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HANS CHRISTOPH MICKO
Gemäßigter Konstruktivismus
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""Die Vermutung, daß Perzepte immer ein Objekt repräsentieren, wird von beinahe jedermann für eine Selbstverständlichkeit gehalten."

Die nachfolgenden Überlegungen sind eigentlich nicht neu. Sie werden ähnlich seit Jahrhunderten unter verschiedenen Bezeichnungen vorgebracht, neuerdings unter der des Radikalen Konstruktivismus, der sich bei konsequenter Anwendung positivistischen Zweifels zwingend ergibt. Ebenso lange werden diese Überlegungen nach Kräften ignoriert. Daher möge eine leicht provokante Neuformulierung den einen oder anderen Leser zu einem veränderten Welt- und Selbstverständnis anregen, das bemerkenswert ist und womöglich lebensbedeutsam.

Alle verwendeten Begriffe sowie berichtete oder behauptete Tatsachen sind leicht in elementaren elektronischen oder konventionellen Enzyklopädien nachzulesen, z. B. in Wörterbüchern der Philosophie, Psychologie und Religion. Das gilt nicht für Vermutungen und Feststellungen, die der Autor aus eigenem Erleben berichtet.


PHILOSOPHIE.

Nicht nur Psychologen (sollten) wissen: Niemand hat je Lichtwellen gesehen, niemand daher deren Quelle, z. B. die Sonne oder den Sonnenuntergang. Allgemein ausgedrückt: Niemand hat je eine physikalischen Reiz, einen Gegenstand oder ein Ereignis der Außenwelt jenseits des Bewußtseins erlebt. Das schließt den eigenen Körper ein, der Teil dieser Welt ist. Wir erleben ausschließlich flüchtige Bewußtseinsinhalte bzw. Mengen von Bewußtseinsinhalten, also Empfindungen und Wahrnehmungsgegenstände oder deren Veränderungen. Die englische Sprache unterscheidet deutlicher: We perceive percepts, not objekts. [Wir nehmen Wahrnehmungen wahr, keine Objekte. - wp] Was wir erleben, ist eine Farbempfindung, z. B. gelbrot, nicht das Licht bestimmter Frequenz. Wir erleben das Perzept gelb-roter Kreis, nicht das Objekt Sonne. Wir erleben das langsame Verschwinden eines gelb-roten Kreises von unten nach oben, nicht das physikalische Ereignis Sonnenuntergang.

Für andere Sinnesorgane gilt dasselbe: Niemand hat je Zucker gespürt, weder auf der Zunge noch zwischen den Fingern. Was wir erleben, ist die Geschmacksempfindung "süß" und eine körnige Tastempfindung auf der Zunge oder zwischen den Fingern. Nicht einmal die Zunge oder die Finger erleben wir, sondern mancherlei Empfindungen im Mund, vor allem Druck-, Bewegungs-, und gelegentlich Geschmacksempfindungen - von unseren Fingern auch visuelle Bilder. Schon gar nicht haben wir jemals neuronale Prozesse erlebt, die angeblich zwischen Außenwelt und Bewußtsein vermitteln. Erlebt haben wir bestenfalls Bilder, d. h. visuelle Wahrnehmungsgegenstände, die wir als gemittelte, von neuronalen Prozessen ausgelöste EEG-Kurven oder farbliche Anzeigen lokal verstärkter Gehirndurchblutung interpretieren.

Wen wir davon sprechen, einen Gegenstand der Außenwelt wahrzunehmen, etwa die Sonne oder die eigene Zunge, dann ist das eine schlampige Ausdrucksweise. Richtig müßten wir sagen, daß wir einen Wahrnehmungsgegenstand (Perzept) als Bewußtseinsinhalt erleben und als Gegenstand der Außenwelt (Objekt) interpretieren. Beispiele sind ein gelb-roter Kreis in entsprechendem Kontext (tagsüber am Himme), der als Sonne interpretiert wird und eine charakteristische Kombination von Bewegungs- und Berührungsempfindungen (im Mund), die als Zunge interpretiert wird.

