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JÜRGEN BONA MEYER
Kants Psychologie

"Schopenhauer behauptet, wir hätten keinen Grund, bei der wichtigsten und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnisquellen, innere und äußere Erfahrung, uns zu verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operieren. Die Aufgabe der Metaphysik sei nicht, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund auf zu verstehen, indem Erfahrung, äußere und innere, allerdings die Hauptquelle der Erkenntnis ist. Daher ist nur durch die gehörige und am rechten Punkt vollzogene Anknüpfung der äußeren Erfahrung an die innere, und die dadurch zustande gebrachte Verbindung dieser zwei so heterogenen Erkenntnisquellen die Lösung des Rätsels der Welt möglich."

"Die wahren Tatsachen des Bewußtseins sind die ganz individuellen und momentanen inneren Ereignisse im Gemüt eines Jeden; diese können nicht nur schlechterdings nicht vollständig angegeben werden, sondern sie verdunkeln sich ohne Ausnahme schon während der Auffassung, so daß alle innere Wahrnehmung nur Bruchstücke liefern kann, die umso mehr verstümmelt ausfallen, je absichtlicher die Selbstbeobachtung ist."


V o r w o r t

Was meine Arbeit über KANTs Psychologie will und in welchem doppelten, zugleich historischen und spekulativen, Interesse sie unternommen ist, habe ich kurz in der Einleitung ausgesprochen, welche auch am Schluß den Gang der Untersuchung in den einzelnen Abschnitten bezeichnet. Über den besonderen Inhalt dieser Abschnitte gibt das ausführliche Inhaltsverzeichnis eine vorläufige Übersicht. Die Ergebnisse meiner Betrachtung habe ich überall am Ende jeden Abschnitts oder am Beginn des folgenden kurz zusammengefaßt und überdies am Schluß der ganzen Arbeit dieselben noch einmal übersichtlich zusammengestellt. Wo es sich in meiner Arbeit um die Darstellung fremder Ansicht handelt, habe ich Jeden zuerst möglichst selbst reden lassen, und mir erst dann erlaubt, wo es möglich und förderlich schien, diese Ansichten einfacher und verständlicher auszudrücken. Diese Behandlungsart mußte allerdings mein Buch umfangreicher machen, aber, wie ich hoffe, nicht zur Beschwerde des gewissenhaften Lesers. Bei dieser Art erspare ich Jedem die Mühe nachzuschlagen, ob irgendeiner der besprochenen Philosophen das wirklich gesagt hat, was ich ihn sagen lasse; ich gebe einem Jeden zum vollen Urteil darüber das Material selbst zur Hand. Meine Studien haben mich gegen Zitate ohne Ausführung und gegen komprimierte Darstellungen fremder Ansichten im Allgemeinen so mißtrauisch gemacht, daß ich für die historischen Partien meines Buches eine andere als die gewählte Darstellungsart mir nicht erlauben konnte und wollte. Auch wird meine Arbeit selbst an wesentlichen Punkten ihrer historischen Abschnitte über KANTs Stellung zur Psychologie seiner Zeit zu zeigen Gelegenheit haben, wie irrige Ansichten seiner Zeit zu zeigen Gelegenheit haben, wie irrige Ansichten sich durch Unterlassung einer solchen Genauigkeit festsetzen konnten. Dabei habe ich Sorge getragen diese historischen Erörterungen von den spekulativen zu sondern, um das Nachdenken über die Probleme selbst nicht durch Berufungen und Berichtigungen äußerer Art zu beeinträchtigen. Schon das Inhaltsverzeichnis kann über diese Sonderung eine vorläufige Auskunft geben. Hoffentlich sichert diese Behandlungsart meiner Arbeit den Charakter einer gewissenhaften Forschung. In der Sache hoffe ich durch sie zugleich dem richtigen Verständnis KANTs und dem spekulativen Fortschritt der Psychologie zu dienen.

Der sechste Abschnitt dieser Arbeit hat bereits als Habilitationsschrift bei der Übernahme meines jetzigen Amtes eine begrenzte Verbreitung gefunden. Derselbe hat jetzt eine wesentliche Ergänzung erfahren in der Besprechung des Schlusses von der Einheit des Selbstbewußtseins auf die Simplizität und Immaterialität der Seele sowie in der Darstellung und Prüfung der Lehre vom inneren Sinn.

Kants Werke sind nach der Ausgabe von ROSENKRANZ und SCHUBERT zitiert.



Einleitung

In einem Stadium ruhiger Selbstbesinnung, in welchem sich die Wissenschaft der Philosophie nach ihrer letzten Sturm- und Drangperiode gegenwärtig befindet, sind Rückblicke auf KANT, den Urheber dieser letzten Bewegung, besonders am Platz. Die kühnen Fahrten, welche die Philosophen nach KANT seiner Warnung zuwider auf den offenen Ozean der Spekulation gewagt haben, sind nicht von dauernd glücklichem Erfolg gewesen. Sie alle waren zwar bestimmt, neues festes Land zu entdecken, ihre Unternehmer glaubten auch solches entdeckt zu haben; aber die angeblich neuen Länder erwiesen sich bald als längst bekannte und wegen ihrer Unfruchtbarkeit ehedem schon verlassene. Nur in einzelnen dieser Länder wurde trotzdem abermals eine festere Ansiedlung versucht. Groß indessen ist die Bevölkerung nirgends geworden, und an einem lebhaften Verkehr der verschiedenen Völker miteinander fehlt es gänzlich. Sie treiben ihren Handel und Wandel für sich und berühren einander nur bisweilen im Kampf gegen gemeinsame Feinde. Diese neuen philosophischen Ansiedler haben nämlich bei aller Divergenz unter einander durch ihren Ausgang aus der Philosophie KANTs doch einen gemeinsamen Grundzug des Idealismus beibehalten, der sie zum Kampf gegen den Materialismus und philosophischen Indifferentismus verbündet. Sie alle anerkennen selbst den Wert dieser gemeinsamen Abstammung, rechten aber hart miteinander über die Grade oder die Reinheit dieser Blutsverwandtschaft. Mit Grund sagt KUNO FISCHER (in seiner akademischen Rede "Die beiden kantischen Schulen", 1862:
    "Es gibt keinen namhaften Denker seit Kant, der die eigene Lehre nicht mit der kantischen auseinandergesetzt, nicht aus dieser, sei es durch Fortbildung oder Entgegensetzung abgeleitet hätte; keinen, der nicht den Beweis hätte führen wollen, daß die kantische Lehre, richtig verstanden und unabhängig beurteilt, geraden Weges zu der seinigen führt."
Schon der Streit über die Berechtigung dieser Ableitung der verschiedenen Richtungen aus der kantischen Philosophie hat es notwendig gemacht, daß mit stets erneuter Kraft ein unbefangenes Verständnis dieser Philosophie gesucht worden ist. Wer die Natur philosophischer Diffenerenzen kennt, wird sich ferner darüber nicht wundern, daß es noch jetzt nicht nur an einem geeinten Urteil über KANT, sondern selbst an einer geeinten Auslegung seiner Ansicht in den Hauptpunkten fehlt.

