p-4p-4p-3S. I. HayakawaH. GrosseStirnerTolstoiMauthnerM. D. Vernon     
 
KARL GEORG BÖSE
Über Sinneswahrnehmung
und Intelligenz

[ein psychologisch-pädagogischer Versuch]
[2/2]

"Die einmal im Wort geschehene Loslösung der Vorstellung vom eigenen Ich, sodaß dieselbe selbst wieder etwas sinnlich wahrnehmbares wird, führt den Menschen auf der betretenen Bahn der Analyse weiter. Die Vorstellung  Hund wird je länger je mehr zum Doppelgänger der Realität  Hund, weil aus der Vorstellung  Hund auf analytischem Weg sich mehr und mehr einzelne Qualitäten lostrennen zu einem eigenen Leben, daß sie neben dem Hund und nebeneinander bestehen, jede selbständige Schöpfung für sich, aber alle miteinander auch wieder zusammenströmend im Vorstellungsgeschöpf  Hund."

"Nicht durch unsere Sinne erkennen wir irgendeine Qualität dieses schaffenden Prinzips, weder das Schaffen, noch auch nur  eine andere Qualität desselben; einzig und allein auf dem dargestellten Weg der Abstraktion finden wir jene  eine Qualität desselben, d. h. die schaffende Substanz definiert sich selbstbewußt durch ihre eigene Qualität."

"Bei der Sinneswahrnehmung handelt es sich um eine rein geistige Schöpfung aus dem Substrat der Sinneserregung durch die Außenwelt. Die schaffende Kraft, sobald sie nachschaffend in Tätigkeit getreten ist, emanzipiert sich sofort von den realen Vorbildern ihrer Nachschöpfung, behauptet sich auf das Entschiedenste neben dieser und erhebt sich in der Schöpfung der Sprache über jene nun abstrahierend, d. h. die Nachschöpfung an der Entwicklung des Sprachlauts differenzierend, strebt sie in schrankenloser Folge näher und ferner liegenden Neuschöpfungen entgegen, für welche am Ende aber nirgends reale, auf die Sinnesorgane wirkende Vorbilder oder Grundlagen gegeben sind."


Die Entwicklung der
Sinneswahrnehmung zur Intelligenz

Die Sinneswahrnehmung ist die freie, bewußte Nachschöpfung der Welt durch den sich selbst bestimmenden Menschengeist, so weit die Welt irgendwie den Sinnen zugänglich ist. Frei und selbstmächtig spielt das Kind mit seinen Wahrnehmungen und den realen Objekten derselben, nach Belieben die einen für die andern setzend. Unabhängig von einem Etwas außer ihm schafft sich der Kindesgeist sodann ein selbstmächtig produzierbares, sinnlich wahrnehmbares Äquivalent für seine Nachschöpfungen in der Sprache. Sobald dadurch eine Nachschöpfung vollendet ist, macht sie den Geist fähig, einmal, sei es aus eigenem Antrieb oder auf Veranlassung von außen her, sich das reale Objekt, die Außenwelt, so vorzustellen, wie er es sich nachgeschaffen hat, auch wenn er von der Welt getrennt ist; sodann aber die Nachschöpfung um den Kern des Sprachäquivalents für dieselbe zu vertiefen, zu erweitern, immer schärfer zu begrenzen, zu bereichern, und schließlich am Leitstern der Sprache aus der Nachschöpfung zu selbständiger Neuschöpfung, zu Abstraktionen, zu Einbildungen etc. zu gelangen.

Frei und selbstmächtig spielt das Kind mit seinen Wahrnehmungen und den realen Objekten derselben. Das zeigt schon das unermüdliche Experimentieren mit den Händen, den Füßen, dem Spielzeug, die in immer neuen Verschränkungen und Verschiebungen studiert werden, um die  eine   ursprüngliche Wahrnehmung in immer neuen Gestaltungen zu erproben. Das zeigt aber namentlich die Zusammenfassung der Qualitätswahrnehmungen zur Gesamtvorstellung eines Gegenstandes, und die Sonderung der Qualitätswahrnehmung aus der Gesamtvorstellung, so daß jene diese letztere vertreten kann: der erste Schritt zur Abstraktion, wie das die erste Abstraktion schon selber ist. Rückschließlich drängt sich daraus mit Notwendigkeit die Überzeugung auf, daß, so verborgen es unserer Beobachtungsgabe auch bleiben mag, der Geist vom ersten Lebenstag an seine Abstraktionen üben muß. Ein Beispiel soll das darstellen.

Der oberflächlichen Beobachtung nach ist der Hund dem Kind zuerst einfach der Wauwau, d. h. die Qualität des Bellens vertritt dem Kind alles, was es vom hund bisher wahrgenommen hat. Denn unzweifelhaft sind längst schon andere Qualitäten desselben mit der des Bellens assoziiert, stehen aber noch so sehr im Hintergrund, daß es dem Kind im ersten Stadium noch geschehen kann, auch einmal die Katze als den Wauwau anzusehen. Ehe das Kind seine Schöpfung Wauwau benennt, - und es benennt sie schon lange so, ehe es diese Lautverbindung selbst spricht, indem es deutlich sein Verständnis derselben verrät, wenn ein anderer sie ihm vorspricht; - hat es dadurch, daß es sich zum bellenden Hund hinwendet, nach ihm langt, zu ihm hinstrebt, bewiesen, daß es den bellenden Hund schon von sich und ebenfalls von der Umgebung desselben lostrennt. Welche Geistesarbeit mit jeder Einzelwahrnehmung am Hund der Kindesgeist bis dahin absolviert haben muß, ist oben auseinandergesetzt. Die Zusammenfassung derselben zu einem zusammengehörigen Ganzen aber, unter gleichzeitiger Sonderung in wichtiger und unwichtiger scheinende, ist eine weitere Geistesarbeit, ist Spiel mit den Einzelwahrnehmungen, welches so lange unermüdlich fortgesetzt wird, bis die Summe derselben dem Kind eine Realität wurde, welche ihm mit dem Gegenstand, auf den es schließt, übereinstimmt.

Den Wauwau hat sich das Kind mit dem ersten Hören des Gebells geschaffen; es hat die Gehörsempfindung auf die außerhalb von ihm liegende Ursache übertragen. Das zweitemal, wo dieselbe Sinnesempfindung auftritt, wird sie nicht generell eine andere werden können, sondern nur bestimmter, als sich scharf unterscheidend von allen übrigen bereits wahrgenommenen Schällen, und völliger, als die gerade vorliegende Spezialität von Gebell, nämlich als knurrendes, oder als belferndes, oder als anders geartetes Gebell. Der wiederholte Sinneseindruck tritt als etwas schon bekanntes auf, d. h. ein mit ihm übereinstimmendes schon vorhandenes Geistesgebilde wird durch ihn zu einem erneuten Leben wachgerufen und gewinnt durch die Wiederholung an frischer Körperlichkeit. Es wird eine immer vollendetere Nachschöpfung des realen Vorbildes, zwar nur der Qualität des Bellens, aber doch eine Nachschöpfung, wie die reale Welt der Materie keine bis jetzt aufzuweisen hat. Bald tritt zu der Vorstellung ovm Ton des Gebells die Qualität der Richtung, aus welcher es kommt: das Kind wendet sich nach derselben und nun verbinden sich mit der Vorstellung vom Bellen andere Sinneseindrücke und die Schöpfung der Vorstellung  Hund  wird immer vollständiger. Zugleich verrät damit nun zuerst das Kind uns Erwachsenen sein Geistesschaffen, indem es deutlich und unverkennbar zeigt, daß es den Bellenden außerhalb seiner selbst, jetzt in dieser, dann in jener Stubenecke z. B. weiß. Die Mutter fragt: Wo ist der Wauwau? und das Kind sucht ihn und verrät es unzweifelbar, sobald es ihn gefunden glaubt. Es besitzt eine bereits soweit fertige Vorstellung vom Hund, und weil das, was es auf die Frage als Hund bezeichnet, möglicherweise in dem Augenblick gar nicht bellt, so beweist das, daß die Vorstellung vom Hund längst weitere Qualitäten zu der des Bellens in sich aufgenommen hat, z. B.  laufen, Schwanz, schwarz, vierbeinig (ohne Betonung der Zahl natürlich verstanden) usw. Deshalb werden auf dieser Stufe wohl auch einmal andere Tiere mit dem Titel des Wauwau beehrt z. B. die Katze, weil sie gerade nicht miaute: ein Beweis, daß nötigenfalls die mit der Qualität des Bellens assoziierten Qualitäten  schwarz, laufen, Schwanz  etc. die erstere bereits vertreten können. Der Haushahn wird dagegen nicht so leicht als Wauwau bezeichnet, wenn er gerade nicht kräht; geschähe es doch, so deutete das nur auf eine individuelle Unbestimmtheit der Wahrnehmung hin. Die Verwechslung aber beweist ein durchaus freies, sich selbst bestimmendes Spiel mit den verschiedenen in der Vorstellung  Hund  vereinigten Qualitätsvorstellungen, ein Spiel, welches selbst ein Schaffen ist, und welches andererseits den Schöpfer zeigt in seinem Verhältnis zu seinem Geschöpf.

Den entschiedensten Beweis für das Schaffen des Geistes liefert aber das  Auftreten der Sprache Das Kind sagt: Wauwau - oder Hund - oder was es sonst sein mag, - und es besagt damit auf das unzweideutigste für uns Erwachsene in der für uns gewohnten Weise, während wir es bis dahin nur belauschen konnten, daß es sich eine Gesamtvorstellung vom Hund aus einer gewissen Menge von Qualitätsvorstellungen geschaffen hat; eine Gesamtvorstellung, die es besitzt, die es jeden Augenblick sowohl aus eigenem Antrieb, wie auch auf eine gegebene äußere Veranlassung hin, namentlich auch, wenn ihm ein anderer den von ihm geschaffenen Namen nennt, in sich zu einem vollen aktiven Leben aufrufen, in Tätigkeit setzen kann, ohne daß das reale Urbild des Geistesschöpfers vor den leiblichen Sinnen zu stehen braucht.

