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FANNY LOWTZKY
Studien zur Erkenntnistheorie
[Rickerts Lehre über die logische Struktur
der Naturwissenschaft und Geschichte.]

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"Der Mensch kann der Wissenschaft nicht entbehren, wie er des Guten, des Schönen oder der Religion nicht entbehren. Aber wie alle Wahrheiten, die ästhetischen wie auch die ethischen oder religiösen, so haben auch die naturwissenschaftlichen Wahrheiten ihren eigenen Wert. Da aber die Naturwissenschaften nicht zum Erkennen der Wirklichkeit führen, da sie nur vom Allgemeinen sprechen, indem die Wirklichkeit individuell ist, so entsteht nach Rickert die Notwendigkeit, eine neue Wissenschaft oder eine ganze Reihe von Wissenschaften zu schaffen, deren Aufgabe wäre, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und Eigentümlichkeit darzustellen."

"Vielleicht ist es dem Menschen wirklich nicht gegeben, die Wahrheit zu wissen, vielleicht ist er gezwungen, sich mit einem Surrogat der Wahrheit zu begnügen; vielleicht aber hat dieses Surrogat all jene Eigenschaften, die wir der Wahrheit beimessen, oder es besitzt doch die wichtigste Eigenschaft einer Wahrheit, die nämlich, uns dieselben festen, gewissen und allgemeingültigen Urteile zu verschaffen, welche die Menschheit hätte, wenn ihr das echte Wissen zugänglich wäre?"


Zweites Kapitel
Kritik der Rickertschen Lehre
[Fortsetung]

§ 4. Wir haben den Grundpfeiler von RICKERTs Erkenntnislehre freigelegt. RICKERT glaubt nicht an das Erkenntnisvermögen der Vernunft, mit anderen Worten: er ist überzeugt, daß wir nichts wissen können. Durch dieses skeptische Verhalten gegenüber dem Wissen werden auch seine Ansichten über die Aufgaben der Natur- und Geschichtswissenschaften bestimmt. Ist die Wirklichkeit irrational und in so hohem Grad irrational, daß kein einziges unserer Urteile in irgendeiner Beziehung zu ihr stehen kann, so ergibt sich daraus, daß wir das Kriterium der Wahrheit überall sonst, nur nicht in der Wirklichkeit suchen dürfen. Dementsprechend stellt sich die Erkenntnis vollständig autonome Aufgabe. Die Naturwissenschaften sollen nicht die Wirklichkeit darstellen, sondern ihre Mannigfaltigkeit überwinden. Schon die ersten Stufen, sozusagen die Embryonen der Erkenntnis, die gewöhnlichen Wortbildungen nämlich, verfolgen als Vorläufer der wissenschaftlichen Begriffe unbewußt den Zweck der Vereinfachung der Wirklichkeit. In jeder allgemeinen Wortbedeutung ist die Wirklichkeit vereinfacht. Die wissenschaftlichen Begriffe unterscheiden sich von den gewöhnlichen Wortbildungen nur durch ihre Bestimmtheit und Allgemeingültigkeit. Wie sie diese erzielen, habe ich früher bereits ausführlich erklärt.

Ich will jetzt eine Tatsache hervorheben, die RICKERT außer acht gelassen hat, mit der seine Theorie jedoch rechnen müßte. Die Grundvoraussetzung seiner Theorie, daß die Vereinfachung der Wirklichkeit nur das Erkennen und Denken bezweckt und mit den Wortbildungen anfängt, widerspricht den Tatsachen. Wir vereinfachen die Wirklichkeit schon bei der unmittelbaren Wahrnehmung jedes einzelnen Gegenstandes. Wenn wir einen Baum, ein Bild, den Himmel anschauen, so sehen wir nicht alles, was sich vor unseren Augen befindet. Die Vereinfachung der Wirklichkeit ist schon bei der unmittelbaren Wahrnehmung unentbehrlich. Eben darum genügt es für das vollständige Erkennen jedes Gegenstandes nicht, ihn unmittelbar wahrzunehmen, wir müssen ihn in allen seinen Einzelheiten auffassen. Das ist eine allgemein bekannte Tatsache, die wir in jeder Psychologie erwähnt finden (37).

Wenn dem so ist, wenn die Vereinfachung der Wirklichkeit nicht mit den allgemeinen Wortbildungen beginnt, so haben wir kein Recht, in dieser Vereinfachung das spezielle Merkmal eines Begriffs zu sehen. Wollen wir unsere Begriffe vervollkommnen, so müssen wir nach RICKERT alle Spuren der Anschauung aus ihnen ausmerzen. Mir dünkt im Gegenteil, daß als Kriterium eines Begriffs vielmehr sein Zusammenhang mit der unmittelbaren Wahrnehmung gelten sollte, so daß, wenn wir folgerichtig zu einem Begriff kommen würden, dem nichts in der Wirklichkeit entspricht, das darauf hinweisen könnte, daß wir das Gebiet der reinsten Metaphysik gegen unseren Willen betreten haben. Mit anderen Worten: hätte RICKERTschen früher angefangen, hätte er schon in der Anschauung eine Vereinfachung der Wirklichkeit gesehen, so würde er gezwungen gewesen sein, früher abzubrechen. Er würde sich nicht zu der Behauptung berechtigt gefühlt haben, daß die Begriffe der reinen Mechanik den Endzweck des wissenschaftlichen Erkennens darstellen. Er hätte vielleicht in der Vereinfachung der Wirklichkeit oder, genauer ausgesprochen, in der Zurückführung derselben auf eine übersehbare Einheit den Endzweck der Naturwissenschaften überhaupt nicht gefunden. Jetzt erscheinen ihm die Momente der Gewißheit, der Allgemeingültigkeit in der Begriffsbildung nur als ein Mittel zu einem Zweck: sie verschaffen einen Überblick über die Welt. Ist das aber richtig? Besteht die Aufgabe der Naturwissenschaften wirklich darin? Vielleicht hat die Allgemeingültigkeit der Begriffe und die, nach RICKERT, daraus folgende - meiner Meinung nach aber vorausgehenden und sie bestimmende - Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen der physischen und psychischen Welt in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit einen eigenen, nicht nur wissenschaftlichen Wert? Vielleicht erfaßt auch die Erkenntnis den Sinn und die ganze Bedeutung der Triebkraft der Welt, indem sie die Ordnungsmäßigkeit in der Natur konstatiert? So daß die Aufgabe der Naturwissenschaften nicht darin besteht, um jeden Preis einen Überblick über die ganze Welt zu gewinnen, sondern darin, einen wenn auch kleinen Teil des Weltalls in seiner ganzen Eigentümlichkeit zu erkennen. Kurz: die Vereinfachung, die früher, als RICKERT meint, anfängt und nicht mit den allgemeinen Wortbildungen, sondern schon mit der unmittelbaren Wahrnehmung beginnt, bezeugt nicht, daß wir der Wirklichkeit ferner stehen, eher daß wir ihr näher getreten sind: wir erfahren weniger, aber was wir erfahren, das erfahren wir besser.

Selbstverständlich sind diese Erwägungen für einen Skeptiker nicht überzeugend. Er meint von vornherein, daß wir nichts wissen können, daß wir nach einem Surrogat, einem Ersatz für das echte Wissen suchen müssen, daß zwischen uns und der Wirklichkeit eine undurchdringliche Wand steht, und daß wir uns über die Wirklichkeit keine Urteile bilden können. Aber das ist doch bloß Glaube, das ist bloß eine Prämisse, und der Skeptizismus kann doch nicht zu den allgemeingültigen Theorien zählen. Die Skeptiker haben kein Recht, sich im gegebenen Fall auf KANT zu berufen. Räumte KANT dem Subjekt eine schöpferische Rolle im Erkennen ein, so bestritt er auch nicht sein Vermögen, die Wirklichkeit zu formieren, wenn auch nicht die Dinge-ansich, so doch jedenfalls die allein zugängliche Welt der Erscheinungen. RICKERT aber gibt diese Gegenüberstellung nicht zu, da er einen immanenten Standpunkt einnimmt.

