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JOHANNES von MALOTTKI
Das Problem des Gegebenen
[ 4/7 ]

    - Einleitung - Der Umfang des Problems
I. Der Monismus des Gegebenen
II a. Der monistische Dualismus
II b. Der erkenntnistheoretische Dualismus
III. Die Logisierung des Gegebenen
IV. Der Monismus der Funktion
V. Das Gegebene als Grenzbegriff: Seine Dialektik
   
"Denn wenn das Urteil zur Voraussetzung die Anerkennung einer Wahrnehmung hat, läßt sich von der Empfindung dasselbe sagen. Sie ist mehr als ein bloßes Haben oder Empfangenhaben eines Sinnesinhalts, nämlich die Anerkennung der Realität des Inhalts durch den Akt des Empfindens."

"Daß die Erkenntnis sich auf ein Gegebenes bezieht, kündigt sich uns unmittelbar in der Empfindung an. Doch bleibt es dabei: auch die Empfindung ist kein Gegebenes mehr. Auch in ihr ist das Formproblem erkannt und damit entfällt jede Möglichkeit, ihr eine Bedeutung im Sinne der reinen Erfahrung beizumessen."

"Die Bewußtheit, die den Empfindungen eigen ist, ist kein eigentliches Erkennen und kann deshalb auch nicht als Ausgangspunkt der inneren Erfahrung genommen werden, wie diese überhaupt kein unmittelbares Bewußtsein, sondern ein mittelbares ist, das den Rahmen der Empfindung und ihrer Bewußtheit durchbricht."

"Die Einsicht in die aktive, spontane Natur auch der einfachsten Denkvorgänge macht nämlich die Annahme eines reinen Abbildens oder Aufnehmens des Gegebenen in der Erkenntnis unmöglich. Es gibt kein Vermögen, das gleichsam außerhalb der Einheit des denkenden Bewußtseins liegend uns das an sich Wirkliche als reinen Inhalt gibt, sondern immer sind wir an die Formen dieses Bewußtseins gebunden, in denen wir denkend ein Gegebenes auffassen, das an das Bewußtsein grenzt."

"Mit dem Moment, wo das Formalproblem in jeder Erkenntnis deutlich geworden ist, ist die unmittelbare Erfassung und Darstellung des Gegebenen aufgehoben. Zwischen der Realität und dem Erkennen steht gleichsam das Medium der Form und so kann die Erkenntnis des Gegebenen nur eine vermittelte, keine unmittelbare sein."

"Die Empfindung ist ein Teil des Objektes."

"Alois Riehl löst das Sein eines Dings von seinen anderen Bestimmungen ab und schreibt ihm ein transzendentes Sein zu. Dazu liegt aber kein Grund und auch kein Recht vor. Auch das Sein eines Dinges ist uns nicht anders bekannt, als die anderen Bestimmungen. Auch das Sein ist ein Urteilsprädikat und nur gültig für Urteilsgegenstände."
   

Zweites Kapitel
Der erkenntnistheoretische Dualismus:
Korrelation des Gegebenen und des Bewußtseins.


II.

Der naive Realismus und der an ihm orientierte Positivismus lassen Gegebenheit und Wirklichkeit zusammenfallen. Damit hat die Erkenntnis, wenn man dabei noch von Erkenntnis sprechen kann, einen durchaus einheitlichen Charakter erhalten: wie sie auch vorgehen mag und worauf sie sich beziehen mag, stets ist sie doch reine Nachbildung des Tatsächlichen. Der kritische Realismus, wie ihn VOLKELT vertritt, will die inneren Widersprüche dieser Theorie vermeiden. Indem er auf das Formproblem hinweist, das innerhalb der Erkenntnis vorliegt, löst sich die behauptete Einheitlichkeit der Erkenntnis auf. Subjektive und bewußtseinsfremde Momente treten in ihr auseinander, aus dem einfachen Gang der Erkenntnis wird ein synthetischer Akt. Dessenungeachtet sollte das Gegebene als transzendente Realität neben dem Denken aufrechterhalten werden. Allein hier setzen die Schwierigkeiten und Widersprüche des VOLKELTschen Gedankengangs ein, und ein Ausweg daraus erscheint nur so möglich, daß die Grundlagen der Erkenntnis einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Es ist vor allem die Frage nach dem Verhältnis, in dem das Bewußtseinsfremde, das Gegebene, zum Wahrnehmen und Denken steht, die einer genauen Untersuchung bedarf.

