KARL VORLÄNDER Immanuel Kant
- der Mann und das Werk
"Nicht etwa, daß er sich in dem Gedanken hätte irren machen lassen, der bei den von ihm so hochgeschätzten besten Köpfen unter den damaligen Philosophen, den drei Berlinern Lambert, Mendelssohn und Sulzer, am meisten Anstoß erregt hatte, durch den ihnen alle Realität verloren zu gehen schien: der Subjektivität von Raum und Zeit. An dieser, damals den meisten noch ganz ungewohnten, als verbohrter Idealismus erscheinenden Auffassung, hat er vielmehr von 1770 an unverbrüchlich festgehalten."
Die Entstehung der Kritik
der reinen Vernunft
Wir haben in den letzten Kapiteln gesehen, daß sich innere und äußere Leben des neuen Professors vom dem des früheren Magisters nur wenig unterscheidt: dieselbe Art der Geselligkeit und Lebensweise, die gleiche Anteilnahme an allen wichtigeren geistigen Strömungen der Zeit, dieselbe oder noch gesteigerte Lehrwirksamkeit. Nur eins unterscheidet den KANT der 70er von dem der 60er Jahre: die auffallende Lücke in seinem schriftstellerischen Schaffen. Es steht zwar, wie wir schon gesehen haben, nicht so, als ob er zwischen 1770 und 1780 gar nichts hat drucken lassen; auch beginnt das Zurücktreten seiner literarischen Tätigkeit schon von 1766 an. Aber, abgesehen von der Pflicht-Dissertation von 1770, erschien in der Tat während jenes ganzen Jahrzehnts nichts Philosophisches aus seiner Feder. Alle Welt wunderte sich, daß der bis dahin so fruchtbaren, seit der Mitte der 60er Jahre auch in weiteren Kreisen so bekannte und beliebte Schriftsteller nichts mehr veröffentlicht hat. Vergeblich luden ihn die gelesensten Zeitschriften Deutschlands zur Mitarbeit ein. In Königsberg aber erfuhr man, und allmählich verbreitete sich die Kunde davon auch nach dem "Reich", daß Professor KANT an einem großen philosophischen Werk schreibt. Seine früheren Leser suchten jedoch umsonst in den Katalogen der Leipziger Oster- und Michaelismesse "nach eine gewissen Namen unter dem Buchstaben K". Es würde ihm zwar, wie er selbst gegen Ende 1773 an seinen Vertrauten MARCUS HERZ schreibt, ein Leichtes gewesen sein, ihn dort "mit nicht unbeträchtlichen Arbeiten, die ich beinahe fertig liegen habe, paradieren zu lassen". Allein er war "halsstarrig" dazu entschlossen, sich durch keinen "Autorkitzel" verleiten zu lassen, auf einem "leichteren und beliebteren Feld Ruhm zu suchen", ehe er seinen "dornigen und harten Boden eben und zur allgemeinen Bearbeitung frei" gemacht, d. h. durch seinen Neubar "der Philosophie auf eine dauerhafte Art eine andere und vor Religion und Sitten weit vorteilhaftere Wendung", dadurch zugleich aber auch "die Gestalt" gegeben hätte, "die den spröden Mathematiker anlocken kann, sie seiner Bearbeitung fähig und würdig zu halten". So war er, während man ihm von allen Seiten Vorwürfe wegen seiner Untätigkeit machte, in Wirklichkeit "niemals systematischer und anhaltender beschäftigt", als eben seit 1770 (an Herz, 24. November 1776).
Manchmal mag den innerlich so Beschäftigten auch das häufige Fragen nach der Fertigstellung seines Werkes empfindlich und nervös gemacht haben. Darauf geht eine noch ungedruckte kleine Erzählung, die ABEGG auf seinem Weg nach Königsberg hörte. Einer, der lange vor der Herausgabe der Kritik der reinen Vernunft in Königsberg war, berichtet hat:
"Kant war sehr empfindlich. Wenn ihm, der 20 Jahre an der Kritik arbeitete, gesagt wurde, daß er dieses Werk doch vollenden wolle, antwortete er: Oh, man hat gar so viele Störungen in diesem Haus (doch wohl dem kanterschen)".
"Man gab ihm ein Logis in einem abgelegenen Garten. Oh, das ist mir's zu tot, zu einsam. Aber ein vortrefflicher Gesellschafter und Mensch war er übrigens."
