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Bemerkungen zur Kritik des kantischen Begriffs des Dings ansich
Die zweite Hauptphase des Problems tritt in der letzteren Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Neu-Kritizismus ein; die auf KANT zurückführende Bewegung bewirkte größeres Verständnis der Wichtigkeit des Problems und ein Interesse, es wieder auf KANTs Weise zu stellen und die Richtigkeit und Tragweite seiner Lösung zu untersuchen. Es ist hier nun die Aufgabe, den Nachweis zu versuchen, daß KANTs Lösung unrichtig ist, daß dieselbe auf einer Verwechslung beruth, daß sie sein System untergräbt, wie auch geschichtlich den Grund darzulegen, weshalb die Verwechslung sich in sein System eingeschlichen hat, zugleich aber in enger und notwendiger Verbindung hiermit zu zeigen, daß des dem Neu-Kritizismus nicht gelungen ist, KANT vor den Einwürfen, die im 18. Jahrhundert gegen seine Theorie von der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt gerichtet wurden, zu schützen. Mit seiner Theorie glaubt KANT nicht selbst auf dem Boden des Realismus zu stehen, sondern auch sowohl den skeptischen als auch den dogmatischen Idealismus widerlegt zu haben. KANT nennt seinen eigenen Standpunkt den transzendental-idealistischen und meint, dieser lasse sich sehr wohl mit dem empirisch-realistischen vereinen. Um KANT zu verstehen, wird es zweckmäßig sein, diese verschiedenen Auffassungen der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in Kürze zu betrachten und ihren Wert zu prüfen. Es sei der Ausgangspunkt, daß ich etwas sehe, etwas denke, etwas fühle: es ist dann klar, daß wir uns einer Reihe von Zuständen gegenüber befinden; wir können hierbei stehen bleiben, uns damit begnügen, dieselben zu beschreiben und uns entschieden weigern, weiter zu gehen, bestreiten, statt der Beschreibung eine wirkliche Erklärung geben zu können. Wir sind dann zunächst im Bereich dessen, was KANT den skeptischen Idealismus nennt, den er durch DESCARTES' "cogito ergo sum" ausdrückt. Der Ausdruck ist kein geeigneter, denn der konsequente Idealist würde, wie wir später sehen werden, den Idealismus in KANTs Redaktion nicht anerkennen, da schon im kartesischen Satz zwei Postulate, oder, sofern der Satz tautologisch aufzufassen ist, jedenfalls ein Postulat liegt. Schon LICHTENBERG (1) sagt:
Schon DEMOKRIT stürzte den naiven Realismus durch seine Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten, durch seine Entwicklung des doppelten Prozesses aus Subjekt in Objekt und aus Objekt in Subjekt und durch seine Bestimmung der Atome. Diese Lehre wurde näher ausgeformt; obschon die einzelnen näheren Bestimmungen bei den verschiedenen Forschern GALILEI (Gestalt, Größe, Bewegung und Ruhe), DESCARTES (Gestalt, Größe, Bewegung und Lage) und LOCKE (Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Dichte) Verschiebungen erleiden, bleibt das Prinzip doch durchweg dasselbe. Dieses besteht darin: innerhalb der Erfahrung das mehr Subjektive vom mehr Objektiven zu sondern und durch ein möglichst genaues Abgrenzen jedes derselben zugleich ihr gegensetiges Verhältnis zu bestimmen zu suchen. Aus dem Folgenden wird hervorgehen, daß der Standpunkt, der in Bezug auf das 18. Jahrhundert am klarsten durch LOCKE vertreten ist, mit Bezug auf das vorliegende Problem als der fruchtbringende und als der einzige zu betrachten ist, von welchem aus man die Sache anfassen muß, um auf einen Weg zu gelangen, der wirklich vorwärts führt, während BERKELEYs Theorie ein Sprung zur Seite ist und selbst HUME die Sache verkehrt auffaßt (4). Geht man diesen von DEMOKRIT, EPIKUR, GASSENDI, GALILEI, DESCARTES, HOBBES und LOCKE angegeben Weg, so wird man dahin gelangen, daß man als das Objektive den Raum und die in diesem wirkende Kraft hat, wie man nun die Ausdrücke der verschiedenen Forscher unter diese verschiedenen Begriffe verteilen mag. Schließlich stehen wir dann auf dem Standpunkt, daß unsere Empfindungen Stößen von Gegenständen, Luftwellen, Ätherschwingungen usw. zu verdanken sind. Möglicherweise lassen diese objektiven Substrate - und eben um diese handelt sich das Problem der Materie - sich auf den Begriff der Energie reduzieren; es leuchtet aber ein, daß wir hier entweder an das denken müssen, was wir selbst als Widerstandskraft kennen, oder daß wir uns an dasselbe nur als eine letzte unbekannte Größe halten müssen, mit welcher wir rechnen - wenn es überhaupt möglich ist, mit derselben zu rechnen. Es ist jedoch klar, daß diese objektive Substrat phänomenal im kantischen Sinn des Wortes ist, zugleich ist es aber objektiv im Vergleich mit etwas anderem, das mehr subjektiv ist. In KANTs Welt der Erscheinungen gibt es also eine Sonderung zwischen dem objektiven Substrat, das aus Größen besteht, mit denen man rechnen muß, und einem anderen, dem subjektiven, von welchem man dabei willkürlich absieht. Man hat hier die Grenze auf zweifache Weise: subjektiv, weniger klar, zugleich aber in weit größerer Ausdehnung, mittels Selbstbeobachtung im Unterschied zwischen Empfindung und Vorstellung - objektiv, gleichsam in einer anderen Dimension und als mehr spezielles und begrenztes Problem dort, wo der physisch-physiologische Vorgang in einen Bewußtseinszustand übergeht, und hier scheint die Grenze auf alle Zeiten unüberwindbar zu sein. Unseren Empfindungen entspricht also das objektive Substrat, nicht so wie der naive Realismus meint, sondern so, daß es unsere Empfindungen verursacht, hier ganz davon abgesehen, was es schließlich sein mag (das Problem der Materie), oder wie groß die Tragweite seiner Wirkungen sein kann (das Problem des Verhältnisses zwischen Geist und Materie). Es ist notwendig, diese objektiven Größen in der Wissenschaft anzuwenden. Wir müssen stets mit denselben rechnen, selbst wenn wir von einem streng erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus gewahren, daß wir hier dasjenige Grundpostulat aufstellen, welches in jeder Kausalerklärung enthalten ist, und zugleich in der Praxis von verschiedenen Faktoren absehen; und unsere Bemühungen müssen darauf ausgehen, diese Größen möglichst weit zurückzuführen und uns des Umfangs ihrer Tragweite bewußt zu werden. Diese Größen oder das objektive Substrat, das also innerhalb der kantischen Welt der Erscheinungen liegt, werde ich das positive oder das empirische Ding-ansich nennen, und sein wirklicher Gegensatz ist das Subjektive innerhalb der Welt der Erscheinungen (5). Den anderen Begriff, der sich in KANTs theoretischer Philosophie unter dem Ausdruck "Ding-ansich" verbirgt, werde ich im Gegensatz zum empirischen das negative oder das "transzendentale Ding-ansich" nennen. KANT hat dieses transzendentale Ding-ansich besonders in der "Analytik der Grundsätze" unter der Überschrift "Phänomena und Noumena" entwickelt (6). KANTs Gedankengang ist hier folgender: All unsere Erkenntnis phänomenal, denn unter Erkenntnis verstehen wir Wahrnehmung unter den Formen der Sinnlichkeit, nämlich Raum und Zeit, und Denken unter den Formen des Verstandes, den Kategorien, und alle diese Formen sind subjektive, spezielle Formen der großen Grundform des Subjekts, nämlich der Einheit oder Synthese des Bewußtseins. Von der Richtigkeit der Prämissen abgesehen wird das Resultat für KANT, daß jede Erkenntnis subjektiv ist. Dies ist so klar und so selbstverständlich wie nur irgend möglich; daß ein Ding erkannt wird, oder daß es ist, will heißen, daß es für ein Subjekt ist, und weiter gar nichts; Dingen, die sich nie direkt oder indirekt erkennen lassen, ein Dasein beizulegen, ist unberechtigt. Subjekt und Objekt sind Korrelate, im Begriff der Erkenntnis, im Begriff des Objekts liegt schon das subjektive Moment - ohne Subjekt kein Objekt, ebensowenig wie Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt. Steht es nun aber ebenso unerschütterlich fest, daß jede Erkenntnis subjektiv ist und nur Erscheinungen betrifft, wie daß niemand über seinen eigenen Schatten springen kann, so ist es klar, daß in dieser Bestimmung eine Grenze liegt; eben die Natur der Erkenntnis gibt der Erkenntnis ihre Grenze; eben weil alle Erkenntnis subjektiv ist und Erscheinungen betrifft, wird man nie bestreiten können, daß etwas außerhalb der Erkenntnis sein Dasein hat, daß es ein Objekt ohne entsprechendes Subjekt geben kann, wenn die Bezeichnung "Objekt" dann auch als sich selbst widersprechend zu betrachten wäre. Diese absolute Grenze der menschlichen Erkenntnis ist das transzendentale Ding-ansich; sie ist rein negativ, denn sie sagt nur: Ob außer den Erscheinungen, die für uns - zumindest in Bezug auf KANTs theoretische Philosophie - alles sind, noch etwas anderes existiert, davon können wir nichts wissen, noch weniger natürlich wissen, was dieses andere sein könnte. Andererseits dürfen wir nicht dogmatisch bestreiten, daß noch anderes sein kann, gerade weil wir dann, ebensowohl wie wenn wir sagen würden, welche Grenze dadurch gegeben ist, daß alle Erkenntnis phänomenal ist, daß ein Objekt ohne ein Subjekt kein Objekt ist. Oder wie KANT vom transzendentalen Ding-ansich sagt:
Man kann hier KANT mit SPINOZA vergleichen, wenn letzterer sagt, daß Gott neben den beiden bekannten Attributen unendlich viele andere besitzt, die unserer Erkenntnis unzugänglich sind. (8) Das transzendentale Ding-ansich sagt: es ist sehr wohl möglich, daß außerhalb der menschlichen Erkenntnis noch mehr existiert, wir wissen aber nichts hierüber und dürfen es deshalb weder dogmatisch bejahen noch verneinen. Das transzendentale Ding-ansich als die äußerste Grenze der Erkenntnis, als der bis zuzm letzten Augenblick fortgesetzte Protest der Erkenntnis gegen jeden Dogmatismus, als die Selbstverneinung der Erkenntnis, um, wo diese endet, jede unberechtigte Behauptung zu vermeiden, besitzt - außer der Bedeutung, die es für die Geschichte der Philosophie hatte, daß die Grenze gezogen wurde - nicht Interesse als SPINOZAs unbekannten Attribute, d. h. eigentlich gar keines. Wir interessieren uns bei SPINOZA für Geist und Materie, bei KANT für die phänomenale Erkenntnis und deren Grenze oder vielmehr dafür, wo die Grenze liegt. Die Grenze ist aber mit der Natur der Erkenntnis dadurch gegeben, daß alles Erkennen subjektiv ist, und das transzendentale Ding-ansich ist weiter nichts als der letzte unlösbare Zweifel der Erkenntnis. Dasselbe sagt nur negativ, was positiv dadurch ausgedrückt wird, daß alle Erkenntnis phänomenal ist. "Reine Objekte", "Objekte", die nicht für unsere Erkenntnis existieren, haben durchaus kein Interesse für uns, liegen uns ebenso fern wie SPINOZAs postulierte unbekannte Attribute; Interesse hat das transzendentale Ding-ansich nur negativ, wo es dogmatische Behauptungen vom Unerkennbaren bekämpft, indem es dafür eintritt, daß das Unerkennbare unerkennbar ist und weiter nichts. Dies ist das transzendentale Ding-ansich, und in der folgenden Darstellung wird es in verschiedenem Zusammenhang versucht werden, diesen Begriff genauer zu präzisieren und näher zu beleuchten, indem wir von den verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen, die durch diejenigen Punkte gegeben sind, an welchen die Verwechslung zwischen demselben und dem empirischen Ding-ansich bei KANT eintritt. Denn diese Darstellung sollte dartun, wie die Schwierigkeit mit KANTs Ding-ansich darauf beruth, daß er zwei so weit verschiedene Sachen, das empirische und das transzendente Ding-ansich, das der Erkenntnis äußerer Erscheinungen zugrunde Liegende und eben die Negation der Erkenntnis, miteinander verwechselt hat, und wie das Verständnis zwischen Subjekt und Objekt nur dann möglich ist, wenn man von dieser Hypothese ausgeht. Es ist völlig beweisbar und sicher, daß die Bestimmungen sowohl des