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Carl Überhorst
Kants Lehre vom Verhältnis
der Kategorien zur Erfahrung

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"Kant dehnte nämlich den Angriff Humes auf alle anderen reinen Verstandesbegriffe aus, und dann schreckte ihn der Umstand, daß mit der Hinfälligkeit des Kausalbegriffs auch die von aller Erfahrung unabhängige Gültigkeit der übrigen Begriffe dahinschwindet, und daß die notwendige Folge hiervon ein Verzicht auf jede Erkenntnis transzendentaler Dinge darstellen würde."

"Paulsen [hat also] Recht, daß er als einen wesentlichen Zweck der Kr. d. r. V. die Rettung des Rationalismus des Erkennens ansieht und in seiner Schrift mit Nachdruck hervorhebt, wenn er freilich auch den Irrtum begeht, in jener Rettung die hauptsächlichste und einzige Tendenz des kantischen Werks zu erblicken."


V o r w o r t

Nachdem in neuerer Zeit die Raumlehre KANTs sich als richtig und in psychologischer Hinsicht als fruchtbringend bewährt hat (vgl. meine Schrift "Die Entstehung der Gesichtswahrnehmung, Versuch einer Auflösung eines Problems der physiologischen Psychologie, Göttingen 1876, Seite 22 und 166) liegt der Gedanke nahe, daß vielleicht auch in seiner Lehre von den Kategorien wenigstens ein Keim der Wahrheit enthalten ist. Um dies untersuchen zu können, ist das erste Erfordernis, zunächst eine genaue Darstellung jener berühmten Theorie zu liefern. Wenn ich sage, daß letzteres Unternehmen den Zweck der vorliegenden Abhandlung bildet, so dürfte dieselbe hiermit hinlänglich gerechtfertigt erscheinen; und ich hoffe nicht, den Spott herauszufordern, wenn ich solcher Gestalt die Reihe der Schriften über KANT durch eine neue vermehre.

Der Hauptgrund des schweren Verständnisses der Kategorienlehre ist, daß einerseits KANT das Problem, welches ihn zu derselben hinführte, nicht wiedergegeben hat und daß andererseits in seiner Darstellung Theorie und Beweis nicht geschieden, sondern auf das Engste miteinander verquickt sind. Es war mein Bestreben, diesen Mängeln abzuhelfen, es bleibt jedoch dem Leser das Urteil darüber überlassen, ob durch mein Verfahren wirklich Klarheit über den Inhalt der kantischen Untersuchung verbreitet wurde. Besonders aufmerksam mache ich auf die Auffassung der Schematismuslehre, deren fundamentale Wichtigkeit hier meines Wissens zum ersten Mal hervorgehoben wird.

Als ein Prüfstein der Richtigkeit der ganzen Darstellung kann der Abschnitt über die Konsequenzen der Kategorienlehre dienen, und ich will deshalb auch auf ihn ausdrücklich hingewiesen haben. Wenn ich es wagen würde, in der Entwicklung der apriorischen Grundsätze den von KANT gegebenen solche gegenüberzustellen, wie sie folgerichtig aus seinen Prinzipien abgeleitet werden, so muß der Inhalt dieser meiner Auseinandersetzung seine Rechtfertigung in sich selbst finden.

Etwaige Mängel meiner Arbeit, von denen sie gewiß nicht ganz frei ist, möge man mit der anerkannten Schwierigkeit des Gegenstandes entschuldigen.



Einleitung

Es ist eine auffallende Erscheinung, daß diejenigen Auseinandersetzungen der "Kritik der reinen Vernunft" von KANT, welche den wesentlichen Teil seiner Erkenntnistheorie ausmachen, die Lehre von den Kategorien und ihrem Verhältnis zur Erfahrung, immer noch keine völlig adäquate, ihrem genauen Wortlaut entsprechende Wiedergabe gefunden haben. Dennoch wird die Tatsache begreiflich, wenn man bedenkt, daß wohl keine Schrift in der ganzen philosophischen Literatur zu finden ist, welche der richtigen Auffassung so große Hindernisse entgegenstellt, als gerade die Kr. d. r. V. Es würde daher übereilt erscheinen, diesen Schwierigkeiten zum Trotz eine neue Darstellung jener Lehre von den Kategorien unternehmen zu wollen - eine Aufgabe, welche ich mir in der vorliegenden Abhandlung gestellt habe, wäre nicht in neuerer Zeit durch eine Reihe von zum Teil ausgezeichneten Untersuchungen eine größere Klarheit über viele Punkte des genannten Werkes verbreitet und auf solche Art der kantische Gedanken dem richtigen Verständnis bereits in hohem Grad nahe gebracht worden. Und so möge denn der angegebene Versuch hiermit gewagt werden.



I. Das Problem der Kategorien

Um das Unternehmen der Kritik sich verständlich zu machen, ist es unbedingt notwendig, zunächst eine kurze Übersicht über den Standpunkt KANTs in seiner Inauguralschrift vom Jahr 1770: "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" zu geben.

In ihr tritt zum ersten Mal die Lehre von der Idealität der Zeit und des Raumes auf und wird für die ganze wissenschaftliche Grundauffassung unseres Philosophen bestimmend. Die Zeit und der Raum, erfahren wir, sind nichts Gegenständliches, weder Substanzen noch Akzidenzen, noch Verhältnisse, sondern etwas Subjektives und Ideelles, was aus der Natur der Seele nach einem festen Gesetz hervorgeht, wie ein Schema, um alles Wahrgenommene in sich aufzunehmen. Von den englischen Philosophen waren die beiden subjektiven Bedingungen aller Sinnlichkeit zu einem stetigen Fluß im Dasein, bzw. zu einem schrankenlosen Behältnis aller möglichen Dinge erklärt worden, während LEIBNIZ und seine Anhängen in ihnen Verhältnisse der Folge des Nebeneinander erblickten. Die erstere Ansicht hält KANT für widersinnig, da sie ein gegenstandsloses Wirkliches annimmt, die andere für falsch, weil den Voraussetzungen der mathematischen Wissenschaften widersprechend; und er stellt ihnen deshalb, auf die Realität von Zeit und Raum Verzicht leistend, seine Auffassung als eine gänzlich neue, bis dahin unerhörte gegenüber.