Wir wissen, daß nach RICKERT die Existentialurteile über die Wirklichkeit ebensowenig aussagen, wie jedes andere Urteil; sogar im bloßen Konstatieren der Tatsachen sieht er schon eine Beurteilung und Anerkennung, eine autonome Bejahrung oder Verneinung, deren Ursprung nicht im Sein, sondern im Sollen zu suchen ist. Wenn dem so wäre, wenn unsere Urteile über die Wirklichkeit uns nichts über diese Wirklichkeit aussagen würden, so würden wir, wie bereits betont, von ihrer Existenz nichts wissen können, oder richtiger: unsere Urteile über die Existenz der Wirklichkeit würden sich auf diese Wirklichkeit ebensowenig beziehen als alle anderen Urteile, wie das Urteil z. B., daß die Materie undurchdringlich ist. So daß wir in diesem End- und Ausgangspunkt der RICKERTschen Lehre ihr proton pseudos [erster Irrtum, erste Lüge - wp].

Unsere Urteile, die Tatsachen konstatieren, sind keine Anerkennung oder Beurteilung, d. h. keine autonome Anerkennung des Seins oder einer Beziehung. Man darf nicht KANT korrigieren (38), sondern ihn nehmen, wie er ist. Nicht nach dem Geist, sondern nach dem Buchstaben seiner Lehre, wie KANT selbst von FICHTE forderte, müssen wir uns richten. Dann werden wir die reine Vernunft nicht von der praktischen ableiten. Wir werden, wenn auch manche darin einen Widerspruch ersehen sollten, anerkennen, daß die reine Vernunft im Gegensatz zur praktischen, deren Ursprung die Freiheit ist, die Notwendigkeit kennt, daß alle unsere Urteile nicht autonom sind, sondern den Charakter der unbedingten Notwendigkeit tragen. Dann wird uns KANTs Aufgabe, der Wissenschaft feste und unveränderliche Grundlagen (die der Mathematik eigen sind) zu verleihen, nicht als unerreichbar erscheinen und in einem Relativismus, wenn auch in einem spezifischen, mit einem Surrogat des Wissens in der Perspektive, werden wir nicht das einzige Los des endlichen Menschengeistes ersehen.Das ist noch nicht alles: wenn es sich sogar erwiesen hätte, daß die Welt der Dinge-ansich für uns ein Buch mit sieben Siegeln ist, so ist die Wissenschaft nach dem Standpunkt KANTs möglich, dem teleologischen Standpunkt aber nach ist ein bleibendes Wissen, wie wir gleich sehen werden, ein Hirngespinst.

Wir wollen eben mit dem Konstatieren der Tatsachen anfangen und sehen, ob ein transzendentes Sollen, wie es RICKERT lehrt, zu derjenigen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit führen kann, zu der der äußere Zwang führt - der äußere Zwang in der Gestalt, in der er von den Empirikern angenommen wird, oder in derjenigen, die sich nach KANT ergibt, wenn wir das Ding-ansich und einen Verstand annehmen, deren bindende Gesetze von KANT als etwas Endgültiges und Unerklärbares anerkannt werden. RICKERT analysiert das einfache Urteil, das Tatsachen konstatiert, und folgt in dieser Analyse WINDELBAND (39). Auf der einen Seite ist die Vorstellung: der grüne Baum, auf der anderen Seite - das Urteil: der Baum ist grün. Nach RICKERTs Meinung besteht das Wesentliche des Urteilens im Anerkennen des Umstandes, daß der Baum grün ist. Aber das ist doch nicht das entscheidende Moment. Dieser liegt in der Frage: Was zwingt uns, diesen Umstand anzuerkennen? RICKERT antwortet: das transzendente Sollen. Aber dann entsteht eine neue Frage: Warum bejahen wir in diesem Fall und verneinen nicht, warum sagen wir: Der Baum ist grün, der Himmel ist blau und nicht umgekehrt? Nur weil wir, wie RICKERT behauptet, einen spezifischen Wert, der sich Wahrheit nennt, erzielen wollen.

Aber das ist noch nicht alles. Ist denn die Wahrheit der einzige Wert für die Menschheit? (RICKERT selbst spricht noch vom Guten und Schönen). Gibt es nicht andere Werte, die dem Menschen noch näher am Herzen liegen als die Wahrheit? Um unseren Gedanken klarer zu machen, wollen wir anstatt RICKERTs Beispiel, das vom Standpunkt anderer Kategorien der Werte indifferent ist, ein anderes Beispiel nehmen: Nicht "der Baum ist grün", sondern "Sokrates ist tot". Ein Schüler des Sokrates, der soeben mit dem größten der Menschen, nachdem dieser die vom Gefängnisaufsehr gebrachte Schale mit dem Todestrank geleert hatte, urteilt: Sokrates ist tot. Warum behauptet er das? Warum fährt er nicht fort darauf zu bestehen, daß SOKRATES lebt? Nur darum, weil es einen spezifischen Wert gibt, der sich Wahrheit nennt?! Es gibt doch auch einen Wert, der sich "gut" nennt und gebieterisch fordert, daß "der beste und zumal der einsichtsvollste und gerechteste", wie SOKRATES von PLATO genannt wird (40), lebt. Und wenn unsere Urteile über Falsch und Wahr in der Tat autonom und nicht mit Notwendigkeit durch etwas anderes bestimmt wären, könnte man dann zugeben, daß irgendeiner von den Schülern des SOKRATES, noch mehr irgendeiner von unseren Zeitgenossen, der aus PLATO und XENOPHON weiß, wer SOKRATES war, geurteilt hätte: Sokrates ist tot? Und nicht nur SOKRATES: erinnern wir uns an das Golgatha, an die schrecklichen Zeiten des ersten Christentums, vergegenwärtigen wir uns die Schrecken des modernen Krieges. Nicht freiwillig konstatieren wir in den Urteilen diese ganze vergangene und gegenwärtige Wirklichkeit, sondern gegen unseren Willen, und der ganze Sinn unserer Urteile liegt in dieser Notwendigkeit (41). Den Ursprung dieser Notwendigkeit finden wir in der unabhängig von uns existierenden Wirklichkeit.

Wenn dem so ist, so erscheint das autonome Urteil - RICKERTs Stützpunkt - im Licht der Kritik als vollständig unannehmbar und zu gleicher Zeit erweist sich, daß die ganze RICKERTsche Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung unhaltbar ist. Vielleicht kann das Wort von der Wissenschaft, welche die Wirklichkeit wie ein Spiegel abbildet, nach KANTs, auch schon nach LOCKEs und DEMOKRITs Auslegungen, wenn man so will, nicht in einem adäquaten Sinn angenommen werden. Vielleicht ist eine Klausel anzubringen, daß dieser Spiegel die Wirklichkeit verändert, da er kein ideell flacher, sondern ein konvexer oder ein konkaver ist. Aber es unterliegt keinem Zweifel, daß zwei Momente den Ursprung der Wahrheit bestimmen:
    1. Die Wirklichkeit und
    2. die Krümmung des sie abbildenden Spiegels - des Erkennens.
Da sie beide konstant sind, da die Wirklichkeit, wie auch die allgemeinen Gesetze, nach denen sie sich in unserem Bewußtsein abbilden, unveränderlich sind, können wir aus diesem Grund, und nur aus diesem Grund, zu den synthetischen Urteilen a priori gelangen, die KANT aufgestellt hat und welche die Grundlage der Mathematik wie der Naturwissenschaften bilden. Ob wir die Wahrheit anerkennen wollen oder nicht, wir erkennen sie trotzdem an. Wir können zur Lüge greifen, wir können behaupten, daß der Baum blau, der Himmel grün, daß Sokrates nicht tot ist, aber das steht in keiner Beziehung zur Erkenntnistheorie und gehört vollständig in das Gebiet der Ethik. Wir können uns irren und diese Irrungen fallen in das Gebiet der Logik, die nach dem Ursprung der Irrungen des menschlichen Denkens forscht, oder in das Gebiet der speziellen Experimentalwissenschaften, die unser Wissen prüfen. Die Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit der Frage, wonach wir streben, indem wir nach der Wahrheit forschen. Eine praktische Bedeutung, zumindest eine unmittelbare, hat diese Frage nicht, aber für die Philosophie ist sie eine Kardinalfrage. Die von RICKERT vorgeschlagene Lösung kann in keiner Weise angenommen werden. Nur der Skeptizismus - ich werde nicht müde, das zu wiederholen - konnte in einem Menschen den Entschluß reifen lassen, sich auf immer vom Wissen abzuwenden und nach einem entsprechenden Surrogat zu suchen.