Insofern derartige Streitfragen nur von einem Interesse historischer Genauigkeit aufgeworfen und erwogen werden, darf der Fortschritt der philosophischen Spekulation schwerlich viel von ihnen erwarten. Unsere Zeit hat die vorwiegend historische Betreibung der Philosophie hinreichend kennen zu lernen Gelegenheit gehabt, um den Gedanken aufkommen zu lassen, es möge nunmehr wiederum an der Zeit sein auf dem Boden neu errungenen Wissens den Problemen selber ins Auge zu sehen. Dieses Verlangen halte ich für so berechtigt, daß selbst ein Rückblick auf den wichtigsten Philosophen der Neuzeit, auf KANT, mir nicht als zeitgemäß erscheinen würde, wenn nur das Interesse historischer Verständigung eine solche Untersuchung veranlassen würden. Es gibt aber derartige Fragen, die mit dem spekulativen Fortschritt unserer Wissenschaft so eng zusammenhängen, daß die Entscheidung über die Auffassung KANTs zugleich eine Entscheidung über die einzuschlagenden Wege der Forschung selber ist. Bei solchen Fragen lohnt es sich wohl die Klarheit über das Problem in der Verständigung über KANT zu suchen. Zu solchen Fragen nun gehört entschieden die Frage über das Verhältnis der kantischen Philosophie zur Psychologie, und aus diesem Grund mache ich die viel besprochene, aber doch noch unerledigte Frage zum Gegenstand dieser eingehenden Arbeit.

Meine Untersuchung wird folgenden Gang nehmen:
    I. wird aus einem historischen Rückblick auf die verschiedenen Ansichten über das Verhältnis der Philosophie Kants zur Psychologie die Notwendigkeit einer abermaligen Erörterung und endgültigen Entscheidung der Streitfrage dargetan werden.

    II. wird gezeigt werden, welche Stellung Kant selbst der Aufgabe der Vernunftkritik im System der philosophischen Disziplinen anweist, um dadurch das Urteil über die metaphysische oder psychologische Natur des Kritizismus vorzubereiten.

    III. wird die psychologische Grundlage der drei Kritiken Kants, auch die psychologische Entdeckungsgeschichte dieser Grundlage dargelegt und sodann durch eine Erörterung des Problems der Seelenvermögen diese Grundlage psychologisch gerechtfertigt werden, soweit nicht Irrtümer Kants zu einer Berichtigung auffordern.

    IV. wird die psychologische Methode des Kritizismus durch alle drei Kritiken verfolgt, und die besonders von Fries aufgestellte Behauptung gerechtfertigt werden, daß das Apriori auf dem Weg psychologischer Reflexion entdeckt wurde.

    V. wird erklärt werden, in welchem Sinn Kants Abweisung der psychologischen Empirie von Metaphysik, Logik und Ethik zu verstehen ist, sodann soll unter Berücksichtigung der in Betracht kommenden philosophischen Kritiker Kants untersucht werden, wie weit diese Abweisung berechtigt, wie weit unberechtigt ist.

    VI. endlich soll im Zusammenhang KANTs Ansicht über die Psychologie als Wissenschaft nach ihrer rationalen wie nach ihrer empirischen Seite dargestellt und beurteilt werden, was von selbst zu einigen Schlußbetrachtungen über die gegenwärtigen Bedürfnisse für die Zukunft dieser Wissenschaft führen wird.

Erster Abschnitt
Historischer Rückblick auf die verschiedenen
Ansichten über das Verhältnis der Philosophie
Kants zur Psychologie

Die Frage nach der psychologischen Natur und Grundlage des kantischen Kritizismus ist neuerdings wieder angeregt worden durch KUNO FISCHERs Rede "Über die beiden kantischen Schulen in Jena", als welche hier die durch REINHOLD, FICHTE, SCHELLING und HEGEL vertretene Identitätsphilosophie einerseits, und die durch FRIES eingeschlagene psychologisch-anthropologische Richtung andererseits betrachtet werden.
    "Die Frage" - sagt Fischer - "ob die Vernunftkritik metaphysisch oder anthropologisch sein soll, ist ein echtes, in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Philosophie seit Kant unvermeidliches Problem."
FRIES wird unter den Anhängern KANTs als derjenige hervorgehoben, der insbesondere bemüht gewesen ist, die psychologisch-anthropologische Natur der kantischen Philosophie darzulegen und zu entwickeln. Auch in dem kürzlich erschienenen fünften Band seiner Geschichte der neueren Philosophie hebt FISCHER in derselben Weise FRIES hervor.
    "Die psychologische Fortbildung und Erneuerung der kantischen Kritik, diese sogenannte anthropologische Kritik, findet ihre hauptsächliche Darstellung in Fries und den Seinigen."
Die Berechtigung zu dieser Auffassung KANTs und die Möglichkeit der durch FRIES beabsichtigten Entwicklung bestreitet KUNO FISCHER. Daß die Vernunftkritik im Sinne KANTs nicht anthropologisch sein sollte, scheint ihm ausgemacht. Gerade darin soll die Differenz zwischen KANT und FRIES bestehen, daß KANT die psychologisch-anthropologische Grundlage seiner Kritik abgewiesen hat, FRIES aber sie behauptete, gerade aus dieser Differenz soll die Notwendigkeit für FRIES entsprungen sein die Vernunftkritik in seinem Sinn zu erneuern. Die Frage stellt sich demnach für KUNO FISCHER nur so: ob KANT ein Recht hatte, die psychologische Grundlage seiner Kritik abzuweisen oder ob FRIES im Recht war, wenn er diese Grundlage als notwendig vorhandene zu erweisen unternahm. Nach FISCHERs Ansicht soll KANTs Vernunftkritik auf einer psychologisch-anthropologischen Grundlage nicht ruhen können, die von FRIES und Anderen gewünschte und versuchte Entwicklung oder Ergänzung also nicht vertragen.
    "Kant und Fichte - so meint Fischer - "wußten wohl, warum jener seine Kritik, dieser seine Wissenschaftslehre durchaus nicht wollten als Psychologie gelten lassen. Waren ihre Einsichten nur psychologisch und darum nur empirisch, so waren in demselben Augenblick die Objekte dieser Einsichten nicht mehr ursprünglich und damit hatte das Unternehmen beider Philosophen seinen Sinn verloren."
Die Selbstbeobachtung kann doch nur das eigene Ich erfassen, gelange somit nie zu Resultaten, welche die Kennzeichen der apriorischen Gewißheit, Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, an sich tragen. KUNO FISCHER gibt natürlich zu, daß unsere ursprünglichen Vernunftäußerungen, daß die Anschauungen von Raum und Zeit, Begriffe wie Kausalität u. a. zunächst auf dem Weg der Erfahrung und Selbstbeobachtung von uns gewonnen sind, daß wir auf diesem Weg zuerst derselben inne werden. Aber Eines - meint er - kann auf diesem Weg niemals entdeckt werden: nämlich, daß jene Vernunftäußerungen, es seien Anschauungen oder Begriffe, a priori sind. Was a priori ist, kann nie a posteriori erkannt werden. Wenn im Gegenteil FRIES der Meinung ist, was die Vernunftkritik entdeckt, ist a priori [von Vornherein - wp], aber die Entdeckung selbst sei a posteriori [im Nachhinein - wp], so liege darin das proton pseudos [erster Irrtum, erste Lüge - wp] der friesischen Philosophie.
    "Wenn nun die Vernunftkritik bloß psychologisch und darum lediglich empirisch ist", ruft er aus, " wie können die Objekte ihrer Einsicht a priori sein? Das möchte ich mir gern deutlich machen lassen."
Auch in der 1865 erschienenen zweiten Auflage seines "Systems der Logik und Metaphysik", § 55, Seite 112 erklärt FISCHER diesen Gesichtspunkt von FRIES, so einleuchtend und zutreffen er scheint, doch für unmöglich.
    "Sind die Kategorien Objekte einer psychologischen Einsicht, so sind sie Erfahrungsobjekte, so gilt von ihnen, was von allen Erfahrungsobjekten ohne Ausnahme gilt. Kein Erfahrungsobjekt ist allgemein und notwendig; wenigstens läßt sich diese Beschaffenheit durch Erfahrung nie einsehen. Sind also die Kategorien bloß Erfahrungsobjekte, so sind sie weder allgemein noch notwendig, dürfen wenigstens als solche nicht angesehen werden, solange sie als Erfahrungsobjekte gelten: so sind sie nicht a priori, also überhaupt nicht Kategorien. Was bleibt übrig? Nichts bleibt von der Bedeutung, auf welche die kantische Kritik alles Gewicht legt."
Neuerdings hat LIEBMANN in seiner Schrift "Kant und die Epigonen", 1865, Seite 151 die Summe seiner Urteile über FRIES' Verhältnis zu KANT in der Wiederholung der Worte KUNO FISCHERs zusammengefaßt. Die eigentliche Tendenz der kantischen Kritik für eine psychologische zu halten, erklärt derselbe für das ärgeste Mißverständnis, das ihr widerfahren kann. FRIES' Versuch, die kantische Philosophie in diesem Sinn zu korrigieren, gilt ihm als Rückfall in den Empirismus LOCKEs. -