Es ist eine notwendige Folgerung, daß mit der Zeit und dem Raum auch die Welt in ihnen, d. h. die Sinnenwelt, ihre Realität einbüßt, und so wird dann die letztere offen von der des wahren Seins unterschieden.

Den Gegensatz der Welt der Sinne und des wahren Seins läßt KANT mit einem anderen, einem logischen Gegensatz zusammenfallen, welchen er von seinen philosophischen Vorgängern in Deutschland entlehnte. Er hatte sich in der Zeit der Veröffentlichung der Inauguralschrift, vermutlich unter dem Einfluß der 1765 erschienenen Nouvaux Essais, wie ich mit WINDELBAND (1) für sehr wahrscheinlich halte, einer Lehre der leibniz-wolffischen Schule wieder zugewandt, von welcher er sich in einer früheren Periode in seiner Entwicklung bereits zu emanzipieren versucht hat. Es war das Dogma, daß es eine zweifache Art von Erkenntnis gibt, eine empirische und rationale, eine solche der zufälligen oder tatsächlichen und eine andere der notwendigen oder ewigen Wahrheiten, von denen jene durch Induktion und Beobachtung, diese aber mittels einer Betrachtung der eigenen (angeborenen) Ideen durch das bloße Denken (la raison) gewonnen werden (2). Diese Unterscheidung ist es, welche ich meine und KANTs Neuerung besteht darin, daß er die Sinnenwelt als den Gegenstand des empirischen und die Welt des wahren Seins als den des rationalen Wissens näher bestimmt. -

In Widerspruch gerät er hierdurch freilich mit einer anderen Lehre der leibniz-wolffischen Schule, der vom Gegensatz des verworrenen und deutlichen Denkens und der Identifizierung des ersteren mit der sinnlichen und des letzteren mit der rationalen Erkenntnis. Und wir sehen ihn daher diese Identifizierung ausdrücklich bekämpfen.

Die genaue Fassung und weitere Ausführung der kantischen Gedanken ist nun die folgende: Es gibt einen doppelten Gebrauch des Verstandes, einen "logischen" und einen sogenannten "realen". Der erstere kommt bei der Erkenntnis der Raum- und Zeit-Welt zur Anwendung und besteht darin, durch einen Vergleich der Erscheinungen - als solche bezeichnet KANT wörtlich die Sinnenwelt - Begriffe und Gesetze zu gewinnen und sie nach dem Grad der Allgemeinheit einander unterzordnen (§ 5). -

Hierbei ist eins besonders im Unterschied von der Kr. d. r. V. hervorzuheben, daß nämlich KANT einen Gebrauch des Verstandes, der etwa dieser rein logischen (anordnenden) Tätigkeit vorhergeht und bereits zu Entstehung der Sinnenwelt mit beiträgt, in der vorliegenden Abhandlung noch nicht kennt. Die Raum- und Zeit-Welt bedarf vielmehr zu ihrem Zustandekommen nur des Stoffes der Empfindung und der ihn in sich aufnehmenden und anordnenden Formen der Anschauung und der Verstand verhält sich zu derselben, um mich so auszudrücken, rein wiederholend (§ 5).

Der reale Gebrauch des Verstandes unterscheidet sich vom logischen in eigentümlicher Weise; zwar bringt er so gut, wie jener, ein Wissen hervor, aber der Weg, auf dem er zu demselben gelangt, ist ein anderer. Seine Funktion besteht in einer Untersuchung einer Reihe durch die eigene Natur des Verstandes gegebener (dantur per ipsam naturam intellectus [sind durch die Natur des Intellekts gegeben - wp] (§ 6)) Begriffe, wie von denen der Möglichkeit des Daseins, der Notwendigkeit, der Substanz und der Ursache. Diese Begriffe, welche man unschwer als die ersten Elemente der späteren Kategorien erkennen wird, führen auf inhaltliche Lehrsätze, und man gelangt schließlich auf einem solchen Weg der Erkenntnis eines Ideals, der "perfectio noumenon", das sowohl die theoretische Idee des höchsten Wesens oder Gottes, wie die praktische der moralischen Vollkommenheit in sich darstellt. Somit dienen die reinen Verstandesbegriffe dazu, die Erfahrung zu überfliegen und zur Höhe transzendenter Dinge und Begriffe emporzusteigen (§ 9).

Es muß gefragt werden, auf welche Weise sich KANT die reinen Verstandesbegriffe "durch die eigene Natur des Verstandes gegeben" denkt. An der Stelle (§ 8), wo er sich am ausführlichsten hierüber ausläßt, sagt er, daß sie durch Abstraktion aus den dem Verstand ursprünglich angehörenden Gesetzen erworben werden, indem man auf dessen Tätigkeiten bei Gelegenheit der Erfahrung Acht gibt. Diese Worte lassen sich, wenn man ihnen einen Sinn unterlegen will, wohl allein so auffassen, daß die reinen Verstandesbegriffe Begriffe von solchen Gesetzen ausmachen, welche, der Tätigkeit des Denkens immanent, ihre allgemeinsten Unterscheidungsmerkmale darstellen. Aus dem Zusatz, daß die Tätigkeiten, deren Gesetze in den Verstandesbegriffen bestehen sollen, bei Gelegenheit der Erfahrung zur Ausübung kommen, geht zugleich hervor, daß KANT dabei den logischen Gebrauch im Sinn gehabt haben muß, da er allein bei der Erfahrung vorkommt.

Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß KANT über diese ganze Frage sehr flüchtig hinweggegangen ist; und wenn wir nach dem Grund hierfür fragen, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, daß ihm schon jetzt ein Bedenken über die Möglichkeit aufgestiegen sind, wie Begriffe von einem derartigen Ursprung Bedeutung für die Erkenntnis des wahren transzendenten Seins besitzen könnten. Wenn unsere Vermutung zutrifft, so hatte er offenbar die Absicht, mit einem solchen Einwand, bevor er die Welt mit ihm bekannt macht, zunächst sich selbst abzufinden.

Hier war es unzweifelhaft, wo KANT an eine Gedankenreihe wieder anknüpfte, welche früher im Anfang der sechziger Jahre (3) das Studium von HUMEs Untersuchung über den menschlichen Verstand in ihm angeregt hatte. Des letzteren Philosophen berühmter Angriff gegen die Vernunft-Einsicht in das kausale Geschehen war nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben, obgleich der denselben, wenn man seiner eigenen Darlegung überhaupt historische Treue beilegen darf, merkwürdigerweise falsch auffaßte. HUME hatte gelehrt, daß der Zusammenhang zwischen kausal verknüpften Tatsachen nicht auf logischem Weg, sondern allein aufgrund der Erfahrung der Sinne erkannt wird, und daß die Notwendigkeit, mit welcher man bei einem Ereignis ein bestimmtes anderes mit ihm kausal verbundenes annimmt, nicht auf Einsicht, sondern auf Glauben und Gewohnheit beruth. KANT jedoch wußte diese Sätze nicht in ihrer Eigenart festzuhalten, betrachtete sie vielmehr unter einem aus seiner gewohnten Denkweise sich ergebenden Gesichtspunkt. Er substituierte ihnen auf solche Art drei andere als die Meinung HUMEs, des Inhalts, daß der Begriff der Ursache und Wirkung keine von aller Erfahrung unabhängige objektive Gültigkeit besitzt, daß derselbe daher nicht dem reinen Denken entstammt, und, was eine Folge des ersten Satzes ist, daß ihm endlich nur eine Brauchbarkeit für die Erfahrung, nicht aber über sie hinaus zukommt (Prolegomena). Von diesen Behauptungen ist nur die letztere im Geiste HUMEs und eine notwendige Konsequenz seiner Lehre, während die beiden ersteren vom Standpunkt des Sensualismus überhaupt unverständlich sind, stattdessen vielmehr einem ganz anderen rationalistischen Gedankenkreis angehören (4).

KANT war der vermeintlichen Ansicht HUMEs ziemlich nahe getreten, als ihn ein dringender Grund bewogen hat, sich von ihr wieder ab- und der Grundanschauung der leibnizischen Schule von Neuem zuzuwenden. Er dehnte nämlich den Angriff HUMEs auf alle anderen reinen Verstandesbegriffe aus, und dann schreckte ihn der Umstand, daß mit der Hinfälligkeit des Kausalbegriffs auch die von aller Erfahrung unabhängige Gültigkeit der übrigen Begriffe dahinschwindet, und daß die notwendige Folge hiervon ein Verzicht auf jede Erkenntnis transzendentaler Dinge darstellen würde.

Es ist offenbar, daß die Entscheidung KANTs für LEIBNIZ und gegen HUME nur eine provisorische sein konnte, da sie, wenn auch nicht ganz ohne Grund vorgenommen, dennoch der eigentlichen strengen Rechtfertigung noch entbehrte. Dieser Umstand war ohne Zweifel unserem Philosophen niemals ganz entgangen, er mußte ihm aber bei Gelegenheit der Inauguralschrift besonders deutlich vor die Seele treten und so wurde derselbe dann jetzt zu einer ganz neuen Untersuchung der Grundlagen meines Wissens der bestimmende Anlaß.

