daß der Geschichtsschreiber, Kritiker und Advokat des Materialismus, F. A. LANGE, das in voller Schärfe aussprach,  nur  eines konnte helfen: der Rückgang auf KANT, auf KANTs Erkenntniskritik. Und es ist weiterhin bezeichnend, daß es zwei ehemalige HEGELianer waren, die, unter den ersten, diese Parole ausgaben: KUNO FISCHER und vor allem EDUARD ZELLER. Damals machte sich im Lager der deutschen Philosophie die Überzeugung geltend, der EDUARD ZELLER bereits im Jahre 1862 treffenden Ausdruck verliehen hat, die Überzeugung, daß nun für die deutsche Philosophie die Zeit gekommen sei, "zu dem Punkte zurückzukehren, von dem sie ausging, sich der ursprünglichen Aufgaben wieder zu erinnern, und ihre Lösung in dem ursprünglichen Geist, wenn auch vielleicht mit anderen Mitteln, aufs neue zu versuchen." "Der Anfang der Entwicklungsreihe aber, in der die neuere deutsche Philosophie liegt, ist KANT, und die wissenschaftliche Leistung, mit der erder Philosophie eine neue Bahn brach, ist seine Theorie des Erkennens." So erwächst der Philosophie die Aufgabe, "die Fragen, die KANT sich vorlegtef, im Geist seiner Kritik neu zu untersuchen, um, durch die wissenschaftlichen Erfahrungen unseres Jahrhunderts bereichert, die Fehler, welche KANT machte, zu vermeiden." Aber das Zurückgreifen auf die KANTische Erkenntniskritik versprach nicht bloß die Rettung der Philosophie aus ihrer ungesunden, zerfahrenen Lage und nicht bloß siegreichen Erfolg im Kampf gegen den Materialismus, sondern vor allem auch einen friedlichen Ausgleich zwischen Philosophie und Naturwissenschaft. In diesem Sinn hatte schon einige Jahre früher ein Naturforscher, und zwar kein geringerer als HERMANN HELMHOLTZ, auf KANT zurückgewiesen. In einem zu Königsberg zu Gunsten eines dort geplanten Kantdenkmals im Jahre 1855 gehaltenen Vortrag "Über das Sehen des Menschen" hebt er hervor, auf dem Boden der KANTischen Erkenntnistheorie können Naturwissenschaft und Philosophie sich einigen; die Aufgabe, die Quellen unseres Wissens und den Grad seiner Berechtigung zu untersuchen, sei ein Geschäft, das immer der Philosophie verbleiben werde und dem sich kein Zeitalter ungestraft entziehen könne; diese Aufgabe aber habe sich die KANTische Erkenntnistheorie gestellt. Als KANTs Hauptverdienst betrachtet HELMHOLTZ, daß er das Kausalgesetz und die übrigen eingeborenen Formen der Anschauung und Gesetze des Denkens aufsuchte und als solche nachwies; womit er für die Lehre von den Vorstellungen dasselbe geleistet habe, was in einem engeren Kreise für die unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen JOHANNES MÜLLER leistete: wie letzterer in den Sinneswahrnehmungen den Einfluß der besonderen Tätigkeit der Organe aufzeigte, so wies KANT nach, was in unseren Vorstellungen von den besonderen und eigentümlichen Gesetzen des denkenden Geistes herrührt. HELMHOLTZens Mahnruf, den er später beständig wiederholte, wirkte nicht bloß auf Naturforscher, sondern ebenso auch auf die Philosophen selbst, und er trug nicht unwesentlich dazu bei, eine neue Kantbewegung in Fluß zu bringen. Für die letztere war es ein besonders glückliches Zusammentreffen, daß um dieselbe Zeit in Deutschland und bald auch im Auslande die  Philosophie  SCHOPENHAUERs die lange ausgebliebene Anerkennung fand. SCHOPENHAUER gründete sein System auf die KANTische Erkenntnistheorie und wenn er auch im einzelnen an derselben manches auszusetzen weiß und namentlich ihre Ableitung des Dinges an sich, die Art, wie in ihr die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich begründet ist, korrigiert, so stellt er sich doch prinzipiell auf den Standpunkt der "Kritik", und es ist kein Zweifel, daß seine lichtvollen Erörterungen in weiten Kreisen den Sinn und das Verständnis für die erkenntnistheoretische Arbeit des Königsberger Philosophen geweckt haben.

So kam es, daß 60 Jahre nach dem Tode ihres Urhebers KANTs Philosophie, insbesondere seine Erkenntnistheorie, zum zweiten Male Epoche machte.  Wiederum ist die Kritik der reinen Vernunft eine Macht geworden, die in den Entwicklungsgang des philosophischen Denkens bestimmend eingegriffen hat. Es ist völlig richtig, wenn man gesagt hat: der KANTische Kritizismus sei der äußerliche Mittelpunkt der gegenwärtigen deutschen Philosophie. Aber sein Einfluß macht sich auch in der philosophischen Arbeit der außerdeutschen Nationen geltend.

