tb-1Aufgabe der ErkenntnistheorieWiedergeburt der Philosophie     
 
EDUARD ZELLER
Über die gegenwärtige Stellung und
Aufgabe der deutschen Philosophie


"Der Historiker kann sich freilich einer kritischen Würdigung der Systeme, die er darstellt, nicht entziehen. Aber als Historiker hat er diese Kritik nur in dem Maße zu üben, wie sie sich im geschichtlichen Verlauf als solchem vollzogen hat. Wir wollen von ihm nicht erfahren, was ihm selbst an jedem System gefällt oder mißfällt, sondern was denen, die sich demselben anschlossen, gefallen, denen, die ihm widersprachen oder es zu verbessern suchten, mißfallen hat. Wir wollen durch ihn zu Zuschauern der geschichtlichen Bewegung gemacht werden. Die Reinheit dieser Betrachtung wird gestört, die Unbefangenheit der historischen Stimmung und Auffassung wird getrübt, wenn der Geschichtschreiber selbst immer wieder das Wort nimmt, um uns seine Meinung über den Wert oder Unwert der Systeme, die er darstellt, auseinanderzusetzen."

Meine Herren!

Wenn ich heute unter Ihnen erscheine, um meine Tätigkeit als Lehrer der Philosophie an der hiesigen Hochschule zu beginnen, so liegt wohl manchem von Ihnen die Frage auf den Lippen, von welchem Standpunkt ich denn eigentlich hierbei auszugehen gedenke. Eine eingehende Beantwortung dieser Frage würde nun freilich eine längere Auseinandersetzung erfordern, als sie mir hier möglich ist, aber doch scheint es mir nicht unangemessen, wenn ich die erste Stunde, die mich in Ihre Mitte führt, zu einigen vorläufigen Andeutungen über meine Auffassung der Aufgabe benutze, welche der deutschen Philosophie durch ihre bisherige Entwicklung und die wissenschaftlichen Bedürfnisse der Gegenwart vorgezeichnet ist.

Die Stellung, welche dieser Wissenschaft von der öffentlichen Meinung eingeräumt wird, ist heutzutage unverkennbar eine andere, als sie vor dreißig oder vierzig Jahren gewesen ist. Wenn sich die Philosophie damals in hochgesteigertem Selbstgefühl nicht bloß als die Beherrscherin aller anderen Wissenschaften, sondern auch als das sie alle umfassende Ganze zu betrachten pflegte, so werden gegenwärtig auch von ihren Freunden nur noch sehr wenige so weitgehende Ansprüche zu erheben geneigt sein; die meisten werden sich vielmehr begnügen, wenn ihr nur  neben  den anderen Disziplinen eine eigentümliche Bedeutung eingeräumt, wenn sie nur überhaupt als ein wesentlicher und unentbehrlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Organismus anerkannt wird. Aber selbst diese mäßige Anerkennung wird ihr nicht selten verweigert; und wenn sie sich diese Geringschätzung in der Regel nur tatsächlich, als Vernachlässigung der philosophischen Studien und Gleichgültigkeit gegen philosophische Untersuchungen äußert, so sind doch da und dort auch schon Stimmen laut geworden, welche dieselbe zum Grundsatz erheben, der Philosophie die Berechtigung zu einem selbständigen Dasein absprechen und von ihr verlangen, daß sie in den besonderen Fächern, der Geschichte und Naturwissenschaft, aufgehe.

