| WILHELM FRIEDRICH SCHÄFFER
Inkonsequenzen und Widersprüche in der Kantischen Philosophie
[2/2]
"Will man also gleichwohl sagen: Raum und Zeit sind bloß eine subjektive Vorstellungsart; wenn es nicht wirklich so ist: so enthebt man ja in der Tat die Vernunft selbst eben hiermit auch zugleich all ihres Ansehens; so gilt sie nichts mehr; und so muß es dann erlaubt sein, auch selbst das allervernunftwidrigste und ungereimteste Zeug zu glauben! Denn wenn es einmal erlaubt ist, warum nicht immer? Ja, so kann ich alles umkehren; so kann ich auch die ganze Sittenlehre umstoßen und kann behaupten: Tugend ist nicht Tugend, und Laster ist nicht Laster. Es ist alles bloß subjektive Vorstellungsart, ansich aber Nichts! Wohin geraten wir also? Wohin? Wohin?" |
Kurze Übersicht der
Kantischen Erscheinungslehre
§ 2. Die ganze Geschichte mit all unserer Erkenntnis geht also jüngst so zu. - Alle Gegenstände, die im Raum und in der Zeit von uns angeschaut werden, existieren, ein für allemal wohl zu merken, - bloß in unserer Vorstellung. Die subjektive Form unserer sinnlichen Anschauung, Raum und Zeit, bringt es nämlich so mit sich, daß uns allerlei Stoff zu allen möglichen Gegenständen oder Vorstellungen vorschwebt oder gegeben wird. Nun kommt der Verstand, und fängt an zu ordnen und zu bilden. Sein Geschäft mit Hilfe der Einbildungskraft ist die Synthesis des Mannigfaltigen, d. h. der setzt das Mannigfaltige, das in der Anschauung unter der Form des Raums und der Zeit uns gegeben wird, mannigfaltig zusammen, bildet daraus, wie ein Tausendfüßler, allerlei Gegenstände oder Vorstellungen, bringt sie unter Begriffe oder Kategorien, d. h. er macht, daß wir nach diesen Kategorien oder ursprünglich bloß subjektiven Denkformen, mittels einer intellektuellen Synthesis, alles Mannigfaltige unter das Einfache und identische Bewußtsein: Ich denke, zusammenfassen; und das heißt dann, Gegenstände oder Vorstellungen denken, oder eine Erkenntnis von Gegenständen haben. Diese nun so gedachten Gegenstände oder Vorstellungen affizieren alsdann unser Gemüt, und so wird dann endlich darauf Empfindung, oder Erfahrung, oder empirische Anschauung, und zwar nach der Form (Raum und Zeit) die dazu im Gemüt a priori schon zugrunde liegt. - Diese ganze Schöpfung geht also bloß in uns selbst vor, und hat folglich auch außerhalb von uns keine ansich gegründete Existenz.
Kantische Hauptbeweise und
Inkonsequenzen in denselben
§ 3. So lehrt KANT über Raum und Zeit, und über die Gegenstände oder sogenannte Erscheinungen, die im Raum und in der Zeit von uns angeschaut werden. Womit beweist er denn nun aber diese Lehre? Die Erörterung derselben, wie wir schon gehört haben, nennt er "transzendentale Ästhetik". Er diskutiert darüber ziemlich weitläufig, und natürlicherweise würde es also noch viel weitläufiger, d. h. vollend gar zu weitläufig werden, wenn wir Schritt für Schritt ihm darin nachgehen wollten. Zum Glück ist aber dies auch gar nicht nötig. Denn er selbst hat dieser Mühe uns schon dadurch enthoben, daß er am Schluß dieser Erörterung, nach Seite 64-72 B das Wichtigste und Wesentlichste in folgende vier Hauptbeweise oder allgemeine Anmerkungen zusammengefaßt hat. Diese wollen wir dann also auch vor allen Dingen jetzt beleuchten; einige Nebenbeweise aber, die hin und wieder einzeln vorkommen, nachher noch nachholen. Damit aber der ganze Gehalt und die ganze volle Kraft derselben umso besser übersehen und empfunden werden kann; so wollen wir jeden der vier Hauptbeweise in einem förmlichen Syllogismus konzentrieren.
