tb-1HarmsErdmannCassirerVorländerFischerHölder     
 
WILHELM WUNDT
Was soll uns Kant nicht sein?
[1/2]

"Schließlich bleibt es doch ein Gesetz geschichtlicher Notwendigkeit, daß eine Philosophie, die um ein Jahrhundert zurückliegt, nicht mehr die unsere sein kann. Kant steht inmitten der Bedingungen seiner Zeit, so gut wie vor ihm Aristoteles, Descartes, Spinoza und Leibniz oder nach ihm Fichte, Hegel und Herbart. Wer wird leugnen, daß von jedem dieser Philosophen dem geistigen Erwerb der Menschheit etwas Bleibendes hinzugefügt worden ist, und daß es für uns heute noch lehrreich und förderlich sein kann, ihnen auf den Wegen ihres Denkens zu folgen, um sie uns zu Vorbildern zu nehmen, wo sie dies sein können, aber auch um uns durch ihr Beispiel warnen zu lassen, wo die Wege, die sie eingeschlagen haben, heute als ungangbar erkannt sind."

"Die Bedeutung, die er für unsere Zeit hat, liegt vielmehr, wie ich meine, vornehmlich in zwei Dingen: einmal in der tief in die Probleme eindringenden, mit höchster Behutsamkeit gepaarten Kraft seines Denkens, und sodann in der Erhabenheit seiner ethischen Lebensanschauung. An Tiefe des Denkens überragt er ebenso den seichten Eklektizismus der Wolffianer und Popularphilosophen, die ihm vorausgingen, wie an Strenge und Behutsamkeit die spekulative Philosophie, die nach ihm gekommen ist. Das allein würde schon den Vorzug erklären und rechtfertigen, der ihm heute zuteil wird. Der hohe Ernst seiner ethischen Anschauungen vollends ist dem Utilitarismus unserer Zeit nicht weniger überlegen, wie er es der Glückseligkeitsmoral des 18. Jahrhunderts [pursuit of happiness] war."


I.

In seiner zum Jubeljahr der Kritik der reinen Vernunft geschriebenen Betrachtung "Was uns Kant sein kann" hat FRIEDRICH PAULSEN in einem Sinn, der sich der Zustimmung manchen Kant-Verehrers erfreuen dürfte, das dauernd Wertvolle in KANTs Leistungen von jenen vergänglichen Bestandteilen zu sondern gesucht, die, weil sie teils in Zeitverhältnissen, teils in der besonderen Geistesentwicklung des Philosophen ihre Quelle hatten, für uns keine bleibende Bedeutung mehr besitzen könnten (1). Auf diese Weise ist die an die Spitze des Aufsatzes gestellte Kehrseite der von PAULSEN behandelten Frage in der Antwort, die er gibt, in seinem Sinn schon mitbeantwortet. Daß "die abstrakt-schematische Methode der sogenannten transzendentalen Deduktionen" in der Kr. d. r. V. der Geltendmachung der Grundgedanken nicht förderlich ist, und daß sie vollends in der praktischen Philosophie, in der Ästhetik und Teleologie nur dazu dient, die wirklichen Gedanken in ein ihnen äußerlich aufgenötigtes Gewand schablonenhafter Begriffe zu zwängen, werden heute vielleicht Viele zugeben, die im Allgemeinen die Anschauungen KANTs, namentlich in der Erkenntnistheorie, noch als maßgebend anerkennen.

Nicht minder ist über die Einseitigkeit, um nicht zu sagen moralische Unmöglichkeit der praktischen Forderungen der kantischen Ethik heute wohl alle Welt einig, die Kantianer kaum ausgenommen.