In ähnlicher Weise hatte schon früher ULRICI in seinem "Grundprinzip der Philosophie", Teil 1, 1845 die Unmöglichkeit einer psychologischen Grundlage der Vernunftkritik zu erweisen versucht.
    "Locke", sagt er daselbst Seite 300, "rechnete die Erkenntnis der Tatsachen des Bewußtseins zur inneren Erfahrung. Wollte KANT jene Tatsachen ebenfalls auf diese innere Erfahrung stützen; so würden sie nach seiner eigenen Begriffsbestimmung daraus ohne alle Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, folglich ohne alle philosophische Berechtigung sein. Nach Kants eigenen Behauptungen können folglich jene Tatsachen, auf denen seine ganze Philosophie ruht, als Tatsachen nicht a priori und als a priori nicht Tatsachen sein."
Die entgegengesetzte Ansicht über die Grundlage der Vernunftkritik soll nach FRIES schon vor ihm der Kantianer CARL CHRISTIAN ERHARD SCHMID geäußert haben. FRIES erinnert an diesen seinen Vorgänger in der Vorrede zur "Neuen Kritik der Vernunft", Bd. 1, Seite XXXVII:
    "Erhard Schmid bemerkte sehr früh, daß der Knoten der Kritik eigentlich in der Anthropologie gelöst werden müsse, aber das allgemeine Vorurteil ließ ihn nicht zu Wort kommen."
Auch F. A. C. CARUS in seiner "Geschichte der Psychologie" (1808) Seite 694 nennt den Geist der kritischen Philosophie psychologisch, schon weil kritisch.
    "Als kritische Philosophie zeigt sie, auf welchem Weg die Wahrheit nicht zu finden ist; da sie aber einen inneren Leitfaden andeutete, so war in ihr ein Beitrag zur menschlichen Selbstverständigung enthalten, wie man ich vorher nie gehabt hatte. Kants Untersuchungen gingen daher vom Menschen aus. Seine Vernunftkritik hatte eine ganz psychologische Grundlage, von der sogar ihr Gelingen abhing. Sie behandelte daher fast in allen ihren Teilen zugleich psychologische Gegenstände."
In einem ähnlichen Sinn behauptete REINHOLD in den von KANT selbst gut geheißenen "Briefen über die kantische Philosophie", Bd. 2 (1792), Seite 25,
    "der kritische Philosoph halte sich an die bloße Zergliederung der notwendigen und allgemeinen Gesetze der vorstellenden Kraft, die er durch Reflexion über die zur inneren Erfahrung gehörigen Tatsachen des Bewußtseins ohne sonderliche Mühe und ohne Gefahr mißverstanden zu werden entwickeln würde, wenn ihm nicht die schwankenden Begriffe, halbwahren Grundsätze und vieldeutigen Formeln, die seine Leser durch ihre bisherigen philosophischen Überzeugungen mit sich brächten, Hindernisse in den Weg legten."
REINHOLD konnte daher meinen im Geiste KANTs seine Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens zu entwickeln. Nach seiner Ansicht
    "gehören die Tatsachen des reinen Selbstbewußtseins, die sich nur durch Begriffe denken lassen, in deren Merkmalen von den äußeren Eindrücken abstrahiert werden muß, zu denen der inneren Erfahrung in wie fern dieselbe von der äußeren unabhängig und nur vom bloßen Subjekt abhängig ist." (siehe "Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen", Bd. 2, 1794, Seite 61)
Im Grunde hielt HERDER die psychologische Selbstbeobachtung ebenfalls für den eigentlichen, aber von KANT selbst verkannten Grundcharakter der Vernunftkritik, wenn er den Titel derselben tadelns sagt:
    "Das ungeziemende Wort Kritik der Vernunft verliert sich also in das anständigere wahre: Physiologie der menschlichen Erkenntnistkräfte." (Werke, Karlsruhe 1820: Zur Philosophie und Geschichte, Teil 14, Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, 1799, I, VII, 5. Seite 37)
Eine ausführliche philosophische Rechtfertigung und Entwicklung dieser Auffassung der kantischen Philosophie unternahm zuerst FRIES. Er wird daher als der klassische Autor für diesen ganzen Standpunkt des nur subjektiv begründeten Lockeanismus von J. H. FICHTE in seinen "Beiträgen zur Charakteristik der neueren Philosophie, 1828 (zweite Auflage 1841, Seite 350) bezeichnet.
    "Ihm ist es unstreitig gelungen", sagt ebenfalls Ernst Reinhold in seiner Geschichte der Philosophie, 5. Ausgabe 1858, Bd. 3, Seite 225, "in seiner Zergliederung der theoretischen und praktischen Vermögen des menschlichen Geistes sowohl diejenigen Voraussetzungen der Erkenntnistheorie seines Vorgängers, welche in der Tat derselben zugrunde liegen und worüber dieser sich unklar geblieben als das empirisch-psychologische Fundament des subjektiven Idealismus geltend zu machen, wie auch dieses System in allen Teilen zu einer vollständigeren und folgerichtigeren Ausführung zu erheben. Hierdurch hat er den wohlbegründeten Ruhm sich erworben, der ausgezeichnetste und verdienstvollste unter den der Richtung des Meisters im Wesentlichen treu gebliebenen Anhängern der Schule zu sein."
Wer FRIES für den bedeutendsten Repräsentanten dieser Auffassung hält, darf, sobald er ihn beurteilt, nicht mit LIEBMANN es "für weder nötig noch wünschenswert halten, den Gang seiner Untersuchungen genau im Einzelnen zu verfolgen." Vielmehr wird er die wissenschaftliche Notwendigkeit anerkennen, zunächst die Auffassung von FRIES selber eingehend darzustellen. Ich werde dieser Aufgabe in der Weise nachzukommen suchen, daß ich die in FRIES' "Neuer Kritik der Vernunft" enthaltenen Ansichten resumierend, doch möglichst mit FRIES eigenen Worten darstelle. FRIES schreibt nicht präzise, seine Ansichten lassen sich bündiger ausdrücken. Doch werde ich mich bemühen eine Zusammenfassung seiner Deduktionen nicht auf Kosten der Deutlichkeit vorzunehmen, und werde selbst einige Umständlichkeit und Wiederholung der Hauptsachen nicht scheuen, wenn dadurch der Gedankengang und die Grundansicht von FRIES bestimmter hervortreten könnte. Ich werde die Ansichten in direkter Rede zum Ausdruck bringen, ohne die Einmischung eigener Urteile oder Bemerkungen, und werde nur bisweilen durch ausdrückliche Nennung des Namens FRIES an diesen Charakter meiner Darstellung erinnern.