Erster Beweis. Die Sätze der Geometrie sind insgesamt synthetische Sätze, und werden gleichwohl a priori mit apodiktischer Gewißheit erkannt. Nun würden sie aber als solche nicht erkannt werden können, wenn sie bloß aus empirischer Anschauung, d. h. aus Erfahrung, oder a posteriori, erkannt werden würden, weil empirische Anschauung nie apodiktische Gewißheit gibt, die doch aber den Sätzen der Geometrie wesentlich eigen ist; also erhellt sich hieraus, daß die Anschauung, woraus wir sie erkennen, keine empirische, sondern reine Anschauung a priori, und daß folglich Raum und Zeit, als Form dieser Anschauung, bloß etwas Subjektives ist. - Micht dünkt man sieht und fühlt es gleich, wie wenig Konsistenz und Konsequenz in diesem ganzen Schluß ist. Vor allen Dingen heißt es dann nun aber wohl: proba Majorem! [Beweise den Obersatz! - wp] - Wir wollen hören! Der Obersatz, mit KANTs eigenen Worten, lautet so (Seite 14): "Mathematische Urteile sind insgesamt synthetisch." (Seite 16): "Ebensowenig ist irgendein Grundsatz der reinen Geometrie analytisch." (Seite 39): "So werden auch alle geometrischen Grundsätze aus der Anschauung, und zwar a priori mit apodiktischer Gewißheit abgeleitet." -
KANT behauptet also zweierlei:
1) kein mathematischer und geometrischer Satz ist analytisch, d. h. ein solcher, dessen Prädikat im Begriff des Subjekts schon enthalten ist, und also auch richtig daraus abgeleitet werden kann;
2) sie werden gleichwohl insgesamt mit apodiktischer Gewißheit, folglich nicht aus empirischer, sondern aus reiner Anschauung a priori erkannt. -
Allein beide Behauptungen sind ohne Grund und unerweislich. Denn wenn ich z. B. sage: jeder Triangel hat drei Seiten und ebensoviele Winkel; so ist doch dieser geometrische Satz zuverlässig nicht ein synthetischer, sondern offenbar ein analytischer Satz. Denn der ganze Begriff eines Triangel verschwindet ja, wenn ich die drei Seiten und drei Winkel davon wegdenke. Ich setze also in diesem Satz durch das Prädikat zum Begriff des Subjekts nichts hinzu, als was schon wirklich darin enthalten ist, und also auch ganz richtig daraus hergeleitet werden kann. Ebenso falsch ist es aber auch, wenn KANT behauptet, daß die Sätze der Geometrie insgesamt nicht aus empirischer, sondern aus reiner Anschauung a priori erkannt werden. Denn wenn ich z. B. sage: der Winkel am Mittelpunkt eines Zirkels ist noch einmal so groß, als der Winkel an der Peripherie desselben, wenn beide zu ihrem Maß ein und denselben Bogen haben; so ist doch dies unleugbar ein geometrischer Satz.
Aber wo ist der Mathematiker, der sich rühmen könnte, diesen Satz schon a priori erkennen zu können? Ist man nicht vielmehr, wenn man sich oder Andere von der Richtigkeit dieses Satzes deutlich überzeugen will, unumgänglich genötigt, zur wirklichen Abzeichnung einer Zirkelfigur mit allen zur Demonstration erforderlichen Linien und Winkeln, und also zu einer wirklichen empirischen Anschauung, seine Zuflucht zu nehmen? Aber eben diese empirische Anschauung überzeugt dann auch einen jeden ganz unwidersprechlich, daß dieser Satz wirklich in der Natur der Sache selbst gegründet ist, und also apodiktische Gewißheit hat. Jedoch KANT selbst hat ja auch dieser seiner Behauptung schon förmlich widersprochen, und sie also selbst schon wieder aufgehoben. Hiervon aber nachher, wenn wir auf die förmlichen Widersprüche kommen werden. Jetzt wollen wir nur hören, wie KANT seinen Obersatz zu beweisen gesucht hat. -
"Nehmet nur den Satz", sagt er Seite 65, "daß durch zwei gerade Linien sich gar kein Raum (völlig) einschließen läßt, folglich keine Figur möglich ist, und versucht ihn aus dem Begriff von geraden Linien und der Zahl zwei abzuleiten;" -