Wieder spricht man mit Recht von  "Kantianern";  obwohl es heute so wenig wie einst eine festgeschlossene Schule ist, die des Meisters Gedanken mit ängstlicher Wahrung des Buchstabens vertreten würde. Zwar fehlt es auch in unserer Zeit nicht an "Kantianern" strengster Observanz, welche die wissenschaftliche Arbeit der Philosophie getan glauben, wenn KANT interpretiert ist.  Die meisten aber von denen, die heute auf die Kantische Philosophie zurückgreifen, knüpfen in freier, selbständiger Weise an deren kritische Grundgedanken an, um nun die Lehre des Philosophen nach dieser oder jener Seite weiter- bzw. auch umzubilden.  Was ihnen allen jedoch  gemeinsam  ist, was sie alle aus KANTs Erbe übernommen haben,  ist der erkenntnistheoretische Grundzug ihres Philosophierens,  die Einsicht in die fundamentale Wahrheit, daß die - geistige und natürliche - Wirklichkeit dem Menschen nur in seinem Bewußtsein, durch das Medium seiner Vorstellungstätigkeit und darum auch nur in den Formen und unter den Bedingungen des menschlichen Vorstellens gegeben ist, und die Überzeugung, daß es die nächste Aufgabe der Philosophie sei, die Faktoren aufzusuchen, die in unserer Vorstellung von dem Seienden zusammenwirken, und den Sinn, den Geltungswert und die Tragweite unseres Erkennens festzustellen. Doch schon die Frage, wie diese Aufgabe gelöst werden solle, wird verschieden beantwortet. Es liegt nahe, das Problem als ein  psychologisch-genetisches  zu betrachten. Und in der Tat wird vielfach der erkenntnistheoretischen Untersuchung zugemutet, durch Erforschung der Entstehung unserer Vorstellungen nicht bloß deren Bestandteile zu ermitteln, sondern auch den Wahrheitsgehalt und die Grenzen unserer Erkenntnis zu bestimmen. Dagegen richtet sich aber der Einwand, daß auf diesem psychologischen Wege nicht allein niemals eine Entscheidung über Wahrheit oder Falschheit, ein Einblick in die Art und den Grad der Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis gewonnen werden könne, daß die psychologische Forschung vielmehr ihrerseits gewisse Begriffe und Gesetze voraussetzen müsse, deren  Prüfung  zu den hauptsächlichsten Obliegenheiten der Erkenntnistheorie gehöre. So wird von anderer Seite an die Stelle der genetischen die  kritisch-analytische Methode  gesetzt, welche die fertige Erkenntnis anatomisch in ihre Elemente zerlegt und von der Reflexion über das Bewußtsein der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, das die auf Wahrheit Anspruch machenden Erkenntnisakte begleitet, die Antwort auf die erkenntnistheoretische Grundfrage erwartet. So oder so stößt die Untersuchung schließlich auf einen  unauflöslichen Rest , auf ein Etwas, das aus keiner Erkenntnisfunktion mehr abgeleitet werden kann - auf das KANTische Ding ansich. An diesem Punkte scheiden sich nun die Wege endgültig:  über die Deutung jenes Restes gehen die Meinungen der modernen "Kantianer" wieder weit auseinander.  Auf der einen Seite betrachtet man das  "Ding an sich" als das notwendig vorauszusetzende Korrelat der Erscheinung,  als einen Begriff, der zur Anknüpfung der Erscheinungen an die von unserer Vorstellung unabhängige Realität diene, als eine Annahme, die nicht entbehrt werden könne, sofern nicht unsere Vorstellungen von dem Wirklichen völlig grund- und haltlos werden sollen - so unzutreffend man nun auch da und dort die Fassung der Theorie, wie sie in dem rezipierten Terminus zum Ausdruck kommt, finden, und so verschieden der Weg sein mag, auf dem man zum "Ding an sich" zu gelangen versucht. Hier tritt jedoch ein neues Problem hervor: die Frage nach der  Erkennbarkeit des vorausgesetzten Dings an sich.  Nun herrscht zwar darüber allgemeines Verständnis, daß die jenseits unseres Bewußtseins liegende Wirklichkeit nie unmittelbar zugänglich ist. Allein darum verzichtet man doch nicht überall auf eine Befriedigungdes im menschlichen Geistes wurzelnden metaphysischen Triebes. Man hofft, wenigstens indirekt, durch Schlüsse, welche an die in unseren Vorstellungen liegenden Hinweise auf eine von ihnen unabhängige Wirklichkeit anknüpfen, die transsubjektive Realität erreichen und die Scheidung des subjektiven und des objektiven Faktors in unserer Vorstellung durchführen zu können. So wird auf kritischer Grundlage mit mehr oder weniger Zuversicht, doch immer mit dem Vorbehalt, daß alle Sätze über die reiune, jenseits unseres Bewußtseins liegende Wirklichkeit lediglich den Charakter von Hypothesen haben können, eine neue Metaphysik aufgebaut. Die Schwächt der metaphysischen Hypothesen liegt freilich am Tage: mögen sie immerhin von Anhaltspunkten in der Erfahrung ausgehen, so lassen sie sich doch nie durch Erfahrung im eigentlichen Sinn verifizieren. Nimmt man dazu die weitere Tatsache, daß auch die metaphysischen Hypothesen an die Formen und Gesetze unseres Denkens gebunden sind, daß unser Geist niemals das Reale an sich selbst, losgelöst von allen subjektiven Elementen, erfassen wir, so gewiß das Denken nie aus sich heraustreten kann, so begreift man, daß auch solche Denker, die mit voller Bestimmtheit der Erscheinung ein absolut reales Ding an sich zu Grunde legen, die Erkennbarkeit desselben preisgeben und das menschliche Wissen auf die Sphäre der Erscheinungen einschränken. Damit ist jede Art von Metaphysik verworfen. Es gibt nur  eine  Art der Systembildung, die berechtigt ist: "die Systembildung nämlich, die sich mit dem Fortschritt der exakten Wissenschaften vollzieht, der wir Wärmemechanik und Deszendenzlehre verdanken." Die wissenschaftliche Philosophie aber ist auf Erkenntnistheorie zu reduzieren. - Mit besonderer Schärfe wird der Kampf gegen die Metaphysik von denjenigen Kantianern geführt, welche  "das Ding an sich" lediglich als Grenzbegriff  anerkennen. In unseren Vorstellungen von den äußeren Dingen wie von dem geistigen Leben heben sich deutlich zwei verschiedenartige Bestandteile von einander ab. Der mannigfaltige Inhalt unserer sinnlichen Wahrnehmungen wechselt in buntem Spiel. Welches aber auch die Empfindungen sein mögen, die auf unsere Sinne eindringen - immer erscheinen sie in räumlicher Ordnung, immer fügen sie sich in die Zeitreihe ein, immer werden sie kausal verbunden und immer auf beharrliche, einheitliche Substanzen bezogen. In unserem geistigen Leben ferner drängen sich fortwährend Stimmungen, Willensimpulse und spontane Funktionen, Erinnerungen und konkret lebendige Bilder: aber auch diese Erscheinungen verlaufen stets in der Zeit, auch sie beziehen wir auf einen einheitlichen Träger, auch sie bringen wir in inneren Zusammenhang. Einerseits also bleibende, beharrliche, andererseits wechselnde Bestandteile unserer Vorstellungen, als konstitutive Bedingungen des Erkennens selbst mit dem Charakter der Notwendigkeit sich im denkenden Geiste geltend machen, ist der wechselnde Inhalt des Bewußtseins etwas schlechtweg Gegebenes, Empirische,  Irrationales,  Zufälliges. Er tritt ins Bewußtsein ein, und sein Dasein muß anerkannt werden. Aber woher er kommt, das läßt sich nicht sagen. Sofern jedoch auch jene bleibenden Faktoren nur an und mit dem mannigfaltigen Empirischen in Funktion treten, teilt sich der Charakter der Zufälligkeit dem Ganzen unserer Vorstellungswelt mit. Hier stoßen wir auf die Bewußtseinsgrenze, hier taucht der Gedanke des "Jenseits des Bewußtseins" auf. Wir stehen vor dem "Abgrund der intelligiblen Zufälligkeit", über dem sich die Welt unserer Vorstellungen erhebt. Nichts anderes als diese Erwägung ist es, was in dem Begriff des "Ding an sich" seinen Ausdruck findet. Ob jenseits unseres Bewußtseins eine absolute Realität liegt, ob ein "Ding an sich" existiert, wissen wir nicht. Das Ding an sich ist eine Idee, in der sich lediglich die Begrenztheit unseres Bewußtseins, die Selbstbeschränkung des menschlichen Denkens ausspricht. Das Erkennen selbst zieht sich damit auf die Erscheinungswelt zurück, das einzige Gebiet, das ihm zugänglich ist. Die Metaphysik, die in das "Jenseits des Bewußtseins" hinüberschweifen will, wird in das Reich der Dichtung verwiesen. Ja, man sieht in den metaphysischen Systemen nichts als Bilder des psychischen Lebens, deren insgeheim wirkende Kraft den Metaphysikern die Welt in ungeheure phantastische Spiegelungen ihres eigenen Selbst umwandelte, charakteristische Niederschläge der Wandlungen, denen das Seelenleben im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Geistes unterworfen war. Wieder wird die Metaphysik in Erkenntnistheorie aufgehoben. Der Erkenntnistheorie selbst aber fällt entweder die Aufgabe zu, die Normen der Wahrheit zu fixieren und die Elemente, welche die Erscheinungswelt konstituieren, festzustellen - dann ist sie zuletzt identisch mit der Logik. Oder sie bemüht sich, den gesamten Vorstellungskomplex in seiner vollen psychologischen Wirklichkeit zu begreifen, insbesondere die in der bleibenden Organisation des Geistes begründeten Bestandteile unserer Vorstellungen aufzusuchen und von den wechselnden, empirischen Faktoren zu sondern. Zu einer einhelligen Bestimmung des ursprünglichen, eingeborenen Besitzstandes des erkennenden Geistes ist es bei dieser Untersuchung freilich nicht gekommen. Zwar den Anschauungsformen (Raum und Zeit) wird übereinstimmend Apriorität zuerkannt; allein wie weit dieselbe reicht, in wie weit die räumlichen und zeitlichen Synthesen empirische Elemente einschließen, darüber sind die Meinungen geteilt, und die Denkformen (Substanz und Kausalität) werden wohl gar als "geschichtliche Erzeugnisse des mit den Gegenständen ringenden logischen Geistes", als bloße Hilfskonstruktionen zur Beherrschung der reinen Erfahrung, als wandelbare Geschöpfe der Logik, die eine reiche Entwicklungsgeschichte hinter sich haben, beurteilt.