Wenn auch die 20 Jahre und der abgelegene Garten nicht stimmen, ein hübsches Stimmungsbild ist es jedenfalls! Zu dieser "Empfindlichkeit" paßt ja auch gut die von BOROWSKI mit Bestimmtheit überlieferte Nachricht, aus dem kanterschen Haus habe den Philosophen ein - nachbarlicher Hahn vertrieben, der ihn zu häufig im Gang seiner Meditationen unterbrochen hat.
"Für jeden Preis wollte er dieses laute Tier ihm abkaufen und sich dadurch Ruhe schaffen, aber es gelang ihm beim Eigensinn des Nachbarn nicht, dem es gar nicht begreiflich war, wie ein Hahn einen Weisen stören konnte."
Also gab KANT nach und zog nach dem Ochsenmarkt (1).
Wenden wir uns nun der schwierigen Frage der Entstehung von KANTs kritischem Hauptwerk zu, so wird der Leser weder erwarten noch wünschen, daß wir ihn in die unter den gewiegtesten Kantforschern noch strittigen Einzelheiten dieses Problems einführen. Ich will vielmehr in großen Zügen darlegen, wie sich mir die Sache darstellt, alle unsicheren Streitfragen beiseite lassend. Ich werde mich dabei hauptsächlich auf kantische Selbstzeugnisse stützen und diese in einer Form zitieren, daß jeder, der will, sie sich an der betreffenden Stelle aufsuchen kann.
Zunächst ein Satz aus KANTs zu seiner Orientierung niedergeschriebenen "Reflexionen", welcher einen Rückblick auf seine frühere, relativ dogmatische Denkweise wirft.
"Ich habe von dieser Wissenschaft (d. h. der Metaphysik) nicht jederzeit so geurteilt. Ich habe anfänglich davon gelernt, was sich mir am meisten anpries. In einigen Stücken glaubte ich etwas Eigenes zum gemeinschaftlichen Schatz beitragen zu können; in anderen fand ich etwas zu verbessern, doch jederzeit in der Absicht, dogmatische Einsichten dadurch zu erweitern. ... Es dauerte lange, daß ich auf solche Weise die ganze dogmatische Theorie dialektisch fand", d. h. fand "daß sie sich in Dialektik, d. h. einen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst auflöst." (hg. von Benno Erdmann, II. Teil, Nr. 3)
Und nun die erst im Jahr 1884 bekannt gewordene bedeutsame Mitteilung in einem Brief an Garve vom 21. Dezember 1798:
"Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit usw. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie[Widerspruch - wp] der reinen Vernunft: Die Welt hat keinen Anfang - sie hat einen Anfang; bis zur vierten (Antinomie): Es ist Freiheit im Menschen - gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendig. Diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der reinen Vernunft hintrieb, um den Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit sich selbst zu heben." (2)
Diese Erleuchtung aber fand im Jahr 1769 statt.
"Ich sah anfangs diesen Lehrbegriff (den kritischen) nur in einer Dämmerung. Ich versuchte es ganz ernsthaft, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern, weil ich eine Jllusion des Verstandes vermutete, zu entdecken, worin sie steckt. Das Jahr 69 gab mir großes Licht." (Reflexionen II, Nr. 4)
Diese Entzweiung der Vernunft ist ein Zustand, über den zwar
"der Skeptiker frohlockt, der kritische Philosoph aber in Nachdenken und Unruhe versetzt werden muß." (Prolegomena § 52)
Allein dieses "merkwürdigste Phänomen" der reinen Vernunft
"wirkt auch unter allen am kräftigsten, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäft der Kritik der reinen Vernunft zu bewegen (ebd. § 50),
weil die Vernunft selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen und zur Selbstprüfung zu nötigen (ebd. § 52b, Anm.). Woher aber kommen alle Antinomien? Dadurch, daß man "das Unbedingte in der Sinnenwelt sucht" (Reflexion Nr. 1400), während die Sinne nur auf Erscheinungen, nicht auf die Dinge-ansich gehen. Damit sind wir beim Standpunkt der Dissertation von 1770 angelangt.
