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Kants Psychologie
V o r w o r t Der sechste Abschnitt dieser Arbeit hat bereits als Habilitationsschrift bei der Übernahme meines jetzigen Amtes eine begrenzte Verbreitung gefunden. Derselbe hat jetzt eine wesentliche Ergänzung erfahren in der Besprechung des Schlusses von der Einheit des Selbstbewußtseins auf die Simplizität und Immaterialität der Seele sowie in der Darstellung und Prüfung der Lehre vom inneren Sinn. Kants Werke sind nach der Ausgabe von ROSENKRANZ und SCHUBERT zitiert. Einleitung In einem Stadium ruhiger Selbstbesinnung, in welchem sich die Wissenschaft der Philosophie nach ihrer letzten Sturm- und Drangperiode gegenwärtig befindet, sind Rückblicke auf KANT, den Urheber dieser letzten Bewegung, besonders am Platz. Die kühnen Fahrten, welche die Philosophen nach KANT seiner Warnung zuwider auf den offenen Ozean der Spekulation gewagt haben, sind nicht von dauernd glücklichem Erfolg gewesen. Sie alle waren zwar bestimmt, neues festes Land zu entdecken, ihre Unternehmer glaubten auch solches entdeckt zu haben; aber die angeblich neuen Länder erwiesen sich bald als längst bekannte und wegen ihrer Unfruchtbarkeit ehedem schon verlassene. Nur in einzelnen dieser Länder wurde trotzdem abermals eine festere Ansiedlung versucht. Groß indessen ist die Bevölkerung nirgends geworden, und an einem lebhaften Verkehr der verschiedenen Völker miteinander fehlt es gänzlich. Sie treiben ihren Handel und Wandel für sich und berühren einander nur bisweilen im Kampf gegen gemeinsame Feinde. Diese neuen philosophischen Ansiedler haben nämlich bei aller Divergenz unter einander durch ihren Ausgang aus der Philosophie KANTs doch einen gemeinsamen Grundzug des Idealismus beibehalten, der sie zum Kampf gegen den Materialismus und philosophischen Indifferentismus verbündet. Sie alle anerkennen selbst den Wert dieser gemeinsamen Abstammung, rechten aber hart miteinander über die Grade oder die Reinheit dieser Blutsverwandtschaft. Mit Grund sagt KUNO FISCHER (in seiner akademischen Rede "Die beiden kantischen Schulen", 1862:
Insofern derartige Streitfragen nur von einem Interesse historischer Genauigkeit aufgeworfen und erwogen werden, darf der Fortschritt der philosophischen Spekulation schwerlich viel von ihnen erwarten. Unsere Zeit hat die vorwiegend historische Betreibung der Philosophie hinreichend kennen zu lernen Gelegenheit gehabt, um den Gedanken aufkommen zu lassen, es möge nunmehr wiederum an der Zeit sein auf dem Boden neu errungenen Wissens den Problemen selber ins Auge zu sehen. Dieses Verlangen halte ich für so berechtigt, daß selbst ein Rückblick auf den wichtigsten Philosophen der Neuzeit, auf KANT, mir nicht als zeitgemäß erscheinen würde, wenn nur das Interesse historischer Verständigung eine solche Untersuchung veranlassen würden. Es gibt aber derartige Fragen, die mit dem spekulativen Fortschritt unserer Wissenschaft so eng zusammenhängen, daß die Entscheidung über die Auffassung KANTs zugleich eine Entscheidung über die einzuschlagenden Wege der Forschung selber ist. Bei solchen Fragen lohnt es sich wohl die Klarheit über das Problem in der Verständigung über KANT zu suchen. Zu solchen Fragen nun gehört entschieden die Frage über das Verhältnis der kantischen Philosophie zur Psychologie, und aus diesem Grund mache ich die viel besprochene, aber doch noch unerledigte Frage zum Gegenstand dieser eingehenden Arbeit. Meine Untersuchung wird folgenden Gang nehmen:
II. wird gezeigt werden, welche Stellung Kant selbst der Aufgabe der Vernunftkritik im System der philosophischen Disziplinen anweist, um dadurch das Urteil über die metaphysische oder psychologische Natur des Kritizismus vorzubereiten. III. wird die psychologische Grundlage der drei Kritiken Kants, auch die psychologische Entdeckungsgeschichte dieser Grundlage dargelegt und sodann durch eine Erörterung des Problems der Seelenvermögen diese Grundlage psychologisch gerechtfertigt werden, soweit nicht Irrtümer Kants zu einer Berichtigung auffordern. IV. wird die psychologische Methode des Kritizismus durch alle drei Kritiken verfolgt, und die besonders von Fries aufgestellte Behauptung gerechtfertigt werden, daß das Apriori auf dem Weg psychologischer Reflexion entdeckt wurde. V. wird erklärt werden, in welchem Sinn Kants Abweisung der psychologischen Empirie von Metaphysik, Logik und Ethik zu verstehen ist, sodann soll unter Berücksichtigung der in Betracht kommenden philosophischen Kritiker Kants untersucht werden, wie weit diese Abweisung berechtigt, wie weit unberechtigt ist. VI. endlich soll im Zusammenhang KANTs Ansicht über die Psychologie als Wissenschaft nach ihrer rationalen wie nach ihrer empirischen Seite dargestellt und beurteilt werden, was von selbst zu einigen Schlußbetrachtungen über die gegenwärtigen Bedürfnisse für die Zukunft dieser Wissenschaft führen wird. Historischer Rückblick auf die verschiedenen Ansichten über das Verhältnis der Philosophie Kants zur Psychologie Die Frage nach der psychologischen Natur und Grundlage des kantischen Kritizismus ist neuerdings wieder angeregt worden durch KUNO FISCHERs Rede "Über die beiden kantischen Schulen in Jena", als welche hier die durch REINHOLD, FICHTE, SCHELLING und HEGEL vertretene Identitätsphilosophie einerseits, und die durch FRIES eingeschlagene psychologisch-anthropologische Richtung andererseits betrachtet werden.
In ähnlicher Weise hatte schon früher ULRICI in seinem "Grundprinzip der Philosophie", Teil 1, 1845 die Unmöglichkeit einer psychologischen Grundlage der Vernunftkritik zu erweisen versucht.
FRIES will durch seine Entwicklung des psychologischen Fundaments der Vernunftkritik zugleich diese über ihren eigenen Grundcharakter aufklären, er glaubt somit KANT selbst im Sinne KANTs zu berichtigen und zu verbessern. In diesem Sinn redet er vom "eigentümlichen kantischen Vorurteilt des Transzendentalen". (Neue Kritik der Vernunft, 1807, Bd. 1, Einleitung, Seite XXVII und XXXVf) "Kant spricht", heißt es da, "von transzendentalen Prinzipien im Gegensatz gegen metaphysische, hier sind die ersteren solche, die aus reinen Erkenntnissen a priori für sich bestehen, wogegen in den metaphysischen immer ein Begriff a priori auf einen durch Erfahrung erst zu gebenden angewandt wird. Wer hier genau vergleichen will, der wird bemerken, daß Kant mit seiner transzendentalen Erkenntnis eigentlich die psychologische oder besser anthropologische Erkenntnis meinte, wodurch wir einsehen, welche Erkenntnis a priori unsere Vernunft besitzt und wie sie ihr entspringt. Zum Beispiel der Grundsatz, daß jede Veränderung eine Ursache hat, ist metaphysisch, aber die Einsicht, daß sich dieser Grundsatz in unserem Verstand findet, und wie er angewendet werden muß, ist transzendental, und die Vernunftkritik unterscheidet sich eben darin von der Philosophie selbst, daß sie die transzendentale Erkenntnis enthält, dagegen letzterer die logische und metaphysische gehört.