Ich betone immer wieder den skeptizistischen und relativistischen Standpunkt RICKERTs, weil ich in demselben den Grundfehler seiner Theorie erblicke. Würde die Tatsache, daß heutzutag fast alle Philosophen, wie HUSSERL meint, Relativisten sind, auch ein Zeugnis dafür sein, daß der Relativismus die Wahrheit in sich birgt, dann würde ich an RICKERTs Ausführungen nichts auszusetzen haben. Sie sind aber im Gegenteil insofern falsch, als sie höchst folgerichtige Schlüsse aus seinen allgemeinen Sätzen darstellen. Der Relativismus kann der Teleologie nicht entbehren (42). Wir haben bei NIEZTSCHE und bei LUKRETIUS gesehen, daß sie auch ihre Teleologie haben. Freilich setzen sie auf den vordersten Plan Erwägungen utilitaristischen Charakters, doch kann auch Nützlichkeit ein Ziel sein. Und dann, wenn ich RICKERTs Psychologie mit seiner Erkenntnistheorie vergleichen werde, wie ich das schon früher getan habe, so wird sich zeigen, daß auch RICKERTs transzendentes Sollen die Nützlichkeit zu seinen Vorfahren zählt. Der Mensch will die Gewißheit, weil sie mit einem Gefühl der Lust verbunden ist, er vermeidet die Ungewißheit, da sie mit einem Gefühl der Unlust einhergeht. Ist es aber so, dann erfüllen wir gar nicht unsere Pflicht, wie RICKERT behauptet, indem wir nach der gewißheitbringenden Wahrheit streben, sondern wir handeln nach rein utilitaristischen Erwägungen.

Zur Bekräftigung meiner Behauptung will ich RICKERTs Ausführungen über den Ursprung der überempirischen Allgemeingültigkeit der naturwissenschaftlichen Gesetze genauer untersuchen. Wie wir uns erinnern, kennt die Natur nach RICKERT keine Gesetze, in der Wirklichkeit gibt es keine, oder wenn es auch solche gäbe, könnten wir keinen bestimmten Beweis dafür erbringen, denn es ist uns nicht gegeben, alles, was in der Wirklichkeit geschieht, zu überblicken. Was bleibt uns aber dann zu tun übrig? RICKERTs resolute Antwort lautet: Wollen wir, daß es eine Wissenschaft gibt, so müssen wir die überempirische Bedeutung der Gesetze anerkennen; tun wir das nicht, dann bekommen wir keine Wissenschaft. Ebenso hat er sich bezüglich der Frage nach dem Konstatieren der Tatsachen verhalten: Wollen wir "die Wahrheit", so müssen wir anerkennen, daß Sokrates gestorben ist; verweigern wie diese Anerkennung, bleibt uns die Wahrheit versagt.

In beiden Fällen vollzieht sich der logische Prozeß mit derselben Folgerichtigkeit. Vielleicht möchten wir, daß Sokrates lebt und es lieber keine Wahrheit gibt, so wie wir es vielleicht vorgezogen haben würden, daß es keine Gesetze gibt, nach denen Sokrates notwendig sterben mußte, aber unsere Wünsche sind hier nicht bestimmend. Sokrates ist tot, die Gesetze bestehen und darum ist die Wahrheit einzig und die Wissenschaft hat ihre festen Grundlagen, wenn wir auch aus teleologischen (zugleich utilitaristischen) Rücksichten geneigt wären, die Wahrheit und die Wissenschaft zu verneinen. Somit hat HUSSERL recht, indem er behauptet, daß Menschen und Übermenschen, Engel und Dämonen, kurz: alle Wesen das Wahre als wahr anerkennen müssen. Wir wissen weniger als Engel und Götter, aber was wir wissen, ist ein Wissen nicht nur für uns, sondern auch für die Götter.

§ 5. Ich könnte auch weiterhin, wie bisher, auf jeder Stufe der Entwicklung der RICKERTschen Gedanken über die naturwissenschaftliche Begriffsbildung Widersprüche verzeichnen. Ich nehme davon jedoch Abstand, weil ich mich zu oft wiederholen müßte: RICKERTs proton pseudos taucht überall auf. Seine erste Voraussetzung wurde für alle seine weiter folgenden Ausführungen verhängnisvoll. Wie ich mich erinnere, läßt er sich nicht durch das Paradoxe seiner Schlüsse abschrecken. Er fürchtet es nicht, in seiner Theorie mit den herrschenden Ansichten zu brechen.

Ich übergehe also alle seine weiteren Erörterungen über die Frage der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die ich im ersten TEil meiner Ausführung eingehend berücksichtigt habe und will nur zwei Punkte seiner Lehre hervorheben: die Lehre vom erkenntnistheoretischen Subjekt und die Lehre von den relativen naturwissenschaftlichen Begriffen.

VOLKELT findet, daß der Begriff des erkenntnistheoretischen Subjekts vollständig metaphysisch konstruiert ist, und greift aus diesem Anlaß RICKERT heftig an. Ich verstehe vollständig RICKERTs Entrüstung, mit der er den ungewöhnlich scharfen Ton von VOLKELTs Polemik zurückweist. Mir will es scheinen, daß es dem Philosophen nicht wohl ansteht, jene Leidenschaftlichkeit, wie sie z. B. im politischen Kampf entfacht wird, auch in die Polemik hineinzutragen. Politische Gegner verfolgen verschiedene Ziele, die Philosophen das einzige Ziel der Wahrheit; darum können und sollen die Vertreter entgegengesetzter philosophischer Anschauungen sich nicht als Feinde, sondern als Verbündete betrachten.

Aber gehen wir über das zu Beanstandende in der Form von VOLKELTs Einwänden hinweg, so müssen wir ihm im Übrigen vollständig beipflichten: die logische Konstruktion des erkenntnistheoretischen Subjekts leidet an inneren Widersprüchen. Obwohl sich RICKERT vollständig bewußt bemüht, den Verlockungen der Metaphysik zu entgehen und den Skeptizismus zu überwinden, tut er unbewußt alles mögliche, um der Metaphysik den Weg zu bahnen und dem Skeptizismus freie Hand zu lassen. Und die Konstruktion des erkenntnistheoretischen Subjekts ist wie geschaffen für diesen widersprechenden Zweck. Mir scheint es nur, daß dieser Begriff nicht darum hauptsächlich unhaltbar ist, weil ihm nichts in der konkreten Wirklichkeit entspricht, so daß er nach VOLKELTs Worten "in das Reich der Spinnweben und Seifenblasen" gehört. Selbstverständlih ist das auch ein Fehler, der keinesfalls durch die Berufung RICKERTs auf die Tatsache gerechtfertigt wird, daß keine einzige Wissenschaft ohne solche Begriffe auskommen kann: der Mathematiker spricht von der Geraden, der Physiker von Gesetzen und Atomen, der Jurist - von Normen. Alle diese Begriffe aber brechen gar nicht mit der Wirklichkeit, wie der Begriff des "erkenntnistheoretischen Subjekts" es tut. Der beste Beweis dafür ist der, daß auch heutzutage viele Empiriker finden, daß der Begriff eines Gesetzes, einer Geraden nur eine Abstraktion von den wirklichen Vorstellungen ist. Nur RICKERT behauptet in seiner Erkenntnistheorie, daß die Wirklichkeit aus jeder Wissenschaft vollständig ausgeschlossen ist.