An diesem Punkt setzt die Philosophie von ALOIS RIEHLs ein, der wir uns jetzt zuwenden. Die Möglichkeit des Erkennens überhaupt ist ihr Problem und RIEHL glaubt, eine Klärung dieser Frage am ehesten dadurch zu erzielen, daß er die Trennung der "objektiven" (realen) und der "subjektiven" Faktoren der Erkenntnis zum Gegenstand der Untersuchung macht. Blicken wir zurück. Der Absolutsetzung des Gegebenen folgte in unserer Darstellung der Dualismus VOLKELTs, dessen Eigentümlichkeit darin besteht, daß er die Unabweisbarkeit des Formmoments der Erkenntnis zur Anerkennung bringen will, daneben aber doch eine bewußtseinsfremde Realität als das logische Prius, als das Gegebene, festhält, das wir einerseits - wenn auch in unvollkommener Weise - rezeptiv aufnehmen, und dessen Verhältnisse und Zusammenhänge unser Denken aufgrund einer ontologischen Beziehung zu der transzendenten Realität abbildet. VOLKELT konstatiert damit einen Bruch innerhalb der Erkenntnis. Während die Selbstgewißheit des Bewußtseins ein lediglich rezeptives Vermögen sein sollte, wurde das vom Denken ausgehende Erkennen anders eingeschätzt. Es sollte an ein im Wesen des urteilenden Bewußtseins angelegtes formales Gepräge gebunden sein, das es niemals verleugnen kann. Auch so aber sollte gemäß dem Grundsatz der Rezeptivität ein Abbilden der transzendenten Realität möglich sein."

In Widerspruch nämlich mit der Überlegung, daß alle Gegenstandsbestimmungen sich in Urteilen vollziehen und deshalb nicht für ein Transzendentes gelten können, schreibt RIEHL dem Gegebenen Realität zu.

Demgegenüber erfährt die Fassung des Gegebenen durch RIEHL eine bedeutsame Wendung durch den Nachweis, daß ein schlechthin passives Verhalten des Bewußtseins und damit auch ein einfaches "Haben" des Gegebenen im Bewußtsein nicht möglich ist. Mit einem Wort, er behauptet "die Gleichartigkeit der Funktion auf allen Stufen ihrer Betätigung und bei aller Ungleichartigkeit des Inhalts, worauf sie sich richtet, - der Funktion, die wir dort, wo sie am deutlichsten und in ihren Momenten gesondert hervortritt, Urteil nennen." (1) Möglich wird der Nachweis zunächst dadurch, daß auch der bei VOLKELT wenn auch in anderer Form festgehaltene Begriff der reinen Erfahrung in seinem Zusammenhang mit dem Denken erkannt wird und damit auch dem einheitlichen Gefüge der Erkenntnis eingegliedert werden kann.

Als das eigentliche Zentrum der reinen Erfahrung wird ja meist die Empfindung betrachtet und deshalb wendet RIEHL zunächst ihr seine Aufmerksamkeit zu und stellt fest, daß sie keineswegs als ein indifferenter Zustand des Bewußtseins aufzufassen ist. Das ist schon darum unmöglich, weil das Bewußtsein sich nicht rein empfangend, sondern immer auch selbsttätig verhält. "Diese Tätigkeit spiegelt sich in den die Empfindung begleitenden Gefühlen wider ..." (2) Jeder Sinneseindruck wird zugleich gefühlt und empfunden. Die Empfindung ist also kein einheitliches Gebilde, in dem Sinne einer bloßen Spiegelung eines Gegebenen, sondern es treten in ihr zwei Seiten auseinander, d. h. auch die Empfindung ist in ihrer Struktur schon zusammengesetzt, sie hat synthetischen Charakter und kann deshalb nicht das Letzte, nicht gegeben, sein. RIEHL bestimmt das in der Empfindung auftretende Gefühl als die subjektive, ihre Qualität als die objektive Seite.