Die Bedeutung dieser Dissertation innerhalb der philosophischen Entwicklung KANTs ist von den Fachgelehrten lebhaft umstritten. Die einen (wie PAULSEN) wollen in ihr bereits "die neue Philosophie in ihrer jugendlichen Gestalt", die "lang gesuchte neue Methode der Metaphysik" erblicken, rücken sie also ganz nahe an die Kritik der reinen Vernunft heran; während andere sie als noch durchaus vorkritisch ansehen. Gegen die erstere Annahme spricht schon die Tatsache, daß der Philosoph nach 1770 noch ein volles Jahrzehnt angestrengter Geistesarbeit gebraucht hat, bis er seine neue Philosophie in der "Kritik" veröffentlicht hat. Daß er selber sie andererseits jedoch auch nicht schlechthin zu seinen vorkritischen, mit seiner späteren Denkart "nicht mehr einstimmigen" Schriften rechnet, geht aus dem Umstand hervor, daß er gelegentlich einer 1797 geplanten Herausgabe seiner kleineren Schriften schrieb:
"... doch wollte ich wohl, daß nicht ältere als vor 1770 darin aufgenommen würden, so daß sie mit meiner Dissertation De mundi sensibilis usw. anfängt." (an Tieftrunk am 13. Oktober 1797)
Wir haben in ihr eben eine Vorstufe der Vernunftkritik zu sehen. Von ihr nahmen alle die "mannigfaltigen Untersuchungen" ihren Anfang, deren "Ausschlag" die Kritik bildete. (Kant an Herz am 1. Mai 1781)
Wichtige neue Ansätze in der Richtung des Kritizismus sind jedenfalls in ihr vorhanden. Die sinnliche Wahrnehmung wird, gegen LEIBNIZ und seine ganze Schule, nicht mehr als dunkle und "verworrene" Erkenntnis der "deutlichen" des Verstandes entgegen, sondern als selbständiges Prinzip neben die letztere gestellt. Als ihr "Urbild" erscheint ferner bereits die Geometrie, die den Raum wissenschaftlich behandelt, wie die Mechanik die Zeit, die Arithmetik die Zahl. Weiter: Raum und Zeit sind keine abstrahierten Begriffe mehr, sondern Formen der sinnlichen Anschauung, denen als Stoff die Empfindung gegenübersteht. Die Form aber besteht in der Zusammenordnung des Mannigfaltigen in einem "Gesetz der Seele", eine "inneren Prinzip des Geistes". Folglich bietet auch die Sinneserkenntnis "durchaus Wahrheit" und widerlegt den falschen "Idealismus", der alle Sinneswahrnehmung für bloßen Schein erklärt. Noch wichtiger: die Methode wird als dasjenige hervorgehoben, das in der reinen Philosophie "aller Wissenschaft vorausgeht", ja sie erst erzeugt. Vergißt man das - und es ist bisher immer vergessen worden -, so wälzt man in alle Ewigkeit den Stein des Sisyphus(§ 23). Als der wichtigste methodische Grundsatz aber erscheint ihm eben jene schon durch den Titel gegebene strenge Scheidung zwischen sinnlicher und Verstandeserkenntnis: während man in der Regel, z. B. bei der Frage über den Sitz der Seele, beide heillos vermengt, so daß es aussieht, als ob "der eine den Bock melkt, der andere das Sieb unterhält" (dasselbe Gleichnis kehrt in der Kr. d. r. V. wieder). Auch des negativen Nutzens der Verstandesbegriffe, nämlich ihrer Aufdeckung von Scheinbeweisen, wird bereits kritisch gedacht.
In einer Reihe anderer Punkte ist dagegen der Standpunkt der Kritik noch keineswegs erreicht. Noch bleibt die sinnliche Wahrnehmung dem verstandesmäßigen Denken durchaus untergeordnet: sie erkennt die Dinge bloß, wie sie erscheinen, der Verstand dagegen, wie sie sind. Die Verstandesbegriffe werden bloß negativ, als unabhängig von den Formen der Anschauung, bestimmt, ja an einer Stelle nach der Weise der alten Metaphysik auf Gott als den Urgrund aller Dinge zurückgeführt. Ratsamer, als sich auf die hohe See solcher "mystischen" Anschauungen zu wagen, scheint es ihm freilich, sich an der Küste des unserem Verstand Erreichbaren zu halten (§ 22). Aber es wird doch noch ein realer Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe auch über Mathematik und Erfahrung hinaus behauptet. In Sachen der Ethik steht der Philosoph der kritischen Begründung insofern nahe, als er jetzt ihre ersten Grundsätze durchaus zur "reinen", d. h. durch reine Vernunft erkennbaren Philosophie zählt und diejenigen, wie z. B. auch den von HERDER bewunderten SHAFTESBURY, "scharf tadelt", die den sittlichen Maßstab im Gefühl der Lust und Unlust erblicken. Die Moralphilosophie beruth auf der Freiheit und dem Sollen, die theoretische auf dem Sein. Allerdings gilt als letztes Kriterium (§ 9) noch das von der kritischen Ethik abgewiesene Prinzip der Vollkommenheit.