Allerdings durfte er so auch nicht zugeben, daß seine transzendentale Erkenntnis empirisch ist, wenn er nicht Locke und Hume vollkommen Recht geben wollte. Denn wenn er seine Erkenntnis a priori aus dem transzendentalen Prinzip z. B. der Möglichkeit der Erfahrung beweist, so gründet er sie auf dieses, läßt sie aus ihm entspringen, und dieses also empirisch war, so ruhte seine ganze Erkenntnis a priori doch wieder auf empirischem Grund, und entspringt aus der Wahrnehmung. Für denjenigen, der sich diesen Mißgriff nicht verbessert, liegt im kantischen System ein unüberwindlicher Widersinn, indem durch die Apriorität der transzendentalen Erkenntnis, die innere Wahrnehmung selbst zur Erkenntnis a priori gemacht wird, und so anstatt des kantischen transzendentalen Idealismus ein absurder empirischer Idealismus heraus kommt, nach welchem das Ich nicht nur Selbstschöpfer seiner Welt, sondern sogar seiner selbst würde. Dieser Mißgriff ist Ursache, daß Kant das Wesen der Reflexion nie begriffen hat, und Sinn und Verstand nicht in einer Vernunft zu vereinigen vermochte. Er gab ihm den Widerwillen gegen empirische Psychologie und innere Selbstbeobachtung, welcher bei einigen seiner Schüler, z. B. bei Fichte, in eine wirkliche Aversion umschlug. - An diesem Vorurteil kränkelt jede bisherige Behandlung der Vernunftkritik, und die größten Fehler wurden alle durch die natürliche Folge desselben gemacht, daß man die innere Wahrnehmung für den Quell von Erkenntnissen a priori gehalten hat. Daher das unmittelbare Bewußtsein bei Reinhold und anderen, daher die fichtesche innere und intellektuelle Anschauung und der Rückschritt zum völligen dogmatischen Rationalismus bei Schelling. Ich werde diesem Fehler dadurch zu begegnen suchen, daß ich das subjektive, empirische, anthropologische Wesen der transzendentalen Erkenntnis ganz deutlich mache, und den Unterschied der Deduktion und des Beweises genauer angebe."
Über diese Verhältnisse unserer Erkenntnis entwickelt nur FRIES zur Verbesserung KANTs folgende Ansichten (siehe a. a. O., Bd. I, Buch, 1. Abschnitt, 2c. Vom inneren Sinn; Buch 2, Abschnitt 2, Theorie der Reflexion; Bd. II, Buch 3, Kapitel 2, Höchste Gründe einer Theorie der Selbsttätigkeit im Erkennen. - Vgl. seine "Geschichte der Philosophie", 1840, Bd. 2, Seite 574f, 590f) KANT wurde durch die Kriterien der Allgemeinheit und Notwendigkeit in den Stand gesetzt, uns sehr bestimmt zu lehren, welche Erkenntnisse a priori in unserer Vernunft sind, wie unentbehrlich uns ihr Gebrauch wird, und wie sie angeordnet werden müssen. Fragt man aber, wie unsere Vernunft zu denselben kommt, so gibt KANT nur die Antwort: sie liegen unabhängig von aller Erfahrung in unserem Geist, angeborene Ideen sind es aber nicht. Was sind sie dann aber sonst, und wodurch erhalten wir sie? Darauf hat KANT nie geantwortet. FRIES versucht eine Antwort, indem er zeigt, wie wir durch Reflexion zum Bewußtsein dieser ursprünglichen Tätigkeiten unserer Vernunft, dieser allgemeinen und notwendigen Erkenntnisse gelangen. Wir müssen zunächst die subjektive Allgemeingültigkeit dessen, was für jeden Fall gilt, unterscheiden von der beschränkten Gültigkeit dessen, was nur in einzelnen Fällen gilt. Ich entwerfe mir z. B. eine hypothetische Theorie der voltaschen Säule, prüfe sie durch Versuche, und alle meine Versuche stimmen damit überein, so hat diese Theorie für mich subjektive Allgemeingültigkeit. Dies aber geht nur auf die unvollständige Gewißheit des durch Induktion Wahrscheinlichen. Wir müssen, um zum Apriorischen zu gelangen, eine andere subjektive Allgemeingültigkeit suchen, eine solche, die für mich in jedem möglichen Fall gilt; unter dieser Allgemeingültigkeit würde zugleich eine Gültigkeit für Jedermann verstanden, dessen Vernunft organisiert ist wie die meinige. Subjektiv allgemeingültig in diesem Sinn oder apodiktisch ist die Erkenntnis Desjenigen, was Jedermann weiß und was für den Einzelnen immer die gleiche Gültigkeit hat; dem steht entgegen eine nur assertorische [behauptende - wp] Gültigkeit dessen, was nur der Einzelne weiß, und dessen Erkenntnis nur zu gewissen einzelnen Gemütszuständen gehört. Jede