Man sieht, es ist eine Fülle von Leben, die durch die Restauration der KANTischen Erkenntnistheorie geweckt worden ist. Aber deren Einfluß beschränkt sich doch nicht auf die Philosophen, die sich ausgesprochenermaßen an KANT anlehnen. Deutlich sind die Fäden wahrnehmbar, die von der KANTischen Erkenntniskritik zu dem  Idealismus  hinüberführen, der auch heute wieder das  "Bewußtseiende" und "das Seiende" identifiziert.  Im Grunde ist der Abstand nicht allzugroß, der diesen subjektiven Idealismus von der Gruppe der Neukantianer trennt, welche das "Ding an sich" in einen bloßen Grenzbegriff verflüchtigen; mit KANT hat die idealistische Theorie jedenfalls das gemein, daß auch sie in dem gegebenen Bewußtseinsinhalt, der sich mit der Wirklichkeit decken soll, zwei fundamental verschiedene Faktoren trennt: die apriorischen, spontanen, notwendigen Funktionen, denen die Begriffe der Identität und der Kausalität, die Einheit, Ordnung und Gesetzmäßigkeit des Gegebenen entspringen, und die mannigfaltigen, wechselnden, veränderlichen Elemente, welche dem Denken den Stoff für die von ihm aufgebaute Welt darbieten. Doch selbst der  Positivismus,  der die Annahme apriorischer, spontaner, in unserer Organisation begründeter Erkenntnisfaktoren ablehnt und auch die mit dem Merkmal der strengen Notwendigkeit auftretenden Elemente, auch die Einheitsfunktionen, durch welche gesetzmäßige Beziehungen zwischen dem Mannigfaltigen und Wechselnden hergestellt werden, aus den Tatsachen der reinen Erfahrung, aus Empfindungen und Wahrnehmungen herleitet, ist vom KANTischen Geist nicht unberührt geblieben. Wenn unsere modernen deutschen Positivisten nicht auf COMTE, sondern auch MILL und HUME zurückgreifen, so erklärt sich das nicht zum mindesten aus ihrer Beschäftigung mit der KANTischen Erkenntnistheorie. Bei einem der Hauptvertreter der positivistischen Denkweise, bei LAAS, liegt dieser Zusammenhang offen zu Tage.

Wo man KANT nicht beistimmen kann, fühlt man wenigstens das Bedürfnis, sich mit seiner Lehre auseinanderzusetzen.  Heutzutage kann  - in Deutschland wenigstens -  kein Philosoph es wagen, seine eigenen Anschauungen zu entwickeln, ohne sie an den kritischen Grundgedanken der Kantischen Philosophie gemessen zu haben.  In der Systembildung besonders ist man vorsichtig geworden. An die Stelle des phantasievollen Konstruierens, des kühnen, von kritischen Zweifeln nicht berührten Spekulierens ist unter dem Einfluß der wieder lebendig gewordenen KANTischen Kritik auch in der Philosophie die besonnene, ernste, Schritt für Schritt vorwärtsschreitende Forschung getreten, und die Einsicht, daß eine abschließende Weltauffassung nur auf erkenntnistheoretisch gesicherter Grundlage sich erheben dürfe, ist heute ein Gemeingut der deutschen Philosophie. Der Wiedererweckung des KANTischen Kritizismus zuvörderst verdanken wir denn auch eine Reihe geradezu  klassischer Leistungen auf dem Gebiete der Logik und der Erkenntnistheorie.  - Doch die neue KANTbewegung hat schon über den Kreis der Philosophie hinausgegriffen. Wir wissen bereits, daß HELMHOLTZens Autorität die  Naturwissenschaft,  vor allem die  Physiologie  in Fühlung mit den erkenntnistheoretischen Untersuchungen KANTs gebracht hat. Besonders in die Augen springen ist aber die Bedeutung, die der KANTische Kritizismus für die  moderne Theologie  gewonnen hat: die RITSCHLsche Theologie, welche von der in Deutschland zur Zeit noch mächtigsten Theologenschule vertreten wird, entnimmt der KANTischen Philosophie ihr wichtigsten apologetischen Waffen und ihre erkenntnistheoretische Begründung.

Hand in Hand mit dem systematischen Interesse an den kritischen Gedanken der Kantischen Philosophie geht das historische.  Seit den sechziger Jahren hat eine wahre Flut von KANTschriften den Büchermarkt überschwemmt, und diese Flut ist gegenwärtig eher im Steigen, als im Abnehmen begriffen. Eine rührige KANTphilologie bemüht sich, den genuinen Sinn inbesondere der Kritik der reinen Vernunft festzustellen. Zu einem einheitlichen Ergebnis scheinen freilich diese Forschungen in absehbarer Zeit noch nicht zu führen. Wie einst nach dem Erscheinen der Kritik, so gehen heute die Auffassungen nach den verschiedensten Seiten auseinander, und es ist bezeichnend, daß uns zum Teil wieder dieselben Gegensätze begegnen. Verschieden bestimmt wird schon das  Motiv, das zuletzt den Anstoß zu der Kantischen Erkenntniskritik gegeben hat.  Nicht überall ist man der Ansicht, daß es wissenschaftliche, theoretische Interessen waren, die KANT auf den Standpunkt der Kritik führten. Entscheidend sollen vielmehr persönliche, sittlich-religiöse Überzeugungen und Bedürfnisse gewesen sein, und man nimmt an, der Glaube an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, dessen theoretische Rechtfertigung KANT inu langem Bemühen nicht gelingen wollte, habe in letzter Linie den Anlass zu der Einschränkung der theoretischen Erkenntnis gegeben, welche die Voraussetzung des "Primats der praktischen Vernunft" war. Die größte Mannigfaltigkeit aber zeigen die  Auffassungen des Gedankengehalts der Kritik der reinen Vernunft  selbst. Nicht bloß die  Ergebnisse  derselben werden verschieden gedeutet, sondern vor allem schon ihr  Grundgedanke und ihre Untersuchungsmethode,  und es ist schwer, auch nur annähernd einen  Überblick über die verschiedenen Interpretationen  zu gewinnen. Bekannt und auch heute noch nicht überall preisgegeben ist die  rein idealistische Deutung,  nach der die Kritik das Thema: "die wirkliche Welt ist lediglich Vorstellung, Bewußtseinsinhalt" behandelt und die im menschlichen Geistes wurzelnden Formen des Anschauens und Gesetze des Denkens nur in der Absicht aufsucht, die Subjektivität unserer ganzen Erkenntnis darzutun und die Deduktion der gesamten Wirklichkeit aus dem denkenden Geiste vorzubereiten. Verwandt sind zwei andere Auffassungen, von denen man die eine skeptische, die andere die subjektivistische nennen könnte. Nach der  skeptischen  Deutung will die Kritik den Nachweis führen, daß eine von unserem Denken unabhängige Realität zwar nicht direkt geleugnet werden könne, daß uns jedoch die Dinge an sich, selbst wenn es solche geben sollte, hinsichtlich ihres Wesens und hinsichtlich ihrer Existenz ewig unerkennbar bleiben. Dadurch würde KANT in die Nähe von HUME gerückt. Er würde immerhin noch die freilich völlig unbestimmte Möglichkeit offen lassen, daß die Formen, in welche unser Denken und Anschauen den empirischen Stoff kleidet, den Dingen auch an sich zukommen. Im Gegensatz dazu ist es nach der  subjektivistischen Auffassung  die eigentliche Absicht KANTs, diese Möglichkeit auszuschließen, zu beweisen, daß Raum und Zeit, Substanz und Kausalität usf.  nur  subjektive Formen unseres Denkens und Anschauens, daß also die Dinge an sich toto genere [auf jede Art - wp] von den Erscheinungen verschieden seien. - Was der idealistischen, der skeptischen und der subjektivistischen Deutung gemeinsam ist, ist die Meinung, daß der Erscheinungscharakter, die Phänomenalität der uns gegebenen Wirklichkeit das letzte Beweisobjekt der Kritik sei - wie dieselbe sich nun auch zum "Ding an sich" stellen mochte.  Andere Auffassungen  halten diese kritische Erwägung als wesentliches Element in der KANTischen Gedankenreihe fest, betrachten sie jedoch lediglich als Voraussetzung, als Beweismittel im Dienst eines anderen Grundgedankens, der nun aber selbst wieder verschieden bestimmt wird. Es liegt nahe, auf KANTs Opposition gegen die herkömmliche, alle Erfahrung übersteigende Metaphysik das Hauptgewicht zu legen und die wesentliche Absicht und Bedeutung der Kritik in der Einschränkung des Erkennens auf die Erfahrung zu finden, in dem Nachweis, daß Erkenntnis der Wirklichkeit nur so weit als die Erfahrung reiche, und daß auch die apriorischen Elemente unserer Vorstellungen und Urteile nur für die Erfahrung, als Faktoren, als grundlegende Bestandteile derselben Gültigkeit haben. Allein man kann den Gedanken, den diese  empiristische Auffassung  in den Vordergrund stellt, wieder nur als Voraussetzung ansehen. Das tut die Deutung, die sich selbst als die  kritizistische oder auch als die transzendentale  bezeichnet. Sie betrachtet die Kritik der reinen Vernunft als eine "Theorie der Erfahrung", die sich die Aufgabe stelle, nach der "Möglichkeit der Erfahrung" zu fragen, d. h. die konstitutiven Bedingungen des in unserem Bewußtsein gegegenen bzw. von unserem Denken vollzogenen Vorstellungszusammenhangs, den wir Erfahrung nennen, die grundlegenden, nicht wegzudenkenden und darum a priori objektiv-gültigen Elemente der Vorstellung des von strenger Gesetzmäßigkeit durchzogenen Naturganzen aufzusuchen. Auch die  rationalistische Auffassung  sieht im KANTischen Phänomenalismus und Empirismus bloße Voraussetzungen; sie bezeichnet aber als eigentliches Ziel, als die alles beherrschende Tendenz der Kritik die Rettung einer rationalistischen Metaphysik, einer nicht empirischen, sondern aus dem bloßen Denken geschöpften, aber gleichwohl zutreffenden Erkenntnis von den wirklichen Dingen, eines Wissens, dessen Möglichkeit davon abhänge, daß die wirklichen Dinge Vorstellungen, Erscheinungen sind, und dessen objektive Gültigkeit sich nur auf die Bedeutung gründen könne, welche den apriorischen Elementen für die Erfahrung zukommt. - Von den bis jetzt charakterisierten Deutungen unterscheiden sich  die Auffassungen einer dritten Gruppe  dadurch, daß sie die Feststellung des Erscheinungscharakterder uns gegebenen Dinge lediglich als beiläufige, wenn auch notwendige Folgerung aus den Ergebnissen der Kritik betrachten. KANTs unmittelbare Absicht soll vielmehr sein: in unserer Erkenntnis subjektive und objektive Elemente zu scheinden, um durch Bestimmung des Anteils, der dem denkenden Subjekt an den Vorstellungen von den wirklichen Dingen zukommt, die Tragweite und die Grenzen des Erkennens zu ermitteln.  Darnach würde sich die Kritik direkt die Aufgabe stellen, welche die heutige Erkenntnistheorie zu lösen unternimmt.  Dann muß man sich freilich mit der Tatsache abfinden, daß KANT einen wesentlichen Bestandteil auch der Erscheinungen des äußeren Sinns nicht ausdrücklich in den Kreis seiner Untersuchungen gezogen hat: Die Empfindung. Konstatiert man hier nicht einfach eine Lücke, so nimmt man entweder an, die Kritik habe an die Resultate von LOCKEs "Essay" angeknüpft, der bereits die erkenntnistheoretische Untersuchung der Empfindungen zum Abschluß gebracht habe, oder man erklärt die Nichtberücksichtigung der Empfindung aus einer bestimmten, gegen den Sensualismus und Positivismus gerichteten Tendenz der Kritik, aus der ausschließlichen Absicht, die Apriorität der Anschauungs- und Denkformen gegen die positivistische Ableitung derselben aus den Affektionen der Dinge in Schutz zu nehmen. Wie dem auch sein möge - die KANTische Untersuchung soll jedenfalls zu dem Ergebnis führen, daß die subjektiven Elemente die Objekte in unseren Vorstellungen derart umspinnen und durchsetzen, daß es für das menschliche Erkennen endgültig unmöglich ist, den subjektiven Bann zu durchbrechen und direkt ins jenseitige Land der Wirklichkeit einzudringen.