Diese Erscheinung läßt sich auch nicht aus bloß äußerlichen und für die Wissenschaft als solche zufälligen Ursachen herleiten; sie ist vielmehr die natürliche Folge des ganzen Verlaufs, welchen die philosophische Entwicklung seit KANT genommen hat und der Verhältnisse, unter denen sie sich vollzogen hat. In den Systemen, welche sich von KANT bis auf HEGEL und HERBART in rascher Folge drängten, hatte die philosophische Produktivität sich für einige Zeit erschöpft; man empfand das Bedürfnis der Sammlung, der Prüfung und Verarbeitung des neuen, was in solcher Fülle hervorgetreten war. Der nachkantische Idealismus hatte bei aller Großartigkeit und allem Reichtum seiner Leistungen doch die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, nicht wirklich gelöst; jene apriorische Konstruktion des Universums, auf die er seit FICHTE ausgegangen war, zeigte auch in ihrer reifsten und vollendetsten Gestalt, auch bei HEGEL, bedenkliche Lücken; und ebensowenig vermochte eines von den Systemen, welche sich ihm zur Seite und gegenübergestellt hatten, eine befriedigende und widerspruchslose Erklärung der Erscheinungen zu gewähren. Die Erfahrungswissenschaften gingen ihren Weg unbekümmert um die Philosophie und sie kamen hierbei vielfach auf Ergebnisse, welche mit den Konstruktionen der Philosophen nicht stimmten; die Naturwissenschaft vor allem war es, deren glänzender Aufschwung die Philosophie umso mehr in den Schatten zu stellen geeignet war, da er gerade mit einer in der letzteren eingetretenen Stockung zusammenfiel. Wenn sich endlich die überreiche und - wir dürfen es nicht verkennen - einseitige Entwicklung der neueren deutschen Spekulation trotz der ruhmvollen Episode der Befreiungskriege wesentlich in einer Zeit des politischen Stillebens vollzogen hatte, so mußte umgekehrt die nachhaltige politische und wirtschaftliche Bewegung, welche sich Deutschlands während des letzten Menschenalters in steigendem Maße bemächtigt hat, unvermeidlich das spekulative Interesse zurückdrängen und die Gunst der Zeit  den  Wissenschaften zuführen, welche mit ihren praktischen Bestrebungen in einem unmittelbaren und greifbareren Zusammenhang standen.

Daß sich der deutsche Geist freilich auf Dauer von der Philosophie abwende, das haben wir nicht zu befürchten. Eine gründlichere Wissenschaft wird immer zu Fragen und Aufgaben geführt werden, die nur auf dem Weg der philosophischen Forschung gelöst werden können. Die allgemeinen Bedingungen des Erkennens, der Ursprung und die Wahrheit unserer Vorstellungen müssen untersucht, die Methoden und die Begriffe, deren die verschiedensten Disziplinen sich gemeinschaftlich bedienen, müssen wissenschaftlich begründet werden; zwischen den besonderen Fächern muß ein systematischer Zusammenhang hergestellt, ihre Voraussetzungen geprüft, ihre Ergebnisse zu einem umfassenderen Ganzen verknüpft werden; neben der äußeren Welt muß auch die innere, es müssen die Bewußtseinserscheinungen und ihre Ursachen, die Gesetze des künstlerischen Schaffens und des sittlichen Handelns, das Wesen und die Formen des menschlichen Gemeinlebens betrachtet, es muß nach den allgemeinsten Ursachen und den letzten Gründen der Dinge gefragt werden. Es scheint auch wirklich, daß dieses Bedürfnis bereits wieder lebhafter gefühlt werde, als dieses noch vor wenigen Jahren der Fall war und unsere Wissenschaft müßte allen ihren Überlieferungen untreu werden, wenn es sich nicht über kurz oder lang aufs neue in nachhaltiger Weise geltend machen und zu einer allgemeineren Wiederaufnahme der philosophischen Arbeit führen sollte, der sich dann fortwährend zahlreiche und achtenswerte Kräfte gewidmet haben. Aber die Wege, welche die deutsche Philosophie für die Zukunft einschlägt, werden allerdings mit denen, auf welchen sie sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bewegte, nicht durchaus zusammenfallen können.