Der Grundfehler des Begriffs des erkenntnistheoretischen Subjekts müssen wir aber anderswo suchen. Durch diesen Begriff ermöglicht sich RICKERT sozusagen eine rechtmäßige metabasis eis allo genos [Sprung auf eine andere logische Ebene - wp], ohne die ein Skeptiker, der zugleich Kantianer bleiben und die königlichen Wege der Wissenschaft rechtfertigen will, nicht auskommen kann. Der Ausdruck "erkenntnistheoretisch" gibt das Recht, objektiv vorzugehen, da durch ihn alle Möglichkeiten der individuellen Willkür von vornherein beseitigt sind; dafür bleibt durch die Bezeichnung "Subjekt" jener "praktische" Charakter bewahrt, der für jede Werttheorie notwendig ist: denn werten kann nur ein lebendiges Wesen. Und auf solche Weise wird je nach Bedarf das Hauptgewicht bald auf die Verwandtschaft dieses Begriffs mit einem "Bewußtsein überhaupt", bald auf seinen Zusammenhang mit einem wertenden Subjekt, d. h. mit dem Individuum gelegt. Hätte RICKERT im erkenntnistheoretischen Subjekt den metaphysischen Charakter gesehen, der sich im individuellen "Ich" kundgibt, so könnte man zwar prinzipiell mit ihm nicht einverstanden sein, aber man müßte doch zugeben, daß er zu seiner metaphysischen Annahme ebensoweit berechtigt ist, wie andere Metaphysiker zu den ihrigen, und daß er vor dem Richterstuhl der Logik freizusprechen ist. Aber RICKERT will nicht zu den Metaphysikern gehören, er besteht darauf, daß seine Erkenntnistheorie von metaphysischen Voraussetzungen vollständig frei ist. Dann aber ist es außer Zweifel, daß der Begriff des erkenntnistheoretischen Subjekts einen offenbaren Widerspruch in sich enthält, der sich durch die ganze Philosophie RICKERTs zieht.

Bei KANT gibt es einen Ausdruck "Bewußtsein überhaupt", aber er bedeutet etwas ganz anderes als bei RICKERT: er muß so aufgefaßt werden, daß die Gesetze des Verstandes für jedes individuelle Bewußtsein unveränderlich sind, so daß es nicht in meiner individuellen Macht liegt, der Natur diese oder jene Gesetze "vorzuschreiben", - daß man sich die Welt außerhalb der Zeit und des Raumes, die Materie als vertilgbar oder eine Wirkung ohne Ursache nicht vorstellen kann. Aber RICKERT braucht die "Autonomie", darum verwandelt er das kantische "Bewußtsein überhaupt" in "das erkenntnistheoretische Subjekt", das er künstlich konstruiert, indem er den Inhalt des Bewußtseins in das percipiens [Wahrnehmender - wp] und das perceptum [Wahrgenommenes - wp] zergliedert. Scheiden wir alles perceptum, alles, was dem Erkennen unterliegt, aus, so bleibt das erkennende Subjekt. Aber darauf können wir antworten, daß im Inhalt des Bewußtseins nichts Derartiges enthalten ist, was nicht zu gleicher Zeit als Objekt der Erkenntnis dienen kann, so daß, wenn wir alle von RICKERT vorgeschlagenen Manipulationen durchmachen werden, uns nichts übrig bleiben wird.

Somit ist der Begriff des erkenntnistheoretischen Subjekts eine Fiktion, die dazu noch mit inneren Widersprüchen behaftet ist, die der RICKERTschen Theorie die metabasis eis allo genos ermöglichen. Nur auf einem solchen Weg kann man zu der Behauptung gelangen, daß die Wissenschaft von der Wirklichkeit ihr eigenes, von der letzteren unabhängiges Kriterium in sich trägt, daß dieses Kriterium objektiv, d. h. allgemeingültig und notwendig und daß zu gleicher Zeit der Ursprung dieses Kriteriums in einem gewissen Wert zu suchen ist. Im Begriff des erkenntnistheoretischen Subjekts sind bei RICKERT, wie in einem Brennpunkt, alle seine willkürlichen Voraussetzungen konzentriert und gleichzeitig liegt in diesem Begriff der Stützpunkt seiner Theorie. Fällt dieser Begriff weg, dann wird aus RICKERTs spezifischem Relativismus ein individueller Relativismus. Es ist angebracht, hier darauf hinzuweisen, daß der spezifische Relativismus dem individuellen eigentlich viel näher steht, als es sich HUSSERL vorstellt. Mit anderen Worten: diese beiden Theorien kranken nicht nur, logisch betrachtet, an denselben Fehlern, sondern sie sind auch ihrem Inhalt nach fast identisch. Die Verfechter beider Theorien glauben nicht an das objektive Wissen und wenn die spezifischen Relativisten das Individuum durch die species ersetzen, so machen sie dadurch den Ursprung des Wissens keineswegs "reiner" in einem kantischen Sinn. Das menschliche Geschlecht ist auch eine empirische Erscheinung und insofern Veränderungen unterworfen. Noch mehr: sprechen die spezifischen Relativisten von der species, so haben sie gewöhnlich ganz wie die individuellen Relativisten den einzelnen Menschen im Sinn, mit allen idola specus [Idole der Höhle - wp], die ihm eigen sind. Davon werden wir uns überzeugen, wenn wir zur Untersuchung der RICKERTschen Lehre von den Geschichtswissenschaften übergehen.

§ 6. Wie wir uns erinnern, kam RICKERT am Ende seiner Untersuchung über die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zu einem höchst paradoxen Schluß, der allen unseren üblichen Vorstellungen von einer Wissenschaft widerspricht: die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriff sieht er in der gesamten Wirklichkeit. Mit anderen Worten: es existiert sozusagen eine Wissenschaft, die von der Wirklichkeit veranlaßt nichts über die Wirklichkeit als solche aussagt. Der Mensch kann der Wissenschaft nicht entbehren, wie er des Guten, des Schönen oder der Religion nicht entbehren. Aber wie alle Wahrheiten, die ästhetischen wie auch die ethischen oder religiösen, so haben auch die naturwissenschaftlichen Wahrheiten ihren eigenen Wert. Da aber die Naturwissenschaften nicht zum Erkennen der Wirklichkeit führen, da sie nur vom Allgemeinen sprechen, indem die Wirklichkeit individuell ist (43), so entsteht nach RICKERT die Notwendigkeit, eine neue Wissenschaft oder eine ganze Reihe von Wissenschaften zu schaffen, deren Aufgabe wäre, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und Eigentümlichkeit darzustellen.

Schon mit dieser Behauptung ist das Grundprinzip der RICKERTschen Erkenntnistheorie verletzt. Denn diejenigen Wissenschaften, die uns ein Bild der individuellen Wirklichkeit entrollen werden, werden uns eine Wahrheit oder eine Reihe von Wahrheiten geben. Da jede Wahrheit - somit auch die Wahrheit der Geschichtswissenschaften - nach RICKERTs Lehre autonom ist, so kann sie uns infolgedessen über die Wirklichkeit als solche nichts aussagen, wenn sie auch nicht so wie die naturwissenschaftliche Wahrheit konstruiert ist. RICKERT könnte einfach behaupten, daß wir in Bezug auf die Wirklichkeit Systeme verschiedener Art bilden können, eine nach dem Typus, nach dem die Naturwissenschaften, die andere nach dem Typus, nach dem die Geschichtswissenschaften aufgebaut werden. Aber es ist vollständig unmöglich, zu entscheiden, welches von den beiden Systemen der unbedingt irrationalen Wirklichkeit näher kommt. Vielleicht gerade das System der Naturwissenschaften?! Jedenfalls können die Ansprüche der beiden Wissenschaften gleichmäßig auf Erfolg rechnen. Noch mehr: wir sehen nicht ein, warum wir in Bezug auf die Wirklichkeit nicht ein metaphysisches System konstruieren können. Letzteres hätte uns, gleich den Geschichts- und Naturwissenschaften, nichts von der Wirklichkeit ausgesagt - das brauchen wir auch nicht - dafür könnte es uns die Wahrheit geben, wenn es nur zu irgendeinem teleologischen Prinzip gelangt wäre. Mit anderen Worten: von RICKERTs erkenntnistheoretischem Standpunkt aus dürfte man den Naturwissenschaften nicht nur die Geschichte, sondern auch die Metaphysik gleichstellen. Vielleicht wird die Zeit kommen, wo RICKERT versuchen wird, das zu begründen und eine Wissenschaft "Metaphysik" zu ersinnen, die eine Auffassung der Wirklichkeit sub specie aeternitatis [im Licht der Ewigkeit - wp] sein sollte. In seinen bisher erschienen Werken sind wir solchen kühnen (dem Sinn der kantischen Lehre jedenfalls nicht entsprechenden) Behauptungen nicht begegnet. Wie wir wissen, begnügt er sich damit, den Naturwissenschaften nur die Geschichte gleichzustellen.