Mit der Streitfrage nach dem Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft ist in eigentümlicher Weise die Kontroverse über die  Untersuchungsmethode  derselben verflochten. Man ist vielfach der Überzeugung, daß es nur auf apriorischem Weg, durch  deduktive Entwicklung  aus dem Geiste selbst gelingen könne, die apriorischen Elemente unserer Erkenntnis zu bestimmen, und man will bei KANT wenigstens einen vorbereitenden Anfang zu diesem Verfahren finden. Verbreiteter ist heutzutag die  andere Annahme,  KANT habe sich im Grunde trotz aller Ableugnung des  psychologischen Verfahrens  bedient, das die Genesis unserer Vorstellungen untersucht, um so deren subjekt-apriorische Bestandteile zu entdecken. Gleichsam in der Mitte steht eine  dritte Auffassung,  nach der KANT die apriorischen Elemente weder auf psychologischem noch auch deduktiv-apriorischem, sondern auf  analytischem Wege  durch kritische Selbstbestimmung über den Bewußtseinsinhalt ermittelt hätte.

Die übergroße Mannigfaltigkeit in der Interpretation der KANTischen Erkenntniskritik könnteden Unbefangenen stutzig machen. Eine nähere Bekanntschaft verscheucht aber das Befremden. Die Kritik der reinen Vernunft bietet in der Tat die verschiedensten Seiten dar, und je nachdem man den Blick vorwiegend auf die eine oder andere heftet, wird das Gesamtbild ein völlig anderes. Allein schon die Tatsache, daß in der Auslegung der Kritik zum Teil dieselben Kontroversen wiederkehren, die in der selbständigen Weiterbildung ihrer Gedanken nach verschiedenen Richtungen hin spielen, legt die Vermutung nahe, daß es nicht überall der objektiv-historische Weg war, auf dem die Deutungen gewonnen wurden. In der Tat hat man KANT vielfach "sachlich aus der Natur der Probleme heraus, nicht aus der Zeit, in der er sich entwickelt hat," zu verstehen gesucht; die eigene Parteirichtung hat den Erklärern häufig den Blick getrübt, sei es, daß sie viel von dem Eigenen in ihre Vorlage hinein interpretierten, sei es, daß sie aus KANTs Lehre einen Popanz machten, gegen den es dann leicht war, erfolgreich zu kämpfen. So bietet die moderne KANTbewegung vielfach das Bild einer wunderlichen Verquickung exegetischer und systematischer Fragen und Gegensätze, durch welche eine  unparteiische  Würdigung des bleibenden Wertes des Kantischen Kritizismus, die nur dem genuinen  KANT treffen darf,  ungemein erschwert wird.


II.

Das Problem der Kritik der reinen Vernunft  läßt sich nur bestimmen und verstehen, wenn man die Entstehungsgeschichte dieses Werkes, d. h. zuletzt den  philosophischen Entwicklungsgang KANTs insb. Die besondere in den Jahren 1769 - 1781, verfolgt. Die Quellen freilich, die uns gerade für diesen wichtigsten Zeitabschnitt zu Gebote stehen, sind spärlich genug. Abgesehen von der Dissertation vom Jahre 1770 sind wir auf ein paar Briefe KANTs (an LAMBERT, namentlich aber an seinen Schüler MARCUS HERZ) angewiesen. Immerhin bieten die von BENNO ERDMANN herausgegebenen "Reflexionen Kants zur Kr. d. r. V.", soweit sie in diese Zeit fallen - was freilich nicht immer mit völliger Sicherheit festgestellt werden kann -, aber auch manche Stücke der von REICKE edierten "Losen Blätter aus Kants Nachlaß" interessante Einblicke in KANTs Denkarbeit während der siebziger Jahre. Dagegen ist bei der Verwendung der aus diesen Jahren erhaltenen Vorlesungsmanuskripte - in Betracht kommt vor allem das Metaphysikmanuskript, das, wie HEINZE überzeugend nachgewiesen hat, aus der zweiten Hälfte der 70er Jahre stammt - große Vorsicht geboten.