Wenn ich darum gegen KANT bloß diese Ausstellungen auf dem Herzen hätte, so würde ich es nicht für nötig halten, dem, was PAULSEN in der angeführten Arbeit und was Andere, die sich trotzdem in gewissen Grundgedanken mit KANT einig wissen, gesagt haben, ein Wort hinzuzufügen. Aber ich befinde mich KANT gegenüber in einer anderen Lage. Ich halte jenen vielbeklagten Schematismus nicht etwa bloß für eine nun einmal hinzunehmende Zugabe, durch die man sich die Wertschätzung der davon unabhängigen Grundgedanken nicht soll stören lassen; auch betrachte ich die künstliche Architektonik der Vernunft nicht bloß unter dem mildernden Gesichtspunkt, daß sie für diejenigen gut ist, denen Philosophie ohne scholastischen Betrieb nicht zusagt. Ich meine vielmehr, der ganze Schematismus der transzendentalen Deduktionen hängt so innig mit dem Wesen der kantischen Philosophie zusammen, daß man zwar sagen kann, ein Verständnis und eine Würdigung ihres Inhaltes sei schließlich auch möglich, ohne dem Philosophen auf all den Wegen zu folgen, die er zur vermeintlichen Sicherstellung seines Baues eingeschlagen hat, daß man aber nicht sagen kann, diese Wege seien überhaupt eine überflüssige Mühe gewesen, die sich KANT gemacht und durch die er nur den großen und einheitlichen Aufbau seines Werkes verunziert hat. Vielmehr scheint mir darin die kleine Schaar der orthodoxen Kantianer Recht zu behalten, daß man zwar möglicherweise im Einzelnen dies und jenes bessern oder vervollständigen kann, daß aber, sobald man einmal die Grundgedanken KANTs annimmt, auch seine Ableitung der Kategorien und der Grundsätze des reinen Verstandes sowie die Anwendung dieser Begriffe und Grundsätze auf die Kritik des Erkenntniswertes der sogenannten "transzendenten Ideen" als eine Reihe notwendig zu lösender Aufgaben anerkannt werden muß. Die äußerliche und gezwungen Übertragung jenes Begriffsschematismus auf die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft wird man vielleicht selbst vom Standpunkt eines Kantianers aus preisgeben können. Aber was man nicht preisgeben kann, solange man ühberhaupt an den Anschauungen KANTs vom Wesen der Erfahrungserkenntnis festhält, das ist die Forderung, daß jene Funktionen a priori, die aller Erfahrung erst ihre Form geben, in einen logischen Zusammenhang miteinander und mit den Gesetzen unseres Denkens und in eine Beziehung zur sinnlichen Wahrnehmung gebracht werden. Das erstere sucht aber bekanntlich die Deduktion der Kategorien, das letztere die Lehre vom transzendentalen Schematismus der Zeit zu leisten. Wer auf dem Boden kantischer Anschauungen jene Deduktion und diese Lehre bekämpfen wollte, der müßte etwas anderes an die Stelle setzen. Denn es läßt sich doch wahrlich nicht annehmen, daß Begriffe wie Einheit, Vielheit, Realität, Substanz, Kausalität zusammenhanglos in uns liegen, und daß sie als abstrakte Begriffe ohne weiteres den in der Empfindung gegebenen Stoff der Erfahrung in sich aufnehmen. Darum kann ich auch PAULSENs Ansicht, daß die zwischen der Inauguralschrift und der Kr. d. r. V. verflossenen zehn Jahre für KANT verhängnisvoll geworden sind, nicht ganz teilen. Man mag es ja im Interesse der Ausgestaltung der weiteren Teile seines Systems bedauern, daß es ihm so spät erst gelungen ist, die transzendentale Deduktion der Kategorien zu finden. Aber daß diese Deduktion eine in seinem Sinn nicht nur, sondern auch auf dem Boden der ganzen Weltanschauung, die er gewonnen hat, notwendige Aufgabe war, wird man nicht leugnen können.