Daß in der Tat der Frage nach der objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe und weiterhin der aus ihnen über die Beschaffenheit des wahren Seins abgeleiteten Sätze eine solche Bedeutung zukommt, geht zur Evidenz aus dem berühmten Brief an Herz vom 21. Februar 1772 hervor, auch welchen zuerst PAULSEN (5) und RIEHL (6) mit Nachdruck, um dieses zu erweisen, aufmerksam gemacht haben. Und so sollen die wesentlichen Stellen desselben hier gleichfalls angeführt werden. Sie lauten:
    "Indem ich ... so bemerkte ich, daß mir noch etwas Wesentliches mangelt, welches ich bei meinen langen metaphysischen Untersuchungen, so wie Andere, außer Acht gelassen hatte, und welches in der Tat den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht. Ich frug mich nämlich selbst: auf welchem Grund beruth die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das Subjekt von einem Gegenstand affiziert wird, so ist es leicht einzusehen, wie es diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß ist, und wie diese Bestimmung unseres Gemüts etwas vorstellen, d. h. einen Gegenstand haben kann. Die Passion oder sinnliche Vorstellungen haben also eine begreifliche Beziehung auf Gegenstände, und die Grundsätze, welche aus der Natur unserer Seele entlehnt werden, haben eine begreifliche Gültigkeit für alle Dinge, insofern sie Gegenstände der Sinne sein sollten. Ebenso, wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Anbetracht des Objekts actio wäre, d. h. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sich die göttlichen Erkenntnisse als die Urbilder der Sachen vorstellt, so würde auch die Konformität derselben mit den Objekten verstanden werden können. Es ist also die Möglichkeit sowohl des intellectus archetypi [Urbild im Verstand - wp], auf dessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen, wie des intellectus ectypi [Verstand aus Sinnenbildern - wp], der die Data seiner logischen Behandlung aus der sinnlichen Anschauung der Sachen schöpft, zum wenigsten verständlich. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes (außer in der Moral von den guten Zwecken), noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen (in sensu reali). Die reinen Verstandesbegriffe müssen also nicht von der Empfindung der Sinne abstrahiert sein, noch die Empfänglichkeit der Sinne durch Vorstellungen ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quellen haben, aber doch weder insofern sie vom Objekt gewirkt werden, noch das Objekt selbst hervorbringen. Ich hatte mich in der Dissertation damit begnügt, die Natur der Intellektual-Vorstellungen bloß negativ auszudrücken: daß sie nämlich nicht Modifikationen der Seele durch den Gegenstand sind. Wie denn aber sonst eine Vorstellung, die sich auf einen Gegenstand bezieht, ohne von ihm auf einige Weise affiziert zu sein, möglich, überging ich mit Stillschweigen. Ich hatte gesagt: die sinnlichen Vorstellungen stellen die Dinge dar, wie sie erscheinen, die intellektuellen, wie sie sind. Wodurch werden uns denn diese Dinge gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns affizieren, und wenn solche intellektuelle Vorstellungen auf unserer inneren Tätigkeit beruhen, woher kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden, und die Axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen? In der Mathematik ... Allein im Verhältnis der Qualitäten, wie mein Verstand gänzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen notwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß, und die doch von ihr unabhängig sind, diese Frage hinterläßt immer eine Dunkelheit in Anbetracht unseres Verstandesvermögens, woher ihm diese Übereinstimmung mit den Dingen selbst kommt."
Die zitierte Briefstelle ist, von dem Zweck abgesehen, für welche ich sie angeführt habe, noch in einer doppelten Hinsicht von Wichtigkeit. Einmal ersehen wir, daß KANT zu der Zeit ihrer Abfassung nicht mehr im Zweifel darüber war, ob den reinen Verstandesbegriffen und -grundsätzen überhaupt ein Erkenntniswert zukommt; er hatte vielmehr bereits entschieden, daß das der Fall ist, und er fragt jetzt nur noch, woher die Übereinstimmung der intellektuellen Vorstellungen mit den Gegenständen kommt. In dieser Hinsicht hat also PAULSEN Recht, daß er als einen wesentlichen Zweck der Kr. d. r. V. die Rettung des Rationalismus des Erkennens ansieht und in seiner Schrift mit Nachdruck hervorhebt, wenn er freilich auch den Irrtum begeht, in jener Rettung die hauptsächlichste und einzige Tendenz des kantischen Werks zu erblicken. In Dieser Hinsicht hat also PAULSEN Recht, daß er als einen wesentlichen Zweck der Kr. d. r. V. die Rettung des Rationalismus des Erkennens ansieht und in seiner Schrift mit Nachdruck hervorhebt, wenn er freilich auch den Irrtum begeht, in jener Rettung die hauptsächlichste und einzige Tendenz des kantischen Werks zu erblicken.

Des weiteren kann man schon jetzt ersehen, welche Lösung das aufgestellte Problem finden mußte. KANT kannte bis dahin nur zwei Möglichkeiten, um eine Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem Gegenstand zustande zu bringen, entweder wen dieselbe aus den Sinnen stammt oder wenn sie den Gegenstand selbst hervorbringt. Beide Eventualitäten waren für den vorliegenden Fall ausgeschlossen, da die reinen Verstandesbegriffe, wie bestimmt festgehalten wurde, nicht aus den Sinnen stammen sollten, die Annahme aber absurd gewesen wäre, dieselben die Welt des wahren Seins aus sich hervorgehen zu lassen. Was blieb nunmehr anderes zu tun übrig, als der Versuch, die beiden Möglichkeiten zu verbinden, die Erkenntnis der Dinge-ansich aufzugeben und zur Entstehung der Erfahrungswelt nicht bloß die Empfindung, die Zeit und den Raum, sondern auch die reinen Verstandesbegriffe mit beitragen zu lassen? Auf solche Art wurde der Rationalismus des Erkennens aufrecht erhalten, ihm aber zugleich nur eine empirische und keine transzendente Bedeutung mehr eingeräumt. Dieses Unternehmen, in welchem also eine durchgängige Korrektur früherer Ansichten enthalten war, wurde in der Tat von KANT gewagt, und der Erfolg desselben ist es, welcher sodann in der Kr. d. r. V. und näher in der sogenannten transzendentalen Analytik zur Darstellung gelangt ist. - Es wird meine Aufgabe sein, der kantischen Auseinandersetzung der neuen Lehre nunmehr im Einzelnen nachzugehen.


II. Die Auflösung des Problems

Direkt auf das gesteckte Ziel losgehend, beginne ich damit, mich sofort mit dem Hauptgedanken KANTs, welchen er an der genannten Stelle entwickelt, bekannt zu machen. Kurz in einen präzisen und erschöpfenden Ausdruck gebracht, lautet derselbe:
Die reinen Verstandesbegriffe verwandeln den zusammenhanglosen und rein subjektiven Stoff der Empfindung und Wahrnehmung in die Erkenntnis der objektiv-gültigen Verhältnisse der Erfahrung.

Wir werden den Satz verstehen, wenn wir die in ihm enthaltenen Momente einzeln entwickeln.