Sinnesanschauung hat nur eine Gültigkeit für mich, hingegen allgemein mathematische und philosophische Wahrheiten gehören mir nicht in Bezug auf diesen oder jenen einzelnen Gemütszustand, sondern sie gelten für meine Vernunft überhaupt und sind in Jedermanns Vernunft, wie in der meinen. Im Hinblick auf die bloß assertorische Erkenntnis kann ich täglich lernern, indem ich neue Erkenntnisse in meine Vernunft übertrage, im Hinblick auf apodiktische [sicher gewiß - wp], philosophische und mathematische Erkenntnis hingegen gilt das platonische mathesis anamnesis alles Lernen ist Erinnerung. Das Lernen in Philosophie und Mathematik trägt gar nichts Neues in unseren Geist hinein, sondern ist bloße Ausbildung der Selbsterkenntnis, wir weisen nur auf, was Alles im Innern unserer Vernunft liegt. Diese apodiktische Erkenntnis ist das Beharrliche in der Tätigkeit unserer Vernunft, sie muß aus dem ursprünglichen Wesen der Vernunft entspringen, sie ist die eigentümliche Äußerung ihrer Selbsttätigkeit. Hieraus wird das Anthropologische dieses Verhältnisses deutlich. Die menschliche Vernunft ist eine erregbare Erkenntniskraft. Es liegt in ihr eine gewisse Form der Erregbarkeit, welche aber zur Äußerung ihrer Tätigkeit erst durch den Sinn im einzelnen Fall angeregt werden muß. Hier ist also die apodiktische Erkenntnis Dasjenige, was durch die bloße Form der Erregbarkeit bestimmt ist, was folglich in jeder Vernunft dasselbe sein muß, und der einzelnen so zukommt, daß es jeder Erkenntnis zugrunde liegt. Dieser Unterschied des Assertorischen und Apodiktischen kommt ganz mit dem kantischen a posteriori und a priori überein. Alles assertorische Erkenntnis ist Erkenntnis a posteriori, denn sie entspringt erst aus der einzelnen Erregung, die apodiktische Erkenntnis hingegen ist a priori, denn sie verbreitet sich mit der notwendigen Form ihres Gesetzes auch über alle zukünftige Wahrnehmung. Dahin gehört die ganze reine Mathematik und reine Philosophie. Auf diese Weise erscheint unserem Verbesserer KANTs das Apriori und Aposteriori von leichter Anwendung und bequem, um uns auf den assertorischen oder apodiktischen Ursprung einer Erkenntnis aufmerksam zu machen. Es soll sich demnach angeben lassen, was diese nicht aus der Erfahrung entsprungene Erkenntnis a priori eigentlich ist. Sie ist das Eigentum der ursprünglichen Selbsttätigkeit im Erkennen, welches durch die bloße Form der Erregbarkeit unserer Vernunft bestimmt wird; sie ist also das notwendige Grundgesetz all unserer Erkenntnis, unter dessen Bedingung jede einzelne Erkenntnis stehen muß; aber wir finden sie in uns immer nur durch ihren Abdruck am einzelnen sinnlich gegebenen Stoff, von dem wir sie nur durch Abstraktion trennen. Sich resumierend nimmt FRIES Folgendes als festgesetzt an: Unsere Erkenntniskraft wird durch den Sinn zu ihren einzelnen Tätigkeiten angeregt, sie gibt aber zu diesen Anregungen eine sich gleichbleibende Form der Erkenntnis hinzu, so daß uns zwar aller Gehalt der Erkenntnis von der Sinnlichkeit kommt, jeder sinnliche Gehalt aber unter der Bedingung einer Form steht, die nur aus dem ursprünglichen Wesen unserer Vernunft als Selbsttätigkeit entspringt. Ferner das Vorhandensein der inneren Tätigkeiten im Gemüt ist nicht hinlänglich, um sie uns zum Bewußtsein zu bringen, wir haben noch ein eigenes Vermögen der inneren Selbstbeobaczhtung, welches aus innerem Sinn und Reflexionsvermögen besteht. Was man gewöhnlich in der Erkenntnis sinnlich nennt, die Anschauung, ist Dasjenige, was wir durch inneren Sinn in uns wahrnehmen; was man gewöhnlich dem Verstand zuschreibt, ist Dasjenige, was wir nur durch Reflexion in uns auffinden. Der innere Sinn zeigt uns unsere Erkenntnisse nur bei Gelegenheit einzelner sinnlicher Anregungen, die Reflexion trennt durch Abstraktion die allgemeine Form, welche der Selbsttätigkeit der Vernunft gehört, von diesem Einzelnen, und bringt uns so durch allgemeine Gesetze in den apodiktischen Verhältnissen die vollständige Erkenntnis zu Bewußtsein. Was dieses Vermögen des Wiederbewußtseins überhaupt zu unserer Erkenntnis hinzugibt, ist die Deutlichkeit der Erkenntnis. Wir erweitern unsere Erkenntnis durch