Die Schwäche wie die Stärke der neueren deutschen Philosophie liegt in ihrem Idealismus. Es war eine epochemachende wissenschaftliche Tat, als IMMANUEL KANT die Gesetze unseres Vorstellens und Handelns im menschlichen Geist aufsuchte; aber indem er die Dinge als solche für schlechthin unerkennbar erklärte, legte er den Grund zu dem subjektiven Idealismus, welchen *FICHTE aus dieser Voraussetzung mit rücksichtsloser Folgerichtigkeit ableitete. SCHELLING und HEGEL sucht die Einseitigkeit des FICHTEschen Idealismus zu verbessern: statt des absoluten Ich erkannten sie im Absoluten schlechthin oder in der absoluten Idee, dem absoluten Geist, das Prinzip, aus dem alles zu erklären sei. Allein das Verfahren, dessen sie sich für diese Erklärung bedienten, war jene apriorische Konstruktion, welche in HEGELs dialektischer Begriffsentwicklung zur höchsten Vollendung und Meisterschaft kam. Was wir aber aus unseren Begriffen sollen entwickeln können, das muß unentwickelt schon in ihnen enthalten sein; und wenn die Entwicklung eine apriorische sein soll, so muß es unabhängig von der Erfahrung in ihr enthalten, im menschlichen Geist als solchem ursprünglich gegeben sein. Die apriorische Konstruktion der Welt setzt daher voraus, daß dem menschlichen Geist die vollständige Kenntnis des Wirklichen wenigstens  implizit  vor aller Erfahrung innewohne, mag sie ihm auch immer erst an der Erfahrung zu Bewußtsein kommen. Wenn aber dieses, so ist die logische Deduktion das höhere gegen die *Erfahrung und es wird immer, nicht ohne prinzipielle Berechtigung, die Neigung vorhanden sein, die Empirie der spekulativen Konstruktion gegenüber zu vernachlässigen und ihr im Zweifelsfall gegen jene Unrecht zu geben; es wird daher in der Behandlung der Natur wie der Geschichte nie an jener Gewaltsamkeit, Unkritik und Künstelei fehlen, von welcher noch kein System freiblieb, das diesen apriorischen Weg einschlug. Wird nun auch bei diesem Verfahren die *Realität der Außenwelt* nicht geleugnet, so wird sie doch aus dem Denken heraus konstruiert, welches als ein apriorisches, von der Erfahrung unabhängiges,nur das subjektive Denken des Philosophen sein kann. Wir haben daher in diesem Fall zwar nicht mehr den vollen Idealismus der FICHTEschen Wissenschaftslehre, aber die Einseitigkeit dieses Idealismus ist doch ebensowenig vollständig überwunden: ein Verfahren, welches sich aus der Voraussetzung, die ganze objektive Welt sei ein Erzeugnis des Ich, eine Abspiegelung des Bewußtseins, ganz folgerichtig ergab, wird festgehalten, wiewohl man diese Voraussetzung selbst aufgegeben hat. Wie schwer es aber der Philosophie seit KANT überhaupt wurde, sich von dieser idealistischen Einseitigkeit zu befreien, sehen wir am deutlichsten daran, daß auch solche, die dem Idealismus grundsätzlich entgegentreten, wie *HERBART, doch tatsächlich immer wieder in ihn zurückfallen. Denn auch dieser Philosoph operiert, wenn man näher zusieht, gegen die Erfahrungsbegriffe mit durchaus apriorischen Voraussetzungen und so wenig es in seiner Absicht liegt, müßte sich ihm doch schließlich alles Gegebene noch in ganz anderer Weise, als einem KANT, in eine subjektive Erscheinung, eine  zufällige  Ansicht" auflösen, für die er allerdings das Subjekt, in dem sie sich bilden könnte, durch seine metaphysischen Annahmen gleichfalls in Frage gestellt hat.