empirischen wie die des transzendenten Dings-ansich unter der Bezeichnung "Ding-ansich" oder "Noumenon" in der "Kr. d. r. V." sehr deutlich und zwar unmittelbar nebeneinander angetroffen werden, und es ist nun klar, daß meine Hypothese auf zweifache Weise verifiziert wird - und nur verifiziert werden kann, da jede Weise erforderlich ist und die andere ergänzt: teils indem ich darlege, wie KANT geschichtlich während seiner Entwicklung zum definitiven Standpunkt auf deutliche und natürliche Weise zur Verwechslung geführt wurde, teils indem ich nachweise, wie die Bestimmungen beider Begriffe, des transzendentalen und des empirischen Ding-ansich, im definitiven System miteinander streiten und - wie zu erwarten steht - Widersprüche und unrichtige Resultate erzeugen, weil sie nicht auseinandergehalten wurden. Endlich eröffnet diese Hypothese den Weg zum klareren Verständnis mehrerer dunkler Punkte in KANTs praktischer Philosophie, sowohl während der letzten Phase der Geschichte der eigentümlichen Entwicklung KANTs als auch im definitiven System. Die meisten Kantforscher gingen von der Hypothese aus, KANTs Ding-ansich sei ein einzelner Begriff und KANT müsse recht haben, und dies hat wieder eine Reihe phantastischer Hypothesen und mißlungener Rettungsversucht ins Leben gerufen, deren gegenseitige Widerlegung den Forschern großen Scharfsinn gekostet hat. Als Supplement [Ergänzung - wp] meiner Verifikation werde ich endlich in Kürze die wesentlicheren dieser Rettungsversuche im Neu-Kritizismus betrachten und zeigen, wie unhaltbar dieselben sind, indem ich mich bei diesen Widerlegungen also zum Teil auf Kritik der Mitapologeten [Rechtfertiger - wp] stütze. Um zu verstehen, wie die Grundverwechslung bei KANT geschichtlich entstanden sein kann, ist es notwendig, auf die Dissertation von 1770 zurückzugehen. KANT unterscheidet hier zwischen einer realen und einer phänomenalen Welt; Raum und Zeit sind subjektive Anschauungsformen, und alles, was man unter diesen auffaßt, wird zur Erscheinung. Mittels des Verstandes erkennen wir dagegen die Dinge-ansich, die Noumena (9). Das Noumenon als rationaler Faktor beschränkt also den empirischen Faktor, "die Anmaßung der Sinnlichkeit". Die Sinnlichkeit kann nicht alles erreichen, das Höchste, die eigentliche Realität bleibt dem Verstand vorbehalten. Es ist nun klar, daß der Begriff des Noumenon sich von zwei Gesichtspunkten aus betrachten läßt. Als einer (möglichen oder wirklichen) Verstandeserkenntnis korrespondieren ist er das alles in der Welt Begründende, und abgesehen von der Natur der Verstandeserkenntnis und von KANTs Unsicherheit an diesem Punkt der Dissertation steht es ganz zweifellos fest, daß KANT unter dem Begriff des Noumenon das Reale, Objektive und Feste versteht, das, was hinter den Erscheinungen liegt, selbst wenn KANT vielleicht schon hier meinen möchte, es liege etwas höher, als die alte Metaphysik geglaubt hat. In engem Zusammenhang hiermit wird, mit dem platonischen Dualismus der Dissertation vor Augen, der Begriff des Noumenon zugleich ein Grenzbegriff; derselbe ist nämlich die Grenze der Sinnlichkeit, indem er deren Anmaßung beschränkt. Zugleich ist es aber klar, daß Grenze hier einen anderen Sinn hat als beim transzendentalen Ding-ansich. Hier ist die Grenze eine positive, die Scheide zwischen zwei wirklichen Welten, der phänomenalen und der intelligiblen. Im transzendentalen Ding-ansich ist das Ding-ansich seit 1770 so eingeschwunden, daß es statt eines begrenzenden Landes zur bloßen Grenze, oder vielmehr nur zur Grenze für die Anmaßung der Erkenntnis wird, daß es an der äußersten Grenze der Erkenntnis zum Verhüter jeder dogmatischen Behauptung an diesem Ort wird. Hiermit steht es in Verbindung, daß das Subjektive, Phänomenale, das in der Dissertation nur für die Sinnlichkeit Gültigkeit besitzt, in der Kr. d. r. V. so erweitert ist, daß es für alle Erkenntnis überhaupt Gültigkeit hat. In dem Satz: All unsere Erkenntnis ist phänomenal, müßte in der Tat das Ding ansich der Dissertation wegfallen, nicht nur als positiver Begriff, sondern auch zugleich als wirklicher Grenzbegriff. Ich werde später auf den Begriff der Grenze zurückkommen, von aller Doppelheit und allen Schwierigkeiten desselben abgesehen leuchtet es aber ein, daß es äußerst unzweckmäßig ist, die letzte Grenze der Erkenntnis, das Negative von allem durch den Begriff des Dings-ansich zu bezeichnen, der den Gedanken ganz natürlich auf etwas Begründendes, auf das Objektivste von allem in der Welt lenken muß. Bezeichnungen sind gleichgültig, wenn nur die Definitionen klar sind, die Geschichte der Philosophie hat aber oft gezeigt, wie großen Schaden irreführende Bezeichnungen anstiften können, und KANTs Begriff des Dings ansich ist eins der typischen Beispiele von der Macht des leeren Wortes; denn nachdem der Dualismus der Dissertation hinsichtlich der theoretischen Philosophie aufgegeben war, wurde das Ding-ansich in der Tat ein leeres Wort. In der Dissertation hat es seinen guten Sinn, die Bezeichnung "Noumenon" oder "Ding-ansich" zu gebrauchen, ganz sinnlos ist es aber, dieselbe in Kontinuität der Dissertation in der Kr. d. r. V. beizubehalten, denn in der Zwischenzeit war gerade erzielt: daß der Begriff des Dings-ansich entweder als empirisches Ding ansich in die Welt der Erscheinungen hineingezogen oder auch als ein absolut negativer Begriff, als Negation eben der Erkenntnis beibehalten werden müßte. Für letzteres, für das problematische Objekt einer ganz anderen Anschauung und eines ganz anderen Verstandes, als wir besitzen, die also beide selbst problematisch sind, ist die Bezeichnung "Ding-ansich" so inkorrekt und so irreführend, wie nur irgendeine Bezeichnung es sein kann. Dennoch behält KANT sie bei, tut es aber nur, weil er das transzendentale mit dem empirischen Ding ansich verwechselt und