Daraus ergeben sich zwei wichtige Folgerungen: Zunächst weist die Tatsache, daß in der Empfindung ein aktives Verhalten zum Ausdruck kommt, auf den Zusammenhang mit dem Denken hin. Das subjektive Moment der Empfindung sichert ihr die Zugehörigkeit zur Denktätigkeit überhaupt zu, die in Urteilen ihren Ausdruck findet. Ja, "der Empfindungsvorgang, nach seiner aktiven Seite betrachtet, ist selbst das ursprüngliche oder primäre Urteil." (3) Denn wenn das Urteil zur Voraussetzung die Anerkennung einer Wahrnehmung hat, läßt sich von der Empfindung dasselbe sagen. Sie ist mehr als ein "bloßes Haben oder Empfangenhaben eines Sinnesinhalts, nämlich die Anerkennung der Realität des Inhalts durch den Akt des Empfindens." (4) So läßt sich die Empfindung als der logische Beginn des Urteils betrachten. Jedes Urteil, das ein Sein konstatiert, ist getragen von der Gewißheit, daß sich seine Behauptung auf Wahrnehmung und Empfindung gründet. Den Urteilen muß also die Anerkennung der Empfindung zugrunde liegen. Diese Logisierung der Empfindung bedeutet nun freilich die gänzliche Auflösung des Begriffs der reinen Erfahrung; auch VOLKELTs Versuch seiner Aufrechterhaltung wird in derselben Weise getroffen.

Doch geht RIEHL nun nicht etwa dazu über, alles Gegebene in ein Sein im Bewußtsein aufzulösen. Hiervor bewahrt ihn die andere, die "objektive" Seite, die sich ihm in der Empfindung erschlossen hat. Diese offenbart sich durch das Faktum des Bestimmt- und Begrenztseins. RIEHL nennt es das "ursprüngliche Lokalisiertsein", das der Empfindung zukommt. Wir knüpfen also an sie das unmittelbare Bewußtsein ihrer bestimmten Beziehung auf etwas, das selbst nicht empfunden wird. Wir wissen jede Empfindung begrenzt und bestimmt durch etwas, "das, ohne selbst Empfindung zu sein, in dem Bewußtsein dieser Begrenzung zur Geltung kommt." (5) Wir werden auf dieses Verhältnis des Angrenzens der Empfindung an das Gegebene noch einzugehen haben. Soviel steht jedenfalls fest, daß in diesem Verhältnis die nichtsubjektive, die "reale", Bedeutung der Empfindung zutage tritt. Bekanntlich erblickt RIEHL in dieser Tatsache ja auch den zwingenden Grund für die Annahme einer Realität. "Es gibt keinen anderen Glauben an äußere Existenz als denjenigen, den wir unmittelbar oder mittelbar der Empfindungstätigkeit verdanken." (6) Und zwar ist es eine ganz bestimmte Gewißheit der Realität, die uns in der Empfindung entgegentritt, nämlich die "materiale", im Gegensatz zur bloß formalen, die sich aus den allgemeinen Erkenntnisbegriffen ergibt. Damit ist die Erkenntnis vor der Gefahr einer rein formalen Bestimmung gesichert. Sie bedarf für den Gültigkeitsanspruch ihrer Aussagen der Verifizierung durch die an das Gegebene grenzende Empfindung. Und hierin kommt nun doch das Motiv, das dem positivistischen Grundsatz der Rezeptivität des Denkens zugrunde liegt, zur Geltung. Daß die Erkenntnis sich auf ein Gegebenes bezieht, kündigt sich uns unmittelbar in der Empfindung an. Doch bleibt es andererseits dabei: auch die Empfindung ist kein Gegebenes mehr. Auch in ihr ist das Formproblem erkannt und damit entfällt jede Möglichkeit, ihr eine Bedeutung im Sinne der reinen Erfahrung beizumessen.