Zugegeben, wir erleben Perzepte als Objekte sobald sie bewußt werden, denn der Wahrnehmungspsychologie zufolge findet ihre Interpretation schon in der sogenannten prä-attentionalen Phase des Wahrnehmungsprozesses statt - beim Abgleich von (botton-up) sensorischer und (top-down) Gedächtninsinformation. Dieser bewußte Vorgang ist seit frühester Kindheit weit überlernt, daher voll automatisiert und kaum vermeidbar. Würde er bewußt ablaufen, ließe er sich als Interpretation beschreiben, d. h. als Zuordnung eine Kombination von Empfindungen.

Die Interpretion von Wahrnehmungsgegenständen, d. h. Bewußtseinsinhalten, als Gegenstände einer Außenwelt begründen oder rationalisieren wir mit Hilfe der Annahme, daß Perzepte immer nur als subjektive Repräsentanten von Objekten im Bewußtsein auftreten. Fantasievorstellungen, Traumbilder, Halluzinationen, Hologramme, etc. gelten nicht als Wahrnehmungsgegenstände oder als Ausnahmen. Die Vermutung, daß Perzepte immer Objekte repräsentieren, wird von beinahe jedermann für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Erstaunlicherweise gilt das auch für die meisten Psychologen. Dabei handelt es sich um eine Vermutung, deren Richtigkeit durch eigenes Erleben niemals nachgeprüft wurde und nicht einmal nachgeprüft werden kann. Wir haben nämlich keinen von unserer Bewußtseinsinhalten unabhängigen Zugang zu Gegenständen der Außenwelt. Wir erleben immer nur Perzepte, nie die sie angeblich auslösenden Objekte der physikalischen Außenwelt. Die Außenwelt wird daher irrtümlich als empirische Wirklichkeit bezeichnet. Die Menge unserer erlebten oder erlebbaren Bewußtseinsinhalte ist es, welche unsere empirische Wirklichkeit ausmacht - darunter die Wahrnehmungsgegenstände als Teilmenge. Kurz ausgedrückt: Empirische Wirklichkeit ist das Bewußtsein - sofern wir unsere (samt Assoziationen) und Bewußtsein als die unendliche Menge potentieller Erlebnisse, d. h. als Potenzmengen unserer potentiellen Bewußtseinsinhalte definieren, natürlich einschließlich der manifesten.

Wenn das Bewußtsein unsere empirische Wirklichkeit ist, dann ist die physikalische Außenwelt eine theoretische Wirklichkeit, d. h. lediglich vermutet. Als solche ist sie ausgedacht, d. h. eine Gedankenkonstruktion oder Fiktion. Wir leben zweifellos mit einem Weltbild. Ob wir in einer Welt leben, wissen wir nicht. Das Weltbild als Gedankenkonstruktion beschreibt eine theoretische Wirklichkeit, die es so oder ähnliche oder anders oder gar nicht geben mag, die aber jedenfalls nicht erlebt wird. Physikalische Reize, Objekte und Ereignisse sind daher lediglich theoretische Konstrukte. Es sind Konstrukte unseres Weltbildes, bzw. Konstrukte der impliziten oder expliziten Theorie einer beständigen Welt jenseits der erlebten flüchtigen Bewußtseinsinhalte. Explizit wird eine solche Theorie von Philosophen formuliert, neuerdings von den sogenannten Radikalen Konstruktivisten. Implizit verwenden wir alle sie ständig, indem wir uns so verhalten, als können wir uns auf ihre Vorhersagen verlassen - zumindest im Alltag fast immer zu recht. Die Vorhersagen einer Theorie lassen sich explizit logisch, womöglich auch implizit intuitiv, aus ihr herleiten. Aus der Beständigkeit der Welt können wir z. B. herleiten, daß der Eiffelturm zu sehen sein wird, wenn wir demnächst in Paris vorbeischauen.