KANTs Denken wurzelt in der  Wolffschen Philosophie,  in welche er durch seinen Lehrer MARTIN KNUTZEN eingeführt worden war. Man muß sich diese Gedankenwelt vergegenwärtigen, wenn man KANT begreifen will. WOLFFs philosophisches Ideal ist, die ganze Wirklichkeit mit dem logischen Denken zu umspannen. Vorbildlich ist das Verfahren der Mathematik. Wie in der EUKLIDischen Geometrie aus einer kleinen Zahl unmittelbar evidenter Axiome, Definitionen und Postulate mittels schlußkräftiger Syllogismen die kompliziertesten geometrischen Begriffe und Sätze abgeleitet werden, so soll ein System der Wesensbegriffe der Wirklichkeit aus wenigen allgemein anerkannten, an sich gewissen und unwidersprechlichen Sätzen und Begriffen lediglich auf dem Wege der Schlußfolgerung deduziert werden. Denn allein die rationale, a priori demonstrierende Methode führt zu wirklichem philosophischem Wissen, zu notwendigen Wahrheiten, zu apodiktischen [logisch zwingenden, demonstrierbaren - wp] Urteilen, während die Erfahrung nur zufällige Wahrheiten, nur Tatsachen zu bieten vermag. Das heißt: durch reines Denken, unabhängig von aller Erfahrung, den Dingen auf den Grundkommen wollen. In der Tat glaubt WOLFF auf diesem Weg nicht bloß die Elementarbegriffe der Dinge gewinnen, sondern ebenso die tiefsten Fragen der Psychologie, Kosmologie und Theologie lösen zu können. Und doch ist er weit entfernt, etwa Denken und Sein zu identifizieren und die Wirklichkeit aus dem Denken heraus gleichsam  erzeugen  zu wollen. Seiner Methode liegt die rationalistische Voraussetzung zugrunde, daß, was wir von den Dingen klar und deutlich durch eine spontane Tätigkeit der Vernunft, deren spezifische Funktion der Syllogismus ist, erkennen - wahr sei, d. h. mit der wirklichen Beschaffenheit der Dinge übereinstimme, und daß nur in dieser Weise eine völlig sichere und zutreffende Erkenntnis erreicht werden könne. Aber den Hintergrund des WOLFFschen Rationalismus bildet die LEIBNIZsche Lehre von der prästabilisierten Harmonie in ihrer erkenntnistheoretischen Anwendung. Denken und Wirklichkeit sind zwei völlig getrennte Welten, zwischen welchen keinerlei Wechselwirkung besteht. Wenn trotzdem der Geist den Verlauf des wirklichen Geschehens adäquat zu erfassen vermag, wenn trotzdem das Begriffssystem des Denkens ein genaues Abbild der wirklichen Welt ist, so rührt diese Übereinstimmung von einer ursprünglichen göttlichen Anordnung her, der zufolge das in sich geschlossene Vorstellungsleben des Geistes und das reale Geschehen parallel verlaufen. WOLFFs Philosophie ist eine deduktive "Philosophie aus Begriffen". Und es ist zuletzt  ein  oberstes, dem Geiste eingeborenes, aber dennoch der Voraussetzung gemäß objektiv gültiges Prinzip, der Satz vom Widerspruch mit den in ihm liegenden formalen Begriffen, aus welchem das gesamte, dem Wirklichen korrespondierende Begriffssystem erschlossen werden soll. Allein es ist klar, daß jeder syllogistische Schritt einen neuen Ansatz bedeutet, daß jedes Glied der Schlußkette einen neuen Begriff einführt. Woher nun diese neuen Begriffe? Aus bloßen Kombinationen schon vorhandener Elemente lassen sich die wenigsten ableiten. Woher aber die völlig neuen Ansätze? Nicht aus der Erfahrung? Hier liegt die Achillesferse jeder apriorisch-deduktiven Methode. WOLFF entnimmt die neuen Begriffe stillschweigend dem gegebenen Bewußtseinsinhalt. Die LEIBNIZsche Erkenntnistheorie hilft ihm über die Schwierigkeit weg: spontane, selbständige Funktionen des Geistes sind auch die Wahrnehmungen, und die aus den Wahrnehmungen entsprungenen Begriffe werden apriorische, sobald sie in die deduktive Demonstrationsreihe eingefügt werden; a priori und a posteriori ist ein Gegensatz, der im Grunde durchaus im Gebiet der spontanen Tätigkeiten des Denkens liegt. Dadurch wird der tatsächliche Ursprung der eingeführten Begriffe aus der Erfahrung und die darin zu Tage tretende Abhängigkeit des demonstrativen Verfahrens von der Empirie verdeckt, und die  Gleichsetzung von "a priori erkennen" und "erschließen",  welche das charakteristische Merkmal von WOLFFs rationalistischer Methode bildet, ermöglicht.

An diese Anschauung knüpft KANTs philosophische Entwicklung an, und er hat sich dem Zauber der rationalistischen Methode lange Zeit hindurch nicht entziehen können.  In gewissem Sinn ist er zeitlebens WOLFFianer geblieben.  Das tritt an zwei Punkten besonders deutlich hervor: KANT hat stets die Überzeugung festgehalten, daß eigentliches Wissen, d. h. allgemeingültige und notwendige Erkenntnis unabhängig von aller Erfahrung, rational, a priori sein müsse, und WOLFFs demonstrativ-syllogistisches Verfahren ist ihm immer das Ideal wenigsten der philosophischen Darstellungsweise geblieben.

Vom Inhalt der Wolffschen Philosophie  ist er freilich schon frühe  in erheblichen Stücken abgewichen.  Schon in seiner ersten metaphysischen Schrift, der  "nova dilucidatio"  vom Jahre 1755 hat er unter dem Eindruck der Angriffe, die CRUSIUS gegen die WOLFFsche Philosophie gerichtet hatte, die  Unterscheidung von Erkenntnisgrund und Realgrund  vollzogen und diese Distinktion auch auf das Prinzip des zureichenden Grundes übertragen. Während das Prinzip des zureichenden Erkenntnisgrundes schlechthin für alle Erkenntnis gilt, ist die Herrschaft des Prinzips des Realgrundes auf die zufälligen Dinge eingeschränkt. Das letztere ist das Kausalprinzip, von KANT in seiner vollen Strenge gefaßt - auch insofern, als er nun den letzten Rest der LEIBNIZschen Theorie der prästabilisierten Harmonie, der bei WOLFF noch festgehalten ist, vollends ausscheidet: er nimmt auch zwischen Seele und Körper eine reale Wechselwirkung an. Obwohl er sich nun bemüht, die Wechselwirkung zwischen den Dingen auf einen neuen metaphysischen Hintergrund zu stellen, so spürt man doch an diesem Punkt deutlich das  Ringen des Metaphysikers Wolffscher Herkunft mit dem Naturphilosophen aus der Schule NEWTONs Im gleichen Jahre, wie die  "nova dilucidatio",  war die "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" erschienen - das glänzendste Zeugnis für die Tiefe und Selbständigkeit, mit der KANT in den Geist von NEWTONs "Weltwissenschaft" eingedrungen war.  An der rationalistischen Methode Wolffs war er darum nicht irre geworden.  Das Prinzip der NEWTONschen Naturwissenschaft wird in WOLFFs Metaphysik eingefügt. Noch steht das Gesetz der Identität an der Spitze, und von ihm werden nicht bloß die Prinzipien des Erkenntnis- und des Realgrundes, sondern ebenso der Begriff und das Dasein Gottes und das ganze System der metaphysischen Begriffe und Sätze abgeleitet; selbst besondere Kausalzusammenhänge werden von der Deduktion nicht ausgeschlossen.