Die synthetische Struktur der Empfindung hat aber noch eine andere wichtige Konsequenz. "Durch die Doppelseitigkeit von Gefühl und Qualität wird die Empfindung zum Ausgangspunkt der doppelten Erfahrungsrichtung." (7): der inneren sowohl wie der äußeren. Der Gegensatz zwischen dem empirischen Subjekt und dem empirischen Objekt geht aus der Empfindung nicht hervor. RIEHL sieht in ihr die gemeinsame Quelle beider Erfahrungsweisen, vermöge welcher wir neben und "zugleich mit einem Zustande unseres Bewußtseins eine von uns unabhängige Wirklichkeit" erfassen. (8) Er meint, daß durch die Erfassung der Gefühle das Subjekt entsteht, wie durch die Erfassung der Empfindung "nach ihrer qualitativen Seite das Objekt der Vorstellung". Der Frage nachzugehen, in wieweit es richtig ist, in der Empfindung die gemeinsame Grundlage der äußeren und inneren Erfahrung zu suchen, kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Nur soviel sei angedeutet: die Bewußtheit, die den Empfindungen eigen ist, ist kein eigentliches Erkennen und kann deshalb auch nicht als Ausgangspunkt der inneren Erfahrung genommen werden, wie diese überhaupt kein unmittelbares Bewußtsein, sondern ein mittelbares ist, das den Rahmen der Empfindung und ihrer Bewußtheit durchbricht. Wichtig ist dagegen für unseren Zusammenhang das Folgende: lassen sich beide Erfahrungsweisen auf die ursprüngliche Einheit der Empfindung zurückführen, dann haben auch beide dieselbe Realitätsweise, die Form der Vorstellung, d. h. Erscheinungsrealität. Und daß innerer wie äußerer Erfahrung Erscheinungsrealität zukommt, wird sich uns bestätigen; Erscheinungsrealität aber deshalb, weil sie Erscheinungen eines Gegebenen sind. Das meint auch RIEHL wohl, wenn er ausdrücklich feststellt, daß die Unterscheidung von Subjekt und Objekt nicht das Letzte ist, sondern ein Abgeleitetes, das sich auf das "reine Bewußtsein der Empfindung" zurückführen läßt, nur daß dieses nicht mit dem beiden Erfahrungsrichtungen zugrunde liegenden Gegebenen identisch ist. Auch so aber ist RIEHLs Lehre von Bedeutung. Der naive Realismus stellt das Objekt als gegeben voran und umgekehrt entwickelt der Idealismus vom denkenden Subjekt aus das Objekt. RIEHLs Standpunkt ist demgegenüber dadurch gekennzeichnet, daß er von dieser Antithese frei ist und frei ist er deshalb davon, weil der Gegensatz Subjekt-Objekt für ihn "nicht die Bedingung des Bewußtseins überhaupt", sondern nur eine "Entwicklungsstufe" desselben bedeutet. (9) Beide Erfahrungsweisen haben also dieselbe erkenntnistheoretische Dignität. Die eine ist nicht etwa "unmittelbarer" als die andere oder umgekehrt diese nicht durch jene vermittelt. Beide Erfahrungsweisen haben Erscheinungscharakter, beide aber zugleich reale Bedeutung, da sie ja beide aus der Einheit des empfindenden Bewußtseins entspringen und so "wirklich sind, wie es die Empfindung ist." (10)

Das Problem des Gegebenen hat mit dieser Auffassung eine gewisse Wendung nach der funktionellen Seite hin erfahren. Die bisher von uns behandelten Theorien haben nämlich etwas gemeinsam, was zuletzt eine Konsequenz des positivistischen Satzes der Rezeptivität der Erkenntnis ist. Es wird mehr oder weniger radikal der Rezeptivität eine besondere Kraft, ein besonderer Wert, zugeschrieben, weil in ihr ein Gegebenes recht eigentlich erfaßt werde. Und diese Wertschätzung geht nun entweder, wie es beim Positivismus der Fall ist, so weit, daß der andere Faktor der Erkenntnis, das Denken, bedeutungslos, ja geradezu entstellend wirkt; oder aber es wird - wie wir bei VOLKELT sahen - das Denken zwar als selbständige Erkenntnisquelle neben der Selbstgewißheit angesehen, das positivistische Motiv aber doch insofern beibehalten, als das logisch Ursprüngliche immer das Gegebene ist, dessen Verhältnisse das Denken innerhalb seiner subjektiven Formen abbildet. Auch die enge Beziehung, in die man das Gegebene zum Inhalt der Erkenntnis bringt und die damit betonte Gegensätzlichkeit zur gestaltenden Tätigkeit der Denkform klingt hier wieder durch. In jedem Falle kommt eine eigentümliche, von dem positivistischen Ideal her diktierte, Rangordnung der Erkenntnisgrundlagen darin zum Ausdruck. Im Grunde ist das Gegebene das allein Bedeutsame für die Gegenstandserkenntnis.