Fragen wir nach der Entstehung der Sprache ansich beim Kind, so haben wir zunächst von dem schon gebrauchten Beispiel des Sprachlautes  Wauwau  vorläufig zu abstrahieren, denn er ist keineswegs der erste des Kindes, vielehr demselben in den meisten Fällen durch seine Umgebung oktroyiert [aufgenötigt - wp]. Überhaupt wird dasjenige, was das Kind sich wirklich selbständig an Sprache schafft, vielfach verdunkelt und umhüllt durch das, was diejenigen, die sich mit ihm beschäftigen, an Sprachlauten ihm einimpfen. Freut sich doch die Mutter innig, wenn sie dem Vater das Kind zum erstenmal sprechend zeigen kann. Fände diese Verdunkelung des Vorganges, die Einmischung Anderer in denselben nicht statt, so müßte man bei jedem Kind den Gang der Sprachschöpfung verfolgen können. Wir müssen uns begnügen lassen mit der Feststellung der Tatsache, daß das Kind zu sprechen beginn, d. h. Lautsprache zu üben, lange bevor die Erwachsenen sich in den Prozeß einzumischen beginnen. Lallend liegt das Kind in der Wiege, wenn es wacht und sich körperlich wohlbefindet, und übt in eben so freiem, sich selbst bestimmenden Spiel die Sprechwerkzeuge, sich erfreuend an den selbstgeschaffenen Gehörempfindungen und dieselben studierend, wie es mit den Händen spielt und sich der wechselnden Gesichtseindrücke freut und diese sich nach und nach deutet. Von diesem Lallen bis zur Bezeichnung einer Vorstellung durch einen Sprachlaut ist nun ein weiter Weg. Könnte das Kind diesen Weg ungestört zurücklegen, und könnte man es dabei begleiten, ohne Einfluß darauf auszuüben, so würde man, der heutigen Sprachforschung nach, wahrscheinlich finden, daß einfach Gewöhnung bewirkt, eine gewisse Vorstellung mit einem gewissen Sprachlaut zu assoziieren. Denn eine Verabredung, eine Verständigung betreffs dessen, was ein bestimmter Sprachlaut bezeichnen soll, ist nicht denkbar; das Mittel, eine solche Verständigung erst zu Wege zu bringen, müßte jedenfalls vollkommener sein als das Produkt der Übereinkunft,, als unsere Sprache, und wäre dann ja dieser vorzuziehen. Ein natürlicher Zusammenhang zwischen dem Laut und dem was er bezeichnet, scheint auch nicht anzunehmen zu sein, trotzdem daß manche Laute wie Schallnachahmungen aussehen. HERDER bestreitet auf das Entschiedenste die Entstehung der Sprache aus "blinder" Nachahmung der Natur und also auch ihrer Schälle, und sucht sie vielmehr in der  Apperzeption  unterscheidender Merkmale an den Dingen, deren Wiederfinden den Menschengeist die Dinge selbst durch sie bezeichnen nennen lehrte. Damit ist dann freilich nichts gesagt, als  daß  der Geist apperzipiert und  daß  er sich Sprache schafft; die Natur dieses Schaffens ist damit nicht berührt. WILHELM von HUMBOLDT dagegen kommt auf die Schallnachahmung als Quell der Sprache zurück, und erkennt daneben noch als solchen eine gewisse Symbolik an, welche für die zu bezeichnenden Gegenstände Laute auswählt, die teils ansich, teils im Vergleich mit anderen, für das Ohr einen dem des Gegenstandes auf die Seele ähnlichen Eindruck hervorbringen (wie:  nicht, nagen, Neid  den Eindruck des fein und scharf Abschneidenden). Aber die neuere Forschung führt den wunderbaren Bau der Sprache auf verhältnismäßig wenige Wurzeln zurück, und diese bezeichnen allgemeine Begriffe, im wesentlichen allerdings Verbalbegriffe, aber keineswegs Schallnachahmungen, insofern solche bis jetzt nicht nachzuweisen gewesen sind. Eine Symbolik, wie HUMBOLDT sie annimmt, wird ebenfalls schwerlich als Urgrung der Sprachschöpfung anzuerkennen sein, weil sie Sprache voraussetzt, nämlich allgemeine Begriffe (fein und scharf abschneiden), aus denen Begriffe wie:  nicht, nagen, Neid  etc. durch Differenzierung hervorgehen. Ein Produkt eines bloßen Geistes;nstinkts  kann die Sprachschöpfung ebenfalls nicht sein; nicht die instinktiv notwendige Benutzung des Vermögens, seinen Gebilden einen seiner, künstlicher artikulierten Ausdruck zu geben, als bloße Empfindungslaute und Schallnachahmungen das können, hat den Geist zur Schöpfung der Sprache geführt. Denn Instinkte erlöschen, sobald sie entbehrlich werden; das Vermögen der Sprachschöpfung aber kann nicht als erloschen angenommen werden. Ja, als einfach unergründlich wird schließlich der Entstehungsprozeß der Sprache von manchen bezeichnet.

STEINTHAL nennt das Auftreten der Sprache einen Befreiungsakt (1), einen Akt, durch welchen die Seele (oder der Geist) sich befreit vom sinnlichen Eindruck, der sie bis dahin in seinen Fesseln hielt. Damit soll wenigstens die seelische Notwendigkeit der Sprachschöpfung, im Gegensatz zur instinktiven, festgehalten, gewissermaßen dieser gegenüber gerettet werden; denn Selbstbefreiung setzt selbständig einen freien Entschluß voraus. Aber die Erklärung trifft nicht zu, und es ist einerseits zu viel, andererseits zu wenig damit gesagt.

Zuviel, weil damit der Lautsprache ausschließlich die schöpferische Aktion zugeschrieben wird, während im Gegenteil nachgewiesenermaßen längst vor dem Auftreten der Lautsprache die Lostrennung der Vorstellung vom eigenen Wesen des Kindes geschieht und durch die darstellungsreichste Gebärden- und Mienensprache bewiesen wird. Jener Ausspruch legt also der Lautsprache einen ungebührlich hohen Rang als Geistestat bei, welcher der Richtigkeit ihrer Wertschätzung, sowie der der Beurteilung von Geistestätigkeit ansich nicht förderlich sein kann.

Zuwenig ist aber damit gesagt, insofern der Ausdruck  Befreiung  viel zu eng und vielmehr gänzlich ungenügend ist zur Bezeichnung des wirklichen Aktes; er setzt Fesseln voraus, also Mächte, die feindlich entgegengesetzt wären einem in sich selbst begründeten Wesen, denen sich dieses nach bestem Vermögen würde zu entziehen suchen müssen. Gerade in entgegengesetzter Weise geschieht es, daß der Mensch im normalen Zustand alle Tore seiner Sinne öffnet, um der Sinneseindrücke soviel aufzunehmen als möglich, und daß er das jeweilig in dem Maße tut, wie die schöpferische Kraft ausreicht, nämlich bis zur Ermüdung. Wo geschieht da etwas, das nach der Notwendigkeit einer Befreiung aussieht? Im Gegenteil muß diese Anschauungsweise, wenn sie anzuerkennen wäre, zu einer gänzlich falschen Beurteilung aller Geistestätigkeit führen, nämlich auf die Annahme einer feindlichen Opposition des Geistes gegen die Welt, auf Weltflucht und Weltverachtung, und ebenso auf eine Betrachtung der Sprache als Waffe des Geistes gegen eine feindliche Sinnenwelt. Ich weiß nur eine Art von Spracherscheinungen, die scheinbar als Befreiungsakte auftreten, ja, den Schein davon geradezu zur Schau tragen; das sind diejenigen, welche die höheren Grade lebhafter Empfindung, namentlich in Überraschung z. B. von Schreck, Staunen, Abscheu etc. zum hörbaren Ausdruck bringen, also die sogenannten Interjektionen. Das Oh! des Staunens schließt in sich ein messendes Vergleichen des Sinneseindrucks mit dem eigenen Wesen, und ein eifersüchtiges Aufrechterhalten des letzteren gegen den ersteren; eifersüchtig, weil die Größe des Eindrucks, seine Erhabenheit oder Pracht, oder Lieblichkeit, oder Wunderlichkeit etc. im ersten Augenblick keinen Maßstab im eigenen Wesen zu finden, dieses mithin erdrücken zu können scheint. Aber ein Befreiungsakt ist das Oh! doch nur scheinbar, da mit demselben Sinneseindruck ja nicht abgetan ist. Das Oh! ist der sprachlich nur noch nicht scharf formulierte Ausdruck für den sinnlichen oder sonstigen Eindruck, der den Geist unvorbereitet in ungewohnter Bedeutsamkeit überraschte, so daß er noch nicht Zeit gehabt hatte, seine Nachschöpfung zu vollenden, als schon die Ahnung derselben in Lautsprache sich von seinem Wesen loslöste. Sofort aber beginnt dann die ruhige schöpferische Arbeit, zu der nun einmal wie zu allem Schaffen, so auch in unserem Geist Zeit nötig ist, so wenig auch der stumpfere Beobachter die Qualität der Zeit darin entdeckenn oder auch nur vermuten mag; es beginnt die Zerlegung des überwältigungdrohenden Ganzen in seine Qualitätsvorstellungen; die malerisch auf dem Hügelvorsprung gelegene Kirche, der samtene Rasen, der majestetische Strom, die Dörfer in den blühenden Obstwäldern, die Basaltfelsten drüben, die Wald- und Weinhügel hüben, das Marktgedränge im Städtchen, die Prozession, die Segel, die Dampfer etc. - alles sondert sich aus dem einen bewundernden Oh! Und nicht eine Befreiung ist geschehen, sondern eine schöpferische Arbeit ist getan, welche die Partie vom herrlichen Rheinstrom zum unverlierbaren, jeden Augenblick zu voller Lebensschöne erweckbaren Geisteseigentum gemacht hat, eine Schöpfung, welche der Mensch ein seinem Oh! nicht abwies, sondern nur vorahnte.

Hätte die Lautsprache wirklich ihre Bedeutung ausschließlich im Charakter als Befreiungsakt, so wären die unglücklichen, denen sie versagt ist, doppelt zu beklagen. Der Taubstumme würde sich nicht befreien, würde nicht zu menschlichem Geistesleben kommen können, da sein Geist in den Fesseln der Sinneseindrücke verharren müßte. Wir wissen aber, daß wir vollsinnigen Menschen aus unserem Geistesleben heraus auf das des Taubstummen einwirken können; das seinige muß also mit dem unsrigen nicht bloß verwandt, sondern gleichgeartet sein.

Wie gelangt denn nun das Kind zur Tatsache der Sprache? Wir werden - abgesehen von den Einwirkungen der Umgebung des Kindes, - nicht irre gehen, wenn wir annehmen, daß das auf demselben Weg geschieht, wie es für die Menschheit überhaupt geschehen ist.