FRIES will durch seine Entwicklung des psychologischen Fundaments der Vernunftkritik zugleich diese über ihren eigenen Grundcharakter aufklären, er glaubt somit KANT selbst im Sinne KANTs zu berichtigen und zu verbessern. In diesem Sinn redet er vom "eigentümlichen kantischen Vorurteilt des Transzendentalen". (Neue Kritik der Vernunft, 1807, Bd. 1, Einleitung, Seite XXVII und XXXVf) "Kant spricht", heißt es da, "von transzendentalen Prinzipien im Gegensatz gegen metaphysische, hier sind die ersteren solche, die aus reinen Erkenntnissen a priori für sich bestehen, wogegen in den metaphysischen immer ein Begriff a priori auf einen durch Erfahrung erst zu gebenden angewandt wird. Wer hier genau vergleichen will, der wird bemerken, daß Kant mit seiner transzendentalen Erkenntnis eigentlich die psychologische oder besser anthropologische Erkenntnis meinte, wodurch wir einsehen, welche Erkenntnis a priori unsere Vernunft besitzt und wie sie ihr entspringt. Zum Beispiel der Grundsatz, daß jede Veränderung eine Ursache hat, ist metaphysisch, aber die Einsicht, daß sich dieser Grundsatz in unserem Verstand findet, und wie er angewendet werden muß, ist transzendental, und die Vernunftkritik unterscheidet sich eben darin von der Philosophie selbst, daß sie die transzendentale Erkenntnis enthält, dagegen letzterer die logische und metaphysische gehört.

    Kant aber machte den großen Fehler, daß er die transzendentale Erkenntnis für eine Art der Erkenntnis a priori und zwar der philosophischen hielt, und ihre empirische psychologische Natur verkannte. Dieser Fehler ist eine unvermeidliche Folge jenes andern, so eben von mir gerügten, daß er die philosophische Deduktion mit einer Art des Beweises verwechselte, die er transzendentalen Beweis nannte.

    Allerdings durfte er so auch nicht zugeben, daß seine transzendentale Erkenntnis empirisch ist, wenn er nicht Locke und Hume vollkommen Recht geben wollte. Denn wenn er seine Erkenntnis a priori aus dem transzendentalen Prinzip z. B. der Möglichkeit der Erfahrung beweist, so gründet er sie auf dieses, läßt sie aus ihm entspringen, und dieses also empirisch war, so ruhte seine ganze Erkenntnis a priori doch wieder auf empirischem Grund, und entspringt aus der Wahrnehmung.

    Für denjenigen, der sich diesen Mißgriff nicht verbessert, liegt im kantischen System ein unüberwindlicher Widersinn, indem durch die Apriorität der transzendentalen Erkenntnis, die innere Wahrnehmung selbst zur Erkenntnis a priori gemacht wird, und so anstatt des kantischen transzendentalen Idealismus ein absurder empirischer Idealismus heraus kommt, nach welchem das Ich nicht nur Selbstschöpfer seiner Welt, sondern sogar seiner selbst würde.

    Dieser Mißgriff ist Ursache, daß Kant das Wesen der Reflexion nie begriffen hat, und Sinn und Verstand nicht in einer Vernunft zu vereinigen vermochte. Er gab ihm den Widerwillen gegen empirische Psychologie und innere Selbstbeobachtung, welcher bei einigen seiner Schüler, z. B. bei Fichte, in eine wirkliche Aversion umschlug. - An diesem Vorurteil kränkelt jede bisherige Behandlung der Vernunftkritik, und die größten Fehler wurden alle durch die natürliche Folge desselben gemacht, daß man die innere Wahrnehmung für den Quell von Erkenntnissen a priori gehalten hat. Daher das unmittelbare Bewußtsein bei Reinhold und anderen, daher die fichtesche innere und intellektuelle Anschauung und der Rückschritt zum völligen dogmatischen Rationalismus bei Schelling.

    Ich werde diesem Fehler dadurch zu begegnen suchen, daß ich das subjektive, empirische, anthropologische Wesen der transzendentalen Erkenntnis ganz deutlich mache, und den Unterschied der Deduktion und des Beweises genauer angebe."
Was LOCKE, LEIBNIZ, HUME die Untersuchung des menschlichen Verstandes nannten, was den neueren Eklektikern die Aufgabe der empirischen Psychologie, KANT die der Vernunftkritik war, das will FRIES "philosophische Anthropologie" nennen. Das Gebiet derselben soll nur die innere Erfahrung sein, ihr Gegenstand der Mensch, so wie er sich innerlich kennt. Diese innere Naturlehre gilt ihm als die wahre Grunduntersuchung aller Philosophie; ihr Standpunkt als der einzige Standpunkt der Evidenz für spekulative Dinge. Die innere Geschichte des Erkennens selbst soll den Gegenstand der inneren Anthropologie bilden. Die vollständige Aufgabe, welche LOCKE der Spekulation geben wollte, wenn er sagte, sie soll zuerst den menschlichen Verstand untersuchen, um seine Kräfte kennen zu lernen, oder die Aufgabe, welche KANT nachher eine Kritik der Vernunft nannte - soll nichts anderes sein, als diese philosophische Anthropologie.
    "Unsere Untersuchung beginnt auf dem vorsichtig zu wählenden Standpunkt der empirischen Psychologie oder der inneren Selbstbeobachtung, wo wir uns hüten müssen, mit idealen, metaphysischen Voraussetzungen die reine Tatsache gleich anfangs zu trüben, wo wir aber doch nicht bei dem nur beschreibenden der Erfahrungslehre für diese und jene Klasse von Geistesvermögen und ihren vorkommenden Varietäten stehen bleiben, sondern wo wir diese reine Tatsache nur als Grund brauchen, von welchem eine vernünftige Induktion nach gut gewählten heuristischen Maximen ausgeht, um sich zu den allgemeinen Gesetzen unseres inneren Lebens, und somit zu einer physikalischen Theorie des Lebens rein nach seinen geistigen Verhältnissen zu erheben." -
Für diesen seinen Zweck findet FRIES die gehaltreichsten Vorarbeiten in KANTs Kritiken der Vernunft. Ihm zufolge läßt sich wohl behaupten, daß KANT der erste war, der die Idee dieser Wissenschaft in Rücksicht einer Übersicht des Ganzen gefunden hat, der erste, der sich so über die bloß beschreibende Psychologie erhoben hat. Als das, was ihn selbst aber nötigte die Arbeit KANTs einer gänzlichen Umarbeitung zu unterwerfen, bezeichnet FRIES die kantische Verkennung des inneren Sinns und des Wesens der Reflexion, deren Folgen sich bis ins Einzelne über das Ganze verbreitet.