Zwar sagt auch RIEHL: "In der Wahrnehmung ist das Subjekt von dem wahrgenommenen Inhalt abhängig." (11) Daß aber hier schon eine prinzipiell anders gerichtete Einstellung Platz gegriffen hat, wird deutlich, wenn er wenig später hinzusetzt: "Unserem Bewußtsein kann nichts gegeben werden, das nicht sogleich von demselben gebildet und umgebildet werden würde." (12) Das trifft in gleichem Maße die äußere wie die innere Erfahrung. Die beiden Erfahrungsrichtungen werden damit einander gleichgeordnet. Gleichartig sind sie beide durch den Erscheinungscharakter, der ihnen anhaftet. Und Erscheinungscharakter haben sie deshalb, weil sie beide das einheitliche Reale zum Korrelat haben, das selbst prinzipiell dem Richtungsgegensatz vorgeordnet ist. RIEHL selbst bezeichnet diesen Standpunkt als "Monismus". Und was mit ihm gewonnen ist, ist die Transponierung des Gegebenheitsproblems in eine andere Sphäre. Schon hier, wo zunächst nur die "sinnlichen Grundlagen" der Erkenntnis behandelt sind, tritt die Bedeutung des Begriffes der Form der Erkenntnis und die Einsicht in seine notwendige Mitwirkung am Aufbau der Erkenntnis so deutlich zutage, daß der Unterschied gegenüber den bisher behandelten Theorien offenbar ist. Die Einsicht in die aktive, spontane Natur auch der einfachsten Denkvorgänge macht nämlich die Annahme eines reinen Abbildens oder Aufnehmens des Gegebenen in der Erkenntnis unmöglich. Es gibt kein Vermögen, das gleichsam außerhalb der Einheit des denkenden Bewußtseins liegend uns das an sich Wirkliche als reinen Inhalt gibt, sondern immer sind wir an die Formen dieses Bewußtseins gebunden, in denen wir denkend ein Gegebenes auffassen, das an das Bewußtsein grenzt.

Damit hat das Verhältnis, in dem Gegebenes und denkendes Bewußtsein bisher standen, eine andere Fassung erhalten. Zwar bleibt das Gegebene eine Realität, ein an sich Wirkliches. Aber in seinem Verhältnis zur Erkenntnis ist eine wichtige Änderung eingetreten; mit dem Moment, wo das Formalproblem in jeder Erkenntnis deutlich geworden ist, ist die unmittelbare Erfassung und Darstellung des Gegebenen aufgehoben. Zwischen der Realität und dem Erkennen steht gleichsam das Medium der Form und so kann die Erkenntnis des Gegebenen nur eine vermittelte, keine unmittelbare sein. Das Gegebene ist in seiner Tatsächlichkeit, als Objekt nicht erkennbar. Was soll es dann aber sein, wenn es nicht mehr im positivistisch-realistischem Sinne Objekt der Erkenntnis sein kann? Die Erkenntnis soll sich trotzdem doch auf das Gegebene beziehen, ja von ihm her, wie sich oben zeigte, seine Bestimmung erhalten. Wie aber ist das möglich, wenn das Gegebene doch augenscheinlich aus dem Umkreis der Erfahrbarkeit entfernt werden muß? Diese Frage führt RIEHL zu einer Deutung, die äußerst beachtenswert ist: die Realität, die an sich besteht, ist uns lediglich als Grenze gegeben. Das bedeutet folgendes: das Transzendente ist, wie es an sich existiert, für uns nicht erkennbar. Es tritt uns aber andererseits in der Analyse des Bewußtseins entgegen, insofern sich dieses in einer Weise bestimmt fühlt, die nicht allein aus seiner eigenen Natur stammen kann. Hier kündigt sich die Realität an, die also, obwohl an sich unerkennbar, doch an unser Bewußtsein grenzen muß.