Die bekannten Sprachwurzeln (2) der indogermanischen Sprachen bedeuten ohne Ausnahme Bewegungen, welche mit dem Gesichtssinn wahrgenommen werden; Schallwahrnehmungen sind denselben höchstens assoziiert, wenn sie verhältnismäßig nahe mit jenen zusammenhängen. Die mit dem Gesicht wahrgenommenen Bewegungen reizen den Geist zur Nachschöpfung derselben, und es entsteht die Gebärde, das Mienenspiel, - und die Bewegung der  Sprachorgane,  d. h. derjenigen Muskelkomplexe, welche der feinsten und mannigfaltigsten Bewegungen fähig sind. Diese letztere Bewegung bringt naturgemäß den  Sprachlaut  hervor. Die Mannigfaltigkeit der Gesichtswahrnehmung nötigt den Menschen zur Differenzierung des ursprünglich eintönigen Sprachlautes, und diese Differenzierung geht parallel der fortschreitenden Differenzierung der Gesichtswahrnehmung. So knüpft sich an den ersten Sprachlaut der allgemeine Begriff, und zwar auf dem Weg der Gewöhnung, indem Sprachlaut und Objekt - man darf fast sagen - zufällig zusamentreffen und so ihre Verknüpfung eingehen; denn wohl kann man einen inneren Zusammenhang denken zwischen Bewegung des Objekts und Bewegung des Sprachorgans ansich, nicht aber zwischen jener und dem durch diese hervorgebrachten Sprachlaut. So enstehen die Worte in der Reihenfolge, wie die Gegenstände einer nach dem andern, ihrer Natur nach, sich aus dem Allgeeinen, sozusagen, aus dem umfassenden Gesichtsfeld sondern. Schon ein einziger Laut hätte der Differenzierung des Allgemeinen folgen, hätte die ganze Reihe der nach und nach sich sondernden Begriffe durchlaufen können; nur konnte es dabei nicht zu einer Begriffsunterscheidung kommen, denn derselbe Sprachlaut hätte nacheinander z. B.  jagen, Jagdbeute, Tier, Vogel, Taube, Holztaube  etc. bedeutet, ohne daß diese Begriffe jeder für sich festzuhalten gewesen wären. Vielmehr würde immer der vorhergegangene Begriff im nachfolgenden haben untergehen müssen, weil der Laut derselbe blieb. Der Laut aber variierte sich, oder differenzierte sich, indem er sich mit anderen Lauten kombinierte, und so konnte er in seiner Entwicklung jetzt auf dieser, dann auf jener Stufe fixiert werden, z. B. von  jagen  und  Jagdbeute  ausgehend auf den Stufen:  Tier, Vogel, Taube  etc. Indem sich solchergestalt in völig freier, unabhängiger Geistestat der Sprachlaut entwickelt, d. h. sich variiert und mit anderen kombiniert, entsteht das Wort, und gebiert, als solches je auf einer Entwicklungsstufe festgehalten, einen  Begriff Erst durch das Wort ist die Möglichkeit gegeben zu  denken eine im  eigenen  Gesetz organisch begründete Welt zu schaffen.

Fragen wir nun, welches demnach der Urgrund der Sprache, der unbegrenzten Fähigkeit der Differenzierung des Sprachlautes ist, so kann das allein die Gesichtswahrnehmung sein. Sie ist ansich in ihrer Mannnigfaltigkeit und Feinheit wie durch das hohe Interesse, welches gerade sie vor allen anderen Sinneswahrnehmungen dem Menschen abnötigt, die wesentlichste Eigentümlichkeit desselben. Das Tier unterscheidet noch vorherrschend durch den Geruchssinn; es sieht natürlich auch, aber hauptsächlich nur das, was auf seine leibliche Existenz Bezug hat. Der Hund erkennt seinen Herrn, auch wenn der sich bis zu Unkenntlichkeit verkleidet hat, durch den Geruchssinn; was an demselben zu sehen ist, interessiert ihn ansich wenig, interessiert ihn erst dann, wenn es ihm auf sein Wohlbefinden Bezug zu erhalten scheint, wenn der Herr z. B. Hut und Stock nimmt, wo dann der Hund hofft am Spaziergang teilnehmen zu dürfen. Der Mensch wird - dem jetzigen Stand vieler Naturvölker nach zu urteilen - ursprünglich dieselbe Fähigkeit der Unterscheidung durch den Geruchssinn besessen haben. Er verlor sie, weil er in der Gesichtswahrnehmung ein weit feineres, ein weit schärferer Differenzierung fähiges Organ der Unterscheidung entwickelte, und auf dem Punkt, wo sich der Mensch vom Tier in der Gesichtswahrnehmung trennte, entstand die Sprache.

Wenn LAZARUS GEIGER so in seinem "Ursprung der Sprache" die Entstehung der Sprache beim Menschengeschlecht darstellt, so werden wir uns den Prozeß beim Kind ähnlich vorstellen dürfen - und müssen. GEIGER bestätigt das ebenfalls, wenn er sagt, daß man in das erste Objekt sprachlicher Bezeichnung einen tierischen Laut, wie er mit der nachgeahmten Miene verbunden war, eingeschlossen annehmen kann, ja wohl muß, also daß der erste Sprachlaut die Wiedergabe eines Gegenstandes in der tierischen Außenwelt sein soll, in welcher Gehör- und Gesichtswahrnehmung zusammentreffen, und daß die den Sprachlaut hervorbringende Nachahmung zugleich eine Schallnachahmung ist. Aber von hier aus, setzt er hinzu, breitet sich der Sprachlaut über das Gebiet der Gesichtswahrnehmung aus, das er noch heute im wesentlichen verlassen hat.

Es  muß  sich aber der Menschengeist die Sprache schaffen, weil er in seinem bewußten Gegensatz zu dem Etwas außerhalb von ihm dieses Etwas nachschaffen  muß,  und weil er das, vorzugsweise in seiner Gesichtswahrnehmung sich differenzierende Allgeeine in seinen Sonderungsstufen fixieren  muß,  um überhaupt eine Schöpfung zustande zu bringen, um die solchergestalt fixierten Begriffe zur Vollendung seiner Schöpfung als Material zur unbedingten Verfügung zu haben.

Das Auftreten des Wortes beim Kind ist also allerdings von höchster Bedeutsamkeit, nicht jedoch, weil etwa damit das Kind erst beginnt zu schaffen, sondern einmal, weil es damit einen entschiedenen gewaltigen Fortschritt im Schaffen macht und sodann, weil es nun beginnt, sich des bei den Erwachsenen fast ausschließlich gebräuchlichen Mittels zur Darstellung der schöpferischen eigenen Arbeit zu bedienen, so daß wir von da an dem Kind bei derselben behilflich werden können.

Der  Fortschritt im Nachschaffen  der Ursache des sinnlichen Eindrucks besteht darin, daß das Kind eine der sinnlich aufgenommenen und bereits  in  ihm lebendigen Qualitäten des Etwas außerhalb von ihm durch den selbstproduzierten, jener äquivalenten Sprachlaut tatsächlich aus sich hinaus, sich gegenüber setzt. Die wirkende Ursache der Empfindung setzte es längst nach außen; jetzt findet es in sich selber die Fähigkeit, die innerlich bewußt gewordene Empfindung durch einen eigenen Willensakt in ein Auswendiges umzusetzen: das Wahrnehmende macht Wahrnehmungen, deren wirkende Ursache nicht außerhalb von ihm liegen zu scheint und doch aller bisher gemachten Erfahrung nach außerhalb von ihm liegen muß; die es nicht passive zu erwarten braucht, sondern sich jeden Augenblick in sich selbst bestimmender Aktion verschaffen kann; welche schließlich - was die Hauptsache ist, - durch die Eingewöhnung dem Geist homogen werden mit den Wahrnehmungen von der Außenwelt, mit denen sie sich assoziieren, so daß sie diese  benennen.  So geschieht es durch die Sprache, daß der Schöpfer sein Geschöpf, nachdem er es lange innerlich mit sich herumgetragen hat, sich nun auch aktiv vor den Sinn  stellt,  unabhängig von der realen Gegenwart der wirkenden Ursache des Sinneseindrucks, welche ihm vor dem Sinn  steht. 

Die ersten artikulierten Sprachlaute des Kindes pflegen  Mama  und  Papa  zu sein, und dieselben bezeichnen augenscheinlich keine spezialisierten Qualitäten von Mutter und Vater des Kindes. Das Kind ruft mit den ersten Versuchen des Ma-Ma-Ma-Ma ganz entschieden nicht die Mutter, sondern offenbar übt es einfach artikulierte Sprache in den einfachsten und deshalb am leichtesten ausführbaren Lautkombinationen; die anfänglich an sich selbst befriedigende Lautschöpfung überträgt es nur deshalb auf die Mutter und erfüllt es mit diesem Vorstellungsinhalt nur deshalb, weil es die Erfahrung macht, daß die Mutter das  Ma-ma  auf sich bezieht, d. h. weil das Kind infolge des Verhaltens der Mutter die Vorstellung von dieser mit seinem "Ma-Ma" verknüpft. Ebenso einfach und ebenso leicht ausführbar sind sodann Sprachlaute wie  Papa, Wauwau, Muhmuh, Bäbä  etc. und darauf folgend  Buhkuh, Bälamm, Miau  etc., in Reduplikation und Alliteration einander ähnlich. Solche Sprachlaute sind unstreitig mit geringen Variationen die Weltsprache des Kindesalters; sie malen je eine Qualität aus der Gesamtvorstellung, in welcher Gesichts- und Gehörempfindung zusammenstrahlen, gesondert ab, und stellen unter einer solchen Partialfirma die Gesamtvorstellung zum zweitenmal vor das Sinnesorgan des Kindes, und zwar diesmal als das eigene Geschöpf des Kindes. Von den ersten absoluten Sprachübungen  ma, pa, da  etc. abgesehen, stellt also das Kind, nachdem es durch den Gesichtssinn zu den Bewegungen der Sprachorgane geleitet wurde, in hörbarer Sprache zuerst diejenigen Vorstellungen an sich hinaus, die es durch das Gehör aufgenommen hat, weil diesem Fall  Wort, Vorstellung  und  Sinneseindruck  sich nah decken. Erst später lernt es auch andere Sinneswahrnehmungen durch Worte zu benennen.

Mit unerschöpflichem Behagen übt nun das Kind die gewonnene Fähigkeit, seine Schöpfungen den wirkenden Ursachen denselben, welche die sinnlichen Eindrücke hervorgebracht haben, Worte gleichzustellen; es plaudert ohne Ermüden, ohne Sinn und Verstand, wie es dem Erwachsenen klingt, aber ganz gewiß in und für sich verhältnismäßig ebenso vollendeter Sprache wie es die der Erwachsenen ist, da dieselbe verhältnismäßig ebenso bestimmt und in ebenso vollwichtiger Münze gerade das ausprägt, was das Kind sich innerlich geschaffen hat und das selbstgeschaffene Wort wird dem Kind, was es in höherem Grad dem Erwachsenen schon ist: der Kristallisationskern, um welchen sich nach und nach gruppiert, was alles zum Bereich der Gesamtvorstellung gehört.

Auf diesem Punkt beginnt nun das  Anlernen der Muttersprache  im Nachschaffen der Sprachbewegungen und Sprachlaute der Umgebung des Kindes, und in der Kombination der neuen Sprachlaute mit den bereits vertrauten Wahrnehmungen oder mit neuen, die es zugleich mit der Sprachbezeichnung bei Erwachsenen aufnimmt.