Die Theorie einer beständigen Welt ist seit frühester Kindheit konstruiert worden, so wie implizite Theorien konstruiert werden und explizite Theorien zu konstruieren sind. (Professor FRITZ WILKENING, Zürich, hat dazu Untersuchungen angestellt): Zunächst scheinen schon Babys regelhafte Gemeinsamkeiten im Auftreten von Erlebnissen zu beobachten. Später scheinen sie, vor allem im Spiel, aufgrund von mehr oder weniger ziellosen Erkundungsexperimenten einfache Hypothesen zu entwickeln. Schließliche prüfen offensichtlich schon kleine Kinder implizit, ebenso wie Wissenschaftler explizit, ihre Hypothesen durch Vergleich von Erwartung und Erfahrung und modifizieren sie aufgrund von Versuch und Irrtum in tausenden von Entscheidungsexperimenten, wiederum ganz überwiegend im Spiel. Fast immer geht es dabei um die Feststellung des, gleichzeitigen oder zeitlich versetzten, gemeinsamen Auftretens von Bewußtseinsinhalten und mit der Zeit um die übersichtliche Einordnung dieser Befunde in ein erinnerbares System von Hypothesen, d. h. eine Theorie. Die Theorie einer beständigen Welt jenseits des Bewußtseins ist dafür offensichtlich gut geeignet. Besonders wichtig ist für uns die Feststellung und systematische Speicherung der erlebten Folgen eigener Entscheidungen und Handlungen. Von einem gewissen früher Alter an erweist sich offenbar auch der Rückgriff auf miterlebte oder sprachlich vermittelte Erfahrungen anderer wahrgenommener Personen als zweckmäßig und ökonomischer als eigenes Erfahrungslernen. Die Theorie einer beständigen Welt wird Kindern von Erwachsenen in aller Regel bestätigt.

Unbestritten, die Theorie oder theoretische Fiktion einer beständigen Welt hinter den flüchtigen Bewußtseinsinhalten hat sich als höchst nützlich erwiesen. Grund sind die zahllosen aus ihr implizit oder explizit hergeleiteten erfolgreichen Vorhersagen vergangener, gegenwärtiger und daher vermutlich auch künftiger Erlebnisse. Unserem vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Weltbild verdanken wir zumindest, daß wir nicht ständig überraschend mit der Nase gegen eine Wand stoßen - im wörtlichen ebenso wie im übertragenen Sinn. Theoretische Fiktionen rechtfertigen sich durch ihre Vorhersagekraft. Damit unterscheiden sie sich von freien Fiktionen, die möglicherweise literarischen, ästhetischen oder anderen Kriterien genügen, nicht jedoch dem wissenschaftlichen Kriterium der erfolgreichen Vorhersage empirischer Daten, d. h. erlebter Bewußtseinsinhalte. Unser weitgehend gemeinsames wissenschaftliches Weltbild mit seinen physikalischen, biologischen, psychologisch-sozialen etc. Gesetzmäßigkeiten dürfte trotz seiner laufend bearbeiteten Lücken und Fehler als Vorhersageinstrument die umfangreichste weitgehend erfolgreiche Theorie sein, über die wir verfügen. (Sie kann daher mit einigem Recht als Referenztheorie verwendet werden, an der neue Theorien geprüft werden. Irrtümlich werden solche Prüfungen empirische Prüfung genannt, obwohl es sich lediglich um Prüfungen an einer nützlichen weil vorhersagekräftigen theoretischen Fiktion handelt.) Auch unser vorwissenschaftliches Weltbild genügt verhältnismäßig weitgehend, den Anforderungen, die wir an seine im Alltag benötigten Vorhersagen stellen, vor allem was die Konsequenzen unseres Verhaltens anbetrifft. All unser Wissen ist in dem Format unseres vorwissenschaftlichen oder wissenschaftlichen Weltbildes gespeichert. Daher wäre es ebenso unmöglich wie unsinnig, diese nützliche Fiktion nicht für die Planung unserer Entscheidungen und Aktivitäten zu nutzen. Das gilt z. B. in diesem Augenblick für den Autor bei der Formulierung eines Textes, den Leser verstehen sollen, die er sich vorstellt und vielleicht einmal wahrnehmen wird, wenn er ihnen bei Gelegenheit als Diskussionspartner begegnet. Schon zum Wiedererkennen und zur Vorhersage der erwartbaren Verhaltens von Wahrnehmungsgegenständen benötigen wir die Informationen unseres Weltbildes.