(Aber, lieber KANT, hier ist ja ein Begriff, nämlich der Begriff des Einschließens, vergessen. Diesen muß ich doch aber notwendig haben, um zu sehen, ob er daraus abgeleitet werden kann, und als Prädikat sich zum Subjekt schickt, oder nicht; und da zeigt es sich ja dann schon offenbar, daß der Satz: durch zwei gerade Linien kann ein Raum eingeschlossen werden, gänzlich falsch ist, und sich gar nicht denken läßt, teils weil der Begriff des Prädikats im Begriff des Subjekts gar nicht enthalten ist, und also unmittelbar zum Begriff des Subjekts auch nicht hinzugefügt werden kann, teils weil der Begriff des Geraden und der Begriff des Einschließens ohne Vermittlung eines dritten sich auch wirklich widerspricht. Ist nun aber die Behauptung dieses Satzes ansich falsch und ungegründet; so muß ja notwendig die Verneinung desselben richtig und gültig sein. Vollends deutlich macht aber dies freilich die Anschauung selbst; aber NB [nota bene = Nachbemerkung - wp] nicht rein a priori - denn diese würde ja in der Tat nichts anderes sein, als eine Ableitung aus Begriffen, wie wir sie soeben gesehen haben -, sondern, wie ein jeder sieht und fühlt, wirklich empirische.)
"oder auch, daß aus drei geraden Linien eine Figur möglich sei, und versucht es ebenso aus bloßen Begriffen." -
(Warum nicht? Wenn ich einen Begriff von dem habe, was drei Linien sind, und auch von dem, was eine Figur ist; so ergibt es sich ja daraus schon ganz natürlich, daß sich etwas, was man eine Figur, oder einen Triangel nennt, daraus zusammensetzen läßt; aber freilich auch hierbei kann und muß man die Anschauung, und zwar eine empirische, zuhilfe nehmen, um es sich vollends deutlich zu machen. -)
"Alle eure Bemühung ist vergeblich, und ihr seht euch genötigt, zur Anschauung eure Zuflucht zu nehmen, wie es die Geometrie auch jederzeit tut." -
(Richtig! Aber, lieber KANT, zu was für einer Anschauung nimmt denn die Geometrie jederzeit ihre Zuflucht? Nicht zur empirischen, d. h. zur wirklichen Versinnlichung der abstrakten Begriffe, die ein Lehrsatz enthält, durch wirkliche Darstellung einer wirklichen Figur, und der dazu gehörigen Linien und Winkel? Dies leugnen zu wollen, hieße doch wohl dem, was wirklich geschicht, mit der unerhörtesten Kühnheit widersprechen! -)
"Ihr gebt euch also einen Gegenstand in der Anschauung; von welcher Art aber ist diese; ist es eine reine Anschauung a priori, oder eine empirische?"
(Freilich, das Letztere! Was denn sonst? -)
"Wäre das Letzte; so könnte niemals ein allgemein gültiger, noch weniger ein apodiktischer Satz daraus werden; denn Erfahrung kann dergleichen niemals liefern." -
(Aber, mein Gott, was hilft denn all das Gerede! Denn wenn eins von beiden, entweder die apodiktische Gewißheit geometrischer Sätze, oder die Wahrheit, daß man zur Vollendung ihrer deutlichen Erkenntnis empirische Anschauung zuhilfe nehmen muß und wirklich nimmt, notwendig aufgegeben werden müßte; so könnte ja schlechterdings gar nicht einmal die Frage sein, welches von beiden aufzugeben man sich genötigt sehen würd. Denn es ist ja unleugbar, daß die Mathematiker zur Demonstration ihrer Sätze wirklich zur empirischen Anschauung ihre Zuflucht nehmen. Aber offenbar kann ja beides, miteinander sehr wohl bestehen. Freilich liefert empirische Anschauung für sich allein keine apodiktische [unzweifelhaft sichere - wp] Gewißheit. Aber diese soll sie auch nicht liefern; sondern sie liefert bloß die Sätze, und zwar versinnlicht, oder sinnlich dargestellt; die apodiktische Gewißheit aber gibt ihnen sodann die Vernunft, und die dadurch erkannte Natur der Sache selbst. So hängt ja alles sehr wohl miteinander zusammen.)