In dieser Überführung der eigenen selbstgeschaffenen Sprache des Kindes in die National-, die Muttersprache, liegt gleichzeitig Hemmung und Förderung. Die  Hemmung  trifft zunächst die bereits vorhandene selbstgeschaffene Sprache des Kindes. Sie ist sinnlich unmittelbar, nach Sprachlauten wie  Wauwau  zu urteilen  homogen  mit den selbstgeschaffenen Vorstellungen, hat wenigstens den Vorzug der Spontaneität ihres Wahrnehmungsinhalts, und ist deshalb von realer Ursprünglichkeit, Frische, Schönheit und Befriedigungsfähigkeit. Dieser Charakter der Sprache wird in hohem Grad dadurch getrübt, daß jene Ursprache durch die nationale Kunstsprache ersetzt wird. Die Sprache wird abstrakt, und wer von uns Erwachsenen weiß, wenn das Kind nun statt  Wauwau Hund  zu sagen gelernt hat, welche Qualität oder welche Qualitäten vom Hund ihm dabei ins Bewußtsein treten. Sagt es "Wauwau", so ist es unzweifelhaft die Qualität des Bellens, welche das Kind meint. Mit dieser Qualität  können  irrtümlicherweise solche Qualitäten assoziiert sein, die nicht in den Begriff "Hund" gehören; aber die  eine  unzweifelhaft richtig, bezeichnete Qualität macht es jeden Augenblick möglich, in Anknüpfung daran etwa angewachsenes fremdes wieder abzutrennen. Sagt das Kind nun aber  Hund,  so ist es darum nicht weniger Irrtümern in der besprochenen Richtung ausgesetzt, aber vieleicht, ja, gewiß oft genug geht es lange mit dem irrtümlichen Geschöpf im Kopf herum, und erst ein Zufall lehrt die Erwachsenen erkennen, daß Irrtümer untergelaufen sind, daß z. B. vielleicht sogar die Qualitätsvorstellung des Bellens aus der Gesamtvorstellung  Hund  entschwunden ist. Für diese letzte Betrachtung ist das Beispiel  Hund  zwar nicht gerade günstig, weil im "Hund" wohl vorzugsweise beim Kind der Wauwau vorherrschend bleiben und an demselben haften wird; aber bessere Beispiele für gerade  diese  Betrachtung bieten eine Menge anderer Worte, namentlich alle diejenigen, welche einem bestimmten Kind in ihrer sinnlichen Realität fremder bleiben als andere, d. h. Namen von Dingen etc. sind, die dem Kind seltener vor die Sinne treten. Mit einem Wort: durch die Anlernung der Muttersprache kommt in die Sprache des Kindes eine Abstraktion, welche sie anfänglich oft auf längere Zeit trübt und so in ihrer Entwicklung hemmen und stören muß.

Gleichzeitig ist aber diese Abstraktion eine  Förderung,  und die liegt auf demselben Gebiet wie das der Hemmung. Bliebe der Name des Hundes  Wauwau,  so würde in der Gesamtvorstellung die Qualität des Bellens vorherrschend bleiben, und zwar leicht in so hohem Grad, daß die weiteren Qualitäten des Hundes, welche doch für den Gesamtbegriff ebenso wichtig sein können und sind, darunter leiden und über Gebühr in den Hintergrund geschoben werden mögen. Das wäre ein großer Mangel am Sprachgebilde; dasselbe würde in diesem Zustand nicht alles decken, was es in gleicher Kräftigkeit decken soll. Im Wort "Hund" ist zunächst der Wauwau lautlich nicht enthalten; wenn auch trotzdem der Bellende anfangs im Hund noch vorherrscht, so gewinnen doch die übrigen Qualitäten des Hundes leichter nach und nach Raum neben der des Bellens, und kommen je nach ihrer Bedeutsamkeit leichter zu ihrer, ihnen zukommenden Geltung. Der Verlust an unmittelbarer sinnlicher Realität, die doch ursprünglich im wesentlichen nur auf der einen Qualität beruhte, wird aufgewogen durch den größeren Reichtum an Inhalt des Wortes, welches jenen Verlust sogar schließlich direkt wieder einbringt, sofern die übrigen Qualitäten des Hundes, welche sich im Rahmen des Wortes nach und nach neben jene ursprünglich herrschende stellen, demselben eine ähnliche sinnliche Unmittelbarkeit zurückverleihen. Bei normalem Verlauf dieses Prozesses muß somit durch denselben die Sprache eine reichere werden, das Wort einen weiteren und breiteren Stoff in sich aufnehmen, als das je beim Verbleib des Natursprachlauts möglich gewesesen wäre.

Durch die Sprache tritt nun endlich das Kind voll und ganz in die menschliche Gesellschaft ein, deren Kitt vor allen Dingen die Sprache ist, d. h. nicht gerade die dem Ohr vernehmbaren Sprachlaute ansich, sondern der unwiderstehliche Drang, der gesamten Menschheit, ihre inneren Schöpfungen dem Nachbarn mitzuteilen und selber an dessen Geistesschöpfungen teilzunehmen. In dieses ausnahmslose Geben und Nehmen der Menschen tritt das Kind ein, gebend damit es desto mehr und vollkommener nehmen kann zum Gedeihen der eigenen Geistesschöpfung an Quantität und Qualität. Denn erst die zweifellose Signatur der Schöpfung  Hund  macht es möglich, daß Erwachsener und Kind austauschen, was sie sich bei diesem Wort vorstellen, und so wird der Begriff des Kindes in Qualitätenreichtum völliger, in Klarheit, Bestimmtheit und Richtigkeit der einmal hineingelegten Qualitäten vollkommener werden. In seinem solchen Geben und Nehmenbesteht dann die intellektuelle Perfektibilität des Menschengeschlechts, und zwar des ganzen, behaupte ich, bis man mit Völkern, denen bisher die Perfektibilität von manchen abgesprochen wurde, in Geduld diesen allerdings langsam wirkenden Prozeß des Gebens und Nehmens vollends abgewartet hat, und dann erst etwa das negative Resultat anzuerkennen wider Willen sich genötigt findet. Eine solche Geduld beweist der Tourist, der auf Erfahrungen von Wochen hin abspricht, beweist der Sklavenhalter, der jenen Prozeß gar nicht einmal gestatten will und dennoch abspricht, doch wahrlich nicht. Man gebe das neugeborene Kind des Kulturvolkes unter ein solches Kindervolk und erwarte das Resultat; vielleicht wird die angeborene größere Kräftigkeit - die Folge der Rassenperfektion - bewirken, daß das Kind in einem Negervolk zum ersten desselben wird; ob es aber ganz aus dem Rahmen der Geistesentwicklung der Pflegeeltern heraustreten wird, bezweifle ich. Denn das Kindervolk kann nur Kindersprache, d. h. unvollkommenes Geistesgeschöpf austauschen, und die Förderung dadurch kann nur in gewisse enge Grenzen beschränkt bleiben; das Kulturvolk tauscht in seiner reicheren, bestimmteren Sprache ein vollendeteres Geistesprodukt mit dem Kind aus.

Dieser Gewinn für das Kind durch die Sprache kann insofern als ein mehr äußerlicher angesehen werden, als er aus dem Sprachverkehr entspringt; aber innerlich muß er natürlich werden, weil er sonst kein Gewinn wäre. Ohne einen solchen Gewinn läßt aber keine Menschensprache den Geist, auch die am wenigsten entwickelte nicht. Selbst geschaffen aus einem geistigen Schöpfungsbedürfnis im Natursprachlaut, veredelt durch das auf den Wildling gepfropfte Edelreis der Kunstsprache, wird sie nun wiederum das ewig arbeitstüchtige Werkzeug der Schöpfungskraft des Geistes, ein Werkzeug, das sich nicht abnutzt, sondern je mmehr und intensiver es gebraucht wird, desto schöpfungstüchtiger wird. GEIGER sagt das mit den Worten:  "Die Sprache hat die Vernunft erschaffen; vor ihr war der Mensch vernunftlos."  Wie sie also die Vernunft geschaffen hat, so schafft wie weiter an derselben, und macht sie in immer höheren Grad fähig, sich in einer unbegrenzten Steigerung immer erhabenere und tiefsinnigere Probleme zu stellen und zu lösen. Unter Vernunft versteht aber GEIGER mehr als das, was ich oben die Fähigkeit des  Nachschaffens  der Außenwelt nenne, vielmehr die Fähigkeit zu  denken,  die Fähigkeit der selbständigen Neuschöpfung einer im eigenen Gesetz organisch begründeten inneren Welt, nicht bloß ganz allgemein die Fähigkeit zu vernehmen, sondern namentlich und ganz besonders auch die Fähigkeit des Geistes sich selbst zu vernehmen in seiner eigenen Schöpfungstätigkeit.

Die einmal im Wort geschehene Loslösung der Vorstellung vom eigenen Ich, sodaß dieselbe selbst wieder etwas sinnlich wahrnehmbares wird, führt den Menschen auf der betretenen Bahn der Analyse weiter. Die Vorstellung  Hund  wird je länger je mehr zum Doppelgänger der Realität "Hund", weil aus der Vorstellung  Hund  auf analytischem Weg sich mehr und mehr einzelne Qualitäten lostrennen zu einem eigenen Leben, daß sie neben dem Hund und nebeneinander bestehen, jede selbständige Schöpfung für sich, aber alle miteinander auch wieder zusammenströmend im Vorstellungsgeschöpf  Hund.  Diese verschiedenen Qualitäten sind entweder bleibende, anatomisch, oder der Zeit nach aufeinanderfolgende, physiologische. Von beiderlei Art trennen sich aus der Gesamtvorstellung zuerst die hervorragendsten, d. h. diejenigen los, welche den bestechendsten Eindruck auf die Sinne machen, im weiteren Verlauf immer mehr, von immer feinerer Art, möchte man sagen, weil sie sich erst einer genaueren Beobachtung offenbaren, bis schließlich die klassische Beschreibung LINNÉs vom Hund: - läuft schief, säuft lappend, wässert seitwärts etc. etc. sich vollendet. Dieser Fortschritt wird unwiderstehlich angebahnt durch den ersten Wauwau, besser: Hund: er setzt sich fort in einer unaufhörlichen Analyse und Synthese, und gipfelt in einer völligen Scheidung des Begriffs "Hund" von den Begriffen "Katze", "Kuh" etc., wie in einer Spaltung desselben in Unterartbegriffe wie  Pudel, Spitz  usw., wodurch er sich selbst zum Artbegriff erhebt, und schließlich sogar  Fuchs, Wolf, Hyäne  in sich aufnimmt. Weil eine solche Analyse und Synthese auf Abstraktionen beruth, so bedeuten dieselben nichts als eine Loslösung von Qualitäten von einer vorher gegebenen Gesamtvorstellung zu einer eigenen Existenz neben derselben, so daß sie wieder nicht bloß selbst selbständige Gebilde sind, sondern auch solche neu hervorbringen können durch eine eigene Spezialisierung und durch die Übertragung auf andere Vorstellungen. Die Qualität des Bellens z. B. wird zur Abstraktion  Gebell,  auch ohne daß die besondere Wortform sich dafür sofort einstellt, und bald unterscheiden sich ein tiefes, helles, heiseres, kläffendes, zorniges, fröhliches Gebell, ebenso im weiteren auch das Gebell des Hundes, des Fuchses, des Dachses etc. Die Qualität der Farbe des Hundes, den das Kind gesehen hat, löst sich los aus der Vorstellung und das Kind scheidet die Farbe allmählich in schwarz, weiß, rot etc und ebenso in Farben des Hundes, der Katze, des Kleides, der Rose usw. So schafft es im Kind schrankenlos weiter, und die Sprache, wie sie unter allen Umständen dem Kind als Kultursprache entgegentritt, fördert dieses Schaffen in demselben Maß, wie sie ihm ansich, reicher, klarer und schärfer dargereicht wird, und wie sie mehr und mehr Abstraktionsstufen im Wort fixiert. Denn die Kultursprache ist gerade die Sprache der unbeschränkten Abstraktion, der unerschöpflichen Sonderung des Vorstellungsinhaltes im Wort, von der ersten nächstliegenden bis in die letzten, sozusagen wesenlosesten hinauf, immer neue Vorstellungen schaffend, für welche die vorhergehenden den realen Boden bilden, wenn er ihnen selber unmittelbar zu fehlen scheint. Darum auch führt die Sprache nur schrittweise vorwärts zu neuem Schaffen, wenn auch der Schritt zuweilen ein Sprung zu sein scheint, weil wir oft die Zwischenschritte nicht beachten. Ein Schaffen aber ist es, weil keine Abstraktion für sich in der Welt herumläuft, sondern allein und ausschließlich diejenige Realität gegeben ist, woraus dieselbe einmal entnommen wurde und also auch immer wieder entnommen werden kann. Hat sich nun der Mensch die Abstraktionen geschaffen:  läuft schief, säuft lappend  usw., so hat er sich durch die zusammengehörige Summe derselben den Begriff "Hund" in sich neu konstruiert.