Erfahrung, wir verdeutlichen sie durch Reflexion. Die philosophische Erkenntnis ist diejenige, deren wir uns nur durch Reflexion bewußt werden; sie ist durchaus diskursiv und apodiktisch. Philosophische Urteile behaupten wir, wenn sie Grundsätze sind, schlechthin und noch dazu apodiktisch, ohne uns auf irgendeine zugrunde liegende Anschauung berufen zu können; wir sagen Sätze aus, die sich nur denken lassen, und doch von keinem anderen Urteil abhängen. So behaupte ich z. B.: jede Substanz beharrt, jede Veränderung hat eine Ursache, jedes vernünftige Wesen soll seiner persönlichen Würde gemäß als Zweck ansich behandelt werden, es ist ein Gott und der Wille ist frei. Ich erkenne Gesetze der Natur, der Freiheit und der ewigen Ordnung der Dinge, ohne alle Berufung auf Anschauung. Solche Sätze können wir nicht demonstrieren oder in der Anschauung nachweisen, auch nicht aus anderen Urteilen beweisen, denn sie sind Grundsätze, sondern nur deduzieren, d. h. aus einer Theorie der Vernunft als ursprüngliche Grundsätze derselben aufweisen. Ich beweise nicht, daß jede Substanz beharrlich ist, sondern ich weise nur auf, daß dieser Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz in jeder endlichen Vernunft liegt; ich beweise nicht, daß ein Gott ist, sondern ich weise nur auf, daß jede endliche Vernunft einen Gott glaubt. Durch solche Deduktion tun wir den Forderungen des Systems genug, keinen Satz ohne Grund anzunehmen. Dieser Nachweis aber ist ein bloßes Geschäft der Anthropologie und somit der inneren Erfahrung. Bei der unmittelbaren anschaulichen Erkenntnis des gegebenen Gegenstandes beruth die Evidenz und Wahrheit derselben durchaus nur darauf, daß sie dem Gemüt unmittelbar gegeben ist, d. h. auf ihrem Dasein im Gemüt; wir dürfen aber auch bei unserer apodiktischen Aussage des Apriorischen nie etwas Anderes verstehen, als das Vorhandensein ihrer Erkenntnis im Gemüt. Freiheit, Gottheit, Welt und alle Gegenstände dieser Überzeugung sind gerade das für uns objektiv unmittelbar Unerreichbare, hier also müssen wir gewiß zunächst nur bei den Gesetzen unseres Erkennens stehen bleiben. Die Wahrheit dieser Erkenntnis kann daher nicht auf eine Übereinstimmung derselben mit dem Gegenstand gegründet werden; sie besteht vielmehr nur in der Übereinstimmung meiner Selbstbeobachtung mit den wirklich in meiner Vernunft gegebenen Erkenntnissen. Wir fragen nur, ob wir unsere Erkenntnisse vom Bewußtsein durch den inneren Sinn oder die Reflexion richtig aufgefaßt haben. Wenn wir gemeinhin nach Wahrheit fragen, setzen wir nur den Begriff der empirischen Wahrheit für die Wiederbeobachtung und eine Regel der subjektiven Begründung der Erkenntnisse voraus, ohne uns auf die objektive Begründung der transzendentalen Wahrheit näher einzulassen. Diesem Resultat sind aber die gewöhnlichen Ansprüche des Bewußtseins zuwider. Wir fordern im Großen immer eine objektive Begründung. Wenn ich Jemandem nur zeige: wir Menschen müssen und das einmal so und so vorstellen, wir können es nicht anders denken, so bleibt ihm immer noch die Hauptsache zurück: ist es denn aber auch wirklich so, wie wir es denken und vorstellen? Die Aufgabe stellen wir also immer für die objektive Begründung, allein jeden einzelnen Versuch zur Lösung machen wir doch nur mit subjektiven Begründungsmitteln, nehmen dann aber das Eine für das Andere, und dies ist der Grundfehler aller irrigen Spekulationen. Der Nachweis, daß immer nur von dem die Rede ist, wie die menschliche Vernunft weiß und erkennt, und nicht unmittelbar von dem, wie die Dinge ansich sind, charakterisiert die richtige idealistische Wendung der Spekulation; es ist dies eigentlich der Geist der Spekulation, welchen KANT als Kritizismus gegen den auf das Objektive gehenden Dogmatismus geltend machen wollte. So bestimmt aber KANT auch diesen subjektiven Standpunkt seiner Kritik, den er in der Vorrede zur Kr. d. r. V. beschreibt. So hat er das Verhältnis desselben doch nicht ganz durchschaut, sonst häte er niemals transzendentale (auf den Nachweis der Übereinstimmung mit dem Gegenstand gerichtete) Beweise versuchen können. FRIES will KANTs kritisches Verfahren noch von diesem Mangel