Im Gegensatz zu den apriorischen Konstruktionen der meisten Philosophen seit FICHTE ist in den letzten Jahrzehnten von den verschiedensten Seiten her verlangt worden, daß die Philosophie Erfahrungswissenschaft werde; im Gegensatz zu ihrem Idealismus ist die Forderung einer realistischen Weltansich aufgestellt worden. Und wer könnte der einen wie der anderen von diesen Forderungen, sobald sie richtig verstanden werden, ihre Berechtigung bestreiten oder ihren Zusammenhang mit dem Geist und den Bestrebungen der Gegenwart verkennen? Wenn der Philosoph seine Begriff nicht durch ein apriorisches Verfahren finden kann, so muß er sie aus der Erfahrung, der Welt- und Selbstbeobachtung herleiten; wenn er das Wirkliche erkennen will, so muß er es so, wie es ist, in seiner vollen Realität auffassen und darf es nicht aus seinem eigenen Geist heraus konstruieren oder ausdeuten. Indem die Philosophie das erkannt hat, folgt sie nur einem Zug, der durch unsere ganze Zeit geht und es ist nicht bloß der Vorgang der Erfahrungswissenschaften, der sie auf diesen Weg hinweist, sondern der *Realismus, dem sich unsere Wissenschaft zugewandt hat, steht unverkennbar mit dem ganzen Umschwung und Aufschwung unseres nationalen Lebens in einem inneren Zusammenhang. Nachdem Deutschland so lange zwar die geistigen Bestrebungen in *Religion, *Wissenschaft und *Kunst eifrig gepflegt hatte, aber in allem, was seine materiellen Interessen betraf, hinter anderen Völkern zurückgeblieben war, hat sich in den letzten Jahrzehnten hierin eine Änderung vollzogen, wie sie kaum größer und eingreifender gedacht werden konnte. Die Erwerbstätigkeit hat eine Ausdehnung gewonnen, deren Grenzen noch lange nicht erreicht zu sein scheinen; und auf dem staatlichen Gebiet ist es unserem Volk gelungen, sich nach langer Zersplitterung und Ohnmacht zu einer freien und einheitlichen Ordnung seines Gemeinwesens durchzuarbeiten und Erfolge zu erringen, deren Glanz uns blenden könnte, wenn nicht die Erhaltung und Vollendung des Begonnenen fortwährend unsere volle Kraft zu angestrengter und hingebungsvoller Arbeit in Anspruch nähme. Wo nicht bloß der Wettkampf um *Besitz und *Gewinn, wo auch der Ernst und die Notwendigkeit des politischen Lebens ein Volk so gebieterisch und so durchgreifend auf die unmittelbare Gegenwart, auf die Beobachtung und Gestaltung der realen Verhältnisse hinweist, da wird auch seine Wissenschaft das Bedürfnis empfinden, sich auf dem sicheren Grund der Erfahrung zu erbauen, sich unter sorgsamer Beachtung der realen Vorgänge und Zusammenhänge zu einem möglichst treuen und vollständigen Bild der wirklichen Welt zu gestalten, da wird sich auch in ihr der Realismus, der in der ganzen Atmosphäre der Zeit liegt, ausprägen.