Eher ließe sich sagen, daß KANT, trotz seines Bemühens, die logische Verbindung der Teile seines Systems in der äußeren Architektonik desselben, vielleicht mehr als nötig, hervortreten zu lassen, doch die ganze Aufgabe, die transzendentalen Erkenntnisformen in ihrem notwendigen Zusammenhang darzulegen, nicht vollständig gelöst hat. Die Anschauungsformen, Raum und Zeit, treten in der Kr. d. r. V. nicht anders, als es in der Inauguralschrift geschehen ist, einfach als tatsächlich gegebene auf. Es mag sein, daß diesem Umstand die transzendentale Ästhetik den Ruf besonderer Klarheit und Evidenz erfreut, die von den spanischen Stiefeln [Beinschraube / Folterwerkzeug - wp] des Kategorienschemas nicht viel wissen wollen. Aber der Vorzug der größeren Klarheit und Einfachheit ist hier doch nur dadurch erkauft, daß den Anschauungsformen das Fundament fehlt, welches die Deduktion der Kategorien für diese herzustellen sucht. Freilich will ich damit diese Deduktion selbst nicht für einwandfrei erklären. Daß die Urteilsformen, mit denen die Kategorien in Beziehung gesetzt werden, selbst der einheitlichen Ableitung völlig ermangeln, und daß das symmetrische Schema der äußeren Anordnung nur mühselig die logischen Sprünge verdeckt, die zwischen den vier Hauptkategorien stattfinden, ist schon oft genug bemerkt worden. Eben deshalb war aber auch der zuerst von FICHTE gemachte Versuch, diese zersplitterte und nicht ohne die Beimengung empirischer Gesichtspunkte unternommene Ableitung durch eine strengere und einheitlichere zu ersetzen, welche Kategorien und Anschauungsformen gleichmäßig umfassen sollte, im Sinne der Grundanschauungen KANTs ein wohlberechtigter, ja vielleicht ein notwendiger.

Freilich gibt es noch eine andere Art, die Sache zu betrachten. Wenn man - und dies ist, wie ich glaube, der in PAULSENs Abhandlung vorwiegende Gesichtspunkt - auf die "Resultate der Vernunftkritik den Hauptnachdruck legt, dann wird man als das Wichtigste derselben dies ansehen, daß sie alle Erkenntnis auf den Zusammenhang der Erfahrung einschränkt und alles was, die Grenzen der Erfahrung überschreitend, gleichwohl den Inhalt für uns wertvoller Ideen ausmacht, dem Wissen entzieht, um es dem praktischen Glauben zu überweisen. Das ist dann ein Ergebnis, in welchem KANT völlig mit dem Skeptizismus HUMEs und mit den gemäßigten Vertretern des neueren Positivismus übereinstimmt. Weil aber ein Ergebnis nach gewöhnlicher Ansicht um so sicherer ist, je mehr es von verschiedenen Ausgangspunkten aus unabhängig wurde, so ist es begreiflich, daß man in KANT einen besonders wertvollen Zeugen jener Anschauungen erblicken muß. Ist es doch bei ihm eine der alten rationalistischen verwandte Methode, die, wie sie einst zum Aufbau metaphysischer Luftschlösser gedient hatte, nun mit aller Gründlichkeit angewandt wird, um diese Luftschlösser wieder abzutragen.

Aber freilich, eines bleibt immerhin, was die Philosophie KANTs durch einen tiefen Abgrund vom Positivismus scheidet: das ist die Apriorität des Sittengesetzes mit der ganzen, rücksichtslos über die psychologischen Bedingungen der menschlichen Natur sich hinwegsetzenden Herbheit ihrer praktischen Folgerungen. Dennoch wird man auch hier sagen müssen: im Sinne der Grundanschauungen KANTs ist diese Apriorität des kategorischen Imperativs der Pflicht ein gerade so unerläßlicher Bestandteil seines Systems wie seine Lehre von den transzendentalen Erkenntnisformen, und sobald man jene Aprioritä einmal annimmt, wird man sich auch den daran geknüpften Folgerungen nur schlecht entziehen können. Wer also die Unmöglichkeit einsieht, diese Ethik mit der empirischen menschlichen Natur in Einklang zu bringen, der mag darin eine Instanz gegen die ganze Grundanschauung KANTs sehen; er kann aber nicht auf dem Boden dieser Anschauung bleiben und KANTs transzendente Ethik dennoch verwerfen. Höchstens wird auch hier der Versuch möglich sein, mehr als es von KANT geschehen ist, Transzendentes und Sinnliches in eine innere Verbindung zu setzen. In der Tat hat das die aus KANT hervorgegangene Philosophie von früh an neben der einheitlicheren Deduktion der Erkenntnisformen als ihre Hauptaufgabe betrachtet. Also auch hier muß man anerkennen, daß wohl etwa FICHTEs Wissenschaftslehre, nimmermehr aber der Positivismus die wirkliche Fortbildung KANTs ist.