befreien. Dadurch erhalten wir dann die rein anthropologische Aufgabe einer Geschichte unseres Erkennens und einer Theorie unserer Vernunft als letztes Bedürfnis aller Spekulation. Zur klaren Entwicklung dieser Theorie zu gelangen, soll KANT hauptsächlich gehindert sein durch sein Vorurteil des Transzendentalen. KANT nennt eine Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, als auch mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein sollen, überhaupt beschäftigt. Die Transzendentalphilosophie gilt ihm allein als reine Philosophie. Diese Transzendentalphilosophie ist nun aber nichts anderes als psychologisch anthropologische Selbstbeobachtung, von der die ursprünglich metaphysische Erkenntnis a priori zu unterscheiden ist. Diese ist das eigentlich Apriorische unserer Erkenntnis, die ursprüngliche Erregbarkeit der erkennenden Vernunft; die Transzendentalphilosophie dagegen zeigt nur den Weg der psychologisch-anthropologischen Selbstbeobachtung, auf welchem wir zur Erkenntnis des Apriorischen gelangen. Dieses Mißverständnis KANTs soll auch seine Lehre von der reinen Apperzeption zur schwierigsten und unverständlichsten Lehre in der Kr. d. r. V. gemacht haben. KANT will mittels dieser für seine Theorie wichtigsten Lehre die Einheit und Verbindung unserer Erkenntnisse erklären. Wäre dieses erreicht, so müßten sich nach FRIES aus dem gefundenen Einheitsprinzip die wirklich vorkommenden Formen der Verbindung einzeln ableiten lassen. Dies leistet die kantische Theorie nicht; sie gibt nur den leeren analytischen Satz des Selbstbewußtseins "Ich denke" als obersten Grundsatz des Verstandes, aus dem jene Ableitung unmöglich ist. KANT meinte, daß dies kein unentbehrliches Bedürfnis seiner Kritik ist. Das soll nach FRIES für die Art, wie KANT sich die Aufgabe gestellt hatte, nicht unrichtig, aber doch für die Evidenz des ganzen Systems ein bedeutender Mangel gewesen sein. FRIES sucht auch diesen Mangel durch eine Ausbildung der Lehre von der reinen Apperzeption zu verbessern. KANT soll die Identität der Apperzeption und die objektive synthetische Einheit durch dieselbe nur als Erfolg der Form des Selbstbewußtseins (daß das "Ich denke" alle meine Vorstellungen begleitet) angesehen haben; aber diese Identität des Ich uns somit der Selbsterkenntnis gilt nur als Teil der ganzen Identität der Apperzeption und der synthetischen Einheit durch diese. Die ganze objektive synthetische Einheit der Apperzeption ist vielmehr die ursprüngliche Form der Einheit und Notwendigkeit in der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft selbst und nicht nur im reflektierenden Verstand. Die objektive synthetische Einheit unserer Anschauung der Welt in Raum und Zeit und die objektive synthetische Einheit, die ich durch die Form des Urteils denke, ist nicht durch die Einheit des Selbstbewußtseins, sondern schlechthin durch die Einheit der Vernunft bestimmt. KANTs Fehler soll sein, daß er die Einheit der Reflexion, die Zusammenfassung all meiner Erkenntnisse in eine Einheit der Selbstbeobachtung mit der unmittelbaren Einheit all meines Erkennens verwechselt hat. KANTs reine Apperzeption ist nur das reine Selbstbewußtsein, welches durch die Reflexion "Ich bin" oder "Ich denke" ausgesprochen wird. Diese reine Apperzeption ist aber nur eine einzelne materiale Bestimmung der ursprünglichen formalen Apperzeption, in welcher das Gesetz der Apodiktizität, der Quell aller einzelnen Formen der Einheit, welche die Reflexion auffaßt, liegt. Es ist dies das Grundbewußtsein der Einheit und Notwendigkeit unserer ganzen Erkenntnis, von dem das Bewußtsein des identischen Ich nur eine Äußerung ist, die wir durch Reflexion erfassen. Diese Äußerung ist nicht mit dem Grund zu verwechseln. Aus dieser Verwechslung KANTs soll der Fehler hervorgegangen sein, daß ihm die Selbsttätigkeit der Erkenntniskraft immer gleich als Willkürlichkeit derselben gilt, d. h. Reflexion. So war also für die Fortbildung der kantischen Philosophie hinsichtlich der Dialektik die Hauptsache, daß die in KANTs Bestimmung des Transzendentalen liegende Verwirrung aufgehoben, die metaphysische Erkenntnis a priori von der psychisch-anthropologischen