Was der volle Sinn des Begriffes der Grenze ist, wird erst später klar werden. So viel ist jedoch schon jetzt festzustellen: neben der Absolutierung des Gegebenen, die jede Erkenntnis im eigentlichen Sinne unmöglich und überflüssig macht und neben der Absolutierung des Denkens, für die es ein Gegebenes nicht gibt, öffnet sich die Aussicht auf einen Standpunkt, dessen Eigenheit dadurch gekennzeichnet ist, daß einerseits die aktive Natur der Erkenntnis gewahrt bleibt, während sie daneben doch auf ein Bewußtseinsunabhängiges bezogen ist, das ihre Grenze bildet. So sagt RIEHL: "Wir erfahren durch den Zwang, womit uns die Mannigfaltigkeit der Empfindungen bestimmt, daß das Bewußtsein durch eine Wirklichkeit begrenzt wird, die es selber nicht ist." (13) Damit ist auch schon die besondere Natur dieses "Angrenzens" angedeutet: sie offenbart sich als ein Verhältnis, eine Relation, zwischen dem Bewußtsein und dem, woran es grenzt und zwar derart, daß in und mit dieser Beziehung das Bewußtsein seine Bestimmung erhält. Das Grenzverhältnis ist zugleich ein Bestimmungsverhältnis. Die bestimmte Erkenntnis, d. h. der Gegenstand, ist also nicht mehr einfach das Gegebene, sondern ist erst das Ergebnis einer Beziehung, nämlich des Grenzverhältnisses zweier Faktoren. Damit hat sich das Problem durchaus gewandelt. Eine abschließende Erörterung indessen ist jetzt noch nicht möglich. Es muß vorher auf eine andere Konsequenz eingegangen werden, die sich aus der Aufzeigung funktioneller Elemente in der einfachen Wahrnehmung ergibt.

Enthält nämlich auch die primitive sinnliche Erfahrung derartige nicht-inhaltliche Momente, dann fällt auch der Gegensatz, in den die Empfindung und Wahrnehmung zum eigentlichen Denken bisher gesetzt worden ist. Es ist ja nicht so, daß die Wahrnehmung den Inhalt der Erkenntnis "gibt", zu dem dann die Formen des Denkens hinzutreten. Sondern jeder Inhalt ist als Inhalt auch schon Gegenstand des Bewußtseins und deshalb schon immer mehr als bloßer Inhalt. Ist also auch die Empfindung Bewußtseinsinhalt, dann besteht zwischen ihr und dem vollgegenständlichen Inhalt "ein Unterschied nicht nur des Grades, nicht der Art." (14) "Die Empfindung ist ein Teil des Objektes." (15) Der Gegensatz von Wahrnehmung und Denken geht auf in dem Begriff der einen Erfahrung, die ihren Grund hat in der Einheit des denkenden Bewußtseins. Wenn wir also auch über die Empfindung und Wahrnehmung hinausgehen, so ist das nur die Fortführung und Vollendung der mit der Empfindung beginnenden wissenschaftlichen Erfahrung. Mit dieser Trennung bezeichnen wir nur verschiedene Stadien desselben Prozesses.

Indem wir diesen Prozeß weiter verfolgen, stoßen wir auf das eigentliche Denken und seinen Anteil an der Herstellung der Erkenntnis. "Indem wir sukzessiv Empfindungen mit Empfindungen verknüpfen, bringen wir zugleich die Einheit des Bewußtseins hervor." (16) Und aus dem Prinzip der Einheit des Bewußtseins sind die Kategorien abzuleiten, unter die wir die Mehrheit der Empfindungen bringen, die dadurch Objektivität erhalten. Daraus folgt die Relativität der Erscheinungen, d. h. sie haben "ein notwendiges und unauflösliches Verhältnis zur Einheit des Denkens." (17) "Dinge sind konstante Gruppen von Empfindungen zur Einheit des Bewußtseins gebracht." (18) Es ist nicht unsere Aufgabe, hier eine Darstellung der Kategorien, wie sie RIEHL entwickelt hat zu geben. Wichtig ist für unseren Zusammenhang jedoch eines. Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Wahrnehmung und Denken und seine Zurückführung auf den Begriff der einen Erfahrung kommt nun weiterhin darin zum Ausdruck, daß, wie die Formen des Empfindens und Wahrnehmens, so auch die allgemeinen apriorischen Erkenntnisbegriffe als Grenzbegriffe angesehen werden. Damit sind sie gleichermaßen in die Beziehung zu dem Transzendenten gebracht. Wie die Linien als Grenze sowohl der einen, wie der anderen Seite des reinen Verstandes als die Grenzen des Bewußtseins an die den Erscheinungen zugrunde liegende Wirklichkeit zu betrachten." (19) Und so sind sie auch deshalb, vermöge ihres doppelseitigen Charakters "dazu befähigt und bestimmt, die Verhältnisse des Wirklichen selbst in unserem Bewußtsein adäquat auszudrücken". So bemerkt RIEHL, daß die Denknotwendigkeit allein diese allgemeinen Erkenntnisbegriffe noch nicht zu Gesetzen der Wirklichkeit erhebt. Zu diesen werden sie erst, in dem das an sie grenzende, d. h. auf sie bezogene, Transzendente ihnen "die besondere Einschränkung" gibt. (20) Offenbar liegt hier dasselbe Verhältnis vor, das uns oben bei der Erörterung der Struktur der Wahrnehmung beschäftigte. Wahrnehmung und Denken sind in gleichem Maße durch die Beziehung zum Transzendenten charakterisiert, die wir bisher als Grenzrelation bezeichneten. Was soll damit gesagt werden? Offenbar bedeutet Grenze ja nicht nur ein Negatives im Sinn einer Schranke, die dem Erkennen Halt gebietet. Sondern wie das geometrische Gebilde erst eigentlich dadurch entsteht, daß es durch Linien und Flächen begrenzt ist und durch diese Begrenzung erst bestimmt ist, so empfängt auch die Erkenntnis durch das Angrenzen des Gegebenen erst ihre volle gegenständliche Bedeutung. Sie ist keine ins Uferlose gehende reine Bewegung, kein unendlicher Prozeß, sondern das an sie Grenzende wandelt diese zu einer bestimmten. So erweist sich in einem tieferen Sinne die Positivität der Grenze in dem Akt der Bestimmung des Denkens.