Kaum jemand, auch wenn er "mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Wirklichkeit" steht, wird sich für einen naiven Realisten halten. Das gilt besonders für Naturwissenschaftler und somit Psychologen. Die meisten würden sich wohl, auf Befragen und nach kurzem Nachdenken, als kritische Realisten bezeichnen. Kritische Realisten geben zu, daß die physikalische Außenwelt nicht erlebt, sondern nur vermutet wird. Sie halten es jedoch aus pragmatischen Gründen für notwendig, an die Richtigkeit dieser Vermutung zu glauben. Ihnen zufolge ist es nicht anders möglich, als das nicht nachprüfbare Vorurteil zu übernehmen, daß die erlebten Empfindungen durch Reize, die erlebten Perzepte durch Objekte und deren Veränderungen durch Ereignisse in einer Welt jenseits des Bewußtseins verursacht sind. Ohne dieses Vorurteil, bzw. ohne den Glauben an die Wirklichkeit der Welt, gäbe es keine Kommunikation. Mit wem denn wohl? Mit eigenen Bewußtseinsinhalten oder theoretischen Konstrukten? Mit denen sprachlich oder gar schriftlich zu kommunizieren ist tatsächlich ein abwegiger Gedanke, zumindest auf den ersten Blick. Es gäbe zudem keine Wissenschaft - mangels Objektivität. Die bedarf nämlich nach Auffassung kritischer Realisten der Kontrolle eigener Erlebnisse durch sogenannte interpersonale Vergleiche, d. h. durch Vergleiche mit den Erlebnissen anderer Personen, die nicht nur eigene Gedankenkonstruktionen sind.

Wenn Naturwissenschaftler als kritische Realisten klug wären, würden sie die vermutete Welt nur als Bild, Beschreibung oder in mathematischer Terminologie als Modelle des Weltbildes auffassen, auf dessen Vorhersagekraft sie zu recht weitgehend vertrauen und das eigentlich ein geordnetes System von Wahrnehmungsgegenständen samt Regeln ihres Auftreten ist. Aus diesem Grund verhalten sich auch radikale Konstruktivisten im Alltag so, als ob es die Welt gäbe, die sie für erfunden halten. Dieser Klugheitsvermutung widerspricht jedoch, daß Naturwissenschaftler in aller Regel Objekte und Ereignisse der Welt jenseits des Bewußtseins nicht als fiktive theoretische Konstrukte, sondern als Gegenstände der Erfahrung oder empirische Daten auffassen. Sie rechtfertigen das mit der pragmatischen Notwendigkeit des Glaubens an die Welt. Mit diesem Glauben machen sie sich jedoch zu Fundamentalisten und ihr Zugeständnis, die Welt sei eine lediglich hypothetische Wirklichkeit, zu einem Lippenbekenntnis. Ihr für notwendig befundener Glaube an eine nie erlebte und nicht erlebbare empirische Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse jenseits des Bewußtseins läßt sich mangels Erfahrung nicht widerlegen und daher auch nicht (vorläufig) bestätigen. Er ist daher ebenso fundamentalistische wie der unbezweifelte Glaube an religiöse Verkündigungen von Personen, Gruppen oder Jedermann, die sich nicht durch eigenes Erleben widerlegen oder bestätigen lassen. Wenn man den Begriff des Fundamentalismus unter Vermeidung von Mehrdeutigkeit auf beliebige Verkündigungen bzw. Glaubenssysteme anwenden will, dann bietet sich als Kriterium der Mangel an empirischer Prüfbarkeit der Glaubensinhalte an. Zumindest fällt dem Autor kein Kriterium ein, auf das man sich leichter einigen könnte. An diesem Kriterium gemessen ist auch der Glaube an eine permanente Welt jenseits des Bewußtseins fundamentalistisch, sobald sie für mehr als eine vorhersagekräftige nützliche Fiktion oder gar für die empirische Realität selbst gehalten wird.