"Läge nun in euch nicht ein Vermögen, a priori anzuschauen;" -
(Was mag das heißen sollen? Ich übersetze es; hättet ihr keine Vernunft, kein Vermögen, euch deutliche Begriffe von einer Sache zu machen; - so würdet ihr freilich auch nichts erkennen können. Das ist sehr wahr! Wie folgt nun aber daraus, daß Raum und Zeit etwas bloß Subjektives sind?)
"- wäre diese subjektive Bedingung der Form nach nicht zugleich die allgemeine Bedingung a priori, unter der allein das Objekt dieser äußeren Anschauung möglich ist;" -
(Also wir selbst machen erst die Objekte unserer äußeren Anschauung !!! - Wie künstlich doch der Mensch ist, ohne es einmal selbst zu wissen! Der erbärmliche Einfaltspinsel, der sonst kaum bis Fünf zählen kann, sieht z. B. ein königliches oder fürstliches Schloß, und in demselben die herrlichsten Kunstwerke, Gemälde, Statuen, prächtige Uhren und dgl.; und siehe da, Wunder über Wunder; das alles macht er selbst, und weiß es nicht einmal! - Ich gestehe indessen gern, daß mir diese Voraussetzung viel zu kühn ist. Anstatt des obigen Satzes wollen wir also lieber so lesen: wäre eure Vernunft ihren notwendigen Denkgesetzen nach nicht die Bedingung a priori, unter der es allein möglich ist, eine Sache mittels der Anschauung so zu erkennen, wie sie ist; -)
"- wäre der Gegenstand, z. B. der Triangel etwas ansich, ohne Beziehung auf euer Subjekt;" -
(Warum denn, ohne Beziehung auf unser Subjekt? Können denn Gegenstände ansich keine Beziehung auf unser Subjekt haben? Wo ist der Beweis? - Auch diese Prämisse muß also nur in eine andere Sprache übersetzt werden, und zwar etwa so: wäre ein Triangel ansich kein für eure Vernunft vollkommen Denkbares, und mittels eures sinnlichen Anschauungsvermögens durch wirkliche Wahrnehmung genau erkennbares Objekt; -)
" - wie könnte ihr sagen, daß, was in euren subjektiven Bedingungen, einen Triangel zu konstruueren notwendig lieg, auch dem Triangel ansich notwendig zukommen muß." -
(Das ist doch sonderbar! Freilich wenn die obigen Prämissen, so wie wir sie erklärt haben, falsch und ungegründet wären; d. h. wenn wir keine Vernunft, kein Vermögen hätten, uns deutliche und richtige Begriffe von einer Sache, und besonders von den Sätzen der Geometrie, zu machen, und daraus richtig zu schließen; so würden wir das nicht sagen können, und zwar bloß aus dem Grund, weil wir dann die ganze Sache gar nicht denken und uns vorstellen könnten. Da uns doch nun aber niemand abstreiten kann, daß wir Vernunft haben, und durch Vernunft, in Verbindung mit empirischer Anschauung, uns deutliche Begriffe, von der Natur und Beschaffenheit eines Triangels machen können; so können wir auch apodiktisch sagen: was in unseren vernünftigen Begriffen von der Natur eines Triangels, denselben zu konstruieren, notwendig liegt, das muß auch dem Triangel ansich notwendig zukommen. Denn käme es ihm nicht zu, so wäre es ja kein Triangel. Denn offenbar ist es ja schlechthin unmöglich, etwas für einen Triangel zu halten, was mit der durch Vernunft gedachten und deutlich erkannten Natur eines Triangels nicht übereinstimmt. - Nun höre man aber nur einmal den ganz sonderbaren und äußerst inkonsequenten Grund, den KANT von seiner obigen Behauptung angibt.
"Denn", sagt er, "ihr könntet doch zu euren Begriffen von drei Linien, nichts Neues, die Figur, hinzufügen, welches darum notwendig an dem Gegenstand angetroffen werden müßte, da dieser vor eurer Erkenntnis, nicht durch dieselbe gegeben ist."