Fragen wir nun auch noch nach der Substanz im Menschen, deren Qualität als Schaffen, als Neuschaffen sowohl wie als Nachschaffen, erkannt ist?

Nicht durch unsere Sinne erkennen wir irgendeine Qualität dieses schaffenden Prinzips, weder das Schaffen, noch auch nur  eine  andere Qualität desselben; einzig und allein auf dem dargestellten Weg der Abstraktion finden wir jene  eine  Qualität desselben, d. h. die schaffende Substanz definiert sich selbstbewußt durch ihre eigene Qualität. Wo uns in der Materie etwas dem Schaffen ähnliches entgegentritt, da ist es genau geprüft nichts als ein Umgestalten und Angestalten, beides dessen was gegeben ist, nicht von etwas Neuem, welches nun neben der gestaltenden Materie eine Existenz für sich hätte, während diese daneben unter den gegeben gewesenen Bedingungen für sich gesondert fortexistieren würde. Niemals wird dageen zu bestreiten sein, daß dasjenige, was im Menschen die Welt der Vorstellungen, der Begriffe schafft, materiell nichts gemein hat mit der realen Welt, welche die Basis für die Nachschöpfung bietet, also daß diese im Entferntesten kein Umgestalten sein kann, in dessen Produkt das schaffende Prinzip selbst untergehen müßte. Das ist schon nachgewiesen durch die oben dargestellte Entstehung der Sinneswahrnehmung als einer rein geistigen Schöpfung aus dem Substrat der Sinneserregung durch die Außenwelt; und umso weniger kann das der Fall sein, weil die schaffende Kraft, sobald sie nachschaffend in Tätigkeit getreten ist, sich sofort von den realen Vorbildern ihrer Nachschöpfung emanzipiert, sich auf das Entschiedenste neben dieser behauptet, sich in der Schöpfung der Sprache über jene erhebt und nun abstrahierend, d. h. die Nachschöpfung an der Entwicklung des Sprachlauts differenzierend, in schrankenloser Folge näher und ferner liegenden Neuschöpfungen entgegenstrebt, für welche am Ende aber nirgends  reale,  auf die Sinnesorgane wirkende Vorbilder oder Grundlagen gegeben sind. Wirkt der Hund, der in der Vorstellung des Kindes lebt, durch seine Materie umgestaltend auf irgendeinen Teil der Körpermaterie des Kindes ein, um etwas dadurch nicht bloß zur Vorstellung, sondern im weiteren Verlauf zum Substrat immer feinerer Abstraktionen zu werden? Oder bestreitet irgend wer die Berechtigung des Menschengeistes, die Möglichkeit für denselben, sich mit den erhabensten Problemen, mit Tugend, sittlicher Freiheit, Gott, Unsterblichkeit etc. zu beschäftigen, welche doch Geistesschöpfungen ohne eine unmittelbare sinnliche Grundlage sind, so sehr unabhängig von der Sinnenwet, daß gerade deshalb der Materialismus zu einer mystischen Definition des Geistes als Funktion der Materie gedrängt wird, indem er die Existenz jener und ähnlicher Geistesgebilde sowie deren Existenzberechtigung nicht leugnen kann, aber da er nichts anerkennen will als Materie, den Geist in das ohne Schranken vieldeutige Wort  Funktion  beschließt? Diese Definition ist ansich ein sublimer Beweis dafür, wie selbstherrlich der Geist schafft, indem er sich selbst definiert, als existierte er eigentlich gar nicht, während er allerdings nichts ist, was aus Sinneseindrücken heraus ihm irgendein Substrat zu einer Nachschöpfung bietet.

Der Geist schafft. Und nicht allein der Außenwelt steht er wie der Schöpfer dem Geschöpf gegenüber, sondern ebenso erkennt er schließlich sich selber in seinem Qualitäten und konstruiert und definiert sich selber aus denselben. Umso gereifter, umso erhabener und gottähnlicher beweist er sich, je entschiedener und klarer er als Schaffender seinem Geschöpf - also auch ihm selbst - sich gegenüber stellt und behauptet. Darin ruht das Bewußtsein des Geistes von ihm selber, das nicht urplötzlich im Kindesgeist emportaucht als ein Erwachen desselben, wie die gewappnete  Minerva  aus dem Götterhaupt  Jovis;  es wächst vielmehr mit der Schaffenskraft des Geistes. Was ist es denn um das Bewußtsein des Kindesgeistes von ihm selber im Vergleich zu dem des hochentwickelten Geistes des Erwachsenen? - was ist es, auch wenn das Kind schon beginnt, sich mit dem Ich zu prädizieren? Es schwindet, wenn und soweit der Geist die Grenzen seiner Schaffenskraft erreicht in Ermüdung, sei sie temporär oder dauernd, in Schlaf oder in Geisteskrankheit aller Grade und Art. Es erlahmt entweder völlig, wie im traumlosen Schlaf, in Ohnmacht etc. oder es wird vom eigenen Geschöpf unterjocht, wie im Traum, in der fixen Idee des Wahnsinns etc. Das Selbstbewußtsein ist die sich selbst bestimmende Schaffenskraft des Geistes; es steht und fällt, es wächst und nimmt ab mit dieser.

Es dürfte nunmehr der Nachweis geliefert sein, daß die Sinneswahrnehmung die freie Nachschöpfung der Außenwelt durch den, eben darin seine Bestimmung erfüllenden und sich selbst dazu bestimmenden Menschengeist ist, daß sie Grundlage und Antrieb für den Geist ist zur Schöpfung einer neuen immateriellen Welt der Abstraktionen und Einbildungen, und daß schließlich in der Sprache der Geist sich selber das wesentliche Werkzeug für diese Neuschöpfung schafft.


Es ist zu untersuchen, wie die praktische
Pädagogik sich zu diesem Resultat stellt
und stellen soll.

Der LOCKE'sche Satz:  nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu [Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war. - wp] hat das Schlagwort der modernen Pädagogik zur Geltung gebracht, das Wort: Anschauung, Anschaulichkeit. Zwar hatte schon COMENIUS im  Orbis pictus  gesagt und durchzuführen versucht:  in intellectu nihil est, nisi prius fuerit in sensu, sensus ergo circa rerum differentias recte percipiendas gnaviter exerce, erit toti sapientiae, totique eloquentiae fundamenta ponere.  [Es gibt nichts im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war. Daher ist das richtige Verständnis des Sinns der Unterschiede der Dinge durch fleißige Übung zu verstehen, denn sie bilden für die ganze Weisheit die Grundlage der ganzen Eloquenz. - wp] Ja, er gebrauchte schon das Wort "Anschauung" (ocularis demonstratio). Doch wies erst ROUSSEAU, der den LOCKE ernsthaft studiert hatte, und was er aus ihm, aus andern und aus sich selbst fand, unter opfervollen Einsetzen seiner Person ins Leben einzuführen bestrebt war, in seinem  Emile  den rechten Weg, und brachte mit diesem Buch eine so großartige Wirkung hervor, daß sich von da an der Grundsatz der Anschaulichkeit der Pädagogik einimpfte und nicht wieder verloren ging. Das Wort  Anschauung  unterliegt sehr einer verschiedenartigen Deutung. Einmal steht es einfach neben dem Sehen und bedeutet also mit dem Gesichtssinn wahrnehmen. Sodann wird es auch als ein intensiveres Sehen aufgefaßt, wo dann die größere Intensität auf den Anteil des Geistes am Zustandekommen der Gesichtswahrnehmung fällt, so daß eine größere Energie der geistigen Schaffenskraft beides, die Tätigkeit des Sinnesorgans wie die des Geistes steigert, um das Produkt, die Wahrnehmung, in einem höheren Grad der Vollendung zu gewinnen, damit sie umso besser fähig ist, eine Grundlage für weitere Geistesschöpfungen zu werden. Es scheinen in diesem Sinn sowohl Dialekte des Deutschen, wie auch andere Kultursprachen das Schauen vom Sehen zu unterscheiden, griechisch  theastai  und  idein,  lateinisch  tueri  und  videre,  italienisch  mirare  und  vedere,  französisch  regarder  und  voir,  englisch  look  und  to see  etc. Wenn solchergestalt  Schauen  nicht bloß als der intensivere, sondern oft auch als der edlere Ausdruck dem Sehen gegenübergestellt wird, so soll daneben nicht unbemerkt bleiben, daß Ausdrücke wie:  Seher, - Gesicht sehen  usw. wiederum gerade die höchste Energie des vorschauenden Geistes bezeichnen. Da endlich das Auge die weiteste Welteingangspforte für den Menschen ist, so sehr, daß die Gesichtswahrnehmungen mit ihren Abstraktionen heute fast völlig die Intelligenz des Menschengeschlechts bestimmen und beherrschen, so hat sich von der Tätigkeit des Auges her ein genereller Ausdruck für die Sinneswahrnehmungen gestaltet, welcher nicht vom Wortstamm  sehen, sondern von  schauen  abgeleitet ist. Das Sehen ist ausschließlich dem Auge verblieben, während Anschauung jede Sinneswahrnehmung genannt wird ohne Unterschied des Feldes der Erscheinungen, in welchem die Sinnestätigkeit sich bewegt. Ja, das Geistesprodukt selber zu bezeichnen dient das Wort  3Anschauung und dies nicht bloß dann, wenn es die nächste Nachschöpfung einer sinnlich wahrgenommenen Realität ist, sondern auch, und zwar vorherrschend, wenn es sich um die Bezeichnung abstraktester und umfassendster Neuschöpfungen des Menschengeistes handelt, für welche die Sinnenwelt gar kein Substrat mehr bietet, wie in Ausdrücken wie:  Lebensanschauung, Weltanschauung  etc.

Als die Auffassung der modernen Pädagogik glaube ich aufstellen zu dürfen, daß  Anschauung  einmal Sinneswahrnehmung mit einer besonders energischen Richtung des Geistes auf den Gegenstand der Wahrnehmung zum Zweck einer möglichst vollendeten Schöpfung dieser letzteren, oder zweitens eine mit größtmöglicher Frische, Schärfe und Vielseitigkeit erfaßt Abstraktion ist.