Über diese Verhältnisse unserer Erkenntnis entwickelt nur FRIES zur Verbesserung KANTs folgende Ansichten (siehe a. a. O., Bd. I, Buch, 1. Abschnitt, 2c. Vom inneren Sinn; Buch 2, Abschnitt 2, Theorie der Reflexion; Bd. II, Buch 3, Kapitel 2, Höchste Gründe einer Theorie der Selbsttätigkeit im Erkennen. - Vgl. seine "Geschichte der Philosophie", 1840, Bd. 2, Seite 574f, 590f)

KANT wurde durch die Kriterien der Allgemeinheit und Notwendigkeit in den Stand gesetzt, uns sehr bestimmt zu lehren, welche Erkenntnisse a priori in unserer Vernunft sind, wie unentbehrlich uns ihr Gebrauch wird, und wie sie angeordnet werden müssen. Fragt man aber, wie unsere Vernunft zu denselben kommt, so gibt KANT nur die Antwort: sie liegen unabhängig von aller Erfahrung in unserem Geist, angeborene Ideen sind es aber nicht. Was sind sie dann aber sonst, und wodurch erhalten wir sie? Darauf hat KANT nie geantwortet. FRIES versucht eine Antwort, indem er zeigt, wie wir durch Reflexion zum Bewußtsein dieser ursprünglichen Tätigkeiten unserer Vernunft, dieser allgemeinen und notwendigen Erkenntnisse gelangen. Wir müssen zunächst die subjektive Allgemeingültigkeit dessen, was für jeden Fall gilt, unterscheiden von der beschränkten Gültigkeit dessen, was nur in einzelnen Fällen gilt. Ich entwerfe mir z. B. eine hypothetische Theorie der voltaschen Säule, prüfe sie durch Versuche, und alle meine Versuche stimmen damit überein, so hat diese Theorie für mich subjektive Allgemeingültigkeit. Dies aber geht nur auf die unvollständige Gewißheit des durch Induktion Wahrscheinlichen. Wir müssen, um zum Apriorischen zu gelangen, eine andere subjektive Allgemeingültigkeit suchen, eine solche, die für mich in jedem möglichen Fall gilt; unter dieser Allgemeingültigkeit würde zugleich eine Gültigkeit für Jedermann verstanden, dessen Vernunft organisiert ist wie die meinige. Subjektiv allgemeingültig in diesem Sinn oder apodiktisch ist die Erkenntnis Desjenigen, was Jedermann weiß und was für den Einzelnen immer die gleiche Gültigkeit hat; dem steht entgegen eine nur assertorische [behauptende - wp] Gültigkeit dessen, was nur der Einzelne weiß, und dessen Erkenntnis nur zu gewissen einzelnen Gemütszuständen gehört. Jede Sinnesanschauung hat nur eine Gültigkeit für mich, hingegen allgemein mathematische und philosophische Wahrheiten gehören mir nicht in Bezug auf diesen oder jenen einzelnen Gemütszustand, sondern sie gelten für meine Vernunft überhaupt und sind in Jedermanns Vernunft, wie in der meinen. Im Hinblick auf die bloß assertorische Erkenntnis kann ich täglich lernern, indem ich neue Erkenntnisse in meine Vernunft übertrage, im Hinblick auf apodiktische [sicher gewiß - wp], philosophische und mathematische Erkenntnis hingegen gilt das platonische mathesis anamnesis alles Lernen ist Erinnerung. Das Lernen in Philosophie und Mathematik trägt gar nichts Neues in unseren Geist hinein, sondern ist bloße Ausbildung der Selbsterkenntnis, wir weisen nur auf, was Alles im Innern unserer Vernunft liegt. Diese apodiktische Erkenntnis ist das Beharrliche in der Tätigkeit unserer Vernunft, sie muß aus dem ursprünglichen Wesen der Vernunft entspringen, sie ist die eigentümliche Äußerung ihrer Selbsttätigkeit. Hieraus wird das Anthropologische dieses Verhältnisses deutlich. Die menschliche Vernunft ist eine erregbare Erkenntniskraft. Es liegt in ihr eine gewisse Form der Erregbarkeit, welche aber zur Äußerung ihrer Tätigkeit erst durch den Sinn im einzelnen Fall angeregt werden muß. Hier ist also die apodiktische Erkenntnis Dasjenige, was durch die bloße Form der Erregbarkeit bestimmt ist, was folglich in jeder Vernunft dasselbe sein muß, und der einzelnen so zukommt, daß es jeder Erkenntnis zugrunde liegt.

Dieser Unterschied des Assertorischen und Apodiktischen kommt ganz mit dem kantischen a posteriori und a priori überein. Alles assertorische Erkenntnis ist Erkenntnis a posteriori, denn sie entspringt erst aus der einzelnen Erregung, die apodiktische Erkenntnis hingegen ist a priori, denn sie verbreitet sich mit der notwendigen Form ihres Gesetzes auch über alle zukünftige Wahrnehmung. Dahin gehört die ganze reine Mathematik und reine Philosophie. Auf diese Weise erscheint unserem Verbesserer KANTs das Apriori und Aposteriori von leichter Anwendung und bequem, um uns auf den assertorischen oder apodiktischen Ursprung einer Erkenntnis aufmerksam zu machen. Es soll sich demnach angeben lassen, was diese nicht aus der Erfahrung entsprungene Erkenntnis a priori eigentlich ist. Sie ist das Eigentum der ursprünglichen Selbsttätigkeit im Erkennen, welches durch die bloße Form der Erregbarkeit unserer Vernunft bestimmt wird; sie ist also das notwendige Grundgesetz all unserer Erkenntnis, unter dessen Bedingung jede einzelne Erkenntnis stehen muß; aber wir finden sie in uns immer nur durch ihren Abdruck am einzelnen sinnlich gegebenen Stoff, von dem wir sie nur durch Abstraktion trennen.

Sich resumierend nimmt FRIES Folgendes als festgesetzt an: Unsere Erkenntniskraft wird durch den Sinn zu ihren einzelnen Tätigkeiten angeregt, sie gibt aber zu diesen Anregungen eine sich gleichbleibende Form der Erkenntnis hinzu, so daß uns zwar aller Gehalt der Erkenntnis von der Sinnlichkeit kommt, jeder sinnliche Gehalt aber unter der Bedingung einer Form steht, die nur aus dem ursprünglichen Wesen unserer Vernunft als Selbsttätigkeit entspringt. Ferner das Vorhandensein der inneren Tätigkeiten im Gemüt ist nicht hinlänglich, um sie uns zum Bewußtsein zu bringen, wir haben noch ein eigenes Vermögen der inneren Selbstbeobaczhtung, welches aus innerem Sinn und Reflexionsvermögen besteht. Was man gewöhnlich in der Erkenntnis sinnlich nennt, die Anschauung, ist Dasjenige, was wir durch inneren Sinn in uns wahrnehmen; was man gewöhnlich dem Verstand zuschreibt, ist Dasjenige, was wir nur durch Reflexion in uns auffinden. Der innere Sinn zeigt uns unsere Erkenntnisse nur bei Gelegenheit einzelner sinnlicher Anregungen, die Reflexion trennt durch Abstraktion die allgemeine Form, welche der Selbsttätigkeit der Vernunft gehört, von diesem Einzelnen, und bringt uns so durch allgemeine Gesetze in den apodiktischen Verhältnissen die vollständige Erkenntnis zu Bewußtsein. Was dieses Vermögen des Wiederbewußtseins überhaupt zu unserer Erkenntnis hinzugibt, ist die Deutlichkeit der Erkenntnis. Wir erweitern unsere Erkenntnis durch Erfahrung, wir verdeutlichen sie durch Reflexion. Die philosophische Erkenntnis ist diejenige, deren wir uns nur durch Reflexion bewußt werden; sie ist durchaus diskursiv und apodiktisch. Philosophische Urteile behaupten wir, wenn sie Grundsätze sind, schlechthin und noch dazu apodiktisch, ohne uns auf irgendeine zugrunde liegende Anschauung berufen zu können; wir sagen Sätze aus, die sich nur denken lassen, und doch von keinem anderen Urteil abhängen. So behaupte ich z. B.: jede Substanz beharrt, jede Veränderung hat eine Ursache, jedes vernünftige Wesen soll seiner persönlichen Würde gemäß als Zweck ansich behandelt werden, es ist ein Gott und der Wille ist frei. Ich erkenne Gesetze der Natur, der Freiheit und der ewigen Ordnung der Dinge, ohne alle Berufung auf Anschauung. Solche Sätze können wir nicht demonstrieren oder in der Anschauung nachweisen, auch nicht aus anderen Urteilen beweisen, denn sie sind Grundsätze, sondern nur deduzieren, d. h. aus einer Theorie der Vernunft als ursprüngliche Grundsätze derselben aufweisen. Ich beweise nicht, daß jede Substanz beharrlich ist, sondern ich weise nur auf, daß dieser Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz in jeder endlichen Vernunft liegt; ich beweise nicht, daß ein Gott ist, sondern ich weise nur auf, daß jede endliche Vernunft einen Gott glaubt.