Täglich bekräftigt die Erfahrung der zahllosen erfolgreichen Vorhersagen unseres Weltbildes den fundamentalistischen Glauben an die Wirklichkeit der vorgestellten beständigen Welt jenseits des Bewußtseins. Das ermöglicht, die Verunsicherung abzuwehren, die mit der Einsicht in die Fiktivität jeder Theorie oder jedes Weltbildes verbunden zu sein scheint. Mechanismen zur Abwehr solcher Verunsicherungen, sogenannte Vorurteilsabwehrmechanismen, haben wir reichlich entwickelt. Sie reichen von der Vermeidung oder Abwehr von Informationen, die den Glauben an das Vorurteil bedrohen, bis zur Entwicklung sozialer (Denk-)Normen, die subtil oder gewaltsam sanktioniert werden. Wer die Welt als empirische Wirklichkeit in Frage stellt, riskiert heutzutage nicht das Schafott, doch immerhin noch soziale Ausgrenzung oder das Irrenhaus.

Wir scheinen daher vor einem Dilemma zu stehen: Entweder versinken wir in unverbindlicher Subjektivität, die nicht einmal solipsistisch ist, weil auch das Ich nur als Selbstbild samt Ichgefühl erlebt wird, oder wir übernehmen ein nicht überprüfbares Vorurteil und damit einen fundamentalistischen Glauben als Grundlage jeder Erkenntnis. Der fundamentalistische Glaube an die Wirklichkeit der vom Weltbild beschriebenen Welt ist jedoch nicht notwendig. Wir sind es nur nicht gewohnt, eine erfolgreiche theoretische Fiktion zu nutzen und gemäß ihren Vorhersagen zu agieren ohne an die von ihr implizierte oder explizit beschriebene fiktive Wirklichkeit zu glauben. Der Vorhersageerfolg und Nutzen eines Weltbildes wird jedoch durch seine Fiktivität nicht beeinträchtigt und bedarf nicht der Wirklichkeit der beschriebenen Welt. Es spricht nichts dagegen, sich auf immer wieder bestätigte Vorhersagen einer erfolgreichen theoretischen Fiktion bis zu deren erlebtem Versagen zu verlassen ( - sogar nach ihrem Versagen noch in den Grenzen, in denen die Vorhersagen weiterhin tragen) und zugleich die von ihr beschriebene theoretische Wirklichkeit zu bezweifeln. Die nachfolgenden je zwei theoretischen und praktischen Argumente sprechen nicht gegen die Verwendung der theoretischen Fiktion eines Weltbildes zu Vorhersagezwecken. Sie sprechen jedoch gegen den fundamentalistischen Glauben an die vom Weltbild beschriebene Wirklichkeit:
  1. Die Akkumulation erfolgreicher Vorhersagen macht aus einer theoretischen Fiktion keine empirische Wirklichkeit. Die implizierte oder explizit beschriebene Wirklichkeit bleibt theoretisch, d. h. lediglich vermutet und daher ausgedacht oder fiktiv. Die Verlegung der empirischen Wirklichkeit vom Bewußtsein in die Außenwelt ist eine teils nützliche teils schädliche Gewohnheit, wie wir spätestens nach Kenntnisnahme des nachfolgenden vierten Arguments einsehen werden. Sie wird von der Vorhersagekraft des Weltbildes gestützt, aber nicht gerechtfertigt, geschweigen denn erzwungen.