Sollte ich nach all dem auf die Frage "was kann uns Kant sein?" eine Antwort geben, so würde ich in den Ergebnissen der Vernunftkritik ebensowenig wie in der eingschlagenen Methode, in der Unterscheidung der "Welt der Werte" von der "Wirklichkeit" ebensowenig wie in der Gegenüberstellung des intelligiblen und empirischen Charakters den Inhalt dessen erblicken, was KANT uns noch heute sein kann. Die Bedeutung, die er für unsere Zeit hat, liegt vielmehr, wie ich meine, vornehmlich in zwei Dingen: einmal in der tief in die Probleme eindringenden, mit höchster Behutsamkeit gepaarten Kraft seines Denkens, und sodann in der Erhabenheit seiner ethischen Lebensanschauung. An Tiefe des Denkens überragt er ebenso den seichten Eklektizismus der Wolffianer und Popularphilosophen, die ihm vorausgingen, wie an Strenge und Behutsamkeit die spekulative Philosophie, die nach ihm gekommen ist. Das allein würde schon den Vorzug erklären und rechtfertigen, der ihm heute zuteil wird. Der hohe Ernst seiner ethischen Anschauungen vollends ist dem Utilitarismus unserer Zeit nicht weniger überlegen, wie er es der Glückseligkeitsmoral des 18. Jahrhunderts war, von dem jener nur eine verspätete Nachblüte zu sein scheint.

Man kann zugeben, daß aus diesen Gründen KANTs aktuelle Bedeutung für uns eine größere ist, als die irgendeines Philosophen der vorangegangenen und der unmittelbar nachfolgenden Zeit. Aber schließlich bleibt es doch ein Gesetz geschichtlicher Notwendigkeit, daß eine Philosophie, die um ein Jahrhundert zurückliegt, nicht mehr die unsere sein kann. KANT steht inmitten der Bedingungen seiner Zeit, so gut wie vor ihm ARISTOTELES, DESCARTES, SPINOZA und LEIBNIZ oder nach ihm FICHTE, HEGEL und HERBART. Wer wird leugnen, daß von jedem dieser Philosophen dem geistigen Erwerb der Menschheit etwas Bleibendes hinzugefügt worden ist, und daß es für uns heute noch lehrreich und förderlich sein kann, ihnen auf den Wegen ihres Denkens zu folgen, um sie uns zu Vorbildern zu nehmen, wo sie dies sein können, aber auch um uns durch ihr Beispiel warnen zu lassen, wo die Wege, die sie eingeschlagen haben, heute als ungangbar erkannt sind.

Ich meine nun nicht bloß, daß auch KANT uns bereits in diesem Licht geschichtlicher Betrachtung erscheinen sollte, sondern ich glaube sogar: je mehr dies geschieht, umso mehr werden wir von ihm lernen, umso mehr was er geschaffen hat fruchtbar machen können auch für unsere Zeit. In dieser Forderung, daß wir es mit KANT nicht anders halten, als mit SPINOZA oder LEIBNIZ, oder selbst - merkwürdigerweise ist ja in diesem Fall die nähere Vergangenheit früher zur Geschichte geworden als die entferntere - mit FICHTE oder mit HEGEL, liegt nun auch meine Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage: "Was soll uns Kant nicht sein?" Er soll uns nicht sein ein Lebender unter Lebenden. Wir sollen nicht annehmen, daß die Voraussetzungen, unter denen sein Denken und Fühlen stand, dieselben gewesen sind, die für uns heute gelten. Wir sollen nicht, auch nicht für die Spanne eines Jahrhunderts, in den Fehler der mittelalterlichen Scholastik zurückfallen und uns einer Autorität unterwerfen, die gewesen ist und nie mehr sein wird. KANT selber hat für diesen Fehler das bezeichnende Wort geschaffen: den Dogmatismus. Daß man ein sogenannter kritischer Philosoph sein kann und doch ein Dogmatiker, das hat vielleicht KANT schon in seinen späteren Lebensjahren, und das hat jedenfalls die ältere kantische Schule bewiesen, - ob auch die neuere, lasse ich unentschieden, weil ich das Urteil über Zeitgenossen lieber der Geschichte überlassen möchte. Worin sich aber die zum Dogma erstarrte kritische Philosophie vor anderen Arten des Dogmatismus zu ihrem Vorteil unterscheiden sollte, vermag ich nicht einzusehen. Einer selbständigen Fortentwicklung des Denkens kann der zum Dogma gewordene KANT möglicherweise ebenso gut wie der dogmatische THOMAS von AQUIN im Wege stehen.