(Also, ein Gegenstand, der schon vor unserer Erkenntnis gegeben ist, ist kein Gegenstand unserer Erkenntnis? Ich kann also nicht sagen: so ist er beschaffen; so erkenne ich ihn) - Und der Beweis hiervon? Danach, lieber Leser, fragst du vergeblich; es ist keiner vorhanden! - Und deine Philosophie, lieber KANT, war also vor meiner Erkenntnis noch nicht gegeben? Nur erst durch meine Erkenntnis wurde sie gegeben? Nein! das wäre zu viel Ehre für meinen durchaus gar nicht kantischen Verstand; viel zu stolz also, wenn ich das zugeben wollte! - Aber noch mehr! da schließt ja unser KANT offenbar schon wieder aus einer falschen Voraussetzung. Ich tue ja das nicht, dessen er in dem obigen Satz mich beschuldigt. Ich füge ja, indem ich das Obige sage, zu meinen Begriffen nichts Neues hinzu. Denn es ist ja nicht bloß von drei Linien, es ist ja von einem Triangel die Rede. Wenn ich mir nun aber einen Triangel denke; so denke ich mir ja eo ipso [schlechthin - wp] eine wirkliche, aus drei Seiten und drei Winkeln bestehende Figur. Indem ich also das Obige sage; so sage ich ja im Grunde weiter Nichts, als: ein Triangel ist ein Triangel, oder: eine Figur, die ein Triangel sein soll, muß ein Triangel sein. Dieser Satz kann doch nun aber auf keinen Fall, und in alle Ewigkeit nicht falsch werden. Denn er ist identisch, und folglich apodiktisch, oder durch sich selbst notwendig. Er muß also notwendig auch immer zutreffen; der Triangel, von dem die Rede ist, mag nun vor meiner Erkenntnis, oder erst durch dieselbe gegeben werden. - Nun seht, lieber Leser, so hat KANT seinen Obersatz bewiesen! Ob er ihn aber wohl auch wirklich bewiesen hat? Weit gefehlt! Vielmehr ist der gedachte Obersatz, wo nicht wirklich, wie doch wohl der klare Augenschein lehrt, offenbar unrichtig, doch wenigstens noch bei weitem nicht erwiesen. Dies hat auch KANT selbst schon gefühlt. Denn er behauptet zwar ausdrücklich Seite 14, daß dieser Satz unwidersprechlich gewiß ist; allein es ist mit dieser Versicherung doch so ernsthaft und streng nicht gemeint. Denn er selbst stimmt die Saiten schon wieder gewaltig herunter, indem er Seite 15 sagt:
"will man aber dieses nicht einräumen; wohlan so schränke ich meinen Satz auf die reine Mathematik ein." -
Man sieht also wohl, daß er selbst seiner Sache im Grunde gar nicht recht gewiß ist. - Aber auch diese letztere Behauptung, daß nämlich alle Sätze der reinen Mathematik nicht aus empirischer, sondern aus reiner Anschauung a priori erkannt werden, hat er nicht einmal zu beweisen vermocht. Denn auch hierbei hat er offenbar sich selbst widersprochen, indem er mit ausdrücklichen Worten das gerade Gegenteil von dem bewiesen hat, was er doch beweisen wollte. Da sich nun aber dieser Beweis zu einem förmlichen Widerspruch qualifiziert; so werden wir ihn nachher unter der Reihe seiner Mitbrüder aufstellen, - Gesetzt nun aber auch: alle Sätze der Geometrie wären wirklich synthetisch, und würden als solche gleichwohl a priori mit apodiktischer Gewißheit erkannt; würde denn nun daraus folgen: also ist die Anschauung, woraus wir sie erkennen, eine Anschauung a priori, und Raum und Zeit, als Form dieser Anschauung ist etwas bloße Subjektives? Nichts weniger, als das! Datur