Selbstbeobachtung unterschieden und die Kritik der Vernunft als psychisch-anthropologische Lehre anerkannt wird. In ganz ähnlichem Sinn, wie FRIES, hat MIRBT in seinem 1841 erschienenen Werk "Kant und seine Nachfolger" (neue Ausgabe 1851 unter dem Titel: "Kants Philosophie", Seite 182) KANTs Vorurteil des Transzendentalen und die Vernachlässigung der empirischen, psychologischen Grundlage der Vernunftkritik gerügt, und behauptet, im Sinne KANTs müsse die Philosophie vom menschlichen Standpunkt der eigenen Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis aus bearbeitet werden. Ebenso urteilte im unmittelbaren Anschluß an FRIES sein Schüler APELT über KANT und das Problem selbst schon in den 1846 erschienenen "Epochen der Geschichte der Menschheit", Bd. 2, Seite 254 und 261 und ebenso in der 1857 erschienenen "Metaphysik" (besonders § 116, Seite 510, sowie Seite 593-597 und § 119, Seite 608). Da die hier ausgesprochene Ansicht in allem Wesentlichen mit der Ansicht von FRIES übereinstimmt, glaube ich nach der ausführlichen Darstellung dieser letzteren eine Wiederholung in wenig veränderter Fassung vermeiden zu dürfen. Es wird genügen, auf die Übereinstimmung hinzuweisen. FRIES und seine Anhänger glaubten also im Geiste KANTs die psychologisch-anthropologische Grundlage seiner Vernunftkritik hervorheben zu müssen und hielten diese Entwicklung zugleich für die wichtigste im Interesse des Fortschritts der Philosophie notwendige Verbesserung. Ähnlich wie FRIES haben über den Irrtum KANTs auch SCHOPENHAUER und BENEKE geurteilt, aber ihre Berichtigungen behalten nicht wie bei FRIES den Charakter der Aufklärung kantischer Selbsttäuschung, sondern nehmen den Charakter prinzipiell abweichender Ansichten an. SCHOPENHAUER nennt in seiner "Kritik der kantischen Philosophie" (als Anhang in Bd. 1 der "Welt als Wille und Vorstellung") bei der Besprechung des Grundgedankens der Vernunftkritik die allererste Grundannahme derselben eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp]; sie liege in dem (besonders Prolegomena § 1 deutlich aufgestellten) Satz:
BENEKE hat sich über KANTs Irrtum in einer eigenen Schrift "Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit", 1832 ausgesprochen. Nach seiner Meinung konnte KANT seine Erkenntnistheorie nur aus innerer Erfahrung gewonnen haben. Nur durch das innere Selbstbewußtsein konnte KANT der Kräfte gewiß werden, welche der menschliche Geist zur Bildung seiner Erkenntnisse hinzubringt. KANT würde demnach mit den philosophischen Denkern der übrigen gebildeten Völker darin übereinstimmen, daß nur auf Grundlage der inneren Erfahrung die Philosophie und insbesondere die Wissenschaft von der menschlichen Seele aufgerichtet werden kann. Aber gerade dies soll nach dem kantischen System in anderen Beziehungen durchaus unzulässig sein. Nur unabhängig von der Erfahrung wollte KANT zur Erkenntnis der reinen Anschauungsformen und der Kategorien gelangt sein. Die empirische Psychologie sei nach ihm durch ihre Idee gänzlich von der reinen oder eigentlichen Philosophie ausgeschlossen. KANTs Fehler bestehe darin, daß er die Spekulation aus bloßen Begriffen nur zur Vordertür hinausgetrieben hat, um sie zur Hintertür wieder einzulassen. Er habe selbst aus Begriffen spekuliert anstatt sorgsam und genau zu beobachten, unter welchen Umständen und in welcher Art die innere Wahrnehmung zustannde kommt. KANT schwanke hin und her zwischen Erfahrung und Spekulation, zwischen Idealismus und Realismus. Die philosophischen Prinzipien sollten rein a priori gefunden werden, und doch stützt sich die Deduktion der Kategorien auf die in der Erfahrung gegebenen Urteilsformen; und der kategorische Imperativ, die Grundlage der gesamten praktischen Philosophie und Religionslehre, werde von KANT selber in vielen Stellen (z. B. der "Kritik der praktischen Vernunft") als ein Faktum bezeichnet. Diesem Schwanken gegenüber behauptet BENEKE, die in unserem Geist a priori gegeben Formen seien, wenn überhaupt, so doch nicht wieder a priori, sondern nur durch Erfahrung zu erkennen. KANT bemerke dies selber sehr richtig gleich in den ersten Worten seiner Kr. d. r. V.