Nun höre ich freilich einwenden: Niemand denkt ja daran, am Buchstaben der Kritik der reinen Vernunft oder gar der anderen kritischen Schriften KANTs festzuhalten. Das würde dem Geist der kritischen Philosophie selbst widersprechen. Nur die Grundanschauung KANTs von der Entstehung der Erkenntnis aus Prinzipien a priori und der Materie der Empfindung, vom Verhältnis der Erfahrung zu den transzendentalen Ideen und von der im Zusammenhang damit stehenden praktischen Bedeutung des Glaubens gegenüber dem theoretischen Wissen muß festgehalten werden. Denn hier handelt es sich um eine der wenigen wirklichen Entdeckungen im Gebiet der Philosophie, die man ebensowenig aufgeben darf, wie die heutige Astronomie daran denkt, die keplerschen Gesetze oder das newtonsche Gravitationsgesetz aufzugeben.

Zwar wird ein moderner Thomist vielleicht genau dasselbe sagen. Auch er wird er von ihm vertretenen Philosophie nicht die Fortbildungsfähigkeit absprechen. Wie könnte sonst eine ganze Literatur existieren, die sich tatsächlich mit nichts anderem beschäftigt? Auch hier sind es also nur die Grundanschauungen, die absolut sicher stehen sollen. Modifikationen im Einzelnen, wie sie durch die Zeitbedürfnisse, wie sie insbesondere durch die Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften, die dann doch diesen dogmatischen Systemen zuliebe nicht still stehen, gefordert werden, bleiben nicht ausgeschlossen. Das ist eben das Wesen des Dogmatismus, daß man gewisse Hauptlehren für unangreifbar, sozusagen für undiskutierbar hält. Einen Dogmatismus, der ein bestimmtes System bis in alle Einzelheiten für unantastbar erklären würde, hat es niemals oder doch höchstens in den sterilsten Zeiten der aristotelischen Scholastik des Mittelalters gegeben.

Jener allem philosophischen Dogmatismus gemeinsamen Behauptung gegenüber muß nun, wie ich meine, energisch betont werden, daß die Berufung auf bestimmte Tatsachen empirischer Wissenschaften oder auf die Gesetze, in denen solche Tatsachen allgemein formuliert werden, hier ebensowenig zutreffend ist, wie die früher zu ähnlichen Zwecken häufiger angewandte Berufung auf mathematische Wahrheiten. Tatsachen, tatsächliche Beziehungen können entdeckt und, vorausgesetzt daß sie richtig beobachtet sind, natürlich wieder aufgegeben werden; obgleich auch hier nachträgliche Vervollständigungen möglich sind, wie wir z. B. heute die keplerschen Gesetze nicht mehr als den vollkommen exakten Ausdruck der Tatsachen, sondern nur als eine abstrakte Annäherung an dieselben betrachten. Ebenso können mathematische Gesetze entdeckt werden und dann ein unverlierbarer Besitz der Wissenschaft bleiben, insofern die mathematischen Begriffe in dem einmal definierten Sinn unverrückbar festgehalten werden. Aber philosophische "Grundanschauungen", mögen sie sich nur auf das Wesen der übersinnlichen Welt oder auf das Wesen unserer bei der Erkenntnis der sinnlichen Welt wirksamen Verstandesfunktionen beziehen, sind weder fest gegebene Tatsachen, noch durch unsere eigene Definition festzustellende Begriffe, sondern sie sind eben "Anschauungen", die, sobald man von einem anderen Gesichtspunkt aus die Dinge betrachtet, möglicherweise anderen "Anschauungen" Platz machen. Darin gerade besteht der Dogmatismus, daß er derartige Anschauungen so behandelt, als wenn sie Tatsachen oder durch willkürliche Definition ein für allemal festzustellende Begriffe wären.