tertium! [Ein Drittes gibt es nicht! - wp] Sie können ja aus einer Anschauung oder Erfahrung erkannt werden, von welcher wir nach den wesentlichen und notwendigen Denkgesetzen unserer Vernunft, allenfalls auch hinterher erst, deutlich einsehen, daß sie in der Natur der Sache selbst notwendig gegründet ist, und schlechterdings gar nicht anders sein kann. Ist nun aber dies, wie es denn einzig und allein auch wirklich ist; so haben die Sätze der Geometrie nichtsdestoweniger eine a priori schon gegründete, wiewohl vielleicht in manchen Fällen a posteriori erst erkannte apodiktische Gewißheit, wenngleich die kantische Hypothese von Raum und Zeit gänzlich unbegründet ist. Also schon die erste Inkonsequenz! - Um dies umso deutlicher zu machen; so erlaube man mir nur noch folgende Anmerkungen. Gesetzt also
1) der Raum wäre eine unmittelbare Vorstellung, oder wie KANT es nennt, eine Anschauung a priori; folgt dann daraus, daß er eine bloße Vorstellung, und sonst weiter nichts ist? Keineswegs! Denn Vorstellung vom Raum und Raum ansich, ist ja noch immer zweierlei! Jene ist freilich bloß subjektiv; keineswegs aber dieser; sondern er ist der Gegenstand dieser unserer Vorstellung oder Anschauung; d. h. unsere natürliche und notwendigen Denkgesetze bringen es so mit sich, daß, sobald wir anfangen, zu denken und zu urteilen, wir schlechterdings nicht anders können, als uns vorstellen: es ist ein Raum außerhalb unserer selbst wirklich vorhanden. Denn, wie einen jeden sein eigenes inneres Bewußtsein lehrt, wir denken uns ja den Raum keineswegs als etwas in uns, oder als eine bloße subjektive Form unserer Sinnlichkeit; sondern wir denken uns ihn ja ganz bestimmt als Etwas außerhalb von uns! Folglich ist er keineswegs unsere sinnliche subjektive Denkform selbst; sondern diese führt uns nur auf ihn, und nötigt uns, daß wir ihn als Etwas außerhalb von uns notwendig anerkennen und uns vorstellen müssen. Nur in diesem Sinne, und unter dieser ausdrücklichen Bestimmung (als Etwas außerhalb von uns), ist die Vorstellung vom Raum uns eine schlechterdings notwendige Vorstellung. Wäre nun aber gleichwohl der Raum, wie KANT will, Etwas bloß Subjektives, obgleich wir unvermeidlich gezwungen sind, uns ihn als Etwas außerhalb von uns vorzustellen; so würde folgen, daß unsere natürlichen und notwendigen Denkgesetze ihrer Natur nach auf einen totalen Irrtum gerichtet wären! Unsere vernünftigen Denkgesetze selbst müßten also ihrem ganzen Wesen nach ursprünglich fehlerhaft sein; sie müßten uns gebieten, uns Etwas vorzustellen, und auch zugleich es nicht, sondern das gerade Gegenteil gebieten; sie müßten sich also durch sich selbst aufheben, indem sie offenbar mit sich selbst im geraden Widerspruch stehen würden. Da nun aber dies nicht möglich ist, und vernünftigerweise sich schlechterdings nicht denken läßt; so ist es auch nicht möglich, daß der Raum eine bloß subjektive Form unserer Sinnlichkeit sein kann; sondern es muß wahr sein, daß der Raum Etwas außerhalb von uns ist, weil es notwendig ist, daß wir auf diese Weise ihn uns vorstellen müssen. Denn eine jede Vorstellung, die strenge Allgemeinheit und absolute Notwendigkeit hat, muß auch ansich, wie ja KANT selbst gesteht, notwendig wahr sein.