HERBART war in diesem Punkt anderer Meinung als BENEKE. Er wollte keine Psychologie ohne Metaphysik. Zu jeder metaphysischen Untersuchung, welche von einem gegebenen Hauptbegriff aus vorwärts geht, um den Kreis des Wissens zu erweitern, meinte HERBART, gehört zwar eine psychologische Untersuchung des nämlichen Begriffs in Anbetracht seines Ursprungs; aber auch rückwärts, zu jeder von diesen psychologischen Untersuchungen gehört die entsprechende metaphysische. Die Metaphysik habe die Bestimmung, die von der Erfahrung aufgedrungenen Begriffe denkbar zu machen; die Psychologie gehe aus der allgemeinen Metaphysik hervor, indem die Forderung erfüllt wird, die Andeutung zu verfolgen, welche der Schein auf das Sein gibt, sie wirke auf die allgemeine Metaphysik zurück, indem sie den Ursprung der Formen der Erfahrung erklärt, welche dort bloß als gegeben angenommen werden (Werke Bd. 1, Seite 255, 267; Bd. II, Seite 250). Nur ein Verkennen dieses Verhältnisses konnte ihm zufolge zur kantischen Ansicht führen, es sei die Vernunftkritik an Stelle der Metaphysik zu setzen. Betrachtet man den Umriß der Vernunftkritik, so kann man einen Augenblick zweifelhaft bleiben, ob die eine Psychologie oder eine ganze Metaphysik ist. Einerseits läuft sie am Faden der Vermögen fort, die zum Erkennen nötig erachtet werden, andererseits enthält sie der Reihe nach die vier Wissenschaften: Ontologie, Psychologie, Kosmologie, Theologie. Da der richtige Begriff des Seins den kritischen Philosophen dergestalt außerhalb der Schule gestellt hatte, daß sie für ihn nur noch ein Objekt der Betrachtung bleibt: so sah er in ihr nur noch ein psychologisches Phänomen. Aber er sah mit den Augen der empirischen Psychologie. Die damalige rationale Psychologie war kein Fernrohr, noch weniger ein Auge. ("Allgemeine Metaphysik", § 33, Werke 3, Seite 118) -
Wir haben in diesen verschiedenen Auffassungen und Beurteilungen der kantischen Vernunftkritik ein Bild voller Widersprüche erhalten. FISCHER, ULRICI und LIEBMANN meinen, die Vernunftkritik müsse eine psychologische Grundlage abweisen, BENEKE und SCHOPENHAUER vermissen dieselbe und tadeln KANTs Abweisung derselben, FRIES sucht die Abweisung als eine Selbsttäuschung KANTs zu erklären und die Notwendigkeit der psychologisch-anthropologischen Grundlage der Vernunftkritik zu erweisen, HERBART endlich findet diese Grundlage vor, hält sie aber für das Fehlerhafte der kantischen Philosophie und beklagt die Vergrößerung dieses Fehlers in der Schule KANTs. In Bezug auf das Apriori behaupten FISCHER und ULRICI, daß es nach KANT nicht psychologisch zu entdecken ist, BENEKE und HERBART leugnen die Apriorität der Erkenntnisse selbst, halten die apriorischen Erkenntnisse für erworbene, müssen natürlich ihren Ursprung für psychologisch ableitbar ansehen. SCHOPENHAUER und FRIES endlich halten die Apriorität der Erkenntnisse fest, behaupten aber zur Verbesserung KANTs, daß die Entdeckung dieser Apriorität auf dem Weg psychologischer Selbstbeobachtung und Reflexion gewonnen ist und allein gesucht werden kann. Ich habe diese verschiedenen Ansichten nun an KANT selbst zu messen und ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit prinzipiell zu beurteilen. |