Wir müssen indessen auf das Grenzverhältnis noch näher eingehen. Die Überlegung, die zu seiner Aufstellung führt, entspringt einem anti-realistischen Motiv. Es ist die Rücksicht auf die notwendigerweise in bestimmten aus der Natur unseres Denkens stammenden Formen sich vollziehende Erkenntnis, die ein Gegebenes als erkennbares Objekt unmöglich macht. In dem Augenblick, wo die kategoriale Natur auch der primitivsten Erkenntnis feststeht, kann von einer Identifizierung des Bewußtseinsinhaltes mit einem bewußtseinsfremd Gegebenen nicht mehr die Rede sein. Es ist unmöglich, im Denken ein Gegebenes abzubilden. Auf der anderen Seite folgt daraus aber noch nicht die Unmöglichkeit der Annahme eines Gegebenen überhaupt für das Denken. In der Analyse des urteilenden Bewußtseins tritt es uns vielmehr entgegen. So ergibt sich für RIEHL die Notwendigkeit einer neuen Bestimmung des Verhältnisses, in dem das Gegebene zum Erkennen stehen muß, einer Bestimmung, die zugleich den besonderen Einsichten in die Natur unseres Erkennens Rechnung trägt. Muß also ein Gegebenes festgehalten werden, so doch nur unter Berücksichtigung der Abhängigkeit der Gegenständlichkeit von unserer sinnlichen und logischen Erkenntnisweise. Mit anderen Worten: Unsere gegenständliche Wirklichkeit ist durch eine doppelte Relation gekennzeichnet. Durch die Beziehung sowohl auf ein Gegebenes, wie auf unser an bestimmte Formen gebundenes Denken. Sieht der Monismus des Gegebenen in der besonderen Form unserer Urteilsgegenstände nur die Reproduktion der Verhältnisse und Eigenschaften des Gegebenen, so wird jetzt ihre kategoriale Natur erkannt. Deshalb kann das Gegebene nicht an sich dieselben Formen und Verhältnisse aufweisen, die erst aufgrund unseres Denkens entstehen. Das bedeutet aber nichts anderes, als die Reduktion des Gegebenen vom erkennbaren Objekt auf den Begriff der Grenze.