Zunächst also ist die Voraussetzung der Erfahrungserkenntnis ein rein subjektiver Empfindungs- und Wahrnehmungszustand. Hier erinnern wir uns der Zeit- und Raumlehre aus der Inauguralschrift, welche besagte, daß durch die Aufnahme des Stoffes der Empfindung in die beiden Formen der Anschauung die Welt der sinnlichen Gegenstände entsteht und daß diese Welt durch den "logischen" Gebrauch des Verstandes erkannt wird. Die letztere Meinung hat jetzt dahin eine Änderung erfahren, daß durch Empfindung, Zeit und Raum noch lange keine Vorstellung eines Gegenständlichen zustande kommt, daß wir vielmehr mit der Raum- und Zeit-Welt allein noch in einem rein passiven Zustand verharren. Wenn wir, was von KANT nicht ausgeschlossen wird, uns unseren Zustand zu Bewußtsein bringen, auf welchem Weg wir zu einem sogenannten Wahrnehmungsurteil gelangen, so sagt dasselbe nichts über die Verhältnisse der Dinge aus, sondern zeigt nur, was für Empfindungen und Wahrnehmungen in jenem passiven Zustand gerade beisammen sind.
    "Daß das Zimmer warm, der Zucker süß, der Wermuth widrig sind", erläutert Kant, "sind bloß subjektive gültige Urteile ... sie drücken nur eine Beziehung zweier Empfindungen auf dasselbe Subjekt, nämlich mich selbst und auch nur in meinem damaligen Zustand der Wahrnehmung aus, und sollen daher auch nicht vom Objekt gelten; dergleichen nenne ich Wahrnehmungsurteile ..., wenn ich sage: die Luft ist elastisch, so ist dieses Urteil zunächst nur ein Wahrnehmungsurteil, ich beziehe zwei Empfindungen in meinen Sinnen nur aufeinander." (7)
In diesem Sinne ist es dann zu nehmen, wenn KANT in der ersten Auflage der Kritik (8) sagt, daß vor der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe "verschiedene Wahrnehmungen im Gemüt ansich zerstreut und einzeln angetroffen werden" und daß dieselben "im Sinn" keine Verbindung untereinander haben können, und ferner, daß "die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität" nur ein Mannigfaltiges darbietet, und wenn er in der zweiten Auflage (9) hiermit übereinstimmend behauptet, daß der Raum als die Form der Anschauung, in welcher Eigenschaft er noch nicht als Gegenstand vorgestellt wird, bloß ein Mannigfaltiges, aber keine Einheit desselben enthält.

Ich gebe den Gedanken KANTs, den er hiermit ausdrücken will und welchen er selbst nie ganz zur Darstellung brachte, richtig wieder, wenn ich sage, daß er sich die ursprüngliche, vom Einfluß der Kategorien noch freie Wahrnehmung eines bestimmten räumlichen und zeitlichen Inhalts in der Weise vorstellt, daß man nur einen mannigfaltig unterschiedenen Zustand empfindet, ohne irgendein Bewußtsein über die Zusammengehörigkeit seiner einzelnen Momente zur Vorstellung eines Gegenstandes oder Vorgangs.

Das Verständnis der Fundamentalthese KANTs erfordert weiter, klar zu machen, was derselbe unter der Erkenntnis eines Objektiven oder Gegenständlichen denkt. Ein Objekt ist nach der gewöhnlichen Auffassung etwas vom Subjekt Unabhängiges, und hiermit in Übereinstimmung gilt die Erkenntnis eines Objekts als frei von der individuellen Willkür, als eine solche, welche in gleicher Weise für Jedermann notwendige Gültigkeit hat. Wenn nun KANT das Objekt nicht mehr als etwas von Subjekt Unabhängiges, sondern von ihm Bedingtes und Hervorgebrachtes ansieht, so tritt er doch soweit der gemeinen Denkweise bei, als er die Zusammengehörigkeit der notwendigen Allgemeingültigkeit und der Objektivität der Erkenntnis beibehält. Alsdann formuliert er das Verhältnis beider so, daß nicht die Objektivität die notwendige Allgemeingültigkeit, sondern umgekehrt die notwendige Allgemeingültigkeit die Objektivität verbürgt. Den Grund jener notwendigen Allgemeingültigkeit aber findet er in den das Objekt hervorbringenden allgemeingleichen subjektiven Erkenntnisfaktoren, vornehmlich den reinen Verstandesbegriffen.
    "Es sind", führt Kant wörtlich aus, "objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit (für Jedermann) Wechselbegriffe, und obgleich wir das Objekt ansich nicht kennen, so ist doch, wenn wir ein Urteil als gemeingültig und folglich notwendig ansehen, eben darunter die objektive Gültigkeit verstanden. Wir erkennen durch dieses Urteil das Objekt (wenn es auch sonst, wie es ansich sein möchte, unbekannt bleibt) durch die allgemeingültige und notwendige Verknüpfung der gegebenen Wahrnehmungen, und da dies der Fall von allen Gegenständen der Sinne ist, so werden Erfahrungsurteile ihre objektive Gültigkeit nicht von der unmittelbaren Erkenntnis des Gegenstandes (denn diese ist unmöglich), sondern bloß von der Bedingung der Allgemeingültigkeit der empirischen Urteile entlehnen, die, wie gesagt, niemals auf den empirischen, ja überhaupt sinnlichen Bedingungen, sondern nur auf einem reinen Verstandesbegriff beruth. Das Objekt bleibt ansich immer unbekannt; wenn aber durch den Verstandesbegriff die Verknüpfung der Vorstellungen, die unserer Sinnlichkeit vor ihm gegeben sind, als allgemeingültig bestimmt wird, so wird der Gegenstand durch dieses Verhältnis bestimmt, und das Urteil ist objektiv." (10)
Die Kenntnis des Ausgangspunktes und des Ziels des Erkenntnisprozesses gestattet nunmehr, den letzteren selbst vorzuführen. Ich habe vorhin KANTs Ansich dahingehend präzisiert, daß es die reinen Verstandesbegriffe sind, welche die Vermittlung zwischen dem zusammenhanglosen Stoff der Wahrnehmung und dem Denken des Objektiven herstellen. Es bedarf der Entwicklung eines eigentümlichen im Verstand enthaltenen Moments, um zu zeigen, wie die reinen Begriffe zu einer solchen Leistung imstande sind.