Wir wollen jetzt sehen, worauf, nach seiner Lehre, die Objektivität der Geschichtswissenschaften beruth. Das ist eigentlich die wichtigste Frage. Vielleicht ist es dem Menschen wirklich nicht gegeben, die Wahrheit zu wissen, vielleicht ist er gezwungen, sich mit einem Surrogat der Wahrheit zu begnügen; vielleicht aber hat dieses Surrogat all jene Eigenschaften, die wir der Wahrheit beimessen, oder es besitzt doch die wichtigste Eigenschaft einer Wahrheit, die nämlich, uns dieselben festen, gewissen und allgemeingültigen Urteile zu verschaffen, welche die Menschheit hätte, wenn ihr das echte Wissen zugänglich wäre?

Wir erinnern uns daran, daß nach RICKERT die Objektivität der Geschichtswissenschaften die höchste Objektivität darstellt, die von der Menschheit jemals erreicht werden kann. Wenn sich erweisen wird, daß RICKERTs Beweise bezüglich der Objektivität der Geschichtswissenschaften unzureichend sind, so sind von seinem Standpunkt aus die Naturwissenschaften noch weniger objektiv, mit anderen Worten: es gibt keine objektiven Wissenschaften und es kann auch keine geben, es kann nur mehr oder weniger wahrscheinliche und für die Menschheit nützliche Meinungen geben, so wie auch die alten und neuen Skeptiker behaupten. Aus meiner bisherigen Darstellung der RICKERTschen Lehre geht klar hervor, daß RICKERT zu anderen Ergebnissen gar nicht gelangen konnte. Der teleologische Standpunkt, sei es derjenige, den PYRRHON, KARNEADES, LUKRETIUS oder NIETZSCHE vertraten, oder derjenige, den RICKERT oder WINDELBAND einnehmen, kann der Wissenschaft keine feste Grundlage verleihen. Sogar das asylium metaphysicum [Rückzugsort Metaphysik - wp], zu dem RICKERT greift, unterscheidet ihn wenig von den Skeptikern.

Das Grundprinzip, auf dem die teleologische Erkenntnistheorie aufgebaut ist und das RICKERT zur Begründung der Objektivität der Geschichtswissenschaften dient, ist "die Beziehung auf einen Wert". Wir erinnern uns, daß RICKERT mehrere Male und mit großer Beharrlichkeit die Forderung stellt, daß man die Beziehung auf einen Wert nicht mit der unmittelbaren Wertung verwechselt. Wir erinnern uns auch, daß RIEHL in dieser Forderung eine psychologische Unmöglichkeit sieht, da die Beziehung auf einen Wert und die Wertung am Ende identische Begriffe sind. Hat RIEHL recht, dann scheitert RICKERTs Theorie vollständig. Denn RICKERT selbst ist der Ansicht, daß jede Wertung subjektiv und abhängig von individueller Willkür ist.

Meinem Dafürhalten zufolge hat RIEHL recht. Was WINDELBAND und RICKERT "Beziehung auf einen Wert" nennen, ist weiter nichts, als der Glaube (oder wie FICHTE sich auszudrücken pflegt: "die kalte Billigung" (44) an die Gewißheit und Allgemeingültigkeit eines bestimmten Wertes oder eine Reihe von Werten. Hier wiederholt sich die alte Verirrung der Positivisten, die dort Objektivität zu erzielen glaubten, wo andere gezwungen waren, subjektiv zu bleiben. Tatsächlich waren die Positivisten auch subjektiv. Die berühmte Formel des Fortschritts, die von SPENCER vorgeschlagen und von den Evolutionisten unterstützt wurde, enthielt im Grunde als ihre unausgesprochene Voraussetzung dieselbe Überzeugung, daß in ihr keine unmittelbare Wertung, sondern diejenige Beziehung auf einen Wert zu erblicken ist, die alle Vorzüge der Objektivität und Allgemeingültigkeit aufweist.

Das Sonderbarste ist, daß RICKERT alle Fehler des Evolutionismus sieht und sie mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit in der Kritik bloßlegt. Aber bei sich selbst entdeckt er dieselben Fehler nicht. RICKERT ist überzeugt, daß er ein allgemeingültiges Prinzip gefunden hat, nach dem er den ganzen Inhalt der Wirklichkeit in ein Wesentliches und Unwesentliches einteilt, und daß in diesem Prinzip keine Spur von subjektiver Wertung zu finden ist. Indessen ist es für jeden aufmerksamen und unparteiischen Beobachter klar, daß RICKERTs Grundprinzip getragen wird von seinem Glauben an die drei von AUGUSTE COMTE aufgestellten Stadien der menschlichen Entwicklung (die theologische, die metaphysisch und die positive), dabei scheint er mit COMTE anzunehmen, daß nur das letzte Stadium, d. h. das positive, die Menschheit auf den Weg gebracht hat, auf dem die Wahrheit zu finden ist.

Wir wollen hier nicht auf die Frage eingehen, ob COMTE mit seinem Gesetz der drei Stadien der Entwicklung recht hat und ob die Philosophie dieses Gesetz als eine unwiderlegliche Wahrheit annehmen darf. Eins nur unterliegt keinem Zweifel: nimmt man dieses Gesetz als Ausgangspunkt, so sollte man das erstens öffentlich bekennen und zweitens diejenigen Erwägungen anführen, die das Recht geben, eine von den möglichen soziologischen Hypothesen als eine unumstößliche Wahrheit hinzustellen. Aber RICKERT ist weit davon entfernt, dies zu tun. Im Gegenteil, er benutzt sogar die Gelegenheit, seine Nichtübereinstimmung mit COMTEs Gesetz hervorzuheben (45). Das berechtigt mich zu der Annahme, daß seine unausgesprochene Voraussetzung zu gleicher Zeit auch eine unbewußte ist. Aber ein derartiges Vorgehen ist bei erkenntnistheoretischen Untersuchungen unbedingt zu verwerfen, denn in der Erkenntnistheorie sollen wir uns die Aufgabe stellen, alle Voraussetzungen, welche die Basis unseres Erkennens bilden, klar zu Bewußtsein zu bringen, wenn wir auch den Traum eines voraussetzungsfreien Wissens aufgeben müssen.