verwechselt diese, weil er sich in der Tat das transzendentale Ding-ansich niemals klar zurecht gelegt hat, weil er den Satz: alle Erkenntnis ist phänomenal, niemals in allen Konsequenzen durchgeführt hat. Hinter KANTs kritischer Philosophie liegt eine Monadenmetaphysik, die an mehreren Punkten durchschimmert und schließlich als der freie Wille in der praktischen Philosophie apotheosiert [verklärt - wp] klar zum Vorschein gelangt. Dieser metaphysisch-ethische Hintergrund lag beständig hinter KANTs philosophischer Entwicklung, wenn er mit Bezug auf eine einzelne Periode vielleicht auch mehr zurückgedrängt erscheint (10). Aus der Dissertation führt KANT das Wort "Ding-ansich" in die kritische Philosophie ein, das Ding-ansich der Dissertation wird hier zu zwei Begriffen, zum empirischen und zum transzendentalen Ding-ansich, deren jeder für sich mit der kritischen Philosophie übereinstimmt, die aber bei einer Vermengung auf die alte Metaphysik zurückweisen und schließlich in der Tat KANTs kritisches System zerstören. KANT erweiterte die Grenze, sah aber nicht, daß der Begriff des Dings-ansich hierdurch gänzlich den Charakter gewechselt hat; sein Konservatismus hinsichtlich der Bezeichungen - im Verein mit seinem metaphysischen Konservatismus - bewirkte, daß er in die gefährlichste Fallgrube fiel, der ein Philosoph ausgesetzt sein kann, in die von BACON als die ärgsten aller Idole angesehenen "idola fori" [Idole des Marktes - wp]. Den Begriff mußte KANT negativ machen, das Wort, das er aus seinem früheren Stadium mit sich geschleppt hat, ließ er aber positiv verbleiben und das leere Wort wirkte zurück und schuf den Begriff in einen unklaren, sich selbst widersprechenden Begriff um, der sich wie ein verborgener Krebsschaden ausgebreitet und das System von innen aufgefressen hat. Daneben sind aber, wie KANTs ganze Entwicklung sehr deutlich zeigt, die rein ethischen Motive, die an der Verwechslung mitbetätigt waren, nicht zu unterschätzen. Hiervor warnt auch die schließliche Fassung des Dings-ansich in der Ethik als "homo noumenon". Vielleicht dürfte man sogar behaupten, daß es in ganz überwiegendem Grad ethische Motive gewesen sind, die zur Verwechslung führten oder vielmehr bewirkten, daß KANT sich des Widerspruchs nicht klar bewußt wurde. Gegen diese geschichtliche Erörterung könnte der Einwurf erhoben werden, sie lege dem Wort an und für sich gar zu große Gewalt über einen so klaren Denker wie KANT bei. Mit Bezug auf diesen Einwurf ist erst zu beachten, wie großen Einfluß die Systematik allein an mehreren Punkten auf das System selbst hatte, und endlich haben wir einen durchaus analogen Fall, den ich weiter unten entwickeln werde, am Begriff der "Erscheinung"; was KANT unter diesem Begriff die "logische Notwendigkeit" nennt, ist in der Tat nichts weiter als das klarste und unbestreitbarste Beispiel von der Gewalt des leeren Wortes. Es wäre auch, namentlich mit Hinblick auf die phantastischen Behauptungen, welche viele Kantforscher aufgestellt haben, um an anderen Punkten KANTs Ding-ansich zu retten, der Einwurf denkbar, daß zwischen dem Begriff des Noumenon in der Dissertation und dem Begriff des Dings-ansich in der Kr. d. r. V. keine Kontinuität stattfindet. Er steht jedoch ganz außer allem Zweifel, daß KANT in seinem Hauptwerk und in den folgenden Schriften die Wörter "Ding-ansich" und "Noumenon" als identisch gebraucht und den Begriff des Dings-ansich, der in der lateinischen Dissertation vernünftigerweise übersetzt ist, treffen wir schon in einem Brief an Marcus Herz vom 21. Dezember 1772 an. Sehr klar erscheint derselbe in einigen der von ERDMANN herausgegebenen "Reflexionen", die höchst wahrscheinlich um das Jahr 1772 oder ein wenig später verfaßt sind. Diese Reflexionen zeigen erstens, daß die Begriffe "Ding-ansich" und "Noumenon" als identisch gebraucht werden, ferner, daß KANT eine Grenze zwischen Erscheinung und Ding-ansich zieht. KANT behauptet allerdings die Unerkennbarkeit des Dings-ansich, bei weitem aber nicht so, wie dies vom transzendentalen Ding-ansich verlangt werden muß, und die ethische Seite ist entschieden festgestellt (11). Klar sind KANTs Äußerungen nicht, er denkt sich zwei Welten, die phänomenale und die intelligible. Die intelligible Welt oder das Ding-ansich kennen wir nicht, dennoch haben wir aber eine unklare Idee von derselben, und dennoch wissen wir, daß Gott sie erschaffen hat, und daß sie der Welt der Erscheinungen entspricht (12). Es ist klar, daß dieser erkenntnistheoretische Okkasionalismus [Lehre von den Gelegenheitsursachen - wp]: Gott ordnet die Dinge-ansich als den Erscheinungen entsprechend, etwas über das Ding-ansich aussagt, denn woher kennt KANT sonst diese Korrespondenz? Das Ding-ansich ist hier die metaphysische Einheit der Welt, das absolute Prinzip (13), die prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie trägt aber einen entschieden ethischen Charakter. Es steht durchaus fest, daß das Ding-ansich hier aufgefaßt wird wie LEIBNIZ' Monaden, und KANT denkt sich in der Tat diese als die Welt der Erscheinungen begründend (14). In den Reflexionen finden wir dieselben Bezeichnungen wie in der Kr. d. r. V., der metaphysische Hintergrund ist hier deutlich zu erblicken, und eben die Unklarheit ist charakteristisch, denn gerade diese ermöglicht die Verwechslung in der Kr. d. r. V. Die wirkliche Verifikation der Hypothese erfordert den Nachweis, daß im Wort "Ding-ansich" das empirische und das transzendentale Ding-ansich in Kants kritischem System miteinander vermengt werden. Der erste hier hervorzuhebende Punkt ist KANTs Polemik gegen den Idealismus. In der Dissertation ist KANTs Stellung klar und mit seinem ganzen platonischen Dualismus gegeben. Er äußert sich gegen den Idealismus von dem Standpunkt aus, daß es außerhalb der Welt der Erscheinungen Dinge ansich gibt, welche