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SALOMON MAIMON
Kritische Untersuchungen
über den menschlichen Geist


"Eine Untersuchung ist kritisch, wenn das Erkenntnisvermögen unmittelbar sich selbst und mittelbar die dadurch bestimmte Erkenntnis zum Gegenstand hat. Aber hier entsteht eine wichtige Frage: wie ist eine Kritik des Erkenntnisvermögens möglich? denn das Erkenntnisvermögen erkennt sich selbst nicht unmittelbar (durch innere Merkmale), sondern bloß als Subjekt und (subjektiven) Grund der Erkenntnis durch seine Wirkung, d. h. es kann sich selbst durch nichts anderes als durch seine Wirkungsart."

"Sollte die Natur der zu behandelnden Wissenschaft kein System zulassen, so würde doch die Wissenschaft ansich berichtigt und erweitert werden. Der Mathematiker geht seinen sicheren Weg, ohne sich um ein System seiner Wissenschaft zu bekümmern (man hat noch nie von einem System der Mathematik sprechen hören)."



Seiner Hochgeboren dem
Herrn Grafen Adolph von Kalkreuth


Würdiger Herr Graf !

Ich eigne Ihnen dieses Werk zu, nicht (wie es zu geschehen pflegt) bloß pro forma, aus einer Art Dankbarkeit für erhaltene oder mit Hinsicht auf noch zu erhaltende Wohltaten, sondern weil Sie in der Tat ein gegründetes Recht darauf haben. Ich habe es in Ihrem Haus, mit Ihrem Aufmunterung und Unterstützung verfertigt; und was noch mehr ist, ich habe bei dieser Verfertigung mir gerade einen solchen Leser wie Sie gedacht, und gleichsam von Ihnen das Maß genommen.. Einen Mann von vielem Scharfsinn, mit lebhafter Imagination, der die schwersten Materien leicht zu fassen, und wenn er sie gefaßt hat, richtig zu beurteilen imstande ist; der mehr als einerlei Kenntnis sich erworben hat, so daß wenn z. B. ein Gegenstand der Philosophie durch ein Beispiel aus der Mathematik erläutert werden muß, dieses Beispiel ihn nicht in Verlegenheit setzen wird; der, wenn er auch von der Gelehrsamkeit keine Profession macht, dennoch mit den vorzüglichsten Produkten der neuesten Literatur bekannt ist, und sie zu würdigen weiß; endlich einen solchen, der nach erworbener Einsicht, eine kurze Übersicht der Wissenschaften nach ihren mannigfaltigen Gegenständen, Methoden und den Verhältnissen, worin sie miteinander stehen, zu erlangen wünscht.

Der Plan dieses Werkes ist, wie der Titel besagt: Kritische Untersuchungen. Eine Untersuchung ist kritisch, wenn das Erkenntnisvermögen unmittelbar sich selbst und mittelbar die dadurch bestimmte Erkenntnis zum Gegenstand hat. Aber hier entsteht eine wichtige Frage: wie ist eine Kritik des Erkenntnisvermögens möglich? denn das Erkenntnisvermögen erkennt sich selbst nicht unmittelbar (durch innere Merkmale), sondern bloß als Subjekt und (subjektiven) Grund der Erkenntnis durch seine Wirkung, d. h. es kann sich selbst durch nichts anderes als durch seine Wirkungsart, oder die Gesetze, nach welchen es Objekte erkennt, selbst als Objekt bestimmen. Eine Kritik des Erkenntnisvermögens aber fordert gerade das Gegenteil. Die Beantwortung dieser Frage ist diese: Die Kritik des Erkenntnisvermögens fordert keineswegs, daß das Erkenntnisvermögen erst sich selbst unabhängig von den Objekten der Erkenntnis als Objekt erkennen soll, dies wäre unmöglich; sie fordert bloß, das absolut Notwendige und Allgemein in der Erkenntnis ausfindig zu machen, und als die ersten Gründe der Erkenntnis systematisch darzustellen. Denn eben daraus, daß etwas in der Erkenntnis anzutreffen ist, welches absolut (nicht erst durch gegebene Objekte der Erkenntnis bedingt) notwendig und allgemein (in Beziehung auf alle möglichen Objekte der Erkenntnis) gültig ist, erkennen wir, daß dieses Etwas nicht in gegebenen Objekten, sondern im Erkenntnisvermögen selbst gegründet sein muß. Nun ist zwar schon längst eine Wissenschaft bekannt, die dieser Forderung Genüge zu tun scheint, nämlich die Logik, welche die Formen des Denkens in Beziehung auf Objekte überhaupt als Grundsätze und Postulate a priori aufstellt. Da aber diese Grundsätze und diese Postulate bloß die negativen Bedingungen (conditiones sine quibus non) aussagen, unter welchen einer Erkenntnis von Objekten überhaupt möglich ist, und keine positiven Erkenntnisgründe (dadurch bestimmbare Objekte) sind, so kann die Logik nur einem Teil der gedachten Forderung Genüge leisten, der anders und zwar wichtigere Teil aber bleibt dadurch allein noch unbefriedigt.