Die Abhandlung, das Ergebnis einer mehrjährigen geistigen Arbeit, hatte nach außen hin wenig Erfolg. Mochte ihr Charakter als offizielle Universitätsschrift, die lateinische Sprache und der ziemlich trockene Stil einer weiteren Verbreitung hinderlich, mochte, wie KANT meinte, die Nachlässigkeit des Verlegers daran schuld sein, der nur wenige Exemplare nach auswärts verschickt und sie nicht einmal in den Messekatalog hatte setzen lassen: sie fand zunächst nicht einmal eine Besprechung, und wir begreifen KANTs Verdruß darüber,
"daß diese Arbeit so geschwind das Schicksal aller menschlichen Bemühungen, nämlich die Vergessenheit, erdulden muß." (Brief an Herz vom 7. Juni 1771)
Die einzige ihn zufrieden stellende - anscheinend erst Ende 1771 oder Anfang 1772 veröffentlichte - Rezension schrieb der in der Nähe von Königsberg amtierende Landpfarrer JOHANN SCHULZE, KANTs späterer Kollege. Er erhielt deshalb von KANT schon damals den Titel des "besten philosophischen Kopfes, den ich in unserer Gegend kenne" (Kant an Herz vom 21. Februar 1772), und ein Jahrzehnt später, mit einem Dedikations-Exemplar der Kr. d. r. V., das Lob, daß seine
"Scharfsinnigkeit unter allen, die über die Inaugural-Dissertation geurteilt haben, die Trockenheit dieser Materie am Besten durchdrungen und meinen Sinn am genauesten zu treffen gewußt" habe. (Kant an Schulz am 3. August 1781)
SCHULZ wurde später sogar zu einer Art offiziellen Interpreten des Kritizismus. Dagegen erfüllten HERZ' 1771 bei KANTER erschienenen "Betrachtungen aus der spekulativen Weisheit", die nach dem Ausdruck ihres Rezensenten in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek
"in Form eines Schreibens umständlicher vortrugen, was er (Herz) in Anbetracht der kantischen Prinzipien teils für sich verstanden, teils von seinem Lehrer gehört, teils auch selbst dabei anzuwenden gefunden",
die von KANT gehegten Erwartungen nicht. Er fand diese "Kopie" seiner Dissertation ebensowenig getroffen, wie sein eigenes Konterfei in demselben Heft der Allgemeinen Deutschen Bibliothek. Noch unzufriedener war er mit den Besprechungen von HERZ' Schrift in der Göttinger und einer Breslauer "Zeitung". Wertvoller als "zehn solcher Beurteilungen mit leichter Feder" waren ihm die Einwände, die er von LAMBERT und MENDELSSOHN brieflich erbeten und erhalten hatte.
Das Wichtigste jedoch war: ihm selbst genügte die eigene Abhandlung schon bald nach ihrer Veröffentlichung nicht mehr. Er schiebt die Schuld zum Teil einer "langen Unpäßlichkeit", die ihn den ganzen Sommer 1770 über "mitgenommen" hatte, sowie der "Eilfertigkeit" zu, die durch die Notwendigkeit der Fertigstellung zu einem bestimmten Termin veranlaßt worden war. Er beabsichtigte daher im Winter 1770/71 einige Bogen hinzuzufügen, in denen er "die Fehler der Eilfertigkeit verbessern und meinen Sinn besser bestimmen" wollte (an Lambert, 2. September 1770). Allein MENDELSSOHNs und namentlich LAMBERTs kritische Bemerkungen, und mehr als das die "innere Schwierigkeit" der Probleme bewogen ihn, diesen Plan aufzugeben und stattdessen ein ganz neues Werk ins Auge zu fassen, das den Titel "Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft" tragen sollte; im Junie 1771 hofft er bald damit fertig zu sein (an Herz, 2. Juni 1771). Es sollte ihm aber noch oft so gehen, wie er es schon in den "Träumen eines Geistersehers" beschrieben hatte, und wie es gerade dem gewissenhaften Denker häufig ergeht: Vor seinen Augen
"erhoben sich im Fortschritt der Untersuchung öfters Alpen, wo andere einen ebenen und gemächlichen Fußsteig vor sich sehen, den sie fortwandern oder zu wandern glauben."