Wir denken in den unserem Denken gemäßen Formen. Und wir haben kein Recht, diese auf das Gegebene zu übertragen. Von unserer gegenständlichen Wirklichkeit ist der Anteil dessen, der ihr seine Besonderheit gibt, nicht wegzudenken. Das einzige, was wir von dem Gegebenen aussagen können, ist die Beziehung, in der es zu unserem Denken steht und in der es als bestimmender Anlaß am Aufbau unserer Wirklichkeit beteiligt ist. Jedes Element dieses Aufbaues aber ist schon immer mehr als bloß gegeben, es trägt schon die Prägung unseres Erkennens; lediglich als Moment der Grenze, an sich für uns nicht erkennbar, erfahren wir das "Sein" des Bewußtseinsfremden, d. h. die Beziehung des Denkens auf ein Gegebenes. Mit dieser Fernhaltung erst aufgrund unseres Denkens zustande gekommener Formen von dem Gegebenen und der daraus sich ergebenden Trennung des Gegebenen von der Wirklichkeit ist RIEHL durchaus auf dem richtigen Weg. Allein zu einer konsequenten Durchführung dieses Gedankens ist es bei ihm nicht gekommen. Daran hinderte ihn seine realistische Grundüberzeugung, die sich als ein Vorurteil erweist. In Widerspruch nämlich mit der eben geschilderten Überlegung, daß alle Gegenstandsbestimmungen sich in Urteilen vollziehen und deshalb nicht für ein Transzendentes gelten können, schreibt RIEHL dem Gegebenen Realität zu. Damit wird aus dem Gegebenen als Grenzbegriff am Ende doch ein an sich Wirkliches. Das bedeutet aber ein Hinausgreifen in eine von RIEHL selbst verpönte Metaphysik. Denn möglich ist diese Auffassung nur aufgrund einer Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] der Kategorie des Seins. Erkennt RIEHL sonst auch die kategoriale Natur jeder Denkbestimmung an und beruth auf dem energischen und umfassenden Nachweis dieser Tatsache sein Fortschritt gegenüber allem Positivismus und naivem Realismus, so fällt er hier in denselben Fehler zurück. Er löst das Sein eines Dings von seinen anderen Bestimmungen ab und schreibt ihm ein transzendentes Sein zu. Dazu liegt aber kein Grund und auch kein Recht vor. Auch das Sein eines Dinges ist uns nicht anders bekannt, als die anderen Bestimmungen. Auch das Sein ist ein Urteilsprädikat und nur gültig für Urteilsgegenstände. Ohne ein urteilendes Denken können wir also auch von keinem Sein sprechen und die Hypostasierung des Seins zum Ding an sich läßt sich nicht durchführen.

Für RIEHL bleibt also letztlich das Gegebene das reale, an sich unerkennbare, Sein, zu dem das Denken in Beziehung tritt. Und nun wird auch die Natur dieser Beziehung deutlich. Es ist wieder die ontologische Relation zwischen zwei Objekten und was in dieser Relation festgestellt werden soll, ist letzten Endes die Gleichheit und Übereinstimmung zwischen dem Gegebenen und der vertrauten Vorstellung. Möglich wird diese Übereinstimmung aber nur dadurch, daß im Hintergrund die Überzeugung der "Kongruenz der kategorialen Formen der Erscheinungen mit den einfachen Verhältnissen der Dinge selbst" steht. (21) Das ist ja RIEHLs tiefste Überzeugung, daß die Formen unseres Denkens in dem Gegebenen gewisse Korrelate haben, die er sich freilich immer als seiend denkt. An diesem Punkt geht RIEHLs Theorie offenkundig in Metaphysik über. Es wird sich herausstellen, daß tatsächlich eine Beziehung zwischen dem Gegebenen und dem Denken vorliegt. Aber es wird keine ontologische Relation sein. Denn das Gegebene wird, richtig zu Ende gedacht, kein Objekt sein können, an dem eine Relation zu einem anderen Objekt festgestellt werden könnte. RIEHL ist selbst dieser Auffassung nahe genug gekommen. Was ihn hinderte und schließlich doch nicht zum Ziele führte, ist das realistische Vorurteil und die daraus folgende Hypostasierung des Seins zum an sich Wirklichen.
LITERATUR - Johannes von Malottki, Das Problem des Gegebenen, Berlin 1929
    Anmerkungen
    1) ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus, 1925, Bd. II, Seite 54
    2) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 50
    3) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 54
    4) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 55
    5) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 55
    6) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 56
    7) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 88
    8) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 88
    9) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 92
    10) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 93
    11) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 223
    12) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 226
    13) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 94
    14) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 255
    15) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 231
    16) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 238
    17) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 239
    18) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 238
    19) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 24
    20) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 238
    21) ALOIS RIEHL, ebenda Seite 26


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