dieselbe begründen. Diese Auffassung spaltet sich nun auf sonderbare Weise. Da KANT nach der Dissertation auch die intelligible Welt phänomenal macht, muß dies hier eine Änderung seiner Anschauungen bewirken. Das Ding-ansich läßt sich nicht mehr erkennen und tritt deshalb zurück, obgleich es fortwährend im Hintergrund bleibt. In der Welt der Erscheinungen muß nun zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven genauer gesondert werden, d. h. KANTs Interesse kehrt sich speziell diesem Punkt zu, in natürlicher Verbindung mit der Entwicklung seines eigenen "transzendentalen Idealismus", während andererseits das transzendente Ding-ansich als unerkennbar dennoch fortbesteht und hinter dem empirischen funktioniert, obgleich es nicht in die Polemik gegen den Idealismus hineingezogen wird. Im vierten Paralogismus (15) ist der Gedankengang folgender: In der Welt der Erscheinungen, sagt KANT, müssen wir zwischen subjektiven Zuständen und dem objektiven Substrat unterscheiden. Man könnte die Sache so aufstellen: meine Empfindungen kenne ich unmittelbar, das objektive Substrat in der Welt der Erscheinungen mittelbar durch Schließen, indem ich also aus dem Innern auf ein Äußerews als dessen nächste Ursache schließe. Der skeptische Idealist meint, dieser Schluß sei unsicher, KANT meint aber, dies lasse sich nur von der falschen Auffassung aus behaupten, daß das objektive Substrat außerhalb der Welt der Erscheinungen liegt, also als transzendentales Ding-ansich. Die Hauptsache ist nach KANT aber die, daß gar kein Schluß stattfindet; für ihn steht in der Tat das Dasein äußerer Erscheinungen rein unmittelbar fest und zwar mit derselben Sicherheit wie das Dasein des eigenen Selbst.
Neben dem empirischen tritt hier aber auch das transzendentale Ding-ansich auf. KANT meint, wenn er sagt, alles sei subjektiv, so verliere diese Äußerung das Anstößige, sobald man bedenkt, daß er nur von Erscheinungen und nicht von Dingen-ansich redet. Mit großer Deutlichkeit wird dieser Begriff im Gegensatz zum empirischen Ding-ansich aufgestellt.
Am klarsten und schärfsten kommt die Verwechslung in dem Abschnitt "Amphibolie der Reflexionsbegriffe" (23) zum Vorschein. Hier kämpfen unter dem Wort Ding-ansich die Bestimmungen des transzendentalen und die des empirischen Dings-ansich im entschiedensten Gegensatz miteinander. Dieser Gegensatz wird umso schärfer, weil das transzendentale Ding-ansich hier klarer und bestimmter entwickelt wird als sonst irgendwo in der Kr. d. r. V. . Es wird am zweckmäßigsten sein, hier von einem transzendentalen Ding-ansich auszugehen, dessen Bestimmungen und dessen Verhalten zu den Kategorien genau zu prüfen, und endlich zu zeigen, daß wir hiermit den Weg innerhalb des Begriffs des Dings-ansich vom transzendentalen bis zum empirischen Ding-ansich zurückgelegt haben. KANT gibt folgende Bestimmungen des Dings-ansich:
Wir untersuchen nun dieses transzendentale Ding-ansich im Verhalten zu den Kategorien, mit welchen KANT es in Beziehung bringt. Zuerst haben wir den Begriff der Möglichkeit. KANT sagt, wie folgt:
Das Ding-ansich fällt nämlich unter den Begriff der Notwendigkeit. Man kann von der logischen und von der kausalen Notwendigkeit reden; zur letzteren werden wir uns kehren, wenn wir schließlich das Ding-ansich in seinem Verhalten zum Kausalitätsbegriff betrachten. Die Frage ist hier also die: wie ist das Verhältnis zwischen dem Ding-ansich und der logischen Notwendigkeit? Aus dem oben Entwickelten geht hervor, daß es sich als notwendig verantworten läßt, die Möglichkeit von etwas außerhalb unserer Erkenntnis zu denken, d. h. eben die Möglichkeit kann als logisch notwendig dastehen. Diese logische Notwendigkeit des Begriffs hat KANT in der Tat auch geäußert, wenn auch nicht ganz klar:
Scheinbar ist die Notwendigkeit eine logische ("Erscheinung - etwas, was da erscheint"), in der Tat bezeichnet der Schluß aber - wenn er für etwas anderes als ein leeres Wortspiel genommen werden soll, - daß etwas Reales dahinter liegen muß. Denn die Erscheinung ist ein Reales, und das Einzige, das mit logischer Notwendigkeit hinzuzudenken ist, wird die Negation des Realen oder die Nicht-Erscheinung; indem KANT nun den Schluß auf "etwas, was da erscheint" zieht, wird diesem Etwas Reales beigelegt, das Ding-ansich ist nicht mehr problematisch, es ist wirklich. Somit fällt es auch unter den Begriff des Daseins. Dies kann aber nicht vom transzendentalen Ding-ansich gelten, dem wir ein mögliches Dasein nicht abstreiten können; so wie wir aber das Wort "Möglichkeit" auffassen, bedeutet Dasein eigentlich das Entgegengesetzte, indem alles Dasein bedeutet: das Sein für ein Subjekt. Nur die Erscheinungen können ein Dasein haben; indem KANT dem problematischen Ding-ansich ein Dasein beilegt, hat das empirische Ding-ansich sich in den Begriff hineingedrängt. (32) Am klarsten tritt die Grundverwechslung mit KANTs Ding-ansich zum Vorschein, wo dieses mit der Kausalität in Beziehung gebracht wird. Dies sahen wir bereits im 4. Paralogismus, am entschiedensten tritt es aber vielleicht in der Amphibolie der Reflexionsbegriffe hervor. Unmittelbar nach der bestimmten Entwicklung des Dings-ansich als unerkennbar und problematisch sagt KANT:
An diesem entscheidenden Punkt mußte der Widerspruch bei KANT jedem, der die Kr. d. r. V.) mit einigem Nachdenken gelesen hat, deutlich zum Vorschein kommen, und hier griff die Kritik denn auch sogleich an. JACOBI hat die Ehre, zuerst KANTs unbeholfenen Selbstwiderspruch auf scharfe und klare Weise nachgewiesen zu haben. Nach einer Darstellung verschiedener Stellen von KANT sagt JACOBI:
Eigentümlicher wird diese Distinktion von SALOMON MAIMON ausgestaltet. Sehen wir erst, wie er das empirische Ding-ansich auffaßt. Die Erkenntnis des Dings-ansich, sagt er, ist nichts anderes als die völlige Erkenntnis der Erscheinungen.