Aber je unumwundener wir die Notwendigkeit anerkennen, den deutschen Idealismus, so wie sich dieser seit KANT ausgebildet hat, zu berichtigen und zu ergänzen, um so dringender tritt auch die Mahnung an uns heran, die Güter, welche wir diesem Idealismus verdanken, nicht zu verschleudern, die Wahrheiten, die er ans Licht gebracht hat, nicht unbenützt zu lassen. Es stände schlimm um unser Volk, wenn es jemals vergessen könnte, wo die tiefsten Wurzeln seiner Kraft liegen; wenn es vergäße, daß durch die weltgeschichtliche Tat der Reformation in das Innerste des deutschen Gemüts die Keime eingesenkt wurden, aus denen alles emporwuchs, was ihm seitdem Großes gelungen ist; daß die geistige Arbeit unserer Dichter und Denker, die sittliche Arbeit in der Familie, der Kirche und der Schule zu den Erfolgen des deutschen Schwertes und der deutschen Staatskunst den Grund gelegt hat. Es stände schlimm um die deutsche Philosophie, wenn sie meinte, ein KANT und FICHTE, ein SCHELLING und ein HEGEL lassen sich aus ihrer Geschichte auslöschen; wenn sie ihre eigene Vergangenheit verleugnen wollte, statt von derselben zu lernen und die wissenschaftlichen Gedanken, welche sie uns hinterlassen hat, in treuer Arbeit fortzubilden. Wir bedürfen der Rückkehr zur Erfahrung; wir müssen es anerkennen, daß all unser Wissen auf der Wahrnehmung realer Vorgänge beruth, die sich teils in uns teils außer uns vollziehen. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, was KANT für alle Zeiten festgestellt hat: daß die Erfahrung selbst durch unsere eigene Tätigkeit vermittelt und bedingt ist, daß sie uns zunächst nur  Erscheinungen  liefert, deren Beschaffenheit nur zu einem Teil vom objektiven Geschehen, zum anderen von der Natur und den Gesetzen des vorstellenden Geistes abhängt; wir dürfen uns daher auch der Untersuchung dieser Gesetze und der Beantwortung der Frage nicht entziehen, ob es überhaupt möglich ist und auf welchem Weg es uns gelingen kann, von unseren Vorstellungen zu den Dingen, von den Erscheinungen zum Wesen und den Ursachen vorzudringen; wir müssen mit  einem  Wort das subjektive, ideale Element unserer Vorstellungen ebensosehr anerkennen, wie das objektive und aufgrund dieser Anerkennung ihr Verhältnis wissenschaftlich zu bestimmen versuchen. Wir sollen die Dinge so auffassen, wie sie sind, wir sollen ihnen nicht unsere Gedanken und Phantasien unterschieben, unsere Philosophie soll Realismus, soll ein Abbild der Wirklichkeit sein. Aber wenn sie die Dinge darstellen will, wie sie sind, wird sie sich nicht damit begnügen dürfen, sie darzustellen, wie sie  erscheinen;  sie muß also vom Wahrgenommenen auf das zurückgehen, was sich der *Wahrnehmung entzieht, auf das Wesen der Dinge, die Ursachen der Erscheinung; und welche Bestandteile der letzteren zu ihrem Wesen gehören, ob z. B. die Raumerfüllung eine ursprüngliche Eigenschaft der realen Wesen ist, das wird für sie ein Problem sein, welches sich nur durch wissenschaftliche Untersuchung, nicht durch eine dogmatische Voraussetzung entscheiden läßt. Unsere Philosophie soll sich, soweit es die Natur ihrer Gegenstände erlaubt, das genaue Verfahren der Naturwissenschaften zum Muster nehmen. Aber gerade deshalb darf sie nicht vor aller Untersuchung voraussetzen, daß die Vorgänge in unserem Inneren aus Ursachen derselben Art herzuleiten seien, wie die in der Körperwelt; sie darf den geistigen Gehalt des menschlichen Lebens nicht ignorieren, das Wesen und die Bestimmung des Menschen nicht nach der Analogie solcher Wesen beurteilen, die sich vom Menschen gerade durch die Abwesenheit dieses höheren Lebens unterscheiden; sie darf es nicht unterlassen, nach der einheitlichen Ursache zu fragen, aus welcher sich allein die Wechselwirkung aller Dinge und die Harmonie alles Seins erklären läßt. Der philosophische Realismus führt so durch sich selbst, sobald man mit ihm Ernst macht, zu einem Standpunkt, den man ebensogut idealistisch nennen kann. Realismus und Idealismus sind keine absoluten Gegensätze, sondern sie bezeichnen nur die Richtpunkte, welches das philosophische Denken gleichzeitig und gleich fest im Auge behalten muß, wenn es weder den festen Boden der Wirklichkeit verlieren, noch die Erscheinung mit dem Wesen verwechseln will.