Betrachtet man die Kategorien genau, so offenbart sich, daß sie nichts anderes als synthetische Begriff oder Einheitsformen sind, welchen die Bedeutung zukommt, vorhandene Synthesen der Dinge begrifflich wiederzugeben. Sie setzen also, so folgt, gewisse gegenständliche Zusammenhänge als schon bestehend voraus, und wenn die letzteren auch noch nicht als solche gedacht werden, was erst eben durch die Kategorien geschieht, so müssen sie doch in der Vorstellung oder in einem "Bild" gegenwärtig sein. Ein solches Bild, die anschauliche Vorstellung des Gegenständlichen, nimmt KANT in der Tat an, und er lehrt von demselben weiter, daß sich in ihm der zusammenhanglose Stoff der Wahrnehmung synthetisch vereinigt und daß erst hinterher die erhaltenen Synthesen ihren begrifflichen Ausdruck in den reinen Verstandesbegriffen finden. Dabei ist hinzuzufügen, daß er die Herstellung jener Synthesen einer ganz neuen psychischen Funktion beilegt, der sogenannten transzendentalen oder produktiven Einbildungskraft. Daß in all dem freilich eine scheinbare Abweichung von seinem ursprünglichen Grundgedanken enthalten ist, muß eine kurze Weile außer Acht gelassen werden.

Es sind die folgenden Sätze der Kritik, in denen die eben dargelegte Beziehung zwischen dem Wahrnehmungsstoff, der Einbildungskraft und den reinen Verstandesbegriffen ihren deutlichsten Ausdruck findet.
    "Das Erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt ... Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, folglich verschiedene Wahrnehmungen im Gemüt ansich zerstreut und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie im Sinn selbst nicht haben können. Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen ... Die Einbildungskraft soll ... das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen." (11)

    "Das Erste, was uns zum Zweck der Erkenntnis aller Gegenstände a priori gegeben sein muß, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das Zweite, gibt aber noch keine Erkenntnis. Die Begriffe, welche diesr reinen Synthesis Einheit geben und lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, tun das Dritte zur Erkenntnis eines vorkommenden Gegenstandes, und beruhen auf dem Verstand."

    "Die Synthesis überhaupt ist ... eine bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele ... Allein diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstand zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in der eigentlichen Bedeutung verschafft." (12)
Damit, daß die Einbildungskraft die Synthesen der Dinge hervorbringt, macht sie überhaupt alles Gegenständliche erst möglich. Es verdient noch Beachtung, daß KANT den letzteren Gedanken in der Weise urgiert, daß er selbst den Raum und die Zeit solange etwas rein Zuständliches sein läßt, ehe sie von der Einbildungskraft in Anschauungen umgewandelt werden.
    "Ohne sie würden wir weder die Vorstellungen des Raums noch der Zeit a priori haben können, da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt werden können." (13)

    "Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkt drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen Acht zu haben." (14)
Wir wissen jetzt, daß die produktive Einbildungskraft es ist, welche den zusammenhanglosen Stoff der Empfindung und Wahrnehmung zu anschaulichen Vorstellungen von Gegenständen vereinigt; wir wissen ferner, daß die Kategorien diesen Synthesen einen begrifflichen Ausdruck geben. Danach erübrigt es sich, das Verhältnis zwischen den Kategorien und der produktiven Einbildungskraft in der Weise näher zu bestimmen, daß jene Sätze mit dem Fundamentalgedanken KANTs nicht in Widerstreit geraten.

Die Kategorien sind, so wird ausgeführt, die verschiedenen Arten der psychischen Funktion des Verstandes, welche die notwendige Vorbedingung dafür ist, um den mannigfaltigen Stoff der Wahrnehmung zur Einheit des Selbstbewußtseins zu bringen, d. h. zu bewirken, daß meine (des Subjekts) Vorstellungen auch sämtlich in das einheitliche Bewußtsein meines Ich aufgenommen werden. Nun aber übt diese Funktion, sobald sie zur Ausübung kommt, zugleich den ganz besonderen Einfluß auf die Sinnlichkeit und näher auf den inneren Sinn aus, daß sie das gegebene Mannigfaltige ohne weiteres in die einheitliche anschauliche Vorstellung eines Bildes verbindet. Eben die letztere Leistung wurde vorhin der produktiven Einbildungskraft beigelegt, und wir ersehen daraus, daß die letztere keinen vom Verstand, dem Vermögen der Kategorien unabhängigen Bestand hat, daß sie vielmehr stattdessen nur einen integrierenden Teil desselben ausmacht. Der Verstand erzeugt zugleich und in einem Akt stets ein doppeltes Produkt, ein sinnliches und ein begriffliches, und beide Produkte gehören so innig zusammen und sind so ganz und gar aufeinander angewiesen, daß das eine, die Kategorie, immer nur den begrifflichen Ausdruck des anderen, der Synthese der anschaulichen Vorstellung, darstellt.
    "Weil nun der Verstand in uns Menschen selbst kein Vermögen der Anschauung ist, und diese, wenn sie auch in der Sinnlichkeit gegeben wäre, doch nicht in sich aufnehmen kann, um gleichsam das Mannigfaltige seiner eigenen Anschauung zu verbinden, so ist seine Synthesis, wenn er für sich allein betrachtet wird, nichts Anderes, als die Einheit der Handlung, deren er sich, als einer solchen, auch ohne Sinnlichkeit bewußt ist, durch die er aber selbst die Sinnlichkeit innerlich in Anbetracht des Mannigfaltigen, was der Form ihrer Anschauung nach ihm gegeben werden mag, zu bestimmen vermögend ist. Er übt also, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung auf das passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert wird."

    "Der Verstand findet also in diesem [dem inneren Sinn] nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert [den inneren Sinn]." (15)
Auf das vorliegende Verhältnis zwischen Verstand und Einbildungskraft, welches übrigens erst in der zweiten Auflage der Kritik zur vollen Entwicklung gelangt, ist zum ersten Mal mit größerem Nachdruck von HÖLDER in seiner Schrift "Darstellung der kantischen Erkenntnistheorie", Tübingen 1875 (16) aufmerksam gemacht worden, und es kann nicht geleugnet werden, daß aus diesem Grund jener Abhandlung, wenn sie auch nicht die ganze Strenge des Gedankens wiedergibt, dennoch eine eigenartige, nicht unverdienstliche Stellung innerhalb der Kant-Literatur zukommt.