Außer dem empirischen entwickelt MAIMON auch KANTs transzendentales Ding-ansich. Der Begriff der Idee, der nach MAIMON Vorstellungen bezeichnet, welche sich in einem Objekt völlig darstellen lassen, deren völliger Darstellung man sich aber bis ins Unendliche nähern kann, wird in 5 Klassen eingeteilt, in mathematische Begriffe, Zeit und Raum, die Kategorien, die Differentiale und endlich die irrationalen Größen. Der Unterschied zwischen dem empirischen und dem transzendentalen Ding-ansich wird durch den Unterschied zwischen der 4. und der 5. Klasse der Begriffe ausgedrückt. √2 läßt sich nicht völlig bestimmen, ist aber doch ein Grenzbegriff, dem man sich (mittels unendlicher Reihen) immer mehr zu nähern vermag. Dagegen ist √-a, womit MAIMON das transzendentale Ding-ansich bezeichnet, "ein unmöglicher Begriff, ein absolutes Nichts." (42) MAIMON sagt:
1) Lichtenberg, Vermischte Schriften, Bd. 2, 1801, Seite 95 2) Beneke, Psychologische Skizzen, Bd. 1, 1825, Seite 72f. 3) Ich bitte zu beachten, daß ich mich der Begriffe nicht ganz so wie Kant bediene. Der konsequente Idealismus ist bei Kant unter zwei Formen anzutreffen, als "skeptischer" und als "dogmatischer"; ersterer bezweifelt, letzterer leugnet das Recht, weiter zu gehen. Berkeley ist in Kants Augen der dogmatische Idealist, und so würde ich ihn auch bezeichnen, indem ich unter einem dogmatischen Idealismus diejenige Richtung verstehe, welche eine Erklärung gibt, folglich weiter geht, welche aber das Subjektive zum Letzten und Fundamentalen macht. Diese nennt Kant den "Spritualismus" oder den "Pneumatismus". Unter einem "naiven Realismus" verstehe ich diejenige Richtung, welche die Dinge des Raumes, so wie sie erscheinen, das Objektive sein läßt, unter einem Realismus diejenige, welche diese Dinge reduziert und das Objektive in der Welt der Phänomene als ein vom Subjektiven Verschiedenes zu bestimmen sucht, also dasselbe, was Kant den "empirischen Realismus" nennt. Unter einem dogmatischen Realismus verstehe ich diejenige Richtung, welche das objektive Substrat des Realismus zum Letzten und Allesbegründenden macht, also Kants "Materialismus". Wenn ich Kants Bezeichnungen nicht gebrauche, so liegt dies erstens daran, daß ich Kants Sonderung zwischen dem skeptischen und dem dogmatischen Idealismus keine besondere Bedeutung beilege, zweitens darin, daß Kants Unklarheit in Bezug auf das Ding-ansich gerade zu einer Abänderung seiner Bezeichnungen bewegen muß. Kant ist seiner Raumtheorie zufolge, was er einen "transzendentalen Idealisten" nennt, das Wort "Idealist" ist hier aber irreführend, oder vielmehr es weist auf einen Fehlschluß von seiten Kants hin; zugleich ist er "empirischer Realist", wird aber schließlich, so wie seine Theorie vom Ding-ansich gestaltet wird, zum dogmatischen Idealisten - nicht in seinem eigenen, wohl aber im hier aufgestellten Sinn. 4) Hume, Treatise, ed. Selby-Bigge, Seite 187-251, besonders 225-231. 5) Es muß gleich hier bemerkt werden, daß Kant das objektive Substrat eigentlich nicht das Ding-ansich nennt. Die Bestimmungen desselben werden aber mit in den Begriff des Dings-ansich hineingezogen, und eben hierin besteht die Grundverwechslung. Kants Bezeichnungen des empirischen Dings-ansich sind verschieden. Wir finden dasselbe dargestellt unter Ausdrücken wie Stoff, Materie, äußere Gegenstände des Raumes, die Außenwelt, empirische Objekte, Sachen ansich. Diese verschiedenen Wörter bezeichnen in Wirklichkeit verschiedene Nuancen desselben Begriffs, was teils auf ungenügender Analyse von seiten Kants beruth, teils sich nach dem Zusammenhang richtet, in welchem sie vorkommen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, habe ich diese Bezeichnungen vermieden und im Anschluß an das zuletzt genannte Wort den Begriff des "empirischen Dings-ansich" gebildet. Die ganze Abhandluhng sollte zeigen, daß diese Wortbildung, gewissermaßen als ein Symbol der Verwechslung bei Kant, berechtigt ist. Auch Vaihinger hat die Bezeichnung "Dinge ansich im emprischen Verstand" ("Zu Kants Widerlegung des Idealismus", Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, 1884, Seite 150). Vgl. Kr. d. r. V., Ausgabe Kehrbach, Seite 57; vgl. Seite 315f. 6) Kr. d. r. V., Seite 221f 7) Kr. d. r. V., Seite 257; vgl. 236. 8) Spinoza, Ethica, I. Prop. 11. 