Dem gegenüber lautet nun LOCKEs Satz für einen psychologischen Lehrsatz sehr unbestimmt.  Sensus  und  intellectus  sind zwei mannigfach ineinander strömende Begriffskreise; beide bezeichnen zugleich Sinnestätigkeit und das hervorgebrachte Geistesproduk, wenn auch im einen Begriff das eine, im anderen das andere vorherrscht. Hat LOCKE unter den beiden Worten die in denselben vorherrschenden Begriffselemente gemeint, so ist sein Satz nur eine höchst einfache Wahrheit, die niemals bestritten worden ist, noch bestritten werden wird, etwa so zu geben: ohne Sinnestätigkeit keine Vorstellung von realen Dingen. Soll der Satz aber wirklich den Grundsatz der Anschaulichkeit, wie er eben gefaßt ist, aussprechen, so tut er das ohne die Schärfe des Begriffs derselben, und ist solchergestalt geeignet, zu einer Einseitigkeit zu verführen. Denn da nur  sensus  und  intellectus,  Sinnestätigkeit und Vorstellung, d. h. Werkzeug und Produkt einander gegenübergestellt werden, scheint der Werkmeister vergessen zu sein, und somit ist derselbe wirklich in Gefahr, vergessen zu werden.

Anschauung,  in specie:  anschaulicher Unterricht, und noch spezieller: Anschauungsunterricht ist nur da vorhanden, wo niemals vergessen, im Gegenteil mit klarster Bewußtheit immer bedacht wird, daß der Geist schaffen, selbsttätig schaffen will, daß die Sinnestätigkeit sein, nur durch ihn zweckentsprechend fungierendes Werkzeug, und die Sinneswahrnehmung, die Vorstellung, seine Schöpfung ist, welche nie ohne sein selbstbewußtes Zutun zustande kommt; daß diese erste Schöpfung aber den Geist unbedingt weiterführt sowohl auf der Bahn der Schöpfung zur Differenzierung, wie auch zur Kombination, und durch beides zur Abstraktion, d. h. zu Neuschöpfungen, für welche das Substrat oder den Anstoß zu liefern nicht mehr ausschließlich die Sinneswahrnehmung, sondern mehr und mehr, neben derselben ihren Platz einnehmend, die Sprache das Werkzeug ist, und schließlich, daß diese schöpferische Arbeit nicht etwa erst dann beginnt, nachdem irgendeine Reihe von Entwicklungen absolviert ist, sondern mit Naturnotwendigkeit sofort eintritt, sobald der Geist tätig ist. Dem Kindesgeist auf dieser Bahn den Weg zu weisen, ist aber freiich etwas anderes, as in seinen Abstraktionen zu ihm reden; ersteres ist eine schwierige Kunst, letzteres ganz und gar nicht, und wird eben deswegen zum Erschrecken viel und mit Behagen geübt. Betrachtet man den LOCKE'schen Satz nun in dem eben entwickelten Sinn, so mag man ihn erst recht pädagogisch begründet finden, wenn man ihn umkehrt, daß er lautet: Keine Sinneswahrnehmung ohne den Geist, den es drängt zu schaffen.

Die praktische Pädagogik soll demnach, da sie den Geist entwickeln, die Intelligenz steigern will, beide Faktoren derselben gleichermaßen berücksichtigen, die Sinnestätigkeit und den schaffenden Geist in seinem Produkt, der Sinneswahrnehmung, wie er dieselbe in seinem, der Wahrnehmung äquivalenten Produkt der Sprache selbst wieder sinnlich wahrnehmbar macht, und in der Entwicklung beider differenziert.

Wenn nun in einem halben Verständnis des Begriffs der Anschaulichkeit aus jenem Satz die Forderung an den Anschauungsunterricht oder eigentlich richtiger: Elementarunterricht abgeleitet wird, daß er vor allen Dingen eine Übung der Sinne bedeuten muß, so ist das eine Einseitigkeit. SCHLOTTERBECK in Wismar scheint mir diese Richtung im Extrem zu vertreten, indem er an die Stelle des Anschauungsunterichts eine Reihe von Übungen in mechanischen Fertigkeiten gesetzt wissen will, die allerdings wohl geeignet sind, dem Kind die Sinne zu schärfen, und welche selbstredend den Geist mit in Aktion setzen, diesen aber gewissermaßen dabei sich selbst überlassen, als wäre nicht Not zu sorgen, was für Gebilde er sich schafft und wie dieselben zustande kommen. So fern mir liegt, die Sinnenbildung gering zu achten, - je tüchtiger das Werkzeug, desto besser ist damit zu arbeiten; - so sehr befürchte ich, und wie ich glaube mit Recht, daß mit dieser Kardinalforderung der Anschauungsunterricht entweder auf ein untergeordnetes und zu eng begrenztes Feld herabgezogen, oder in eine unzulässige Höhe geschraubt wird. Unbedingt zu eng würde die Sinnesübung ihre Aufgabe stecken, wenn sie nackt und einfach sehen, hören, riechen, schmecken und tasten üben wollte, damit der Mensch etwa lernt scharf zu sehen wie der Adler, fein zu riechen wie der Spürhund usw.; die praktische Überwindung der Schwierigkeiten, welche die Organisation der Sinneswerkzeuge verursacht, ist ihr doch vorweggenommen, und die theoretische Erklärung des Einflusses derselben auf die Entstehung der Wahrnehmung ist jedenfalls hier noch verfrüht. Da sie nun jenes nicht einmal vorzugsweise, geschweige denn allein wollen kann, sondern sich eine höhere Aufgabe stellt, so gerät sie mit Notwendigkeit in das andere Extrem. Zwar kann sie nur an realen Dingen und anderen Qualitäten geschehen, und mit ihr wird dann selbstverständlich der Kindesgeist an Vorstellung wachsen, also schaffen müssen; aber Sinnenübung als herrschender Grundsatz in den Anschauungsunterricht eingeführt, bringt in diesen als praktische Ausführung desselben eine dem jungen Geist unnatürliche Systematik, nämlich die Anordnung des Unterrichtsstoffes nach Qualitäten statt nach Realitäten. Trotz allen Abstraktionen, welche der Elementarschüler schon mit in die Schule bringt, - es sind deren bald mehr, bald weniger, meistens nach meiner Überzeugung mehr als wir Lehrer ahnen, weil wir in sehr verschiedenem Grad der Kunst mächtig sind, die Kinder zum völligen Hervorkehren irher inneren Welt zu bringen; - trotz ihnen soll der Elementarunterricht Realitäten bringen, und Qualitäten nur, soweit sie an diesen haftend von entscheidender Bedeutung sind für die richtige, vollständige und bestimmte Nachschöpfung derselben, wodurch sich sofort als Grundsatz aufdrängt, daß nebensächliche Qualitäten, namentlich solche, die nur zufällig vorhanden sind, entweder unbeachtet bleiben oder ausdrücklich als solche von den übrigen abgesondert werden müssen, weil sie der selbsttätigen Schöpfung richtiger Vorstellungen, namentlich zutreffender Abstraktionen durch den Kindesgeist im Weg stehen. So darf z. B. das Bellen als eine wesentliche Qualität des Hundes betrachtet werden, obgleich einige Hunde Asiens und Amerikas nicht bellen sollen, und man darf also sagen: Der  Hund bellt.  Dagegen ist die spezielle Farbe des Hunde-Individuums, wenigstens beim Haushund, eine nebensächliche oder gar zufällige Qualität an demselben, und man soll also  nicht  sagen: Der  Hund  ist  schwarz,  sondern:  Der  Hund (dieser, unser, des Nachbars Hund) ist schwarz, mit dem Hinweis, daß andere Hunde anders gefärbt sein können und auch sind, und dennoch zu derselben Art gehören.

Der Übung der Sinne soll und kann beim Anschauungsunterricht ihr volles Genüge werden; aber nur nach und nach soll derselbe zu Abstraktionen fortschreiten, nicht mit selbigen sofort dreinfahren, nämlich mit Qualitäten, welche einmal an dieser, das anderemal an jener Realität gefunden, ansich betrachtet, für sich gemessen, unter sich verglichen werden. Ein Beispiel dazu würde sein, wenn dem Elementarschüler eine Schiefertafel, ein Tuchrock, eine Samtkappe, ein Stück Anthrazit, Schusterpech, eine Ledermappe etc. vorgelegt würden, welche alle schwarz sind und er sollte daran graulichtschwarz, bläulichschwarz, samtschwarz, kohlenschwarz, pech- oder bräunlichschwarz, grünlichschwarz etc. unterscheiden lernen.

Einseitigkeit ist es ferner ebensowohl, wenn aus dem LOCKE'schen Satz gefolgert wird, es könne niemals zu rasch die Masse der Sinneswahrnehmung gesteigert werden, um den  intellectus  zu fördern. Wahrlich, wenn man die immer voluminöser werdenden Stoffsammlungen für den Anschauungsunterricht betrachtet, so muß man zu der Annahme gelangen, daß ihre Autoren eine geistige Überfütterung nicht kennen. Haben sie sich niemals gewundert, wie so oft in unseren Elementarschülern eine anfängliche Frische, d. h. Schaffenslust, nach und nach und zwar häufig sehr bald in eine stumpfe Blasiertheit, d. h. in Geistesmüdigkeit eingeht? - und das ist doch so oft der Fall, daß wir Pädagogen die Ursache davon in unserer Schularbeit, wenn auch nicht allemal und ausschließlich suchen, doch wenigstens wohl einmal vermuten sollten. Die aber in der Schulklasse die stumpfsten sind, zeigen sich oft auf dem Spielplatz beim gewohnten einfachen Spiel als die muntersten, frischesten, nie verlegen um das rechte Mittel zur Erreichung ihres Spielzwecks, nie verlegen um das richtig die wechselnde Sachlage bezeichnende Wort: kurz, unaufhörlich und mit Luft innerlich schaffend, was das Spiel an Situationen hervorbrachte oder noch hervorbringen soll. Daß das beim Unterricht nicht durchaus so ist, soll man doch wahrlich nicht ohne weiteres einer etwa "angeborenen" oder anerzogenen Schaffensträgheit des Kindes beimessen, obwohl letzteres leider nur zu oft vorkommt; kann es nicht ebensowohl eine Schuld des Unterrichts sein, des Mangels an Lehrgeschick, in dem durch die Lektion gegebenen speziellen Fall sowie in der zweckmäßigen Auswahl des Stoffes? Auch bei Erwachsenen gibt es Blasiertheit in Folge von Überfütterung mit sogenanntem unverdauten Wissen. Das weist uns Pädagogen darauf hin, daß wir Achtung haben sollen vor dem selbstschaffenden Kindesgeist, daß wir, wo wir fürchten müssen, über das Maß seiner Schaffenskräftigkeit hinaus zu geraten, lieber weit unter diesem Maß bleiben, im Bewußtsein der Künstlichkeit unserer Arbeit, im Bewußtsein unserer daraus entspringenden präsumtiven [vermutlich - wp] größeren oder geringeren Unzulänglichkeit, und im guten Vertrauen, daß der Kindesgeist, wenn der Lehrer aufhört aufzutischen, darum noch lange nicht aufhört zu schaffen. Sorgfältiges Maßhalten im Stoff wird dem Kind gerade Stoff genug zum Schaffen bieten und ihm Luft und Kräftigkeit zu demselben erhalten und steigern.