  2. Solange Menschen im Umkreis des Mittelmeeres lebten, genügte das Ptolemäische Weltbild für benötigte Vorhersagen. Seither wird zumindest unser wissenschaftliches Weltbild immer schneller revidiert - viel schneller als man sich, wenn überhaupt, Änderungen der Gesetze der ausgedachten Welt vorstellt. Zwar wird unterstellt, daß sich die von den vielen Weltbildern beschriebenen Wirklichkeiten einander und damit der noch unbekannten vermuteten Wirklichkeit mit der Zeit annähern. Zumindest die letzte Unterstellung ist jedoch ebenfalls mangels Kenntnis des Annäherungszieles nicht nachprüfbar. Auch von kritischen Realisten wird nicht geleugnet, daß das momentane Weltbild des Autors, des Lesers oder das der gegenwärtigen Menschheit, soweit gemeinsam, die Welt nicht so beschreibt wie sie ist. Es beschreibt sie nur hinreichend für praktische Zwecke des erfolgreichen Überlebens, d. h. mit genügend wenigen Irrtümern, die zu falschen Vorhersagen führen.
  3. Vorurteile und fundamentalistischer Glaube beeinträchtigen nicht nur unsere Erkenntnis- und Einsichtsfähigkeiten, sondern auch unser Wohlbefinden. Das gilt spätestens sobald Vorurteilsabwehrmechanismen ins Spiel kommen, die nicht nur die Offenheit des Denkens, sondern auch die mit der Aufklärung erreichte Offenheit der Kommunikation und des Umgangs mit Andersdenkenden bedrohen. Es ist nicht hinnehmbar, daß all unsere Erkenntnisse auf einem fundamentalistischen weil nicht nachprüfbaren Vorurteil beruhen. Die Wissenschaft würde sich dann nur mehr dadurch vom religiösen Fundamentalismus unterscheiden, daß ihre Erkenntnisse an einer Fiktion geprüft wurden, die sich (nur aber immerhin) als weitgehend vorhersagekräftig erwiesen hat. Alles Reden von Wahrheit und Wirklichkeit ohne explizite Neudefinition der beiden Begriffe wäre irreführend.
  4. Vor allem hindert uns die automatisierte Interpretation von Bewußtseinsinhalten (percepts) als Gegenstände der Außenwelt (objects) daran, Wahrnehmungsgegenstände als Bewußtseinsinhalte und damit unsere empirische Wirklichkeit zu erleben. Sie zwingt uns, eine fiktive theoretische Wirklichkeit zu erleben, die nützlich sein mag, aber ausgedacht ist. Zum Überleben genügt das. Zum Erleben dessen, was tatsächlich in der Wahrnehmung vorgefunden wird, nämlich Bewußtseinsinhalte, genügt das nicht. Wir können nur hoffen, daß wir lernen können, Wahrnehmungsgegenstände wieder einmal sachgemäß als die Bewußtseinsinhalte zu erleben, die sie sind. Als solche unterscheiden sie sich nicht grundsätzlich von Fantasievorstellungen, sondern lediglich durch unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten ihres Auftretens.
Die Beachtung der Verschiedenheit im Auftreten von Wahrnehmungsgegenständen und Fantasievorstellungen ist selbstverständlich lebenswichtig für den Erfolg unseres Verhaltens ebenso wie für unsere seelische Gesundheit bzw. die Vermeidung eines Aufenthalts in der Psychiatrie. Einen Umsteigebahnhof von der Pariser Metro in die Londoner Underground können wir uns leicht vorstellen, wahrnehmen werden wir ihn kaum. Es gibt viele z. B. von Physikern, Astronomen, Internetdesignern, Literaten oder Märchenerzählern ausgedachte Welten bzw. Weltbilder, die nicht für Vorhersagezwecke im Alltag geeignet sind.