9) Dissertation § 3-6. Von Forschern wie Kuno Fischer und Emil Arnoldt ("Kant nach Kuno Fischers neuer Darstellung", 1882, Seite 24f) wurde behauptet, es sei nicht Kants Meinung in der Dissertation, daß wir eine Erkenntnis des Dings-ansich haben. Sie geben jedoch zu, daß die Grenze zwischen Erscheinung und Ding-ansich sehr unsicher ist, was dem Anschein nach zu der Konsequenz führen müßte, daß auch zwischen der Erkenntnis der Erscheinung und der problematischen Erkenntnis des Dings-ansich nur ein gradueller Unterschied stattfindet. Ich glaube jedoch, indem ich mich namentlich auf die von Erdmann herausgegebenen "Reflexionen Kants" stütze, die Behauptung wagen zu dürfen, daß Kant 1770 wirklich die Möglichkeit einer rationalen Metaphysik und einer Erkenntnis des Dings-ansich aufstellt. (Vgl. Höffding, "Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgang Kants", Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. VII, Seite 187. Riedel: "Die monadologischen Bestimmungen in Kants Lehre von Ding-ansich", 1884, Seite 6-9 und Friedrich Paulsen: "Immanuel Kant", 1898, Seite 88f). Selbst wenn Fischer und Arnoldt aber recht hätten, so ist es doch klar, daß der Begriff des Dings-ansich oder des Noumenon in der Dissertation ein positiver Begriff ist und etwas sehr Reales, eigentlich das Allerrealste bezeichnet, einerlei, in welchem Grad es zu erkennen sein möchte. Und mehr ist für meine geschichtliche Erörterung nicht von nöten. 10) Um das Jahr 1766, als Kant die tiefsinnige und in der Geschichte der Ethik so merkwürdige kleine Schrift "Träume eines Geistersehers" herausgegeben hat. 11) Benno Erdmann, Reflexionen Kants zur Kritik der reinen Vernunft, 1884; Reflexion 1162 (Seite 333), vgl. Nr. 1164. 12) Reflexion 1131 (Seite 332) 13) Reflexion 1132 (Seite 323) 14) Reflexion 1149 (Seite 328), Nr. 1128 (322), Nr. 1155 (330) und Erdmanns Note Seite 323. 15) Kr. d. r. V. (Kehrbach), Seite 311-321. 16) Kr. d. r. V., Seite 314 17) Kr. d. r. V., Seite 318 18) Erdmann hat hier in seiner Ausgabe nach "aller" das Wort "äußeren" (Seite 631), ebenfalls Hartenstein (zweite Auflage, Seite 603) und Adickes (Seite 507). 19) In einer sehr interessanten Abhandlung "Zu Kants Widerlegung des Idealismus" (Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, 1884, Seite 112-164) hat Vaihinger Kants Stellung zum Idealismus kritisiert. Ich verweise hier auf meine untenstehende Anti-Kritik. 20) Kr. d. r. V., Seite 315. 21) Kr. d. r. V., Seite 320, vgl. 328-330. 22) Kr. d. r. V., Seite 404 23) Kr. d. r. V., Seite 256-260 24) Kr. d. r. V., Seite 256-257; vgl. 235 und 67. 25) Kr. d. r. V., Seite 259 26) Kr. d. r. V., Seite 260 27) Kr. d. r. V., Seite 257 28) Kr. d. r. V., Seite 235 29) Kr. d. r. V., Seite 232 30) Kr. d. r. V., Seite 23; vgl. Seite 124. 31) Drobisch ("Kants Dinge ansich und sein Erfahrungsbegriff", 1885, Seite 14f) hat es versucht, Kant an diesem Punkt vor dem Einwurf Jacobis zu schützen. Das Ding-ansich erkennen, sagt Kant, könnten wir nicht, wohl uns aber dasselbe denken, denn ich kann denken, was ich will, dies darf nur nicht sich selbst widersprechend sein. Das ist richtig, hieraus zieht Drobisch aber die Konsequenz, im vorliegenden Fall sei es notwendig, sich die Dinge ansich als die Ursachen unserer Empfindungen zu denken. Aber erstens können wir uns das Ding-ansich nur als problematisch denken, zweitens ist das Ding-ansich als real (was Drobisch dadurch ausdrückt: "da es ja ungereimt wäre, Erscheinungen zu denken, ohne etwas, was da erscheint") nicht notwendig, sondern nur möglich, und endlich folgt die Kausalität (die Ursache unserer Empfindungen) nicht aus der Existenz. Drobischs Ding-ansich läßt sich aber nicht einmal denken, denn der Begriff wird bei ihm durchaus sich selbst widersprechend. Es heißt: "Sie werden also notwendigerweise als die Ursachen der Empfindungen gedacht", und dagegen: "Aber dieses Denken ist kein Erkennen, daß sie wirklich existieren . . . Gleichwohl ist der Verstand vollkommen berechtigt, sich die Dinge als Ursachen der Erscheinungen zu denken, aber er darf sich nicht anmaßen, dieses Denken als eine Erkenntnis auszugeben, daß die Dinge wirklich die Ursachen der Empfindungen sind." Diese Sätze verhalten sich zueinander wie A zu Non-A. Das Ding-ansich wird notwendigerweise als kausal wirkend gedacht, aber dennoch läßt die Kategorie der Kausalität sich nicht auf dasselbe anwenden, und dennoch soll man sich hüten, das Ding-ansich für die wirkliche Ursache der Empfindungen zu halten. Hier wie bei Kant bestrickt das Wort "Erscheinung", der Selbstwiderspruch stammt aber namentlich daher, daß Drobisch völlig das transzendentale mit dem empirischen Ding-ansich verwechselt und obendrein, um sich aus der Verlegenheit zu retten, keinen Unterschied zwischen der logischen und der kausalen Notwendigkeit macht. - - - Auf dieselbe Weise wird die Sache von Rikizo-Nakashima, einem Japaner, genommen ("Kant's Doctrine of the Thing-in-itself", 1889), ohne daß hier etwas Neues zum Vorschein käme. Ich verweise hier ebenfalls auf Lasswitz ("Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit", 1883). 32) Eine vorzügliche Kritik der letzten Punkte hat E. L. Fischer ("Die Grundfragen der Erkenntnistheorie", 1887, Seite 228-240) gegeben. 