Das wird auch in den sechziger Jahren nicht wesentlich anders.  Zwar wirkt der Einfluß der naturwissenschaftlichen Denkweise weiter. Das macht sich besonders in der Auffassung des  Raumbegriffs  geltend. Im Grunde hatte KANT nie die in der LEIBNIZ-WOLFFschen Philosophie übliche Deutung dieses Begriffs geteilt, nach welcher ein Verhältnis des Zusammensein der Dinge, ihrer gleichzeitigen Mannigfaltigkeit, das natürlich nicht vor, sondern nur mit den Dingen gegeben und von denselben abstrahiert ist, von den Sinnen verworren vorgestellt das Bild des Raumes ergibt. Schon in der physischen Monadologie (1756) ist die Anschauung angebahnt, die in der kleinen Abhandlung von 1768 "Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume" ihren klassischen Ausdruck gefunden hat, aber wohl schon beträchtlich früher konzipiert ist: hier wird die NEWTONsche Auffassung vertreten, daß der absolute, der kosmische Raum, unabhängig vom Dasein aller Materie und selbst der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung, eine eigene Realität habe, und daß die Lagen und Gestalten der Dinge nicht auf bloßen gegenseitigen Relationen derselben, bzw. ihrer Teile, sondern überdem noch auf Beziehungen zum absoluten Weltraum beruhen. Ferner aber nimmt in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts  die Unterscheidung des logischen und des Realgrunds eine eigentümliche Wendung.  Während das logische Verhältnis von Grund und Folge nur eine besondere Art des Verhältnisses der Identität von Subjekt und Prädikat ist und die Folge sich durch bloße Zergliederung des Grundes ergibt, besagt das Verhältnis des Realgrundes, daß, weil etwasist, etwas anderes ist, das in jenem noch nicht liegt. Die reale Folge kann darum auch nicht logisch, durch Analyse des Begriffs des Realgrundes, aus demselben entwickelt werden. Damit ist ein Doppeltes gegeben: die Beziehung des Realgrundes auf etwas, das durch ihn gesetzt oder aufgehoben wird, kann überhaupt nicht durch ein Urteil ausgedrückt werden - Urteile vermögen stets nur ein im Subjekt liegendes Prädikat heranzustellen; und ferner: alle Kausalzusammenhänge sind der apriorisch-syllogistischen Deduktion entzogen. Die Kausalverhältnisse können vielleicht auf allgemeinere, einfachere Gesetze reduziert werden; immer aber stoßen wir schließlich auf letzte, nicht weiter ableitbare Beziehungen, auf unauflösbare Begriffe. In engem Zusammenhang mit dieser Erwägung steht die stets wiederholte  Warnung vor Verwechslung des mathematischen und des philosophischen Verfahrens,  welche ein Hauptfehler der bisherigen Metaphysik sei. Und wenn KANT zugleich die positive Forderung aufstellt: die richtige Methode der Metaphysik sei mit derjenigen im Grund einerlei, die NEWTON in die Naturwissenschaft einführte: man solle durch sichere Erfahrungen, allenfalls mit Hilfe der Geometrie, die Regeln aufsuchen, nach welchen gewisse Erscheinungen der Natur vorgehen, so scheint er die Metaphysik direkt ins empiristische Lager überzuführen. Allein nichts liegt KANT ferner. So schlimme Erfahrungen er mit der rationalistischen Methode WOLFFs gemacht, so häufige "Umkippungen" er nach seinen eigenen Worten bis dahin erlebt hat -  an der prinzipiellen Richtigkeit der Methode zweifelt er nicht im mindesten:  er sucht den Grund seiner Mißerfolge, wie überhaupt des bisherigen Irrgangs der Metaphysik, lediglich in einem Mangel an Behutsamkeit in der Anwendung der Methode. Und er entwirft zur selben Zeit nicht bloß die Grundzüge einer rationalen Theologie, die sich mit ihrem apriorischen "Beweisgrund" den WOLFFschen Bemühungen ebenbürtig zur Seite stellen kann, sondern ebenso auch einen Abriss eines apriorischen Systems der Ethik.

An zwei Punkten allerdings hält er eine Korrektur der rationalistischen Metaphysik für geboten.  Der eine betrifft die  Anwendung ihrer Methode.  Darauf nämlich bezieht sich die Unterscheidung des philosophischen von dem mathematischen Verfahren. Die Mathematik setzt nur wenige letzte, unerweisliche Sätze und unauflösliche Begriffe voraus. Ihre übrigen Begriffe erzeugt sie selbst durch Verbindung. Da ihr also die Definitionen mit den Begriffen oder vielmehr in den Definitionen die Begriffe gegeben sind, kann sie sofort von Definitionen ausgehen und synthetisch verfahren. Anders die Philosophie. Ihr sind zwar von Anfang an die Begriffe gegeben, aber verworren und undeutlich. Sie hat darum den synthetischen Prozeß durch einen analytischen vorzubereiten, sie hat die gegebenen Begriffe zu zerlegen, bis sie zuletzt auf nicht mehr weiter auflösbare Elemente stößt und zu unmittelbar gewissen Urteilen über dieselben gelangt, welche dann den Ausgangspunkt für die Deduktion zu bilden geeignet sind. Die NEWTONsche Methode in die Metaphysik einführen, heißt nichts anderes, als "durch sichere  innere  Erfahrung, d. i. ein unmittelbares augenscheinliches Bewußtsein diejenigen Merkmale aufsuchen, die gewiß im Begriff von irgend einer allgemeinen Beschaffenheit liegen." Der unauflöslichen Begriffe, bei denen die Analyse Halt machen muß, sind es nicht wenige. Zu ihnen gehören die Begriffe des Raumes, der Zeit, der Existenz, der Möglichkeit, der Notwendigkeit usf. Was in der WOLFFschen Lehre dunkel geblieben war: daß die neuen Begriffe, die in der vom Satz des Widerspruchs aus absteigenden Deduktionskette auf Schritt und Tritt eingeführt werden, nicht lediglich durch Zergliederung des an der Spitze stehenden Prinzips bzw. seiner Begriffe gewonnen werden können, sondern zu einem guten Teil als nicht weiter ableitbare Elemente schlechtweg aufzunehmen sind, - das ist in der KANTischen Lehre von den unauflöslichen Begriffen zu klarem Ausdruck gekommen. Die unerweislichen Urteile, welche die unauflöslichen Begriffe zum Gegenstand haben, werden als materielle Grundsätze betrachtet und zwar den formalen Prinzipien untergeordnet, nicht aber ihrem vollen Inhalt nach aus denselben abgeleitet. Daran freilich zweifelt KANT auch jetzt nicht, daß aus den abgeleiteten und gegebenen Begriffen durch Kombination und Syllogismus völlig neue Erkenntnisse deduziert werden können: oder, um in der Sprache der Kritik der r. V. zu reden, daß aus bloßen Begriffen synthetische Urteile a priori sich gewinnen lassen. Zu den unauflöslichen Begriffen gehören nun auch sämtliche Realgründe, sämtliche Kausalzusammenhänge. Darin liegt die zweite  Korrektur der rationalistischen Metaphysik:  die neue Beurteilung der Realgründe bedeutet tatsächlich eine  wesentliche Einschränkung des Anwendungsgebietes der rationalistischen Methode.  Während die WOLFFsche Metaphysik nur die tatsächliche Existenz der endlichen, zufälligen Dinge als etwas Irrationales, nicht deduktiv Ableitbares betrachtet hatte, entzieht KANT nun das ganze Gebiet der Ursachen und Wirkungen, sagen wir kurz: das ganze Gebiet der erklärenden Naturwissenschaft der apriorischen Deduktion. Allein damit ist nicht gesagt, daß die Kausalzusammenhänge sich nicht in das rationale System einfügen lassen. Nur das ist die Meinung, daß sie nicht durch Analyse allgemeiner Begriffe gefunden werden können! Ihre  Begriffe  sind unauflöslich, aber als solche eignen sie sich so gut wie andere zur Einordnung in die Deduktionsreihe.