In ihrer Stoffanhäufung wird die besprochene Richtung des Anschauungsunterrichts einfach zum Elementarunterricht in den realen Wissenschaften, und nicht leicht dürfte in der Tat eine der Disziplinen der beschreibenden Naturwissenschaften zu finden sein, deren Elemente nicht, im vollen Bewußtsein ihrer Bedeutung als solcher, im Anschauungsunterricht unserer Tage vertreten wären. HARDER, einer der Hauptvertreter dieser Richtung, nimmt die Stoffe seines Anschauungsunterrichts aus dem Schul-, dem Familien-, dem bürgerlichen und gewerblichen Leben mit ihren Bedürfnissen. Das wird und muß nun freilich jeder elementare Unterricht tun. Aber es kommt auf die Benutzung dieses Stoffs an, und HARDER will, wie in ähnlicher Weise schon COMENIUS und einzelne Philanthropisten, geradezu die Keime der "Realien", der Menschen-, Tier-, Pflanzen-, Erd- und Himmelskunde legen; es sagt: "Nur eine sinnige Naturbetrachtung kann dem Anschauungsunterricht genügen." Man findet jedoch bei HARDER mehr als "die Keime" der Realien, nämlich diese selbst und obendrein einesteils sich "hinabkauernd" (KÄSTNER) zu den Kindlein, andernteils entschieden verfrüht in Betracht der Entwicklungsstufe der Jugend, für welche sie gearbeitet sind. Noch mehr ins Extrem gerät in gewisser Beziehung VÖLTER, der die Stoffe aus der Umgebung des Kindes geradezu verwirft, weil dieselben dem Kind ja von selbst zu Gebote stehen; er fordert die Einführung in eine dem Kind fremde und deshalb neue Welt, die neben der alltäglich wahrgenommenen den Reiz des Neuen, des noch Unbekannten bietet, welche anfremdet und anheimelt zugleich; - und gelangt ausgesprochenermaßen zur Naturgeschichte der drei Reiche.

Das ist ein Kultus des Stoffes, bei dem der Geist allerdings beteiligt wird, aber fast mehr in Mit leidenschaft  gezogen, als zur Mit arbeit  angeregt wird. Daß er die wesentliche, die Hauptarbeit tun soll, scheint vergessen; der Stoff wächst dergestalt in die Breite, daß er mehr und mehr das Interesse des sich vorbereitenden Lehrers auf sich allein konzentriert.

Auch KARL RICHTER, der Verfasser ausgezeichneter Abhandlungen über den Anschauungsunterricht, erkennt zwar ausdrücklich die Sprachbildung als eine wesentliche Hauptaufgabe desselben an, nimmt aber diese Anerkennung geradezu wieder zurück, indem er sich dagegen verwahrt,
    "daß er (der Anschauungsunterricht) seinen ersten, seinen hauptsächlichsten Zweck in der Sprachentwicklung erblicken, und, ausartend in einen bloßen Sprachunterricht, mit den Wörtern, ihren Formen und Beziehungen als solchen sich beschäftigen soll."
Versteht hier RICHTER unter Sprachunterricht dasjenige, was heute, wie ich überzeugt bin, fast überall in der Schule Sprachunterricht genannt wird, so bezeichne ich einen solchen mit ihm als eine Ausartung; und wenn RICHTER von den "Wörtern, ihren Formen und Beziehungen" spricht, so scheint er allerdings den Grammatikunterricht im Auge zu haben, welcher in unseren Tagen die Schule beherrscht. Aber Grammatikunterricht ist noch kein Sprachunterricht. Er ist ein Glied, ein Faktor desselben, unentbehrlich zwar, aber nicht im Entferntesten ein für sich die Sprachentwicklung bedingender Unterricht, und RICHTER wird vielleicht mit mir übereinstimmen, wenn ich einen anderen Sprachunterricht über und neben den Grammatikunterricht gesetzt wissen will.

Die Grammatik lehrt die Gesetze der äußerlichen Zusammenordnung der Sprachelemente, um etwas gedachtes, in Worte niedergelegtes derart zum Gesamtausdruck zu bringen, daß ein Zuhörer oder Leser möglichst genau und vollständig zu denjenigen Denkprozessen veranlaßt wird, welche der Autor für sich selber absolviert hat und zu welchen er jene zu leiten beabsichtigt. Diese Denkprozesse sind keine grammatikalische Gestaltung; das: "Ich will essen!" sagt das kleine Kind an und für sich ebenso denkrichtig in der grammatischen Ungestalt: "Essen!" oder "Fritz essen!" Sie sind auch an und für sich von der Grammatik unabhängig: sie sind das  primum  und gebären danach das  secundum  die grammatische Gestaltung, wie sie die, ewig flüssigen, aber jeweilig gültigen Gesetze der Grammatik erfordern. Sie beruhen auf dem Wort und dessen Begriffsinhalt, wie er sich differenziert und verallgemeinert; sie bestehen in der Einwirkung der Begriffe aufeinander, wie sie einander bejahen oder verneinen, einander beschränken oder erweitern, sich einander unter- oder überordnen, einander Ort, Zeit, Weise, Ursache, Grund etc. bestimmen usw.: das ist die Logik der Sprache. Die *Grammatik dagegen ist nur ein Hilfsmittel der Sprache, den  logos  mitzuteilen, und beruth eben deswegen - im entschiedensten Gegensatz zur Sprache ansich - auf gegenseitiger Verständigung über die Mittel einer solchen Mitteilung und über die Bedeutung derselben: nicht, als ob jemals Majoritätsbeschlüsse der Völker darüber direkt entschieden hätten; sondern, wo und wenn eine neue grammatische Gestaltung aufgetreten ist oder auftritt, da entscheidet sich früher oder später danach, ob die neue Gestaltung als zweckentsprechend anzuerkennen oder als unzweckmäßig, überflüssig oder unschön zu verwerfen ist. Nur scheinbar ergeht es dem Wert oft ähnlich; es treten wirklich von Zeit zu Zeit neue Wortbildungen auf, welche nicht zur Einbürgerung gelangen. Aber der wesentliche Unterschied beruht darin, daß, wo ein Mensch einen Begriff wahrhaft neu schafft, oder einen Begriff wahrhaft neu schafft, oder einen Begriff wirklich originell neu differenziert, das neue Wort mit Naturnotwendigkeit entstehen  muß,  und nur durch  dieses  Wort die Neuschöpfung den anderen Menschen mitgeteilt werden  kann;  schaffen danach dann schärfere Geister den neuen Begriff auf eine demselben besser entsprechende Weise, so entsteht vielleicht in den Begriffsverwandtschaften z. B. besser angepaßtes Wort. Dann ist aber dieses Wort einfach das berechtigte, weil es die vollendetere Begriffsschöpfung ausdrückt. Die Naturwissenschaften bieten Beispiele dazu in Doppelbezeichnungen wie:  Viverra genetta (LINNÉ) oder  Genetta vulgaris (CUVIER) etc. Wollte dagegen jemand in durchaus ungewohnter grammatischer Gestaltung sprechen oder schreiben, so entledigte er sich damit bloß des überkommenen Mittels der Verständigung und mutete den Zuhörern etc. zu, den Sinn seiner Mitteilung aus dem Begriffsinhalt der von ihm gebrauchten Worte wohl oder übel abzuleiten. Die Grammatik ist eben nicht die Sprache, ist nur ein allerdings unentbehrliches Hilfsmittel zur Mitteilung derselben.

Die Sprache selbst aber, die das Denken nach GEIGER erst hervorbringt, die dasselbe trägt und durch die Differenzierung etc. ihrer Begriffe entwickelt, in welcher wir also den intelligenten Geist selber erfassen würden, sie wird im Anschauungs- und Sprachunterricht der heutigen Schule unbestreitbar über Gebührt versäumt.

Wohl ist ohne Sprache überhaupt kein Unterricht möglich, und so muß wohl oder übel jeder Unterricht, wenn auch nur durch Brosamen, die von seinem Tisch fallen, Sprache nähren und fördern. Aber die Sprache der Schule ist dem Elemtarschüler oft genug zum größeren oder geringeren Teil so durchaus fremd, daß die Brosamen, welche ihm seine Sprache wirklich nähren und bereichern können, in manchen Fällen höchst spärlich abfallen müssen. Das ist nicht allein Folge des Dialekts, sondern mehr noch Folge des Umstandes, daß wir Lehrer naturgemäß die entwickelte Kunstsprache reden, zu welcher die Schüler erst emporgehoben, fast dürfte man wohl sagen: erzogen werden müssen. Man täusche sich nicht damit, daß man für die Sprache genug getan zu haben glaubt, wenn der Anschauungs- wie überhaupt aller Unterricht zu sogenannten vollständigen, nämlich bestimmten, grammatisch richtigen Aussprechen anleitet; es würde doch ja bloß etwas Unbegreifliches sein, wenn das nicht geschähe. Etwas ganz anderes ist zu fordern, um eine wirkliche Entwicklung der Sprache anzubahnen und zu fördern. Als selbst sinnlich wahrnehmbare Darstellung der innerlich geschaffenen Vorstellungs- und Begriffswelt, als welche sie das Hauptwerkzeug des schaffenden Menschengeistes, und gleichzeitig dasjenige Substrat seines Schaffens ist, worin der Geist sich selber offenbart und einzig und allein erfaßt werden kann, muß sie für sich selbst Stoff des Anschauungsunterrichts werden, so gut wie die reale Welt es zu sein beansprucht, deren Nachschöpfung im Geist sie aus demselben hinauszustellen bestimmt ist in der größtmöglichen Kongruenz [Übereinstimmung - wp] beider, damit der Schöpfer selbst und wir anderen Menschen als Zuschauer die Schöpfung betrachten, prüfen und vervollkommnen können.