33) Kr. d. r. V. 257-258. Da hier die Ursache der "Erscheinung" und nicht die Ursache "der konkreten Empfindung" steht, ist der Deutlichkeit wegen Folgendes zu bemerken: Kant hält die Begriffe "Materie" und "Ding ansich" auseinander, insofern die Materie als solche niemals Ding-ansich benannt wird und das Ding ansich, wo es positiv bestimmt wird, meines Wissens niemals als direkte Ursache unserer Empfindungen, sondern als eine unbekannte Substanz hinter den Erscheinungen auftritt, welche letztere verursacht. Wenn das Ding-ansich aber überhaupt in die Kausalreihe gebracht wurde, so bezeichnet das nur einen graduellen Unterschied. Dächten wir uns alles in der Außenwelt auf den Begriff der Energie reduziert, so würden wir dennoch unzählige verschiedene Ursachen der einzelnen konkreten Empfindungen haben. F. A. Langes Entwicklung ist deshalb gewissermaßen konsequent, wenn sie geschichtlich auch unrichtig ist. 34) Jacobi, Idealismus und Realismus, 1787, Seite 220 (Werke 1815, Bd. 2, Seite 301f). 35) Schulze, Änesidemus, 1792, Seite 295-311, vgl. 263f. 36) Beck, Grundriß der kritischen Philosophie, 1976. 37) Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, 1797 (Werke, Bd. 1, Seite 481f). 38) Weil diese Distinktion bei Kant so unklar ist, weil hier die Grundverwechslung stattfindet, ist es auch bei Kants Kritikern schwierig, die Begriffe zu bestimmen. Lichtenberg unterscheidet zwischen "praeter nos" [jenseits von uns - wp] und "extra nos" [außerhalb von uns - wp] (Vermischte Schriften, 1801, Bd. 2, Seite 66-70). Ich glaube nicht, daß Drobisch ("Kants Dinge ansich uns sein Erfahrungsbegriff", 1885, Seite 3) berechtigt ist, Lichtenbergs "Dinge praeter nos" ohne weiteres gleich Kants Dingen-ansich zu setzen. Lichtenberg sagt: "Weil diese Veränderungen nicht von uns abhängen, so schieben wir sie anderen Dingen zu, die außerhalb von uns sind, und sagen, es gibt Dinge außerhalb von uns. Man sollte sagen "praeter nos", aber dem praeter substituieren wir die Präposition extra, die etwas ganz anderes ist; das ist, wir denken uns diese Dinge im Raum als außerhalb von uns." Es scheint mir aus diesem und aus der weiteren Entwicklung hervorzugehen, daß die "Dinge praeter nos" Kants Stoffe (dem empirischen Ding-ansich) entsprechen. Es wird nun die Frage, mit welchem Recht sich sagen läßt, daß "praeter" zugleich "extra" ist. Andererseits scheint Lichtenberg die Grundverwechslung noch deutlicher als Kant zu haben, indem er das Ding praeter nos das "Ding-ansich" benennt (a. a. O., Seite 72), was Kant nie getan haben würde, wenn er auch die Bestimmungen verwechselt hat. Bei Lichtenberg rührt die Verwechslung gewiß von allen Dingen von seinem eigenen idealistischen Gesichtspunkt her, dem zufolge das empirische Ding-ansich ebenso illusorisch werden sollte wie Kants Ding-ansich als die allen Dingen zugrunde liegende unbekannte Substanz, ferner daher, daß er Kants Bestimmungen des transzendentalen Dings-ansich nicht richtig aufgefaßt zu haben scheint. - - - Dagegen finden wir die Distinktion klar bei Schopenhauer ("Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 1, Grisebach-Ausgabe, Seite 566-567): "Demnach unterscheidet Kant eigentlich dreierlei: 1. die Vorstellung; 2. den Gegenstand der Vorstellung; 3. das Ding ansich. Erstere ist Sache der Sinnlichkeit, welche bei ihm, neben der Empfindung, auch die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit begreift. Das Zweite ist Sache des Verstandes, der es durch seine zwölf Kategorien hinzudenkt. Das Dritte liegt jenseits aller Erkennbarkeit." Von seiner idealistischen Metaphysik aus verwirft Schopenhauer gänzlich Nr. 2 (das empirische Ding-ansich); in Nr. 3 geraten aber tatsächlich auch die Bestimmungen aus Nr. 2 hinein. In Wirklichkeit hat Schopenhauers Metaphysik erkenntnistheoretisch Kants Grundverwechslung zur Grundlage (vgl. Vaihinger, Kants Widerlegung des Idealismus, a. a. O., Seite 148, Note). 39) Maimon, Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1, 1791, Seite 176-177. 40) Maimon, Versuch einer neuen Logik, 1794, Seite 371 (Briefe an Änesidemus). 41) Maimon, Kritische Untersuchungen, 1797, Seite 158. 42) Maimon, Kritische Untersuchungen, Seite 153-159. 43) Maimon, a. a. O., Seite 191. Von dieser Entwicklung aus muß gewiß auch folgende Äußerung in Maimons "Lebensgeschichte" (Bd. 2, Seite 43 in der Note) aufgefaßt werden: "Die Natur der irrationalen Zahlen z. B. zeigt uns, daß man von einem Ding, als Objekte ansich, keinen Begriff haben, und dennoch sein Verhältnis zu anderen Dingen bestimmen kann." Durch das transzendentale Ding-ansich - als regulatives Prinzip - bestimmen wir das Verhältnis zwischen Erscheinung und Nicht-Erscheinung als eine absolute Grenze: jede Erkenntnis ist subjektiv. Das Beispiel in der Note scheint ein wenig unpassend gewählt und trägt schwerlich dazu bei, das Verhältnis zwischen dem empirischen und dem transzendentalen Ding-ansich aufzuklären; in Maimons letzter Schrift ("Kritische Untersuchungen", 1797) ist die Distinktion [Unterscheidung - wp] am schärfsten und klarsten durchgeführt, und die Konsequenzen werden ohne Schwanken gezogen. (Vgl. über Maimon: J. E. Erdmann: "Die Entwicklung der deutschen Spekulation seit Kant", 1878, Bd. 1, Seite 520 und Höffding: "Geschichte der neueren Philosophie", Bd. II, Seite 642) |