Durch solche Deduktion tun wir den Forderungen des Systems genug, keinen Satz ohne Grund anzunehmen. Dieser Nachweis aber ist ein bloßes Geschäft der Anthropologie und somit der inneren Erfahrung. Bei der unmittelbaren anschaulichen Erkenntnis des gegebenen Gegenstandes beruth die Evidenz und Wahrheit derselben durchaus nur darauf, daß sie dem Gemüt unmittelbar gegeben ist, d. h. auf ihrem Dasein im Gemüt; wir dürfen aber auch bei unserer apodiktischen Aussage des Apriorischen nie etwas Anderes verstehen, als das Vorhandensein ihrer Erkenntnis im Gemüt. Freiheit, Gottheit, Welt und alle Gegenstände dieser Überzeugung sind gerade das für uns objektiv unmittelbar Unerreichbare, hier also müssen wir gewiß zunächst nur bei den Gesetzen unseres Erkennens stehen bleiben. Die Wahrheit dieser Erkenntnis kann daher nicht auf eine Übereinstimmung derselben mit dem Gegenstand gegründet werden; sie besteht vielmehr nur in der Übereinstimmung meiner Selbstbeobachtung mit den wirklich in meiner Vernunft gegebenen Erkenntnissen. Wir fragen nur, ob wir unsere Erkenntnisse vom Bewußtsein durch den inneren Sinn oder die Reflexion richtig aufgefaßt haben. Wenn wir gemeinhin nach Wahrheit fragen, setzen wir nur den Begriff der empirischen Wahrheit für die Wiederbeobachtung und eine Regel der subjektiven Begründung der Erkenntnisse voraus, ohne uns auf die objektive Begründung der transzendentalen Wahrheit näher einzulassen. Diesem Resultat sind aber die gewöhnlichen Ansprüche des Bewußtseins zuwider. Wir fordern im Großen immer eine objektive Begründung. Wenn ich Jemandem nur zeige: wir Menschen müssen und das einmal so und so vorstellen, wir können es nicht anders denken, so bleibt ihm immer noch die Hauptsache zurück: ist es denn aber auch wirklich so, wie wir es denken und vorstellen? Die Aufgabe stellen wir also immer für die objektive Begründung, allein jeden einzelnen Versuch zur Lösung machen wir doch nur mit subjektiven Begründungsmitteln, nehmen dann aber das Eine für das Andere, und dies ist der Grundfehler aller irrigen Spekulationen. Der Nachweis, daß immer nur von dem die Rede ist, wie die menschliche Vernunft weiß und erkennt, und nicht unmittelbar von dem, wie die Dinge ansich sind, charakterisiert die richtige idealistische Wendung der Spekulation; es ist dies eigentlich der Geist der Spekulation, welchen KANT als Kritizismus gegen den auf das Objektive gehenden Dogmatismus geltend machen wollte. So bestimmt aber KANT auch diesen subjektiven Standpunkt seiner Kritik, den er in der Vorrede zur Kr. d. r. V. beschreibt. So hat er das Verhältnis desselben doch nicht ganz durchschaut, sonst häte er niemals transzendentale (auf den Nachweis der Übereinstimmung mit dem Gegenstand gerichtete) Beweise versuchen können.

FRIES will KANTs kritisches Verfahren noch von diesem Mangel befreien. Dadurch erhalten wir dann die rein anthropologische Aufgabe einer Geschichte unseres Erkennens und einer Theorie unserer Vernunft als letztes Bedürfnis aller Spekulation. Zur klaren Entwicklung dieser Theorie zu gelangen, soll KANT hauptsächlich gehindert sein durch sein Vorurteil des Transzendentalen. KANT nennt eine Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, als auch mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein sollen, überhaupt beschäftigt. Die Transzendentalphilosophie gilt ihm allein als reine Philosophie. Diese Transzendentalphilosophie ist nun aber nichts anderes als psychologisch anthropologische Selbstbeobachtung, von der die ursprünglich metaphysische Erkenntnis a priori zu unterscheiden ist. Diese ist das eigentlich Apriorische unserer Erkenntnis, die ursprüngliche Erregbarkeit der erkennenden Vernunft; die Transzendentalphilosophie dagegen zeigt nur den Weg der psychologisch-anthropologischen Selbstbeobachtung, auf welchem wir zur Erkenntnis des Apriorischen gelangen. Dieses Mißverständnis KANTs soll auch seine Lehre von der reinen Apperzeption zur schwierigsten und unverständlichsten Lehre in der Kr. d. r. V. gemacht haben. KANT will mittels dieser für seine Theorie wichtigsten Lehre die Einheit und Verbindung unserer Erkenntnisse erklären. Wäre dieses erreicht, so müßten sich nach FRIES aus dem gefundenen Einheitsprinzip die wirklich vorkommenden Formen der Verbindung einzeln ableiten lassen. Dies leistet die kantische Theorie nicht; sie gibt nur den leeren analytischen Satz des Selbstbewußtseins "Ich denke" als obersten Grundsatz des Verstandes, aus dem jene Ableitung unmöglich ist. KANT meinte, daß dies kein unentbehrliches Bedürfnis seiner Kritik ist. Das soll nach FRIES für die Art, wie KANT sich die Aufgabe gestellt hatte, nicht unrichtig, aber doch für die Evidenz des ganzen Systems ein bedeutender Mangel gewesen sein. FRIES sucht auch diesen Mangel durch eine Ausbildung der Lehre von der reinen Apperzeption zu verbessern. KANT soll die Identität der Apperzeption und die objektive synthetische Einheit durch dieselbe nur als Erfolg der Form des Selbstbewußtseins (daß das "Ich denke" alle meine Vorstellungen begleitet) angesehen haben; aber diese Identität des Ich uns somit der Selbsterkenntnis gilt nur als Teil der ganzen Identität der Apperzeption und der synthetischen Einheit durch diese. Die ganze objektive synthetische Einheit der Apperzeption ist vielmehr die ursprüngliche Form der Einheit und Notwendigkeit in der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft selbst und nicht nur im reflektierenden Verstand. Die objektive synthetische Einheit unserer Anschauung der Welt in Raum und Zeit und die objektive synthetische Einheit, die ich durch die Form des Urteils denke, ist nicht durch die Einheit des Selbstbewußtseins, sondern schlechthin durch die Einheit der Vernunft bestimmt. KANTs Fehler soll sein, daß er die Einheit der Reflexion, die Zusammenfassung all meiner Erkenntnisse in eine Einheit der Selbstbeobachtung mit der unmittelbaren Einheit all meines Erkennens verwechselt hat.