2) Gesetz also ferner, daß alle Sätze der Geometrie bloß synthetische Sätze sind, die aus einer unmittelbaren Anschauung a priori schon erkannt werden; wie folgt denn daraus, daß der ganze Raum, mit allen seinen Punkten, Linien und Figuren, mit allen seinen Größen, Flächen und Körpern, bloß etwas Subjektives ist? Worin liegt die Unmöglichkeit, daß die Sache nicht auch wirklich außerhalb von uns so sein kann, wie wir genötigt sind, auch schon a priori sie uns vorzustellen? Diese Unmöglichkeit müßte KANT doch notwendig erst beweisen, wenn man seine Lehre von Raum und Zeit nicht für sehr willkürlich halten soll. Denn solange diese Unmöglichkeit noch unerwiesen ist und bleibt, solange ist ja die Möglichkeit des Gegenteils unleugbar, und man kann also mit Recht sagen: es muß nicht so sein, sondern es kann auch noch ganz anders sein. Da nun KANT die gedachte Unmöglichkeit weder im Geringsten bewiesen hat, noch je beweisen kann und wird; da vielmehr der Schluß: wir haben vom Raum eine Vorstellung a priori, also ist er selbst weiter Nichts, als eine bloße Vorstellung oder eine bloße subjektive Form derselben, ein sehr übereilter und offenbar ganz falscher Schlußt ist, indem er teils vom Vordersatz zu seinem Schlußsatz einen ganz gewaltigen Sprung macht, teils aber auch dem, was wir nach unseren vernünftigen Denkgesetzen in Anbetracht des Raumes notwendig annehmen und uns vorstellen müssen, geradehin widerspricht; so haben wir auch nicht nur keinen Grund, seine Lehre von Raum und Zeit für wahr zu halten, sondern wir haben vielmehr Grund, das gerade Gegenteil für wahr, und also den Raum für Etwas außerhalb von uns zu halten, weil es unendlich vernünftiger ist, eine Vorstellung für wahr zu halten, die sich als notwendig aufdrängt, als eine andere, die man bloß willkürlich annimmt. Nun aber ist die Vorstellung, daß der Raum Etwas bloß Subjektives ist, offenbar nichts weiter, als bloß willkürlich, weil sie aus ihren Prämissen keineswegs, als eine notwendige Folge, fließt, und weil man nicht beweisen kann, daß das Gegenteil unmöglich ist. Kann man nun aber dies nicht beweisen; so muß man auch zugeben, daß ein Raum außerhalb von uns, als Objekt unserer Vorstellung, und also von dieser ganz unabhängig, nicht allein möglich, sondern auch wirklich ist; möglich, weil die Vorstellung von der Wirklichkeit eines solchen Raums schlechterdings nichts enthält, was ansich unmöglich wäre; wirklich, weil die Vorstellung von einem Raum außerhalb von uns durchaus unvermeidlich oder absolut notwendig ist, und weil jede Vorstellung, die strenge Allgemeinheit und absolute Notwendigkeit mit sich führt, auch zugleich apodiktische Gewißheit hat. Folglich ist es apodiktisch gewiß, daß ein Raum außerhalb unserer selbst wirklich so vorhanden ist, wie wir uns ihn vorstellen.
3) Was stellen wir uns denn nun aber eigentlich vor, wenn wir uns einen Raum vorstellen? Ich antworte: die Vorstellung des Raumes, als eine Vorstellung oder Anschauung a priori, ist nichts anderes, als die Vorstellung der formalen Möglichkeit, daß unendlich viele Dinge getrennt voneinander und nebeneinander unabhängig von uns existieren können; oder kurz: der Raum ist die formale Möglichkeit der reellen Existenz der Dinge. Diese Möglichkeit ist unbegrenzt; daher ist der Raum unendlich: sie hat so viele Abteilungen oder gleichsam so viele verschiedene Fächer, als es mögliche und denkbare, oder wirkliche und aktelle Existenzen der Dinge gibt und geben kann; sie ist in einem fortgehend, überall sich selbst gleich, in allen ihren Bestimmungen und Abteilungen zugleich vorhanden, steht, sozusagen, nach allen Seite hin offen, in die Länge, in den Breite, in die Höhe und in die Tiefe, und folglich sind die verschiedenen Dimensionen des Raums und der Zeit in der Tat nichts anderes, als Prädikate dieser Möglichkeit. Diese Möglichkeit nun muß notwendig anerkannt und zugegeben werden; sie ist durch sich selbst uns unwiderstehlich klar und einleuchtend; wir können sie nicht ableugnen, oder wir müßte auch zugleich die Möglichkeit unserer eigenen Existenz leugnen. Insofern also mit dem klaren Bewußtsein, oder mit der anschauenden Vorstellung unserer eigenen Existenz auch zugleich das klare Bewußtsein oder die anschauende Vorstellung, daß ebensowohl auch noch unendlich viele andere Existenzen außer uns selbst und neben uns wenigstens möglich sind, in sehr naher Verbindung steht, und gleichsam innigst verwoben ist; insofern ist auch allerdings die Vorstellung vom Raum eine Vorstellung, oder eine Anschauung a priori, die, so wie das Bewußtsein unserer eigenen Existenz, uns durchaus notwendig ist. Wollte man also gleichwohl sagen:
"die Dinge ansich existieren nicht im Raum, d. h. nicht außer und nebeneinander, sondern wir stellen sie uns bloß im Raum vor, weil unsere Fähigkeit, sie wahrzunehmen schlechterdings an diese Form gebunden ist",
so gibt man doch eben hiermit zu, daß die Vorstellung von einem Raum außerhalb unserer selbst, vermöge unserer natürlichen und unabänderlichen Denkgesetze, uns schlechterdings notwendig ist, wenn es uns möglich sein soll, mehrere Dinge, oder eine Welt, als wirklich existierend uns vorzustellen. Will man also ungeachtet dessen behaupten: die Dinge-ansich existieren nicht im Raum; was heißt das anderes, als verlangen, daß wir etwas glauben oder annehmen sollen, was uns zu denken schlechterdings unmöglich ist? Aber welche eine Forderung! Wie ist es möglich, etwas zu glauben, was man gar nicht einmal denken kann? Heißt das nicht der Vernunft Gewalt antun, und ihre Gesetze mit Füßen treten? Eins von beiden kann also nur stattfinden, entweder man muß die Existenz der Dinge ansich gänzlich leugnen, wenn man den Raum für eine subjektive Form unserer Sinnlichkeit erklären will, wie auch Herr Hofprediger SCHULTZ in seiner Prüfung der kantischen Erkenntnislehre, Teil 1, Seite 181 auch selbst audrücklich lehrt und zugibt: man würde sogar die Möglichkeit der Vorstellung unserer Dinge unmittelbar selbst mit aufheben, wenn man das Dasein des Raums wegdenken wollte oder könnte; oder, da diese eine offenbare Ungereimtheit sein würde, so muß man zugeben, daß der Raum wirklich etwas außerhalb von uns, nämlich die, von uns und unserer Vorstellung ganz unabhängige, a priori schon bestehende, formale Möglichkeit des wirklichen, reellen Auseinanderseins der Dinge ist.
4) Die kantische Lehre von Raum und Zeit ist also nicht allein ganz ohne allen bündigen Beweis, sondern sie ist vielmehr wirklich auch ganz einleuchtend falsch. Denn KANT lehrt:
"Raum und Zeit ist eine bloße subjektive Form unserer Sinnlichkeit, und zwar eine solche, wodurch die Vernunft gar nicht bestimmbar ist, oder, mit welcher die Vernunft gar nichts zu tun hat." (Kr. d. r. V., Seite 584)
Wäre dies nun wahr; so müßte doch unsere Vernunft existierende Dinge ohne allen Raum, d. h. ohne alles Aus- und Nebeneinandersein, und ohne alle Zeit sich denken können. Allein dies ist ihr ja doch schlechterdings ganz unmöglich, wie auch KANT selbst ausdrücklich sagt:
"wir können uns keinen Begriff davon machen, daß kein Raum ist."
Können wir das nun aber nicht; so muß auch jene kantische Hypothese notwendig falsch sein. Denn unsere Vernunft selbst kann es sich ja schlechterdings nicht anders denken, als daß mehrere existierende Dinge getrennt von und nebeneinander, d. h. im Raum existieren müssen. Das Gegenteil anzunehmen ist also offenbar ganz vernunftwidrig. Wie kann es dann nun aber erlaubt sein, etwas Vernunftwidriges anzunehmen? Wie ist es möglich, etwas zu glauben, was doch die Vernunft selbst sich nicht einmal als möglich denken kann? Will man also gleichwohl sagen: Raum und Zeit sind bloß eine subjektive Vorstellungsart; wenn es nicht wirklich so ist: so enthebt man ja in der Tat die Vernunft selbst eben hiermit auch zugleich all ihres Ansehens; so gilt sie nichts mehr; und so muß es dann erlaubt sein, auch selbst das allervernunftwidrigste und ungereimteste Zeug zu glauben! Denn wenn es einmal erlaubt ist, warum nicht immer? Ja, so kann ich alles umkehren; so kann ich auch die ganze Sittenlehre umstoßen und kann behaupten: Tugend ist nicht Tugend, und Laster ist nicht Laster. Es ist alles bloß subjektive Vorstellungsart, ansich aber Nichts! Wohin geraten wir also? Wohin? Wohin? -
LITERATUR: Wilhelm Friedrich Schäffer - Inkonsequenzen und auffallende Widersprüche in der Kantischen Philosophie, besonders in der Kritik der reinen Vernunft, Dessau 1792
| |