Zu welchen Ergebnissen nun eine Philosophie kommen werde, die in diesem Sinn arbeitet, läßt sich nur im Zusammenhang ihrer Untersuchungen selbst angeben. Philosophische Wahrheiten sind noch weniger, als alle anderen, eine Münze, die mit fertigem Gepräge von einer Hand in die andere übergehen könnte; sie lassen sich nur in und mit der Denktätigkeit durch die sie gefunden werden, mitteilen. Der Zweck des philosophischen Unterrichts ist daher, wie das schon KANT so treffend ausgedrückt hat, nicht der, daß man  Philosophie  lerne, sondern daß man  philosophieren  lerne. Ebendeshalb aber ist es für jeden, der sich in der philosophischen Forschung selbständig bewegen will, so unerläßlich, daß er sich nicht bloß einem einzigen Führer unbedingt anvertraue, nicht bloß  eine  Ansicht höre, sondern sich mit allem, was im Laufe der Zeit auf diesem Gebiet geleistet worden ist, möglichst genau und vollständig bekannt mache; und hierauf beruth die Hilf, welche die Philosophie von  der  Wissenschaft erhält, mit der wir uns in der gegenwärtigen Vorlesung beschäftigen werden, von der  Geschichte der Philosophie.  es ist das allerdings nicht das einzige, worauf der Wert und die Bedeutung dieser Wissenschaft beruth; sondern es ist auch abgesehen davon an sich selbst eine anziehende und würdige Aufgabe für den denkenden Geist, in seine Vergangenheit zurückzublicken und den Weg kennen zu lernen, auf dem er das wurde, was er jetzt ist. Aber zugleich gewährt ihm diese geschichtliche Selbsterkenntnis den unschätzbaren Vorteil, daß er sich durch sie über seine wissenschaftlichen Aufgaben und über die Mittel zu ihrer Lösung orientiert. Das freilich wäre eine seltsame und verkehrte Vorstellung, wenn man meinte, wir dürfen nur in die Geschichte zurückgreifen, um in ihr die Wahrheit fertig zu finden, an die wir uns selbst zu halten haben: die Geschichte der Philosophie sei gleichsam ein Magazin, aus dem sich jeder für seinen Bedarf mit philosophischen Sätzen versehen kann. Wer in dieser Weise von seinen Vorgängern lernen wollte, der müßte doch immer imstande sein, zu beurteilen, was an ihren Ansichten wahr oder falsch ist: d. h. er müßte das Wissen, welches er bei ihnen sucht, schon zu ihnen mitbringen. Allein philosophische Überzeugungen erwirbt man, wie ich bereits bemerkt habe, überhaupt nicht auf diesem äußerlichen und mechanischen Weg: sie wollen durch eigenes Denken erarbeitet, eigenartig gebildet, in den Zusammenhang einer umfassenden Weltansicht aufgenommen sein.

Aber trotzdem kann uns die Geschichte der Philosopie, richtig behandelt, in unserem eigenen Philosopieren leiten und belehren. Sie zeigt uns Schritt für Schritt das Hervortreten der philosophischen Probleme; sie macht uns mit den Wegen bekannt, welche zur Lösung derselben eingeschlagen wurden; sie unterrichtet uns einerseits über die Gründe, auf die sich jede Annahme stützte und über den inneren Zusammenhang, der von der einen zur anderen forttrieb, andererseits aber auch über diejenigen Konsequenzen der verschiedenen Standpunkte, durch welche sie selbst widerlegt wurden, die Notwendigkeit ihrer Berichtigung und Ergänzung zu Bewußtsein gebracht wurde; und sie setzt uns dadurch in den Stand, das Gebiet, auf dem sich unsere Untersuchungen bewegen, vollständig zu übersehen, Einseitigkeiten und Irrtümer, die sich als solche herausgestellt haben, zu vermeiden, die Tragweite jedes Satzes zu berechnen, die Richtung, welche der Forschung durch ihren bisherigen Gang vorgeschrieben ist, zu bestimmen. Die Geschichte der Philosophie ist zugleich die Darstellung und die Kritik ihrer sämtlichen Leistungen; je vollständiger und genauer wir uns mit ihr bekannt gemacht haben, umso besser ausgerüstet werden wir an die philosophische Untersuchung herantreten.