Glücklicherweise ist uns ein langes Schreiben KANTs vom 21. Februar 1772 an den treuen MARCUS HERZ erhalten, in dem er einen klaren Bericht über seine philosophische Entwicklung und seine schriftstellerischen Pläne während der letzten 1½ Jahre gibt. Danach sollte das damals geplante Werk sein ganzes philosophisches System bringen:
A. Einen theoretischen Teil: 1. Die Lehre von den Erscheinungen, 2. Natur und Methode der Metaphysik;
B. einen praktischen: 1. Die Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der sinnlichen Begierden [also eine Art Psychologie und Ästhetik].
Und zwar wollte er den zweiten Teil, in dem er bereits klar zu sehen glaubte, zuerst abfassen. Noch Ende 1773 hatte er, diese Absicht und freute sich im Voraus darauf (an Herz, Briefwechsel I, 138).
Jedoch hatte er schon im Februar 1772, bei nochmaligem Durchdenken des Ganzen, bemerkt, daß ihm "noch etwas Wesentliches mangelt", was in Wahrheit
"den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht".
Nicht etwa, daß er sich in dem Gedanken hätte irren machen lassen, der bei den von ihm so hochgeschätzten "besten Köpfen" uhnter den damaligen Philosophen, den drei Berlinern LAMBERT, MENDELSSOHN und SULZER, am meisten Anstoß erregt hatte, durch den ihnen alle "Realität" verloren zu gehen schien: der Subjektivität von Raum und Zeit. An dieser damals den meisten noch ganz ungewohnten, als verbohrter "Idealismus" erscheinenden Auffassung hat er vielmehr von 1770 an unverbrüchlich festgehalten. Sondern er fühlte, daß in der Dissertation die Frage noch nicht allseitig geklärt war: Auf welchem Grund beruth die Beziehung unserer Vorstellungen zum Gegenstand? Für die Sinneswahrnehmungen erschien sie ihm klar: sie werden einfach von den äußeren Objekten affiziert. Ebenso auch in der Mathematik und der Moral, wo unser Verstand bzw. Wille die Gegenstände hervorbringt.
Anders bei den von den sinnlichen Wahrnehmungen abstrahierenden reinen Verstandesbegriffen. Wie soll, so lautet die neue Frage, mein Verstand
"gänzlich a priori reale Grundsätze über die Möglichkeit von Begriffen entwerfen, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß, und die doch von ihr unabhängig sind?" (Briefwechsel I, 126)
Es ist die Grundfrage der Kr. d. r. V., die hier aufkeimt: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" In der Dissertation standen Sinneswahrnehmung und Verstand, Anschauung und Denken einander noch schroff gegebnüber; die Verbindung beider zur Einheit der Erfahrung war noch nicht gefunden.
Ein solcher Standpunkt war aber auf die Dauer unhaltbar. KANTkonnte nicht bei ihm stehenbleiben. Und so befindet er sich von da an auf dem endgültigen Weg zur Kritik der reinen Vernunft. Bezeichnenderweise taucht dann, wir ihr Problem, so auch ihr Name im Brief vom 21. Februar 1772 zum ersten Mal (a. a. O., Seite 126). Ganz abgewiesen wird jetzt jene halbmystische Einmischung des Gottesbegriffs, wie ihn PLATO, MALEBRANCHE und CRUSIUS für nötig gehalten hätten, um die Übereinstimmung unserer Begriffe mit den Dingen zu erklären. Ein solcher deus ex machina[versteckte Bühneneinrichtung, die Wunder bewirkt - wp] sei "in der Bestimmung des Ursprungs und der Gültigkeit unserer Erkenntnisse das Ungereimteste, was man nur wählen kann", und hat
"außer dem betrüglichen Zirkel in der Schlußreihe unserer Erkenntnisse auch noch den Nachteil, daß´er jeder Grille oder andächtigem oder grüblerischen Hirngespinst Vorschub gibt".
Auch der Name Transzendentalphilosophie für den Inbegriff "aller Begriffe der gänzlich reinen Vernunft" wird hier zum erstenmal gebraucht. Und für die Einteilung der letzteren sind bereits die Kategorien gefunden, nicht die von ARISTOTELES "aufs bloße Ungefähr nebeneinander gesetzten", sondern "so, wie sie sich selbst durch einige wenige Grundgesetze des Verstandes von selbst in Klassen einteilen".