Bis hierher folgen zumindest die Kernaussagen des Textes unvermeidbar aus der vornehmsten positivistischen Tugend eines Naturwissenschaftlers. Er ist gehalten, sich nicht auf Plausibilität zu verlassen und alle Meinungen und Feststellungen zu bezweifeln, die sich nicht zumindest im Prinzip durch eigenes Erleben widerlegen oder bestätigen lassen oder die aus Theorien folgen, welche genügend strengen empirischen Prüfungen unterzogen wurden. Feststellungen, die nur der zweiten Bedingung genügen, sind nur vorläufig und unter Verdacht des Irrtums in dem Maße glaubhaft, als die Theorien anhand vorhergesagter Erlebnisse mehr oder weniger streng mit Erfolg geprüft worden sind.

joseph nDas oben genannte Dilemma der Wahl zwischen der Unverbindlichkeit eines Lebens in der empirischen Wirklichkeit des eigenen Bewußtseins und dem fundamentalistischen Glauben an eine Welt jenseits des Bewußtseins läßt sich überwinden. Wie so oft, hilft dabei der Ersatz des logischen "entweder - oder" durch ein weises "sowohl - als auch", das einen Gemäßigten Konstruktivismus kennzeichnet. Gemäßigte Konstruktivisten betrachten die erlebte Welt als ein auf alle Sinnesorgane erweitertes Vexierbild - auch Kippbild genannt. (Ein auf die visuelle Wahrnehmung sigibeschränktes Vexierbild ist z. B. der sogenannte Necker-Würfel, den man abwechselnd mit vertauschter Vorder- und Rückseite sieht. Ein zweites ist das gern gezeigte Bild, das man im Wechsel von Sekunden oder Minuten deutlich als Gesicht von SIGMUND FREUD oder als eine schräg zurückgelehnte nackte Frau erkennt.) Die meisten Vexierbilder haben eine dominante und eine nicht-dominante Version, manche zwei etwa gleich dominante Versionen.

Die bei weitem überlernte dominante Version des Vexierbildes "erlebte Welt" ist die übliche als beständige Außenwelt mit den Wahrnehmungsgegenständen (percepts) als deren Objekte. Sie ist eine Fiktion, aber nützlich für unsere Verhaltensplanung, wenn wir Ziele verfolgen oder Bedrohungen zu vermeiden suchen, z. B. in der vita activa an Werktagen. Die sachgemäße Version mit Wahrnehmungsgegenständen als Bewußtseinsinhalten ist nicht-dominant und wird wohl mit Mühe erworben werden müssen. Vermutlich gelingt es dem Leser bestenfalls für wenige Sekunden, einen Wahrnehmungsgegenstand als Bewußtseinsinhalt zu erleben, ehe das Bild kippt und einen Gegenstand der Welt zeigt. Wahrnehmungsgegenstände einmal nicht als Objekte einer eingebildeten Welt, sondern als das zu erleben was sie sind, nämlich Bewußtseinsinhalte, erscheint dem Autor - und vermutlich auch dem Leser - als wertvoll in sich. Für einen Menschen, der sich der empirischen Wirklichkeit stellen will, weil es ihm nicht genügt, in einer nützlichen Fiktion zu leben, hat das einen sehr hohen Wert. Es läßt sich hoffentlich verwirklichen, wenn es Zeit gibt, sich ohne Absichten und Sorgen der Betrachtung der empirischen Wirklichkeit des Bewußtseins zu widmen, z. B. in der vita contemplativa an Sonn- und Feiertagen.

Zusammengefaßt:  Der naive Realist hält die Welt jenseits des Bewußtseins für eine Tatsache, der radikale Konstruktivist für eine Einbildung. Dazwischen stehen der kritische Realist, der die Welt für eine notwendige Einbildung hält, die es rechtfertigt, sie als Tatsache zu betrachten und der gemäßigte Konstruktivist, der die Welt für eine Einbildung hält, welche praktischen Zwecken dienlich, jedoch Erkenntniszwecken abträglich ist und daher je nach Zielsetzung als Tatsache oder Einbildung betrachtet werden sollte.

LITERATUR - Hans Christoph Micko, Gemäßigter Konstruktivismus: Die Welt als vorhersagekräftige theoretische Fiktion, e-Journal Philosophie der Psychologie, Nr. 13, Dez. 2009, ISSN 1813-7784
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