Die die Beziehung auf einen Wert bei RICKERT den Glauben an die von COMTE aufgestellten Gesetze voraussetzt, wird sich klar erweisen, wollten wir nur versuchen, die Geschichte unter der Voraussetzung zu konstruieren, daß nicht das positive Stadium einen Vorzug vor dem metaphysischen und theologischen hat, sondern daß eines der letzteren den Vorzug vor dem ersteren aufweist. Was wird dann von der modernen Geschichte, so wie sie RICKERT versteht, übrig bleiben? Für einen Metaphysiker wird nur das an Bedeutung gewinnen, was nach seiner Meinung über den metaphysischen Sinn des Lebens Aufklärung verschaffen kann; für einen Theologen das, was hauptsächlich auf die göttliche Vorsehung hindeutet. Keiner von den beiden wird mit RICKERT übereinstimmen, wenn er versuchen wird, ihnen zu beweisen, daß BISMARCK oder NAPOLEON oder Englands ökonomische Zustände am Ende des 18. oder im Anfang des 19. Jahrhunderts als höchst individuelle Erscheinungen viel wichtiger sind, als irgendein ein Johann oder Peter oder die wirtschaftlichen Lebensbedingungen ihrer reichen und armen Nachbarn. Die Frage, ob man sich mit zwei oder drei Fingern bekreuzigen soll, beschäftig den russischen Sektierer, die Frage, ob man dem Übel widerstreben darf, beschäftigt den großen russischen Schriftsteller TOLSTOI. Und das, was vom Standpunkt eines modernen Gelehrten, wie RICKERT, sehr wichtig ist, und womit sich die Geschichte unbedingt beschäftigen soll, die Frage z. B. vom Wechsel der Regierungsformen in Rußland, von der Ablösung des Selbstherrschertums durch die konstitutionelle Monarchie scheint für TOLSTOI ein Nichts zu sein, wie auch das Gesetz von AUGUSTE COMTE selbst. Hätte er die Geschichte geschrieben, er, der an Gott glaubt und die Gebote des Evangeliums buchstäblich versteht und befolgt, so würde er nicht von der russischen Revolution, nicht vom Manifest des 17./30. Oktobers nicht vom ersten russischen Parlament erzählen - all das würde er ignorieren als Ereignisse ohne Bedeutung für den Geschichtsschreiber -, aber mit Rührung und festem Vertrauen in seine Berechtigung würde er in seiner Geschichte davon erzählen, wie ein Bauer einer armen Soldatenfrau, die ihr uneheliches Kind getötet hatte, ein Obdach gegeben hat (46). Würde RICKERT vom modernen Rußland sprechen, so würde er sich zuerst für den politischen Kampf interessieren, seine Helden wären WITTE, STOLYPIN und andere. Woher dieser Unterschied? Warum wäre RICKERTs Geschichtsschreibung so grundverschieden von derjenigen Tolstois?

Wir wollen noch eine Anzahl weiterer Beispiele anführen, da uns scheint, daß RICKERTs Fehler darin besteht, daß er seine theoretischen Ausführungen niemals auf die Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang anwendet. Seine Denkungsart ist zu dialektisch, er vertraut zu sehr auf Abstraktionen und versucht darum nicht, seine Formeln auf ihren Kern hin zu prüfen.

Nehmen wir die über NAPOLEON ausgesprochenen Urteile. Gab es jemand, der ihn nicht gepriesen hätte? Sogar TAINE, der am strengsten über ihn geurteilt hat, schätzt ihn als einen Menschen, dessen Bedeutung in der Weltgeschichte eine gewaltige war. [...] Von seinem Standpunkt aus ist NAPOLEION die Hauptfigur der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, jedenfalls der ersten Hälfte dieses Sekulums.

Jetzt wollen wir TOLSTOI befragen, der, im Gegensatz zu TAINE und RICKERT, in seinen Urteilen und Wertungen nicht von der Voraussetzung der Unumstößlichkeit des Gesetzes der drei Stadien der Entwicklung ausgegangen ist. Ich vergleiche absichtlich solche Antipoden wie RICKERT, TAINE, TOLSTOI, denn nur durch die Gegenüberstellung des Glaubens, der Überzeugung und der Voraussetzungen bedeutender, von grundverschiedenen Standpunkten ausgehender Menschen können wir feststellen, welche Elemente in unseren Urteilen ewig und unwandelbar sind, und welche nur als idola specus, tribus verschiedener Art usw. betrachtet werden müssen.

Diesmal entnehmen wir TOLSTOIs Meinung über NAPOLEON seinem Werk "Krieg und Frieden". Damals war TOLSTOI noch nicht der Mann, als den wir ihn in den letzten Jahren kennengelernt haben, d. h. seine Weltanschauung war damals noch nicht so grundverschieden von der Weltanschauung der Kulturklassen wie heute. Aber schon damals glaubte er nicht an das Gesetz von AUGUSTE COMTE. Und nachdem er in seinem Roman "Krieg und Frieden", nach einem gründlichen Studium, das napoleonische Zeitalter genau geschildert hat, kommt er zu folgendem Schluß:
    "Die menschliche Würde legt mir Zeugnis davon ab, daß jeder von uns kein geringerer, wenn nicht ein größerer Mensch ist, wie der erstbeste Napoleon."
Und weiter: "Napoleon ist nur die nichtigste Waffe in den Händen des Schicksals." (47)

Selbstverständlich können und dürfen wir uns hier nicht in Auseinandersetzungen mit TOLSTOI oder TAINE einlassen. Vielleicht ist die Meinung des ersteren wie auch des letzteren falsch. Für uns ist nur wichtig, hervorzuheben, daß in der entscheidenden Frage nach dem Wesentlichen in der Geschichte, dieser Frage, die nach RICKERT bestimmt, was in die Geschichte hineinkommen soll und was nicht, mit anderen Worten: in der Frage nach dem Grundprinzip der geschichtlichen Begriffsbildung nicht das objektive, allgemeingültige Beziehen auf einen Wert, wie RICKERT lehrt, sondern die unmittelbare, höchst subjektive und eben darum willkürliche Wertung die entscheidende Rolle spielt. Absichtlich haben wir die hervorragendsten modernen Denker ausgewählt, auch diese können nicht zu einer Einigung gelangen. Hätte TOLSTOI Frankreichs Geschichte am Anfang des 19. Jahrhunderts zu schreiben unternommen, so würde er NAPOLEON als eines der unendlich vielen gewöhnlichen, unbedeutenden Exemplare der Gattung "Mensch" geschildert haben; vielleicht würde er ihn sogar ganz übergangen oder ihm einen ebensowenig hervorragenden Platz zuerteilt haben, wie anderen nebensächlichen Personen. Bei TAINE aber, wie bei der Mehrzahl der Geschichtsschreiber, dominiert NAPOLEON über alle, die mit ihm zu gleicher Zeit lebten und wirkten.

Wir wollen noch ein letztes Beispiel anführen. Vor uns sind drei große Denker, die drei verschiedenen Epochen angehören: der Biograph PLUTARCH, der Historiker MOMMSEN und der Dichter SHAKESPEARE. Alle drei hatten Gelegenheit, sich über JULIUS CÄSAR zu äußern.

MOMMSENs Meinung, die er in kurzen Sätzen zusammenfaßt, lautet wie folgt:
    "So wirkte und schaffte er (Cäsar) wie nie ein Sterblicher vor und nach ihm, und als ein Wirkender und Schaffender lebt er noch nach Jahrtausenden im Gedächtnis der Nationen, der erste und doch auch der einzige Imperator Cäsar). (48)
Offenbar betrachtet MOMMSEN CÄSAR als ein In-dividuum par excellence im RICKERTschen Sinn. Kann und darf die Geschichte sich mit etwas Individuellem befassen, so gehört CÄSAR unzweifelhaft in ihr Gebiet. Weder vor ihm noch nach ihm lebte ein Sterblicher, der sich mit ihm hätte messen können. Er ist der erste und einzige Imperator seiner Art. Er ist mit dem Kohinoor [einmaliger Edelstein - wp] zu vergleichen, dessen Größe, Glanz und Bedeutung in der ganzen Welt einzig dasteht.

Wenden wir uns PLUTARCH zu, so zeigt sich, daß CÄSAR auch bei ihm verherrlicht wird, wenn auch nicht im gleichen Maß wie bei MOMMSEN. Auch vom Standpunkt des PLUTARCH ist CÄSAR ein In-dividuum, und es können nicht zweierlei Meinungen darüber bestehen, ob er in die Geschichte gehört oder nicht. Andererseits ist nicht zu bezweifeln, daß PLUTARCH dem CÄSAR nicht ebensoviel Platz in der Geschichte eingeräumt hat, wie es MOMMSEN tat: er kennt in der Geschichte viele Kohinoors, die in Glanz und Größe CÄSAR noch übertreffen. Er findet an seinem Helden viele lächerliche und sogar schwache Züge, wie sie allen übrigen Exemplaren des menschlichen Geschlechts eigen sind, obwohl er seine hervorragenden Eigenschaften nicht in den Schatten stellt. Und das Ergebnis seines Lebens ist nach PLUTARCH folgendes:
    "Cäsar starb in einem Alter von 56 Jahren, nachdem er den Pompejus nicht viel länger als vier Jahre überlebt und von der Herrschaft und höchsten Gewalt, die er sein ganzes Leben hindurch unter so vielen Gefahren verfolgte und endlich mit vieler Mühe erlangte, weiter nichs als den bloßen Namen, als einen von den Bürgern ihn sehr beneideten Ruhm genossen hatte." (49)
Wie weit ist diese Charakteristik von der Wertung eines MOMMSEN entfernt! Aber PLUTARCH wie MOMMSEN zählt CÄSAR zu den In-dividuen der Geschichte; für sie beide ist es keine Frage, ob CÄSAR seinen Platz in der Geschichte neben allem Bedeutenden erhalten soll, oder ob er zum Zweck der Vereinfachung - die ganze Wirklichkeit kann ja in ihrer Mannigfaltigkeit den Historiker nicht beschäftigen - beiseite geschoben werden soll. Für sie beide ist CÄSAR ein Kohinoor. Sie sind nur uneinig in der Würdigung seiner Größe.