Soweit die Mitteilungen des wichtigen Briefes vom 21. Februar 1772. Wie sich von da die Entwicklung der Probleme im Innern des Philosophen im Einzelnen weiter vollzogen hat, darüber lassen sich, bei dem Mangel klarer Selbstzeugnisse, nur unsichere Vermutungen aufstellen. Aber es kommt für den Laien, der sich mit der Persönlichkeit und Lehre des Meisters vertraut machen will, auch so viel nicht darauf an. Gibt uns doch der fertige Bau des Systems, wie er großartig vor uns steht, gerade Denkarbeit genug auf, so daß der Nicht-Fachmann sich nicht danach sehen wird, auch noch die ihn nur verwirrenden, vielfach verschlungenen Pfade kennen zu lernen, die zu diesem Aufbau geführt haben: selbst wenn eine sicherer Erkenntnis derselben möglich wäre. Fragen wir uns eingedenk unseres Hauptzweckes, ein tieferes Verständnis von KANTs Persönlichkeit zu vermitteln, lieber: Wie kam es, daß der Philosoh, nachdem er schon auf den richtigen Weg gekommen war, statt sein Buch, wie er plante, im nächsten Sommer zu veröffentlichen, noch neun Jahre schwerer Gedankenarbeit gebraucht hat? Und welcher Art war seine geistige Stimmung bei dieser Arbeit?
Er selbst führt als Hauptentschuldigungsgrund für den immer wieder erfolgenden Aufschub der Vollendung in seinen Briefen an HERZ fast stes mangelnde Gesundheit an (vgl. Briefwechsel I, Seite 93, 117f, 129, 136, 184, 186, 197, 216, 224f). Zugegeben, daß die aufreibende Gedankenanstrengung, zusammen mit den zunehmenden Jahren und seinen vielfachen anderen geistigen Beschäftigungen, ein langsames Vorgehen notwendig machte: zumal da er von vornherein den heilsamen Grundsatz befolgte, sich die zur Erhaltung der Arbeitsfrische bei seinen Jahren doppelt notwendige Erholung und "Intervalle" zu gönnen, unter Umständen
"nur immer die Augenblicke der guten Laune zu nutzen, die übrige Zeit aber der Gemächlichkeit und kleinen Ergötzlichkeiten zu widmen" (an Herz, 7. Juni 1771)
Allein sein "eingeschränktes" Wohlbefinden, "wobei der größte Teil der Menschen sehr klagen würde" hatte er sich doch schon lange gewöhnt, "für Gesundheit zu halten", und durch immer strengere Regelmäßigkeit der Lebensweise die schädlichen Wirkungen zu mindern, sich "soviel sich tun läßt, aufzumuntern, zu schonen und zu erholen" gesucht (an Herz, 28. August 1778). Und nach der Veröffentlichung der Kritik ist doch bei derselben körperlichen Verfassung ein Werk um das andere seiner fruchtbaren Feder entsprungen. Der letzte Grund muß also tiefer liegen.
Er beruth auf dem innersten Charakter unseres Philosophen, seinem unerbittlichen Klarheits- und Wahrheitsdrang, verbunden mit einer Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit des geistigen Arbeitens, die nicht eher ruht, als bis sie ihren Gegenstand bis auf den letzten Grund erschöpft hat, und die dabei auch auf die bisherigen eigenen Meinungen nicht die geringste Rücksicht nimmt. "Wir müssen uns immer verbessern", sagte er seinen Studenten in den Vorlesungen. Und "man muß immer wieder zweifeln in der reinen Philosophie", schrieb er in sein philosophisches Tagebuch (die "Reflexionen", muß
"seine Sätze in allerlei Anwendungen erwägen und ... das Gegenteil versuchen anzunehmen und so längeren Aufschub nehmen, bis die Wahrheit von allen Seiten einleuchtet." (a. a. O., Nr. 5)
Die dazu nötige Gemütsstimmung beschreibt er in jenem langen Schreiben an HERZ mit den Worten:
"Das Gemüt muß in den ruhigen oder auch glücklichen Augenblicken jederzeit und ununterbrochen zu irgendeiner zufälligen Bemerkung, die sich darbieten möchte, offen, wenn auch nicht immer angestrengt sein. Die Aufmunterungen und Zerstreuungen müssen die Kräfte desselben in der Geschmeidigkeit und Beweglichkeit erhalten, wodurch man instand gesetz wird, den Gegenstand immer auf anderen Seiten zu erblicken und seinen Gesichtskreis von einer mikroskopischen Beobachtung zu einer allgemeinen Aussicht zu erweitern, damit man alle erdenklichen Standpunkte nehme, die wechselweise einer das optische Urteil des anderen verifizieren."