Nun hat zwar schon längst KANT eine solche Kritik zustande gebracht, der ich aber, bei allem zugestandenen subjektiven Wert (in Anbetracht des ungemeinen Scharf- und Tiefsinns, und systematischen Geistes, den der Verfasser darin gezeigt hat) sehr mittelmäßigen objektiven Wert (in Berichtigung und Erweiterung unserer Erkenntnis) beilege, und daher nicht bloß in einzelnen Stücken, sondern im ganzen Plan einer solchen Kritik, mich von diesem großen Mann abzuweichen und hierin einen eigenen Weg einzuschlagen gezwungen sehe.

Erstens habe ich bemerkt, daß diesem berühmten Verfasser an seinem System mehr als an genauer Bearbeitung der dazu erforderlichen Stücke gelegen ist. Da aber ein System (wenn nicht die Prinzipien, auf welchen es gegründet ist, und die Materialien, die durch dasselbe verbunden und geordnet werden sollen, schon vor demselben als wahr festgesetzt sind), kein Kriterium der Wahrheit abgeben kann, so sollte man hier gerade umgekehrt verfahren. Man sollte erst die Wahrheit der zu einem System überhaupt erforderlichen Stücke, d. h. ihre Tauglichkeit zu einem System überhaupt außer Zweifel setzen, alsdann würde sich das System, zu welchem sie tauglich sind, von selbst ergeben; und sollte die Natur der zu behandelnden Wissenschaft kein System zulassen, so würde doch die Wissenschaft ansich berichtigt und erweitert werden. Der Mathematiker geht seinen sicheren Weg, ohne sich um ein System seiner Wissenschaft zu bekümmern (man hat noch nie von einem System der Mathematik sprechen hören).

Zweitens nimmt KANT gewisse Tatsachen des gemeinen Menschenverstandes an. Nun aber unterscheidet sich der gemeine von dem durch Wissenschaften kultivierten Menschenverstand vorzüglich darin, daß diesem an der Wahrheit der Erkenntnis ansich, jenem aber an ihrem Gebrauch im praktischen Leben gelegen ist. Ihm gilt eine Täuschung so gut als eine Wahrheit, wenn nur die praktischen Folgen von jener mit den praktischen Folgen von dieser übereinstimmen. So ist es dem Landmann einerlei, ob die Sonne um die Erde oder die Erde um ihre Achse, oder um die Sonne sich bewegt; dieses auszumachen, überläßt er dem Astronomen. Ihm liegt bloß daran, daß er mit dem (seiner Vorstellung nach) Sonnenaufgang zur Arbeit aufsteht, und in gehöriger Jahreszeit sein Feld bestellt. Dem Astronomen hingegen ist nicht darum zu tun, die Erscheinungen an den Himmelskörpern bloß als Fakta zum Gebrauch im gemeinen Leben aufzustellen, sondern aus ihren wahren Gründen zu erklären, und nach allgemeinen Gesetzen zu bestimmen. Er darf also hierin keiner Täuschung Raum geben. Nun aber legt KANT seinem System gerade solche Täuschungen (die die Psychologie aufdeckt) zugrunde, welches doch nicht geschehen dürfte.

Drittens legt er (zum Zweck des positiven Teils seiner Kritik) gewissen Erkenntnisvermögen Funktionen bei, die ihnen gar nicht zukommen.

Viertens hat er kein allgemeines Kriterium der materiellen Wahrheit aufgestellt, welches doch, wie ich zeigen werde, geschehen könnte und sollte.

Mein Plan ist also in diesem Werk, die Notwendigkeit einer Kritik des Erkenntnisvermögens überhaupt, und die Unzulänglichkeit der kantischen darzulegen, und eine eigene, meine Forderungen befriedigende Kritik aufzustellen.