Trotz aller Besserungen ist also die rationalistische Methode und das rationalistische Wissensideal festgehalten. Um so unzweideutiger hat man in den  "Träumen eines Geistersehers"   vom Jahr 766 Empirismus oder gar Skeptizismus finden wollen. Völlig mit Unrecht. Zwar spottet KANT in dieser Schrift über Luftbaumeister wie WOLFF und CRUSIUS, die aus wenig Bauzeug der Erfahrung die Ordnung der Dinge zimmern oder durch einige Sprüche vom Denklichen und Undenklichen die Welt hervorzauber wollen, und hält es für eine vernünftigere Denkungsart, die Gründe der Erklärung der Dinge aus dem Stoffe herzunehmen, den die Erfahrung uns darbietet, als sich in schwindlichten Begriffen einer halb dichtenden, halb schließenden Vernunft zu verlieren. Allein in derselben Schrift erklärt er, die Metaphysik - das heißt aber stets die rationalistische Metaphysik -, in welche er das Schicksal habe verliebt zu sein, leiste den Vorteil, den Aufgaben ein Genüge zu tun, die das forschende Gemüt aufwirft, wenn es verborgeneren Eigenschaften der Dinge durch Vernunft nachspäht, und ein Brief, den er an MENDELSOHN über die "Träume" schreibt, zerstreut den letzten Zweifel daran, daß er  auch damals nicht bloß an die Möglichkeit der Metapyhsik glaubt, sondern zugleich selbst sich sehr lebhaft mit metaphyischer Spekulation beschäftigt.  Daß er insbesondere an der rationalen Ontologie und Theologie festhält, ist mehr als wahrscheinlich. Wogegen sich seine Polemik wendet, ist lediglich der Versuch, besondere Kausalzusammenhänge - den Kausalbegriff selbst und das Kausalprinzip erörter er weder hier noch in den früheren Schriften - a priori, durch Schlüsse abzuleiten. Und zwar ist der Satz, daß Fundamentalverhältnisse von Ursache und Wirkung nur durch Erfahrung sich ermitteln lassen, speziell gerichtet gegen das Unternehmen der bisherigen rationalen Psychologie, welches das Wesen der Seele und ihren Zusammenhang mit dem Körper auf syllogistischem Wege bestimmen will. Die Begriffe der besonderen Kausalverhältnisse behalten ihre frühere Stellung. Sie sind empirisch, aber als Begriffe nichtsdestoweniger unauflösliche Begriffe, die sich dem rationalen System angliedern lassen. Liegt nun darin nicht ein Widerspruch? Man versteht, wie Begriffe, die, in unserem Bewußtsein aufgefunden, einer weiteren Auflösung widerstreben, sich in die Deduktionsreihe einfügen lassen. Aber empirische Begriffe? Gehören sie nicht einer ganz anderen Welt an? Eine Stelle aus einer früheren Schrift (Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen) enthält die Antwort auf diese Fragen:  "Alle Arten von Begriffen müssen nur auf der inneren Tätigkeit unseres Geistes, als auf ihrem Grunde beruhen.  Äußere Dinge können wohl die Bedingung enthalten, unter welcher sie sich auf die eine oder andere Art hervortun, aber nicht die Kraft, sie wirklich hervorzubringen. Die Denkungskraft der Seele muß Realgründe zu ihnen enthalten, so viel ihrer natürlicher Weise in ihr entspringen sollen." Auch die Erfahrungsbegriffe lassen sich also als spontane Erzeugnisse des Geistes betrachten. Man sieht sofort, daß diese Anschauung bei KANT für die rationalistische Methode dieselbe Bedeutung hat, wie bei WOLFF die LEIBNIZsche Lehre von der völligen Spontaneität der Wahrnehmungen. Sie auch nichts anderes, als eine Umbildung der letzteren, welche der Anerkennung des  influxus physicus  [Wechselwirkung zwischen Leib und Seele - wp] zwischen Seele und Leib Rechnung trägt. Auf seine neue Theorie gründet aber KANT - und zwar nun in bestimmter und bewußter Weise -  das Recht, unserem natürlichen Bewußtsein die unauflöslichen Begriffe, die materialen Grundsätze zu entnehmen,  ohne ängstliche Sorge, ob dieselben nicht vielleicht der Erfahrung entstammen.

Es ist ein immanenter Entwicklungsgang, der Kants philosophisches Denken auf den Standpunkt führte, auf dem wir es ums Jahr 1766 finden.  Das Bedürfnis nach Verbesserung der Methode war den Mißerfolgen in der Anwendung entsprungen, und die empiristische Modifikation, welche die rationalistische Metaphysik, das immerhin in den "Träumen" etwas herabgestimmt scheint, bedeutend gesteigert zu haben - ob unter dem Eindruck der damals zuerst ans Licht gezogenen "Nouveaux essais" von LEIBNIZ, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Gewiß ist, daß diese erneute spekulative Arbeit in KANTs Denken die  bedeutsame Wendung  herbeiführt, die im Jahre 1769 eintritt.

Die Erfahrungen, die er früher einmal gemacht hatte, die "Umkippungen" kehren wieder. Und im Verlauf der immer wiederholten metaphysischen Versuche drängt sich ihm die Beobachtung auf, daß auf diesem Wege nicht selten für metaphysische Sätze, die einander wie Bejahung und Verneinung gegenüberstehen, ein gleich zwingender Beweis erbracht werden könne. Das kann nicht mehr inu einem Mangel an Behutsamkeit in der Handhabung der Methode seinen Grund haben. KANT vermutet, die befremdende Tatsache möchte sich aus einer Illusion des Verstandes selbst erklären; und um dieselbe aufzudecken, "versucht er ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil." Die Dissertation vom Jahre 1770 zeigt, auf welche Probleme sich diese Versuche in erster Linie richten. Es sind speziell zwei kosmologische Fragen, die auf zwei Paare von einander kontradiktorisch entgegengesetzten, aber anscheinend gleich gesicherten Sätzen führen, auf die Gegensätze nämlich, die uns nachher in der Kritik unter der Bezeichnung  "mathematische Antinomien"  wieder begegnen. Die Welt hat im Raum und in der Zeit einen Abschluß - die Welt ist im Raum und in der Zeit unendlich; die räumlichen und zeitlichen Ganzen in der Welt bestehen aus einfachen, nicht weiter teilbaren Teilen - alles Räumliche und Zeitliche, also auch sämtliche Substanzen in der Welt sind unendlich teilbar. In beiden Fällen scheinen Thesen und Antithesen in gleich stringenter Weise begründet werden zu können. Auf der einen Seite die unzweifelhafte Tatsache, daß der Fortgang so gut wie die Teilung in Raum und Zeit nie zu einem Ende kommt, auf der anderen Seite der ebenso unbestreitbare Grundsatz, daß eine Reihe von Bedingtem nicht unendlich sein kann, sondern in einem letzten Prinzip seine abschließende Bedingung haben muß.  Diese Antinomien erschüttern zum ersten Mal Kants Glauben an den realistischen Rationalismus,  an die Metaphysik, die in den Ergebnissen der apriorischen Deduktion des Denkens unbefangen adäquate Abbilder der wirklichen Dinge sieht. Für diesmal zwar bietet sich noch ein Ausweg. Die Prämissen zu einer vorläufigen Lösung der Schwierigkeit liegen in KANTs bisheriger Entwicklung. Dem Schüler NEWTONs ist der kosmische Raum eine unendliche und unendlich teilbare Größe; und ebenso auch die Zeit. Die Antithesen also haben ihr gutes Recht. Dem Philosophen aus der rationalistischen Schule aber sind die Begriffe der Welt als einer Totalität und des Einfachen, aus welchem alles Wirkliche besteht, gleichfalls unentbehrliche, völlig sichere Bestandteile einer Welterkenntnis. So bleibt nur  eines  übrig: anzunehmen, daß Thesen und Antithesen aus verschiedenen Erkenntnisquellen fließen. In der Tat betrachtet KANT nun Raum und Zeit als die allgemeinen  Formen des Anschauens,  denen  die diskursiven Begriffe und Sätze des Verstandes  gegenüberstehen. Es fragt sich nur: welche dieser beiden Erkenntnisquellen bietet uns die Dinge so, wie sie an sich sind? Die Antwort kann für den Rationalisten nicht zweifelhaft sein: der Verstand erfaßt die Dinge an sich in ihrem innersten Wesen, er denkt die Grundformen und -verhältnisse der Wirklichkeit, während die Anschauung, die Sinnlichkeit nur die subjektive Form ist, in der die Dinge auf uns einwirken. Damit ist die  Subjektivität von Raum und Zeit  ausgesprochen und die  Unterscheidung der Phänomena und Noumena  vollzogen: die Noumena, die reinen, aber gleichwohl im vollen Sinne objektiv gültigen Verstandesbegriffe, sind die eigentlichen metaphysischen Begriffe. Thesen und Antithesen sind wahr, wenn man nur jene vor der Vermischung mit Anschauungselementen bewahrt, diese auf die intuitive Sphäre einschränkt. Aber die Antithesen gelten nur für die Erscheinungen, für die Dinge wie sie sich durch das Medium subjektiver Elemente in unseren Vorstellungen darbieten, während den Thesen absolut objektive Wahrheit zukommt.

Noch einmal ist also der realistische Rationalismus gerettet  - um den Preis einer Umgestaltung der Ontologie, sofern Raum und Zeit aus dem Kreise der metaphysischen Begriffe auszuscheiden waren, aber mit dem Vorteil, daß neben der rationalen Kosmologie und Theologie nun auch der rationalen Psychologie wieder der Boden geebnet ist, nachdem die in dem Verhältnis von Leib und Seele liegenden Schwierigkeiten, welche in den "Träumen unerledigt geblieben waren, verschwunden sind.