Selten hat ein Schriftsteller wohl eine solche geistige Trainierung so konsequent Jahre lang durchgesetzt, rein im Interesse der Sache, unbekümmert darum, daß sie von anderen nicht verstanden wird. Er ist sich dessen auch bewußt gewesen:
"Ich habe einen glücklicheren Ausgang als alle Vorgänger bloß von der Gemütsverfassung erwartet, in die ich mich versetzte und beständig erhielt, desgleichen von der Länge der Zeit, welche hindurch ich das Gemüt zu jeder neuen Belehrung offen hielt, welche Stücke ich zweifle, daß sie jemals einer vor mir beobachtet hätte."
Da er noch "keine großen Bücher" auf dem Gebiet der Philosophie der reinen Vernunft geschrieben hat, habe er auch seine "Eitelkeit" nicht "in die Notwendigkeit versetzt, sie zu verteidigen und bei einerlei Meinung zu bleiben".
Ich schreite nun rascher vorwärts, indem ich für den Fortgang des Werkes kurz die wichtigsten Daten aus den Briefen an MARCUS HERZ aneinanderreihe. Ende 1773:
"Was das [= die Einzelausführung] in Anbetracht der Methode, der Einteilung, der genau angemessenen Benennungen für Mühe macht und wieviel Zeit darauf verwendet werden muß, werden Sie sich kaum einbilden können."
24. November 1776: "Die Materien ... häufen sich unter meinen Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man einiger fruchtbaren Prinzipien habhaft geworden ist. Aber sie werden insgesamt durch einen Hauptgegenstand wie durch einen Damm zurückgehalten",
in dessen Besitz er zu sein glaubt, und wovon er nichts mehr "auszudenken", sondern "nur auszufertigen hat". Daß dabei nicht an einen Einzelabschnitt, sondern an die ganzeKr. d. r. V. zu denken ist, ergibt ein Vergleich mit dem Brief vom 20. August 1777, wo ein ähnliches Bild von einem "Stein im Weg" gebraucht wird. Es gehört "Hartnäckigkeit" dazu, einen solchen Plan "unverrückt" zu befolgen; und öfters haben ihn die Schwierigkeiten gereizt, "sich anderen angenehmeren Materien zu widmen". Aber von einer solchen "Untreue" habe ihn dann immer wieder nach einer bestimmten Zeit entweder die Überwindung gewisser Hindernisse oder die Wichtigkeit des "Geschäfts" selbst zurückgezogen. Die vier späteren Teile: Kritik, Disziplin, Kanon und Architektonik der reinen Vernunft, stehen ihm jetzt schon fest. Es wird eine "förmliche Wissenschaft" geben, zu der man von den schon vorhandenen philosophischen Systemen nichts brauchen kann, und die zu ihrer Grundlegung ganz neuer technischer Ausdrücke bedarf. Nachdem er die letzten Hindernisse im vergangenen Sommer überstiegen hat, sieht er nunmehr ein freies Feld vor sich.
Am 20. August 1777 ist er sich über die "Idee des Ganzen" klar, die "das Urteil über den Wert und den wechselseitigen Einfluß der Teile möglich macht". Was ihn aufhält, ist jetzt nicht mehr die Schwierigkeit der Sache selber, sondern nur noch die Bemühung, den Inhalt allen Lesern deutlich zu machen: weil auch das, "was man sich selbst geläufig gemacht hat und zur größten Klarheit gebracht zu haben glaubt", doch selbst von Kennern mißverstanden werden kann, "wenn es von ihrer gewohnten Denkungsart gänzlich abgeht". Aus HAMANNs Briefen wissen wir, daß KANT um diese Zeit TETENS' neuerschienenen "Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung" (1776-77) eifrig studiert hat (Hamann an Herder vom 13. Oktober 1777), die er nach desselben HAMANN Mitteilung noch im Mai 1779 "immer vor sich liegen" hatte (Hamann an Herder, 17. Mai 1779). Aber er fand das allzu weitläufige Werk des freisinnigen Psychologen doch für den Leser ermüdend und ohne festes Resultat (Kant an Herz, April 78). Auch konnte ihm für den Hauptzweck seines Werkes weder LAMBERT noch TETENs nützen:
"Ich beschäftige mich nicht mit der Evolution der Begriffe wie Tetens, ... nicht mit der Analysis wie Lambert, sondern bloß mit der objektiven Gültigkeit derselben. Ich stehe in keinem Wettbewerb mit diesen Männern." (Reflexion Nr. 231)
Um diese Zeit scheint er übrigens vorübergehend an eine nur kurze Schrift, "die an Bogenzahl nicht viel austragen wird", gedacht zu haben (April 78).