KANTs reine Apperzeption ist nur das reine Selbstbewußtsein, welches durch die Reflexion "Ich bin" oder "Ich denke" ausgesprochen wird. Diese reine Apperzeption ist aber nur eine einzelne materiale Bestimmung der ursprünglichen formalen Apperzeption, in welcher das Gesetz der Apodiktizität, der Quell aller einzelnen Formen der Einheit, welche die Reflexion auffaßt, liegt. Es ist dies das Grundbewußtsein der Einheit und Notwendigkeit unserer ganzen Erkenntnis, von dem das Bewußtsein des identischen Ich nur eine Äußerung ist, die wir durch Reflexion erfassen. Diese Äußerung ist nicht mit dem Grund zu verwechseln. Aus dieser Verwechslung KANTs soll der Fehler hervorgegangen sein, daß ihm die Selbsttätigkeit der Erkenntniskraft immer gleich als Willkürlichkeit derselben gilt, d. h. Reflexion. So war also für die Fortbildung der kantischen Philosophie hinsichtlich der Dialektik die Hauptsache, daß die in KANTs Bestimmung des Transzendentalen liegende Verwirrung aufgehoben, die metaphysische Erkenntnis a priori von der psychisch-anthropologischen Selbstbeobachtung unterschieden und die Kritik der Vernunft als psychisch-anthropologische Lehre anerkannt wird.

In ganz ähnlichem Sinn, wie FRIES, hat MIRBT in seinem 1841 erschienenen Werk "Kant und seine Nachfolger" (neue Ausgabe 1851 unter dem Titel: "Kants Philosophie", Seite 182) KANTs Vorurteil des Transzendentalen und die Vernachlässigung der empirischen, psychologischen Grundlage der Vernunftkritik gerügt, und behauptet, im Sinne KANTs müsse die Philosophie vom menschlichen Standpunkt der eigenen Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis aus bearbeitet werden. Ebenso urteilte im unmittelbaren Anschluß an FRIES sein Schüler APELT über KANT und das Problem selbst schon in den 1846 erschienenen "Epochen der Geschichte der Menschheit", Bd. 2, Seite 254 und 261 und ebenso in der 1857 erschienenen "Metaphysik" (besonders § 116, Seite 510, sowie Seite 593-597 und § 119, Seite 608). Da die hier ausgesprochene Ansicht in allem Wesentlichen mit der Ansicht von FRIES übereinstimmt, glaube ich nach der ausführlichen Darstellung dieser letzteren eine Wiederholung in wenig veränderter Fassung vermeiden zu dürfen. Es wird genügen, auf die Übereinstimmung hinzuweisen.

FRIES und seine Anhänger glaubten also im Geiste KANTs die psychologisch-anthropologische Grundlage seiner Vernunftkritik hervorheben zu müssen und hielten diese Entwicklung zugleich für die wichtigste im Interesse des Fortschritts der Philosophie notwendige Verbesserung.

Ähnlich wie FRIES haben über den Irrtum KANTs auch SCHOPENHAUER und BENEKE geurteilt, aber ihre Berichtigungen behalten nicht wie bei FRIES den Charakter der Aufklärung kantischer Selbsttäuschung, sondern nehmen den Charakter prinzipiell abweichender Ansichten an. SCHOPENHAUER nennt in seiner "Kritik der kantischen Philosophie" (als Anhang in Bd. 1 der "Welt als Wille und Vorstellung") bei der Besprechung des Grundgedankens der Vernunftkritik die allererste Grundannahme derselben eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp]; sie liege in dem (besonders Prolegomena § 1 deutlich aufgestellten) Satz:
    "Die Quelle der Metaphysik darf durchaus nicht empirisch sein, ihre Grundsätze und Grundbegriffe dürfen nie aus der Erfahrung, weder innerer noch äußerer, genommen sein."
Zur Begründung dieser Kardinalbehauptung wird jedoch gar nichts angeführt als das etymologische Argument aus dem Wort Metaphysik. Dem gegenüber behauptet SCHOPENHAUER, wir hätten keinen Grund, bei der wichtigsten und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnisquellen, innere und äußere Erfahrung, uns zu verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operieren. Die Aufgabe der Metaphysik sei nicht, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund auf zu verstehen, indem Erfahrung, äußere und innere, allerdings die Hauptquelle der Erkenntnis ist. Daher ist nur durch die gehörige und am rechten Punkt vollzogene Anknüpfung der äußeren Erfahrung an die innere, und die dadurch zustande gebrachte Verbindung dieser zwei so heterogenen Erkenntnisquellen die Lösung des Rätsels der Welt möglich. KANT geht von der mittelbaren, reflektierten Erkenntnis aus, er dagegen von der unmittelbaren. Für KANT sei die Philosophie eine Wissenschaft aus Begriffen, ihm eine Wissenschaft in Begriffen, aus der anschaulichen Erkenntnis, der alleinigen Quelle aller Evidenz, geschöpft und in allgemeine Begriffe gefaßt und fixiert. SCHOPENHAUER nimmt die von KANT streng bewiesene Tatsache an, daß ein Teil unserer Erkenntnisse uns a priori bewußt und nicht auf dem Weg der Erfahrung in uns gekommen, sondern das dem Intellekt ursprünglich Angehörige ist; aber er will für die Erkenntnis dieser Tatsache die innere Erfahrung nicht abweisen. Er meint sogar, daß KANT die reinen Anschauungen a priori nur auf dem Weg richtiger Selbstbeobachtung gefunden hat, und daß, wenn er sich nur ebenso unbefangen und rein beobachtend bei der Entdeckung der Verstandesbegriffe verhalten hätte, auch hier ein richtigeres Resultat gefunden worden wäre als seine Kategorientafel. -

BENEKE hat sich über KANTs Irrtum in einer eigenen Schrift "Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit", 1832 ausgesprochen. Nach seiner Meinung konnte KANT seine Erkenntnistheorie nur aus innerer Erfahrung gewonnen haben. Nur durch das innere Selbstbewußtsein konnte KANT der Kräfte gewiß werden, welche der menschliche Geist zur Bildung seiner Erkenntnisse hinzubringt. KANT würde demnach mit den philosophischen Denkern der übrigen gebildeten Völker darin übereinstimmen, daß nur auf Grundlage der inneren Erfahrung die Philosophie und insbesondere die Wissenschaft von der menschlichen Seele aufgerichtet werden kann. Aber gerade dies soll nach dem kantischen System in anderen Beziehungen durchaus unzulässig sein.

Nur unabhängig von der Erfahrung wollte KANT zur Erkenntnis der reinen Anschauungsformen und der Kategorien gelangt sein. Die empirische Psychologie sei nach ihm durch ihre Idee gänzlich von der reinen oder eigentlichen Philosophie ausgeschlossen. KANTs Fehler bestehe darin, daß er die Spekulation aus bloßen Begriffen nur zur Vordertür hinausgetrieben hat, um sie zur Hintertür wieder einzulassen. Er habe selbst aus Begriffen spekuliert anstatt sorgsam und genau zu beobachten, unter welchen Umständen und in welcher Art die innere Wahrnehmung zustannde kommt. KANT schwanke hin und her zwischen Erfahrung und Spekulation, zwischen Idealismus und Realismus. Die philosophischen Prinzipien sollten rein a priori gefunden werden, und doch stützt sich die Deduktion der Kategorien auf die in der Erfahrung gegebenen Urteilsformen; und der kategorische Imperativ, die Grundlage der gesamten praktischen Philosophie und Religionslehre, werde von KANT selber in vielen Stellen (z. B. der "Kritik der praktischen Vernunft") als ein Faktum bezeichnet. Diesem Schwanken gegenüber behauptet BENEKE, die in unserem Geist a priori gegeben Formen seien, wenn überhaupt, so doch nicht wieder a priori, sondern nur durch Erfahrung zu erkennen. KANT bemerke dies selber sehr richtig gleich in den ersten Worten seiner Kr. d. r. V.
    "Daß also unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, daran ist gar kein Zweifel ... der Zeit nach geht keine Erkenntnis vor der Erfahrung vorher. Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung."
Also auch die nicht aus der Erfahrung stammende Erkenntnis kann, nach der ausdrücklichen Erklärung dieses entschiedenen Verfechters des Apriori selbst, auf keine andere Weise von uns erkannt werden, als indem wir uns auf Erfahrungen stützen. KANT widerspricht sich also im Grunde selbst, wenn er trotzdem die innere Erfahrung von der Erkenntnis des Apriori abweist. Gerade dieser psychologische Empirismus sei das Bedürfnis der Philosophie, welche die längst antiquierte Spekulation aus Begriffen abtun will. Diesen Empirismus hat dann bekanntlich BENEKE abweichend von KANT derart zu entwickeln sich bemüht, daß nicht nur die Erkenntnis des Apriori aus der Erfahrung innerer Selbstbeobachtung gewonnen, sondern die apriorischen Erkenntnisse selbst aus der Erfahrung entwickelt werden sollen. Er hat es ferner versucht die Begründung der gesamten übrigen Philosophie, auch der Metaphysik, durch Psychologie zu erweisen. Im Gegensatz zu HERBART behauptet er, daß nicht nur die Psychologie wahrhaft wissenschaftlich ohne Metaphysik, sondern daß vielmehr die Metaphysik wahrhaft wissenschaftlich nur durch die Psychologie begründet werden kann (siehe "Die neue Psychologie", 1845).