Daneben haben wir aber SHAKESPEARE mit seiner Tragödie "Julius Cäsar". Viele Kritiker finden, daß man dieses Drama eher "Marcus Brutus" als "Julius Cäsar" benennen sollte. Das würde schon genügen, um SHAKESPEAREs Stellungnahme zu CÄSAR darzulegen. Er zählt ihn nicht nur nicht zu den Einzigen unter den Einzigen wie MOMMSEN, er findet in ihm überhaupt nichts Einzigartiges und Bemerkenswertes. Nach seiner Auffassung ist CÄSAR, mit BRUTUS verglichen, eine unbedeutende Größe. Und überall im ganzen Drama ist Cäsar der zweite Platz zugewiesen, so wie es einem Exemplar zukommt. Als In-dividuum (nach RICKERTs Terminologie) erscheint überall BRUTUS. Um den Sinn und die Bedeutung dieses "Beziehens auf einen Wert" bei SHAKESPEARE vollständig zu begreifen, müssen wir darauf aufmerksam machen, daß SHAKESPEARE der Verfasser jener berühmten historischen Chroniken ist, die bis auf den heutigen Tag alle Historiker verblüffen durch die Kunst, mit der der Dichter die längst verschollene Wirklichkeit wieder belebt. Und in diesen Chroniken legt SHAKESPEARE die allgemein üblichen Wertmaßstäbe an, so daß die Engländer finden, man könne die vaterländische Geschichte nach diesen Werken ganz gut erlernen. Offenbar gab es einmal in SHAKESPEAREs Leben eine Zeit, in der seine Weltanschauung mehr oder weniger der in den Kulturkreisen herrschenden Weltanschauung entsprach. Zu dieser Zeit bewertete er die geschichtlichen Ereignisse so, wie es alle tun. Dann aber ist in seiner Entwicklung eine Krisis eingetreten. Seine Weltanschauung gestaltete sich um und gleichzeitig veränderten sich seine Begriffe vom Wesentlichen und Unwesentlichen in der Geschichte. Hätte er den "Julius Cäsar" nicht in den Jahren 1601-1602 geschrieben, sondern fünf Jahre früher, so hätten sich vielleicht seine berühmten Worte nicht auf BRUTUS, sondern auf CÄSAR bezogen und er hätte vom letzteren gesagt:
    "Sein Leben war ein freundliches; und die Elemente
    wie gemischt sie auch in ihm waren, daß die Natur
    aufstehen und der Welt sagen konnte: "Das war ein Mann!" (Julius Cäsar V, 5)
Umso wichtiger ist es aber für uns, daß ein so hervorragender Geist wie SHAKESPEARE den CÄSAR des BRUTUS wegen übersehen hat.

Ich habe absichtlich Denker, die verschiedenen Epochen und verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen angehören, verglichen. Denn - ich wiederhole es - das einzige Mittel sich von den Vorurteilen eines Zeitalters frei zu machen, sehe ich in dieser Vergleichsmethode. Oft scheinen viele Grundsätze nur deshalb unzweifelhaft, weil wir nicht auf den Gedanken gekommen sind, sie der Kritik zu unterwerfen, und manchmal genügt es vollständig, eine fremde, von unserer eigenen grundverschiedene Meinung zu vernehmen, um uns die Überzeugung zu geben, daß unsere Auffassung in der Gewohnheit wurzelt.