So wichtig aber die Geschichte der Philosohie nach dieser Seite für die systematische Philosophie selbst ist, so müssen doch beide in der wissenschaftlichen Darstellung und namentlich im Lehrvortrag, unterschieden werden. Der *Geschichtsschreiber soll uns ein möglichst treues und vollständiges Bild dessen geben, was geschehen ist. Zu dieser Treue und Vollständigkeit gehört nun allerdings auch das, daß er nicht bei den einzelnen Erscheinungen, dem, was man allein Tatsachen zu nennen pflegt, stehen bleibt, sondern er soll uns zugleich in ihren Zusammenhang einführen, uns über die Ursachen dessen, was geschehen ist, die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Verlaufes belehren. Der Geschichtschreiber der Philosophie kann daher seiner Aufgabe nicht genügen, wenn er nicht zeigt, welche Gründe jede philosophische Lehrbestimmung hervorgerufen haben, in welcher Art die Elemente der einzelnen Systeme miteinander verknüpft sind, inwiefern eine Annahme durch die andere gefordert und bedingt ist, worauf es beruth, daß die Wissenschaft einer Zeit einen bestimmten Standpunkt festhielt oder über denselben zu neuen Bildungen hinausging; und da nun das letztere in erster Reihe teils von der inneren Folgerichtigkeit der Systeme, teils von ihrem Verhältnis zum sonstigen Wissen und Streben ihrer Zeit abhängt, so kann sich der Historiker freilich einer kritischen Würdigung der Systeme, die er darstellt, nicht entziehen. Aber als Historiker hat er diese Kritik nur in dem Maße zu üben, wie sie sich im geschichtlichen Verlauf als solchem vollzogen hat; wir wollen von ihm nicht erfahren, was ihm selbst an jedem System gefällt oder mißfällt, sondern was denen, die sich demselben anschlossen, gefallen, denen, die ihm widersprachen oder es zu verbessern suchten, mißfallen hat; wir wollen durch ihn zu Zuschauern der geschichtlichen Bewegung gemacht werden. Die Reinheit dieser Betrachtung wird gestört, die Unbefangenheit der historischen Stimmung und Auffassung wird getrübt, wenn der Geschichtschreiber selbst immer wieder das Wort nimmt, um uns seine Meinung über den Wert oder Unwert der Systeme, die er darstellt, auseinanderzusetzen. Auch hier muß vielmehr eine gewisse Arbeitsteilung stattfinden. Die Geschichtsdarstellung ist eines, die philosophische Verwertung ihrer Ergebnisse ein anderes. Die gegenwärtige Vorlesung hat es nun nur mit der ersteren zu tun, aber wenn es ihr gelingen sollte, Ihnen von der bisherigen Entwicklung des Denkens eine lebendige Anschauung zu verschaffen, so ist zu hoffen, daß diese Betrachtung der Geschichte auch die Lust zur selbständigen Beschäftigung mit philosophischen Untersuchungen in Ihnen verstärken und Ihnen für dieselben nach allen Seiten eine wirksame Unterstützung gewähren werde.
LITERATUR - Eduard Zeller, Über die gegenwärtige Stellung und Aufgabe der deutschen Philosophie, Vortrag bei der Eröffnung der Vorlesungen über Geschichte der Philosophie den 24. Oktober 1872 zu Berlin gehalten, in "Vorträge und Abhandlungen", zweite Sammlung, Leipzig 1877