Ein Anschauungsunterricht, der in diesem Sinn die Sprache, also den Geist zu seinem Stoff macht, mag schwer zu konstruieren sein; aber die Schwierigkeit liegt meines Erachtens nur darin, daß man sich gewöhnt hat, die Sprache als ein Akzessorium Beiwerk - wp] des Menschengeistes zu betrachten, das sich zufällig gebildet, sich zufällig nun einmal in der und nicht in einer anderen Weise entwickelt hat, und das nichts ist als ein recht künstliches System von einer Menge von Spracherscheinungen und Sprachformen. Da nun dieses System, die Grammatik, nicht die Sprache ist, wie auch hochgebildete Völker mit reich entwickelter Sprache eine unvollkommenere Grammatik haben können als Völker auf einer untergeordneten Kulturstufe mir einer ärmeren Sprache, wovon Chinesen und Mongolen ein Beispiel sind, so soll man das Vorurteil betreffes der Grammatik aufgeben, soll diese nicht mehr, wie es oft genug geschehen ist und noch geschieht, die Logik der Schule heißen, sondern man soll die Logik da suchen und erfassen und entwickeln, wo der Geist denkt, also in der Sprache und ihrem Begriffsinhalt. Auf diesem Weg müssen sich dann die Schwierigkeiten des geforderten Anschauungsunterrichts überwinden lassen; vom ursprünglich einfachsten Sprachschaffen, dem Nennen, ausgehend, muß der Sprachanschauungsunterricht dem Gang der Begriffsdifferenzierung folgen und solchergestalt das Kind seine Sprache schaffen lehren, die Sprache, die es schon hat, ihm klären und entwickeln helfen. So allein kann die Sprache als das, was sie ist, zur Geltung im Schulunterricht kommen, als der offenbarste Schöpfungsakt des Geistes, dessen größere oder geringere Vollendung sich unmittelbar mißt am Vorstellungs- und Begriffsinhalt des Wortes, als das selbstgeschaffene Hauptwerkzeug des Geistes, sich schaffend über die reale Welt zu erheben in den erhabensten, kühnsten Abstraktionen und Gedankenflügen. Müßte man wählen zwischen Real- und Sprachanschauungsunterricht, so müßte man sich für letzteren entscheiden; von selber muß ja derselbe, sofern er echt pädagogischen Grundsätzen huldigt und nicht auf bloße "Maulbraucherei" lossteuert, welche z. B. schon PESTALOZZI zu bekämpfen vorfand, sich an Realitäten halten und mit denselben sich beschäftigen, da es einmal ohne Vorstellungsinhalt, ohne Sinneswahrnehmung keine Sprache, und ohne Differenzierung des Vorstellungsinhaltes, also ohne sorgfältigstes Anschauen der Realität, keine Entwicklung derselben gibt. Somit würde das, was der Realanschauungsunterricht erstrebt, nicht absolut zu kurz kommen; dafür würde aber der Geist selbst und sein Werkzeug, das er braucht, um sich zum Herrn aller Realität zu machen, zu diesem Werk wesentlich gekräftigt werden.

Jedoch eine Entscheiden, ob Real-  oder  Sprachanschauungsunterricht, verlange ich gar nicht; ich verlange nur, daß die Konfusion der Aufgaben des heutigen Anschauungsunterrichts aufgegeben wird. Derselbe will oder soll beides sein, ein Anschauungsunterricht von der realen Welt wie vom Geist, und - niemand kann  zween Herren  dienen; in diesem Fall aber wird es fast naturgemäß geschehen müssen, daß eher die realistische Tendenz über die sprachliche obsiegt als umgekehrt. Klare und entschiedene Scheidung dieser beiden Tendenzen ist es, was gefordert werden muß, damit endlich die Sprache nicht mehr bloß nebenbei, sondern für ihren Teil, nach Maß ihrer hohen Bedeutsamkeit für die Entwicklung der Intelligenz, direkt als Selbstzweck behandelt wird, so gut, wie das bis heute vorherrschend in Bezug auf die reale Welt geschieht. Ich fordere Realanschauungsunterricht  und  Sprachanschauungsunterricht.

Allerdings kann im ersten Schuljahr meines Erachtens sehr wohl ein reiner Sprachanschauungsunterricht genügen, und die andere Aufgabe des Anschauungsunterrichts zugleich mit erfüllen, weil er der Begründung auf Sinnesanschauung durchaus nicht entraten kann, diese aber doch allfällig so einfach gehalten werden muß wie möglich, z. B. auch nicht im Entferntesten derart systematisch auftreten soll, daß sie nicht geordnet werden dürfte nach den Anforderungen der Sprachentwicklung. Aber weiterhin sollen beide als in ihrer Hauptaufgabe klar gesonderte Disziplinen nebeneinander ihren Platz einnehmen, die eine sich allmählich steigernd zum rechten Realunterricht, die andere den Schüler immer weiter in die Werkstatt des Geistes einführend, indem sie ihn die Entwicklung der Sprache in ihm selber erleben läßt.

Seit dem Erwachen der modernen Pädagogik, d. h. seitdem die Pädagogik begonnen hat, ihre Grundsätze aus der psychologischen Wissenschaft zu schöpfen, bekämpfen jene zwei Haupttendenzen des Anschauungsunterrichts einander. Doch werden von beiden hinüber und herüber Konzessionen gemacht; die Vertreter des Realanschauungsunterrichts wollen nebenbei, bald mehr bald weniger, Sprachbildung fördern, während die des Sprachanschauungsunterrichts niemals die Notwendigkeit einer realen Anschauungsgrundlage bestreiten. Beide erfüllen damit einfach ihre Pflicht gegenüber der Wissenschaft vom Geist. Wenn aber ein Sprachanschauungsunterricht, wie er dem Keim nach in den sogenannten Denk- (und Verstandes-) Übungen eines ROCHOW, ZERRENNER, DINTER, DOLZ, KRAUSE und anderen mehr vorbereitet liegt, und der nur der Entwicklung harrt, welche durch die wissenschaftliche Erforschung der Bedeutung der Sprache an und für sich erst anzubahnen war, als "Anleitung zu inhaltlosem Räsonnement" verurteilt wird - Seminardirektor GOLTZSCH tut es; - unter der Behauptung, daß durch derartige "inhaltsleere, zufällige Denk- und Redeübungen nichts weniger als selbständige, einer weiteren Entwicklung fähige Denk- und Sprachübung habe bewirkt werden können", so trifft ein solcher Vorwurf auch meine Forderung. Aber eine verkehrte Anwendung, ungeschickte Ausführung, und die Möglichkeit fehlerhafter Konsequenzen und einer übertreibenden Zuspitzung beweisen nichts gegen einen aufgestellten Grundsatz; wenn irgendwo, so gilt in der praktischen Pädagogik der Satz:  duo si faciunt idem non est idem [Wenn zwei dasselbe tun, ist es doch nicht dasselbe. - wp] Wenn sodann jener Vorwurf darauf begründet wird, daß "das Kind im Denken ungeübt und wortarm ist", so fällt er sofort in sich zusammen, daß in dem Zugeständnis dieser Tatsache einzig und allein die Berechtigung von Unterricht überhaupt beruth, und da Ungeübtheit im Denken und Wortarmut sicher am besten durch Übung im Denken und durch eine Bereicherung an Worten kuriert werden. Es handelt sich nun einmal gar nicht darum, was z. B. in ungeschickter Hand aus dem geforderten Sprachanschauungsunterricht werden  kann,  sondern einfach darum, ob die Notwendigkeit desselben anerkannt werden  muß. 

Wenn man früher dabei stehen blieb, die Sprache für den in Erscheinung getretenen Gedanken zu erklären, ohne weiter dabei in Betracht zu ziehen, was der Gedanke ist und woher er stammt; wenn dieser dann beinahe als ein Willkürprodukt des Geistes galt, welches kommt und verschwindet, wie es dem Geist beliebt, also, daß derselbe wohl auch einmal ohne alle Gedanken sein könnte, wenn er es so wollte; was andererseits völlig gesetzlos entsteht, nämlich, losgelöst von den realen Grundlagen einer wahrhaften Anschauung, einfach einem absoluten Willensakt, einem souveränen Belieben sein Dasein und seinen Inhalt verdankt, und welches sich dementsprechend entwickelt, nicht wie seine Prämissen es bestimmen, sondern wie irgendwelche außerhalb von ihm liegende, dem Gedanken ansich fremdartige Interessen darauf Einfluß ausüben -: so mochte man es mit einigem Recht scheuen, die Sprache ansich über ein gewisses Maß hinaus zu üben, in der Meinung, daß sie ein zweischneidiges Schwert werden muß, welches wohl großen Vorteil, aber ebenso leicht einen großen Nachteil für die Geistesentwicklung schaffen kann; so mochte man scheinbar mit Recht fordern, daß die Sprachbildung des Kindes geschehen muß durch das "Auffassen der Worte, Vorstellungen und Gedanken anderer" (GOLTZSCH), wo man dann also, was man dem Kind an Wort, Vorstellung und Gedanken zuträglich hielt, für dasselbe zurechtmachte und etwa im Schullesebuch zusammenstellte, zu welchem dann freilich der Lehrer auf keine Weise etwas hinzutun durfte, um nicht sofort in die gefährliche Bahn der selbsttätigen Sprach- oder Denkübung zu geraten. Ohne eine solche Ausschließlichkeit konnte das System nicht bestehen; mit ihr bedeutete es nichts als das Einfangen und Einschnüren der Sprache in fremde, für das Kind an und für sich leben- und entwicklungslose Normen und Formen.

Ist dagegen die Sprache das sinnlich wahrnehmbar gewordene Geistesgeschöpf, und zwar selbst Schöpfungsakt, Schöpfungsprodukt und Werkzeug des Geistes zu Neuschöpfungen, alles zugleich und in relativ gleichem Grad der Vollendung, und beruhen ihre Existenzbedingungen wie ihre Entwicklungsfähigkeit in denen der geistigen Schöpfung, der Sinneswahrnehmung oder Vorstellung wie der Abstraktion, von welchen allen sie das Äquivalent ist, so ist sie nun einmal ansich nie etwas inhaltsloses. Auch in der geringfügigst erscheinenden Sprachgestalt pulsiert ja eigenes Leben, entfließend aus dem durch sie hörbar gemachten Geistesprodukt, das sich naturgemäß differenziert und dadurch auch die Sprachgestalt flüssig macht. Wird das zur Anschauung gebracht, so sieht der Anschauende seinen Geist arbeiten, und gewiß wird dadurch nicht notwendig Leichtfertigkeit im Gebrauch der Sprache, sondern im Gegenteil ein Respekt vor dem kleinsten Wort, vor der einfachsten Redebemerkung gefördert, da sie ausnahmslos alle ihr Gewicht haben. Gar zu oft aber  wird  die Sprache durch Erziehung und Unterricht dem Kind ein inhaltsloser Klang, wenn und soweit sie ihm angewöhnt oder gar aufgezwungen wird, ohne Sorge, ob sie auch wahrhaft angeschaut wurde. Damit sie nicht inhaltslos wird, muß sie so gründlich wie möglich angeschaut werden in ihrem bedeutungsschweren Wesen wie in ihrer Entwicklung, muß in einem künstlichen, einzig auf Sprache beruhenden Erziehungs- und Unterrichtsorganismus der Schule ein seiner Zwecke und Mittel sich klar bewußter Sprachanschauungsunterricht umso entschiedener seinen Platz fordern, je formenreicher, begriffstiefer und abstraktionsgewaltiger die Kultursprache sich entwickelt hat.

Die schaffende Selbsttätigkeit des Menschengeistes ersetzt nichts, auch die vollendetste Unterrichtskunst ansich nicht. Daher bleibt es die wichtigste Aufgabe der pädagogischen Wissenschaft, zu erforschen, wie dieselbe am sichersten gekräftigt, am wirksamsten angespornt und am richtigsten geleitet wird.


LITERATUR - Karl Georg Böse, Über Sinneswahrnehmung und deren Entwicklung zur Intelligenz, Braunschweig 1872
    Anmerkungen
    1) HEYMAN STEINTHAL, Grammatik, Logik und Psychologie, Bd. I, § 91f.
    2) Ich folge hier LAZARUS GEIGER, Der Ursprung der Sprache, Stuttgart 1869.