Und jetzt, um auf RICKERTs Theorie zurückzukommen, will ich folgende Frage aufwerfen: Wie sollen wir uns in diesen beiden oben angeführten Fällen des Beziehens auf einen Wert verhalten? (50) Wenn wir nun bei der Lösung der Frage nicht von vornherein das Gesetz von den drei Stadien als Prinzip aufstellen wollen, wem müssen wir dann beipflichten - einem TOLSTOI oder SHAKESPEARE einerseits oder einem MOMMSEN, einem TAINE und einem PLUTARCH andererseits? Nach meiner Überzeugung diskreditiert schon allein die Möglichkeit einer solchen Frage die ganze RICKERTsche Theorie, denn sie weist darauf hin, daß da, wo RICKERT einen vollständigen consensus gentium voraussetzt, keine Einigkeit besteht. Die Beziehung auf einen Wert unterscheidet sich ihrem Wesen nach in nichts von der unmittelbaren Wertung. "Objektive Wertung" ist ein ebenso widersprechender Begriff wie "objektive Subjektivität" oder "hölzernes Eisen". Und jetzt ist klar, daß RICKERT gar nicht zu anderen Ergebnissen kommen konnte. Er strebt nach einem unerreichbaren Ziel. Denn hat er einmal den Skeptizismus in der Gestalt des spezifischen Relativismus als Grundlage seiner Theorie (vielleicht auch unbewußt) angenommen, so hat er schon damit einen inneren Widerspruch in seine Theorie hineingetragen, der nicht zu beseitigen ist. Je gewissenhafter und folgerichtiger er seine Prinzipien entwickeln will, einen umso schwierigeren Stand hat er. Er strebt, ich wiederhole es, nach einem unerreichbaren und unmöglichen Ziel, dem nämlich: zur Objektivität zu gelangen, indem er von einem Subjektivismus ausgeht.
LITERATUR - Fanny Lowtzky, Studien zur Erkenntnistheorie [Inaugural-Dissertation] Borna-Leipzig 1910
    Anmerkungen
    37) Vgl. z. B. Hermann Ebbinghaus' Artikel "Psychologie" im Sammelband "Kultur der Gegenwart". Unter dem Titel "Auswählender Charakter des Wahrnehmens" führt er aus: "In jedem Wahrnehmungsakt kommt zunächst viel weniger zum Bewußtsein, als nach den jeweilig auf die Seele einwirkenden objektiven Reizen ansich möglich wäre. Je nach dem Gefühlswert der Einwirkungen, nach den bisherigen Erfahrungen der Seele, nach den sie augenblicklich erfüllenden Gedanken machen sich einzelne Inhalte vorwiegend geltend auf Kosten zahlreicher anderer, deren objektive Ursachen gleichfalls vorhanden sind und die Sinnesorgane affizieren. Nur einen kleinen Teil der Dinge, die sich in jedem Moment auf meiner Netzhaut abbilden, nehme ich mit vollem Bewußtsein wahr und auch diese nach einigen ihrer Eigentümlichkeiten; und wenn ich nun gerade sichtbare Dinge wahrnehme, dann bleiben die gleichzeitig vorhandenen hörbaren oder tastbaren leicht unbeachtet." (Seite 214)
    38) Im "Gegenstand der Erkenntnis" sagt Rickert: "Kant identifiziert die objektive Wirklichkeit mit der Natur in einer Weise, die wir nicht mitmachen können." (Seite 210)
    39) Sigwart, der im allgemeinen mit Windelband sympathisiert, bekämpft die vom letzteren und nach ihm auch von Rickert ausgesprochene Ansicht, daß jedes Urteil ein Beurteilen ist: "Bei den Prädikaten wahr und falsch aber ist nicht einmal eine so direkte Beziehung zu Willen und Gefühl vorhanden, wie bei den ihnen von Windelband koordinierten Paaren; denn wahr und falsch als allgemeine Begriffe bezeichnen gar kein Verhältnis zur praktischen Seite unseres Lebens (von mir gesperrt); es hängt weder von unserem Gefühl noch von unserem Wollen ab, was wahr und falsch ist, wie es davon abhäng, was schön und was gut ist ... Wir mißbilligen das Falsche, weil es falsch ist, aber es ist nicht darum falsch, weil wir es mißbilligen." (Sigwart, Logik I, dritte Auflage, Seite 163). Überhaupt ist bei Sigwart, im Gegensatz zu Windelband und Rickert, doch die Wirklichkeit das höchste Kriterium der Wahrheit, obwohl auch er den Standpunkt des ethischen Idealismus vertritt. Vgl. "Logik I", Seite 95: "Das Sein steht dem bloß Vorgestellten, Gedachten, Eingebildeten gegenüber; was ist, das ist nicht bloß von meiner Denktätigkeit erzeugt, sondern unabhängig von derselben, bleibt dasselbe, ob ich es im Augenblick vorstelle oder nicht, dem kommt das Sein in demselben Sinn zu, wie mir selbst, es steht mir, dem Vorstellenden, als etwas von meinem Vorstellen Unabhängiges gegenüber, das nicht von mir gemacht, sondern seinem unabhängigen Dasein nur anerkannt wird." Der Unterschied zwischen Sigwart einerseits und Windelband und Rickert andererseits ist klar, so daß Husserl vollständig berechtigte Einwürfe gegen die beiden letzteren auf den ersteren nicht anwendbar sind. Sigwart hat vollständig recht, indem er Husserl entgegnet: "Husserl verwechselt wahr und wirklich ... falsch ist eine Meinung, ein Bericht über eine Tatsache, diese selbst ist aber einfach da, der Sachverhalt besteht." Windelband und Rickert können das nicht entgegnen: nach ihrer Lehre ist das Wahre begrifflich früher als das Wirkliche.
    40) siehe die Schlußworte des Phädon.
    41) Ich habe schon erwähnt, daß Rickerts Ideen einen Anklang in der russischen Literatur gefunden haben. Dessenungeachtet verhielten sich selbst diejenigen, die seinen Arbeiten besonderen Beifall zollten, sehr vorsichtig zu seiner Erkenntnistheorie. So z. B. Lossky, Professor an der Petersburger Universität, dessen "Grundlehren der Psychologie vom Standpunkt des Voluntarismus" auch in deutscher Übersetzung erschienen sind, geht bei der Betrachtung der Rickertschen Lehre von folgenden Grundsätzen aus: "Im Urteil liegt ein praktisches Moment in Form einer Anerkennung, aber es drückt dem Urteil nicht den Stempel der Wahrheit auf ... Anerkennung ist ein Akt des erkennenden Subjekts; diese Handlung kann eine freie oder eine von äußeren Umständen erzwungene sein. Aber nur wenn sich in diesem Akt der äußere Zwang fühlbar macht, und dabei nicht aus jeder beliebigen Quelle, wenn dieser Zwang vom Inhalt des Urteils ausgeht, ist der Akt ein Akt der Anerkennung der Wahrheit. Somit wird die Wahrheit nicht dadurch charakterisiert, daß ich sie anerkenne, sondern dadurch, daß sie, als etwas rein Äußerliches im Verhältnis zu meinem "Ich", mich verpflichtet, zwingt, sie anzuerkennen. Darum soll sich die Erkenntnistheorie nicht für den Akt der Anerkennung interessieren, sondern für diejenigen Eigenschaften des Inhalts eines Urteils selbst, durch welche ein Urteil mich zwingt, es anzuerkennen." (von mir gesperrt) Siehe "Die Grundlagen des Intuitivismus", St. Petersburg, 1906, Seite 228/229. Ich zitiere nach dem russischen Original.
    42) Kleinpeter hat auf Rickerts Verwandtschaft mit Mach hingewiesen. Rickert protestiert gegen diese Behauptung, aber kaum mit Recht. Seine Verwandtschaft mit Mach besteht nicht nur "in der Ablehnung jeder metaphysischen Deutung naturwissenschaftlicher Begriffe", sondern auch im teleologischen Standpunkt, unter dem die Wissenschaft von Rickert wie von Mach betrachtet wird, und den Wundt so treffend charakterisiert als "das teleologische Sparsamkeitsprinzip der kleinsten Anstrengung" (Die Zukunft der Metaphysik, Seite 133 im Sammelwerk "Kultur der Gegenwart"). Vielleicht ist die Ähnlichkeit zwischen beiden noch größer. Wundt sagt (ebd. Seite 131), daß Machs Philosophie "ein interessanter Rückschlag in die poetische Stufe der Metaphysik" ist, "die freilich umso weniger zu verwundern ist, je skeptischer im Übrigen dieser kritische Standpunkt alle Metaphysik ablehnt." Sind nicht diese Worte auch auf Rickert anwendbar?
    43) Warum darf man von der Wirklichkeit urteilen, daß sie individuell ist? Darüber gibt Rickert nirgends eine Aufklärung. Indessen hätten wir eine solche Aufklärung wohl erwarten dürfen, zumindest deswegen, um festzustellen, daß es naturwissenschaftliche Wahrheiten gibt, die über die Wirklichkeit etwas aussagen können. Denn das Urteil: "die Wirklichkeit ist individuell" ist ein Urteil, das nach Rickerts Terminologie ein naturwissenchaftliches Urteil genannt werden muß. Und trotzdem - sagt es über die Wirklichkeit etwas aus? Oder gehört es, wie alle anderen allgemeinen Urteile, auch nicht zum Sein, sondern zum Sollen?
    44) vgl. Rickert, Fichtes Atheismusstreit und die kantische Philosophie
    45) vgl. Grenzen, Seite 608f
    46) Diese Beispiele sind nicht erfunden. Tolstoi beleuchtet ebenso die sich zu seinen Lebzeiten abspielenden Ereignisse: die Revolution und der Kampf des Selbstherrschertums mit der Opposition sind für ihn ohne Bedeutung; dafür hört er nicht auf, davon zu sprechen, wie ein Bauer einer Soldatenfrau Obdach gewährt hat.
    47) Vgl. Wundt. Logik, dritte Ausgabe, 1908, Bd. 3, Seite 30: "Sehr anschaulich, wenn auch nicht frei von dem ihm eigenen Mystizismus und Fatalismus, hat Leo Tolstoi diese nachträgliche Umdeutung der Erfolge in Zwecke in seinem großen geschichtsphilosophischen Roman "Krieg und Frieden" geschildert. Er zeit, wie alle die Ereignisse des Jahres 1812 bis zum Brand von Moskau mit innerer Notwendigkeit kommen konnten, ohne daß bei der Vorbereitung der Ereignisse bei irgendeinem der Handelnden jene planmäßige Absicht, die man ihnen zuschrieb, bestanden hätte."
    48) Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 3, 1866, Seite 553
    49) Plutarch, Cajus Julius Cäsar, Kapitel 69
    50) Hier kann man nicht Rickerts Erwägung anwenden, durch die er die Frage nach den Streiten politischer Gegner zu lösen sucht: Bei politischen Gegnern, sagt er (vgl. Grenzen 364 und 633), gibt es etwas Gemeinsames, nämlich die Anerkennung, daß diese oder jene Regierungsform einen Wert darstellt. Für Tolstoi aber ist dies kein Wert. Nach seiner Überzeugung ist alles, was sich auf die Politik bezieht, von ebenso geringem Wert, wie die Wellenbewegungen des Meeres: ob in Rußland die Monarchisten oder die Konstitutionalisten die Oberhand gewinnen werden, wohin ein trockenes Blatt vom Baum fallen wird, wieviele Kreise der ins Wasser gefallene Stein bilden wird - all diese Fragen sind für Tolstoi gleich unbedeutend. Finden einige Tatsachen in der Geschichte Aufnahme, andere nicht, so geschieht es seiner Meinung nach nur darum, weil das wirklich Wertvolle vom Menschen nicht gepriesen wird: die Historiker lassen sich nicht durch das sittlich und religiös Große, sondern durch das Pomphafte und Glanzvolle verleiten. Aus ähnlichen Gründen wie bei Tolstoi hat Shakespeare an Cäsar keinen Gefallen gefunden und nur Brutus hervorgehoben.