Allein über  einen  Punkt, einen Kardinalpunkt, war die Dissertation stillschweigend hinweggeglitten, und KANT selbst bemerkt bald nachher, "daß ihm noch etwas Wesentliches mangele, welches er bei seinen langen metaphysischen Untersuchungen, so wie Andere, aus der Acht gelassen hatte, und welches in der Tat den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht" (Brief an HERZ vom 21. Febr. 1772). Es war die Frage:  "Auf welchem Grunde beruth die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?"   Wie können unsere  Vorstellungen  objektive Gültigkeit, Gültigkeit für die wirklichen Dinge haben? Bei Vorstellungen von Realitäten, die der vorstellende Geist selbst schafft, ebenso bei den sinnlichen Vorstellungen, die aus den Einwirkungen der wirklichen Dinge entspringen, beantwortet sich die Frage von selbst. Keine von beiden Möglichkeiten trifft aber auf unsere intellektuellen Vorstellungen, auf die Verstandesbegriffe, auf die Noumena zu. "Wenn die intellektualen Vorstellungen auf unserer inneren Tätigkeit beruhen, woher kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, und die Axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen?" Mein Verstand soll sich a priori Begriffe von Dingen bilden, die den wirklichen Dingen adäquat sein sollen, er soll, "reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen, mit denen die Erfahrung getreu übereinstimmen muß, und die doch von ihr unabhängig sind." Wie ist das möglich? Wie kann apriorische Erkenntnis gültig sein? Es ist tatsächlich bereits die berühmte Grundfrage der Kritik, die hier aufgeworfen wird:  Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?   - ein Problem, dessen Lösung die LEIBNIZ-WOLFFsche Philosophie mit Hilfe eines deus ex machina [der Gott aus der Maschine - wp], mittels der Annahme einer prästabilisierten Harmonie zwischen unserem Erkennen und der wirklichen Welt vergeblich versucht hatte, ja, eine Frage, an der schließlich der realistische Rationalismus überhaupt scheitern muß.

Ein Problem richtig gestellt, ist halb gelöst. Die volle Lösung ist KANTs Kopernikanische Tat. Sie liegt in der Durchführung des Gedankens, daß die Gegenstände sich nach unserer Erkenntnis, nach unseren Begriffen richten müssen, und daß wir von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie hineinlegen.  Angebahnt war die Beantwortung der kritischen Grundfrage zweifellos durch das Beispiel der Mathematik.  Die mathematischen Sätze sind a priori, haben aber nichtsdestoweniger objektive Gültigkeit, und diese objektive Gültigkeit beruht darauf, daß die Objekte, von denen sie handeln, zwar notwendige Bestandteile der Erscheinungen, unserer sinnlichen Vorstellungen von den Dingen, trotzdem aber lediglich subjektive, aus dem Geiste stammende Zutaten zu dem in der Empfindung Gegebenen sind. Sollten nicht vielleicht auch die apriorischen Grundsätze und Begriffe der Metaphysik ihre objektive Gültigkeit darauf gründen können, daß sie zwar subjektive, aber doch unentbehrliche Elemente, grundlegende Bedingungen der Dinge, sofern sie von uns vorgestellt werden, sind? Allein  dazu  kam noch ein anderes.  Wir  werden nicht fehlgehen, wenn wir hier  die entscheidende Einwirkung  HUMEs ansetzen, die freiliche KANTs Denken nicht sowohl Belehrung als Anregung gebracht hat. HUME hatte bei dem Begriff der Kausalität seine Kritik eingesetzt. Er hatte gezeigt, daß die notwendige Verknüpfung zweier Vorgänge, die in einem Kausalverhältnis gedacht wird, sich niemals aus der Erfahrung entnehmen lasse, daß jedoch ein derartiger Zusammenhang ebensowenig von der Vernunft, a priori, aus Begriffen erschlossen werden könne, und nun daraus gefolgert, daß der Kausalbegriff nichts anderes sei, als "ein Bastard der Einbildungskraft, die, durch Erfahrung beschwängert, gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der Assoziation gebracht hat und eine daraus entspringende subjektive Notwendigkeit, d. i. Gewohnheit, für eine objektive aus Einsicht unterschiebt."  Kant teilt die Prämissen, aber sein Schluß ist ein anderer:  er findet, daß die Kausalität ein Begriff ist, durch den der Verstand sich a priori Verknüpfungen der Erfahrungsdinge denkt. Und diese Einsicht gibt den Anstoß zu der weitergreifenden Entdeckung, daß auch der Begriff der Substanz, der Wechselwirkung, überhaupt sämtliche metaphysische Begriffe solcher Art sind, daß sie durchweg dem Verstand nur als Formen dienen, in denen er das Mannigfaltige der Erfahrung zusammenfaßt. Von hier aus erwächst aber die Aufgabe, sie alle aus einem einheitlichen Prinzip, aus einer spontanen Tätigkeit des Denkens abzuleiten. Das endgültige Ergebnis dieser Untersuchung liegt in der Kategorientafel der Kritik der r. V. vor, und das Prinzip, aus dem die metaphysischen Begriffe fließen, ist die Urteilsfunktion. Aber KANT hält außerdem, im Gegensatz zu HUME, die metaphysischen Begriffe für objektiv gültig; er hat also die weitere Pflicht, diese Gültigkeit zu deduzieren. Wären die Erfahrungsgegenstände Dinge an sich, wie HUME annahm, so wäre allerdings die objektive Geltung jener metaphysischen Begriffe nicht zu retten. Allein schon die Dissertation hat zu dem Resultat geführt, daß die in der Erfahrung gegebenen Dinge nur Erscheinungen, nur Vorstellungen seien. Wenn nun die metaphysischen Begriffe lediglich Formen sind, die zur verstandesmäßigen Verknüpfung des Erfahrungsstoffes dienen, so kommt offenbar alles darauf an, ob dieselben als solche notwendige Faktoren, unentbehrliche Bestandteile des Erscheinungskomplexes sind. In der Tat erweisen sich die Begriffe der alten Ontologie als konstitutive Bedingungen der Erfahrung. Damit ist ihre objektive Gültigkeit sicher gestellt. Allein man würde fehlgehen, wollte man nun erwarten, daß sich aus denselben sofort eine apriorische Erkenntnis von den Dingen ableiten lasse; für sich allein sind sie leere Denkfunktionen, die nur dann zu Erkenntnissen führen, wenn ihnen Gegenstände gegeben sind. Gegeben sind aber die Gegenstände in der Anschauung, und alle Urteile über das Wirkliche müssen sich darum auf Anschauung stützen. Das Mannigfaltige der Erfahrung, die Masse der Empfindungen, fügt sich, wie die Dissertation gezeigt hat, notwendig in die Formen des räumlichen und zeitlichen Vorstellens ein. So ergibt sich die empirische Anschauung, auf welche sich die empirischen Wirklichkeitsurteile, die synthetischen Urteie a posteriori, gründen. Allein in den Vorstellungen des Raumes und der Zeit selbst bieten sich reine, apriorische Anschauungen. Darauf beruht die Möglichkeit einer apriorischen Erkenntnis von den wirklichen Dingen: aus den auf die reinen Anschauungen Raum und Zeit bezogenen Verstandesbegriffen lassen sich synthetische Urteile a priori entwickeln.

Es ist anzunehmen, daß KANT den Hauptgedanken dieser kritischen Lösung des metaphysischen Grundproblems schon sehr frühe - vielleicht gleichzeitig mit jenem Brief an HERZ, jedenfalls nicht viel später - konzipiert hat. Die volle Durchführung desselben vollzieht sich aber doch nur allmählich. Aus den von REICKE herausgegebenen "Losen Blättern", verglichen mit den ums Jahr 1778 gehaltenen Vorlesungen über Metaphysik, ist zu ersehen, wie sich im Laufe der 70er Jahre langsam die Begriffe und Sätze der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie, die die Erfahrung völlig übersteigen und sich nicht auf Anschauung stützen können, von den Begriffen und Sätzen der Ontologie, den Kategorien und Verstandesgrundsätzen, die für die Erfahrung konstitutive Bedeutung haben, loslösen.  In der Kritik der reinen Vernunft  ist dieser Prozeß abgeschlossen.
LITERATUR - Heinrich Maier in Kantstudien 2, Hans Vaihinger (Hg), Hamburg und Leipzig 1898
    Anmerkungen
    1) Weitere Ausführung der Antrittsvorlesung des Verfassers bei seiner Habilitation an der Universität Tübingen.