Eine Angabe, welche im Vorigen gemacht wurde, erfordert noch eine nähere Ausführung, nämlich die, daß es der Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn ist, welcher die Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft zur Folge hat. Dieselbe besagt Folgendes: Die Synthesis des Stoffes aller unserer Wahrnehmungen geschieht in der Verbindung der Vorstellungselemente des inneren Sinnes, wobei letztere allein unmittelbar miteinander verknüpft werden. Da die sämtlichen Wahrnehmungen der äußeren, der eigentlich sogenannten Sinne dem inneren Sinn mitangehören, so besteht gleichsam ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den ersteren und dem letzteren, und es zeigt sich dasselbe eben darin, daß eine Synthese des äußeren Wahrnehmungsstoffes in der Verknüpfung unserer psychischen Zustände zugleich mit vor sich geht.

Dieses Verhältnis zwischen der produktiven Einbildungskraft und dem inneren Sinn eröffnet die Einsicht in eine weitere Lehre unseres Philosophen, von welcher man mit Recht behaupten kann, daß sie noch von keinem der Kant-Interpreten ganz zur Darstellung gebracht wurde. Es ist das Kapitel vom Schematismus, von dem SCHOPENHAUER nicht mit Unrecht sagt: "daß kein Mensch je habe daraus klug werden können." (17) Und doch ist dieser Abschnitt ein so bedeutungsvoller Teil der kantischen Erkenntnistheorie und enthält so sehr den unzweifelhaftesten Ausdruck für die Lösung des Problems der Kategorien, daß ohne ihn ein volles Verständnis jener Lösung überhaupt unmöglich ist.

Die produktive Einbildungskraft besteht in einer Wirkung des Verstandes auf den inneren Sinn; sie vereinigt daher in sich, da der Verstand in die Kategorien auseinandergeht, eine Anzahl von den letzteren genau entsprechenden unterschiedenen Funktionen. Die Verschiedenheit der Funktion erstreckt sich aber weiter auf die ihres Resultates, und es differieren somit auch die durch die Einbildungskraft hervorgebrachten Synthesen der anschaulichen Vorstellung des Objektiven in übereinstimmender Weise. Es sind also in jeder Anschauung eines Objekts ganz bestimmte Arten der Synthesis gegenwärtig, und es gibt solcher Arten eine gleiche Anzahl, wie von den Kategorien. Ich behaupte nun, daß sie diejenigen Gebilde darstellen, welche von KANT unter dem besonderen Namen der "Schemata" der Kategorien eingeführt werden.

Die Richtigkeit meiner Behauptung ergibt sich aus Folgendem: Die Aufgabe, welche den Schematen zugewiesen wird, besteht darin, eine Vermittlerrolle zu übernehmen zwischen den reinen Verstandesbegriffen und den Anschauungen und die Anwendung der ersteren auf die letzteren, welche nicht so ohne Weiteres einzusehen ist, zu ermöglichen. Es ist daher an dieselben die Forderung zu stellen, daß sie an der allgemeinsten formalen Natur der Kategorien partizipieren und doch zugleich wesentliche Unterscheidungsmerkmale der Anschauungen sind. Es bedarf keiner besonderen Versicherung, daß die in jeder Anschauung eines Gegenständlichen gegenwärtigen Synthesen einem solchen doppelten Verlangen gerecht werden, und sie sind somit die verlangten Schemata.

Wie ich schon sagte, enthält die Lehre von den Schematen den unzweifelhaftesten Ausdruck für die Lösung des ursprünglichen kantischen Problems. Wenn die Frage aufgeworfen wird, wie eine Anwendung von Begriffen, welche im reinen Verstand erzeugt und nicht von den Gegenständen abstrahiert sind, auf die letzteren möglich wird, welche Antwort dürfte dann angemessener sein, als die, nur dadurch, daß sich die Begriffe ein Gegenbild ihrer in der Anschauung der Gegenstände selbst hervorbringen? Solche Gegenbilder begreiflich zu machen, darauf ging aber gewiß von vornherein die Intention KANTs. Freilich ist nicht zu leugnen, daß er sich dieses seines Vorhabens anfänglich nicht klar bewußt war, wie er dann für das, was die Schemata eigentlich bedeuten sollen, überhaupt erst in seiner Schrift "Über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolff" einen genauen Ausdruck gefunden hat. An dieser Stelle ist es, wo er sich über dieselben, wie folgt, ausspricht:
    "Einen reinen Begriff des Verstandes als an einem Gegenstand möglicher Erfahrung denkbar vorstellen, heißt, ihm objektive Realität verschaffen und überhaupt, ihn darstellen ... Diese Handlung, wenn die objektive Realität dem Begriff geradezu (direkt) durch die demselben korrespondieren Anschauung zugeteilt, d. h. dieser unmittelbar dargestellt wird, heißt der Schematismus." (18)
In der Kritik selbst dagegen ist die ganze Lehre durch zwei große Fehler verunstaltet, welche ich nicht unerwähnt lassen darf. Nach meiner Auseinandersetzung ist das Schema in der Anschauung des Objekts gegenwärtig, muß aber selbst noch von ihr unterschieden werden. Um diese Differenz recht deutlich hervortreten zu lassen, verfällt nun KANT darauf, den Schematen die Anschaulichkeit überhaupt abzusprechen und dieselben sodann mit den sie erzeugenden Vorgängen, den durch die Verschiedenheit der Kategorien bedingten unterschiedenen Funktionen der Einbildungskraft, zu verwechseln.
    "Diese Vorstellungen nun", heiß es bei ihm, "von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriff."