HERBART war in diesem Punkt anderer Meinung als BENEKE. Er wollte keine Psychologie ohne Metaphysik. Zu jeder metaphysischen Untersuchung, welche von einem gegebenen Hauptbegriff aus vorwärts geht, um den Kreis des Wissens zu erweitern, meinte HERBART, gehört zwar eine psychologische Untersuchung des nämlichen Begriffs in Anbetracht seines Ursprungs; aber auch rückwärts, zu jeder von diesen psychologischen Untersuchungen gehört die entsprechende metaphysische. Die Metaphysik habe die Bestimmung, die von der Erfahrung aufgedrungenen Begriffe denkbar zu machen; die Psychologie gehe aus der allgemeinen Metaphysik hervor, indem die Forderung erfüllt wird, die Andeutung zu verfolgen, welche der Schein auf das Sein gibt, sie wirke auf die allgemeine Metaphysik zurück, indem sie den Ursprung der Formen der Erfahrung erklärt, welche dort bloß als gegeben angenommen werden (Werke Bd. 1, Seite 255, 267; Bd. II, Seite 250). Nur ein Verkennen dieses Verhältnisses konnte ihm zufolge zur kantischen Ansicht führen, es sei die Vernunftkritik an Stelle der Metaphysik zu setzen. Betrachtet man den Umriß der Vernunftkritik, so kann man einen Augenblick zweifelhaft bleiben, ob die eine Psychologie oder eine ganze Metaphysik ist. Einerseits läuft sie am Faden der Vermögen fort, die zum Erkennen nötig erachtet werden, andererseits enthält sie der Reihe nach die vier Wissenschaften: Ontologie, Psychologie, Kosmologie, Theologie. Da der richtige Begriff des Seins den kritischen Philosophen dergestalt außerhalb der Schule gestellt hatte, daß sie für ihn nur noch ein Objekt der Betrachtung bleibt: so sah er in ihr nur noch ein psychologisches Phänomen. Aber er sah mit den Augen der empirischen Psychologie. Die damalige rationale Psychologie war kein Fernrohr, noch weniger ein Auge. ("Allgemeine Metaphysik", § 33, Werke 3, Seite 118) -
    "Dem Anschein nach liegt die alte, völlig unkritische Psychologie, die Voraussetzung vieler Seelenvermögen, der ganzen Arbeit zugrunde; und da KANT selbst dieser Voraussetzung sich absichtlich als seines Fundaments überall bedient hat, so darf man sich nicht wundern, wenn einerseits in neueren Darstellungen geradezu die empirische Anthropologie als Anker des Heils für den Kantianismus bezeichnet, andererseits aber mit den Untersuchungen über die Mechanik des Geistes Alles gefährdet scheint, was diese Lehre Wahres und Anziehendes besitzt. Allein die alte Meinung von den Seelenvermögen hat dennoch mehr negativ als positiv auf Kants Lehre gewirkt; indem sie ihm viele Fragen völlig verdunkelte, und eine unrichtige Architektonik dadurch veranlaßte, daß ein systematisches Ganzes fertig zu werden schien, indem alle Seelenvermögen der Reihe nach untersucht wurden."
Als KANT die Formen der Erfahrung in unserem eigenen Geist aufgesucht hat, da sei ihm derjenige Teil der psychologischen Untersuchung mißraten, welcher den Ursprung unserer Erkenntnis betrifft. So habe er Folgen der Verhältnisse unter den Empfindungen für innere Einrichtungen des menschlichen Geistes, für ursprünglich in ihm gelegen, für a priori gehalten. (Werke III, 118, 129, 243) Die psychologischen Voraussetzungen, nach welchen die verschiedenen Seelenvermögen angenommen sind, und worauf die ganze Kritik des Erkenntnisvermögens gebaut ist, sind nach HERBART selbst als Tatsachen des Bewußtseins in jedem Punkt unsicher und voll von Erschleichungen. Die wahren Tatsachen des Bewußtseins sind die ganz individuellen und momentanen inneren Ereignisse im Gemüt eines Jeden; diese können nicht nur schlechterdings nicht vollständig angegeben werden, sondern sie verdunkeln sich ohne Ausnahme schon während der Auffassung, so daß alle innere Wahrnehmung nur Bruchstücke liefern kann, die umso mehr verstümmelt ausfallen, je absichtlicher die Selbstbeobachtung ist. (Werke I, Seite 259) Dieser Weg, das Bewußtsein und das Selbstbewußtsein zum Prinzip der kantischen Philosophie und damit der Philosophie selbst zu erheben, muß nach HERBART irre führen. Er beklagt es daher, daß FRIES aus der Lehre KANTs gerade das Fehlerhafte hervorgehoben hat, nämlich die empirisch-psychologische Grundlage (Werke III, 348)

Wir haben in diesen verschiedenen Auffassungen und Beurteilungen der kantischen Vernunftkritik ein Bild voller Widersprüche erhalten. FISCHER, ULRICI und LIEBMANN meinen, die Vernunftkritik müsse eine psychologische Grundlage abweisen, BENEKE und SCHOPENHAUER vermissen dieselbe und tadeln KANTs Abweisung derselben, FRIES sucht die Abweisung als eine Selbsttäuschung KANTs zu erklären und die Notwendigkeit der psychologisch-anthropologischen Grundlage der Vernunftkritik zu erweisen, HERBART endlich findet diese Grundlage vor, hält sie aber für das Fehlerhafte der kantischen Philosophie und beklagt die Vergrößerung dieses Fehlers in der Schule KANTs. In Bezug auf das Apriori behaupten FISCHER und ULRICI, daß es nach KANT nicht psychologisch zu entdecken ist, BENEKE und HERBART leugnen die Apriorität der Erkenntnisse selbst, halten die apriorischen Erkenntnisse für erworbene, müssen natürlich ihren Ursprung für psychologisch ableitbar ansehen. SCHOPENHAUER und FRIES endlich halten die Apriorität der Erkenntnisse fest, behaupten aber zur Verbesserung KANTs, daß die Entdeckung dieser Apriorität auf dem Weg psychologischer Selbstbeobachtung und Reflexion gewonnen ist und allein gesucht werden kann.

Ich habe diese verschiedenen Ansichten nun an KANT selbst zu messen und ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit prinzipiell zu beurteilen.

LITERATUR: Jürgen Bona Meyer, Kants Psychologie, Berlin 1870