Gegen 1780 muß das Gefühl immer stärker in ihm geworden sein, daß er das solange schon im Kopf herumgetragene Werk nunmehr endlich ans Licht der Öffentlichkeit bringen muß, falls er nicht Gefahr laufen will, es überhaupt nicht mehr zu vollenden. Er fürchtete:
"ein so weitläufiges Geschäft würde mir bei längerer Verzögerung endlich selbst zur Last werden, und meine zunehmenden Jahre ... möchten es mir, der ich jetzt noch das ganze System im Kopf habe, zuletzt vielleicht unmöglich machen." (an Garve 7. August 1783)
Man kann unter solchen Umständen wohl verstehen, daß ihn Freund HAMANN bei einem Besuch einige Tage vor seinem 55. Geburtstag "voller Lebens- und Todesgedanken" trifft (Hamann an Herder, 17. April 1779). Er beschlooß deshalb im Sommer 1780, um jeden Preis rasch zu Ende zu kommen und lieber auf die Popularität des Stils zu verzichten (an Mendelssohn, 16. August 1787). Er strich daher auch die zahlreichen Beispiele und Erläuterungen des bisherigen Entwurfs.
"Ich sah die Größe meiner Aufgabe und die Menge der Gegenstände, womit ich es zu tun haben würde, gar bald ein; und da ich gewahr wurde, daß diese ganz allein im trockenen, bloß scholastischen Vortrag das Werk schon genug ausdehnen würden, so fand ich es unratsam, es durch Beispiele und Erläuterungen, die nur in populärer Absicht notwendig sind, noch mehr anzuschwellen ..." (Vorrede zur 1. Auflage, Seite XII)
Er schrieb nun, etwa Mitte 1780 beginnend, um mit seinen eigenen Worten zu reden, "das Produkt des Nachdenkens von einem Zeitraum von wenigstens zwölf Jahren innerhalb etwa 4-5 Monaten, gleichsam im Flug" nieder.
Die unter HAMANNs Vermittlung mit HARTKNOCH in Riga angeknüpften Verlagsverhandlungen führten Mitte Oktober zum Abschluß. Der Druck, unter Leitung von SPENER in Berlin bei GRUNERT in Halle, begann etwas verspätet, wahrscheinlich erst Januar 1781, ging aber dann sehr schnell vorwärts. Am 6. April erhielt HAMANN die ersten 28 Aushängebogen; Bogen 31-47 trafen am 28. April in Königsberg ein. Da das gesamte Werk 55 Bogen umfaßte, wird es Mitte Mai fertig geworden sein und konnte so noch auf die Leipziger Ostermesse kommen, die am Sonntag Kantate [der 4. Sonntag nach Ostern im evangelischen Kalenderjahr - wp] (in diesem Jahr am 14. Mai) begann und vier Wochen dauerte. Am 22. Juli erhielt HAMANN von KANT das erste gebundene Exemplar. Die Widmung an Minister von ZEDLITZ trägt das Datum des 29. März. Während der Ausarbeitung hatte er das Werk anscheinend - im Nachlaß findet sich das Bruchstück eines Entwurfs - LAMBERT zu widmen beabsichtigt, als Dank für die lebhafte Teilnahme, die dieser Denker Jahre lang seinen Untersuchungen bekundet hat; LAMBERT war jedoch darüber hinweggestorben (Oktober 1779).
Mit der Vollendung der Kritik der reinen Vernunft tritt KANT in die Zeit seiner Vollreife und zugleich in die Hochzeit seines Wirkens ein.
LITERATUR: Karl Vorländer, Immanuel Kant - der Mann und das Werk, Bd. 1, Leipzig 1924
Anmerkungen 1) Gelegentlich dieses Umzugs könnte er die in das Jahr 1775 fallende interessante Aufstellung seines Hausrats vorgenommen haben, die Reicke in seinem Nachlaß gefunden hat, mitten zwischen schwierigen philosophischen Untersuchungen: "Schlüssel, Schaff [Schrank - wp], Tintenfaß, Feder und Messer, Papier, Schriften, Bücher, Pantoffeln, Stiefel, Pelz, Mütze, Nachhosen, Servietten, Tischtuch, Handtuch, Teller, Schüssel, Messer und Gabel, Salzfaß, Bouteille [Weinflaschen - wp], Wein- und Biergläser, Bouteille Wein, Tabak, Pfeifen, Teezeug, Tee, Zucker, Bürste." (Lose Blätter 1894, Seite 24) 2) Daß das Antinomien-Problem ihn eingehend beschäftigt haben muß, beweisen auch die auffallend zahlreich darüber erhaltenen Reflexionen.