    "... das Schema eines reinen Verstandesbegriffs [ist] etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt." (19)
Weiter führt KANT die Schemata in einer durchaus verkehrten und unhaltbaren Weise als Zeitbestimmungen ein. Wir lernen den Gedanken kennen, welcher unseren Philosophen zum Schematismus hinführt und der darin besteht, ein Mittleres zu finden, welches die Anwendbarkeit der Kategorien auf die Anschauungen ermöglicht. Ein solches Mittleres, wird jetzt näher angegeben, muß die allgemeine Natur der Kategorien und die sinnliche der Anschauungen besitzen. Dieser Anforderung wird die Zeit gerecht, und es müssen somit die Schemata in der Zeit enthaltene Momente ("Zeitbestimmungen") darstellen.

Es ist leicht einzusehen, daß die Ableitung zwei sehr große logische Fehler enthält. Einmal sind die Kategorien und die Zeit in einer durchaus verschiedenen Weise "allgemein", die ersteren im Sinne des Gleichgültigseins gegen das Konkrete, die andere im Sinn des Allumfassenden. Und zweitens wie soll die Zeit, wenn sie mit den Kategorien im Prädikat der Allgemeinheit und mit den Anschauungen im anderen der Sinnlichkeit übereinkommt, Kategorien und Anschauungen zu vermitteln imstande sein? Hat der Gedanke einer derartigen Vermittlung überhaupt logische Gültigkeit? Kann man etwa mit Hilfe der Vorstellung eines Glases, welches mit einem Laubblatt die Eigenschaft der grünen Farbe, mit der Luft die der Durchsichtigkeit gemeinsam hat, das Laubblatt unter den Begriff Luft subsumieren? Es bedarf keiner näheren Auseinandersetzung über die logische Unmöglichkeit des von KANT behaupteten Verfahrens.

Es fragt sich übrigens, ob die Schemata nicht trotzdem Zeitbestimmungen sind, wie KANT behauptet. Nach meiner Ableitung sind dieselben in Anschauung des Objekts enthaltene, den Kategorien genau entsprechende synthetische Formen. Nun werden die Objekte von der Einbildungskraft erzeugt in der Zusammenfassung der in der Ordnung der Zeit gegebenen Materie des inneren Sinnes, und man trägt auf solche Art die Kategorien in den sinnlichen Stoff und die Zeit gleichsam hinein. Hiernach könnte man die Schemata allenfalls als durch den Stoff des inneren Sinn und die Zeitform modifizierte Kategorien bezeichnen, es erhellt sich aber, daß sie damit lange noch nich zu Zeitbestimmungen werden, und daß also KANT auch in dieser Hinsicht sich im Irrtum befindet.

Es darf nicht verschwiegen werden, daß die wahre Eigentümlichkeit der Schemata, sinnliche synthetische Formen zu sein, und ihre hieraus sich ergebende Brauchbarkeit zu der besagten Vermittlung später KANT selbst zum Bewußtsein gekommen ist, und daß er sich in diesem Sinn in einem Brief an Tieftrunk vom 11. September 1797 ausgesprochen hat. Aus der sprachlich schlechten Stelle gebe ich folgende Bemerkung wörtlich wieder:
    "Die Subsumtion eines empirischen Begriffs unter eine Kategorie ist möglich durch einen Mittelbegriff, nämlich den des Zusammengesetzten aus Vorstellungen des inneren Sinns des Subjekts, sofern sie, den Zeitbedingungen gemäß, a priori nach einer allgemeinen Regel ein Zusammengesetztes darstellen, welches mit dem Begriff eines Zusammengesetzten überhaupt (dergleichen jede Kategorie ist) homogen ist, und so unter dem Namen eines Schema die Subsumtion der Erscheinungen unter dem reinen Verstandesbegriff ihrer synthetischen Einheit (des Zusammensetzens nach) möglich macht."
LITERATUR: Carl Überhorst, Kants Lehre vom Verhältnis der Kategorien zur Erfahrung, Göttingen 1878
    Anmerkungen
    1) Wilhelm Windelband, Über die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre vom Ding-ansich, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Leipzig 1877, Seite 234f.
    2) Leibnnitii opera ed. Erdmann, Seite 379.
    3) Daß der Einfluß Humes auf Kant bis in die Zeit zurückdatiert, ist von Riehl in seiner Schrift "Der philosophische Kritizismus", Bd. 1, Leipzig 1876, Seite 222f richtig auseinandergesetzt worden.
    4) Daß Kant Hume nicht verstanden hat, darauf macht sonderbarerweise kein Forscher aufmerksam, eine Ausnahme bildet meines Wissens nur Montgomery, welcher die ziemlich offen daliegende Tatsache in seinem Werk "Die kantische Erkenntnislehre widerlegt vom Standpunkt der Empirie", München 1870, Seite 158 gründlich beleuchtet.
    5) Friedrich Paulsen, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie, Leipzig 1873, Seite 149.
    6) Riehl, a. a. O., Seite 289.
    7) Prolegomena § 19.
    8) Ausgabe von Kehrbach, Leipzig, Seite 130 und 116; ich zitiere im Folgenden die "Kritik" immer nach dieser Ausgabe.
    9) Kr. d. r. V., Seite 678
    10) Prolegomena, § 19.
    11) Kr. d. r. V., Seite 130.
    12) Kr. d. r. V., Seite 95.
    13) Kr. d. r. V., Seite 115 und 116
    14) Kr. d. r. V., Seite 674
    15) Kr. d. r. V. Seite 673 und 674
    16) Hölder, a. a. O., Seite 47 und an anderen Stellen.
    17) Schopenhauer, Kritik der kantischen Philosophie, Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, zweite Auflage, Seite 506.
    18) Über die Fortschritte der Metaphysik, Ausgabe Rosenkranz - Schubert, Bd. 1, Seite 513.
    19) Kr. d. r. V., Seite 144 und 145.