Mit den Herrn Kantianern, oder wie sie sich selbst nennen, kritischen Philosophen, habe ich noch weniger Ursache zufrieden zu sein, als mit ihrem großen Lehrer. Der größte Teil von ihnen tut nicht mehr, als die kantische Kritik kommentieren, epitomieren [Auszüge erstellen - wp], popularisieren, und so zu wässern, daß sie alle Kraft und allen Saft verliert. Die wenigen Originaldenker und scharfinnigen Köpfe, die den Rahmen kritische Philosophen mit Recht verdienen, und die entweder eigene Systeme aufzustellen, oder das kantische vollständig zu machen suchen, spannen wiederum den Bogen zu hoch; kommen zuweilen (wie die Kometen der Sonne) dem kantischen System sehr nahe, zuweilen aber entfernen sie sich in ihren hyperbolischen Bahnen von demselben so sehr, daß man sie gänzlich aus dem Gesicht verliert. Sie führen in ihren Schriften (um so mehr Ansehen von Scharf- und Tiefsinn zu erhalten oder vielleicht um ihrer Philosophie kein empirisches Ansehen zu geben) mehrenteils gar keine Beispiele an, um ihre höheren Spekulationen dadurch zu erläutern, und wenn sie sich ja dazu herablassen, so sind es nicht etwa Beispiel aus den einfachsten Begriffen und Sätzen der Mathematik (wie es der große WOLFF fast immer tut), sondern solche, die mehrenteils anstatt die Sache zu erläutern, dieselbe vielmehr verwirren. Der eine, um zu zeigen, daß es Begriffe geben kann, die zwar keinen Widerspruch enthalten, aber dennoch sich nicht konstruieren lassen (welches LEIBNIZ durch das Beispiel eines Dekaeders erläutert) unternimmt deswegen eine beschwerliche Reise nach dem Eismeer, um sich da einen weißen Bären zum Beispiel zu holen und läßt diesen dann einige Seiten lang herum tanzen. -

Der andere, um zeigen, daß Induktion keine absolute Allgemeinheit geben kann, reist nach dem Nilstrom, um sich zu diesem Zweck ein Krokodil zu holen. Ein dritter wiederum segelt nach dem Kap der guten Hoffnung, von wo er einen Schwarzafrikaner mitbringt, den er nachher dem Bürger JOHANN JAKOB ROUSSEAU einen Kontratanz [ursprünglich englischer Gruppentanz - wp] tanzen läßt usw. In spekulativen Schriften sind Beispiele unentbehrlich, und wer sie nicht beibringt, wo sie erforderlich sind, erregt den gerechten Verdacht, daß vielleicht er sich selbst nicht verstanden hat. Aber ich behaupte noch mehr, daß nämlich nur Beispiele aus der Mathematik zu diesem Zweck tauglich sind, weil die Objekte der Mathematik durch Begriffe auf eine präzise Art bestimmte Anschauungen sind. Hier kann genau angegeben werden, wieviele Merkmale im Begriff enthalten; welche wesentliche und zufällige, welche gemeinschaftliche und welche eigene Merkmale sind usw. welches sich mit den empirischen Objekten nicht tun läßt.

Nun etwas noch über die Einrichtung dieses Werkes. Es zerfällt in vier Teile:
    1) Gespräche über die ersten Gründe der Erkenntnis. Die dialogische Form habe ich bloß deswegen gewählt, weil ich sie für die beste halte, Sachen zu entwickeln und von allen Seiten zu betrachten.

    2) Prolegomena zu einer Kritik des reinen

    3) Prolegomena zu einer Kritik des praktischen Erkenntnisvermögens.

    4) Eine Ethik nach Aristoteles, die mit den vorhergehenden Prolegomenis in Verbindung steht, weil meiner Überzeugung nach, der Gebrauch der kantischen Moral problematisch ist und bleiben wird.
Die aristotelische Ethik beruth zwar nicht auf einem einzigen dazu tauglichen Prinzip; aber eben darum ist sie zum praktischen Gebrauch tauglicher als die kantische. Da ich das Original nicht lesen kann, so mußte ich mich zu diesem Zweck des Herrn JENISCH Übersetzung bedienen. Ich habe alles weggelassen, was ich davon nicht habe verstehen können, oder war mir unerheblich zu sein schien.

Diesen Teil, Herr Graf! der schon im Manuskript Ihren Beifall erhalten hat, empfehle ich besonders Ihrer Aufmerksamkeit.


Euer Hochgeboren
gehormsamster Diener
der Verfasser.

LITERATUR - Salomon Maimon, Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist oder das höhere Erkenntnis- und Willensvermögen, Leipzig 1797