KANT hat den Ausdruck "Dogmatismus" vorzugsweise auf diejenigen Verwechslungen solcher Art angewandt, die sich auf die übersinnlichen Objekte der alten Metaphysik beziehen. Aber es ist klar, daß erkenntnistheoretische Lehren genau ebenso den Inhalt dogmatischer Behauptungen abgeben können, und nichts scheint mir gewisser, als daß KANTs Philosophie vielleicht mehr als irgendeine andere vorangegangene, ausgenommen die aristotelische, dogmatisiert worden ist.


II.

Der Anlaß zu den Betrachtungen, denen ich die obigen Bemerkungen voranstelle, ist mir durch verschiedene Beurteilungen geworden, die mein "System der Philosophie" in philosophischen und anderen Zeitschriften gefunden hat. Ich beabsichtige keineswegs, hier eine Anti-Kritik zu schreiben. Die Besprechungen, die ich im Auge habe, geben mir dazu umso weniger Anlaß, als sie zumeist wohlwollend gehalten sind, vielfach auch in einzelnen Fragen die Übereinstimmung ihrer Verfasser mit meinen Ansichten zu erkennen geben. Aber während ich ein solches Einverständnis manchmal zu meiner Freude selbst da gefunden habe, wo ich es kaum zu hoffen wagte, ist es mir umso auffallender gewesen, gerade in der Frage, in welcher mir meine Auseinandersetzungen am meisten überzeugend erschienen, durchgängig teils einem entschiedenen Widerspruch teils unzweifelhaften Mißverständnissen begegnet zu sein. Da es sich hier um diejenige Grundfrage der Erkenntnistheorie handelt, in deren Beantwortung der theoretische Hauptwert der kantischen Vernunftkritik gesehen wird, so hat sich mir das Rätsel jenes Widerspruchs schließlich dadurch gelöst, daß ich wahrzunehmen glaubte, in diesem Punkt sei bei uns Allen, Kantianern wie Nichtkantianern, die kantische Auffassung noch so fest gewurzelt, daß man sich in eine andere, welche den Versuch macht, das Problem unter einem neuen Gesichtspunkt zu sehen, nicht recht zu finden wußte.

Ich meine mit diesen Bemerkungen durchaus nicht jene Art kritischer Besprechungen, als deren Hauptrepräsentanten ich EDUARD von HARTMANN betrachten möchte. In HARTMANNs Augen gleicht die Philosophie genau einer wohlsortierten Apotheke. Da finden sich reihenweise und mit deutlich lesbaren Etiketten versehen nebeneinander aufgestellt in Töpfen und Schachteln der Rationalismus, Spiritualismus, Idealismus, Pluralismus, Monismus, Atomismus, der gemeine Empirismus und Rationalismus, der naiv sensualistische Realismus, der transzendentale Realismus und der transzendentale Idealismus, endlich der reine Subjektivismus, der auch, ich weiß nicht ob ganz mit Recht, rationalistischer Apriorismus genannt wird; dazu noch manche andere seltener gebrauchte Büchsen, wie der Thelismus, der Hylozoismus, der Animismus und - eine Substanz, die man nur in kleinen Dosen und sehr vorsichtig anwenden muß - der Agnostizismus. Alles, was der Menschengeist an Medikamenten zur Heilung der Sucht nach dem Welträtsel ersinnen konnte, ist in diesen Schachteln und Töpfen bereits seit langer Zeit aufgespeichert. Ein neues Urmedikament erfinden zu wollen, wäre vergebliche Mühe.

Der echte philosophische Apotheker soll also zusehen, daß er aus dem vorhandenen Vorrat eine Mischung zustande bringt, die noch nicht da war. Aber er soll es auch nur eine solche sein lassen, deren Ingredenzien [Zutaten - wp] sich gut vertragen, sonst muß er sich darauf gefaßt machen, daß ihn der erfahrene Drogist als einen Quacksalber entlarvt, der in "Widersprücen" und "Halbheiten" stecken geblieben ist (2).

Ich weiß nicht, ob von HARTMANN nach diesem Rezept seine eigene Philosophie zustande gebracht hat. Aber gewiß ist, daß er es anwendet, wo es ihm um die Beurteilung anderer Philosophien zu tun ist. Er scheint also dieses Etikettieren, Mischen und Reagieren doch auch für eine philosophische Beschäftigung zu halten. Daß dabei die gröbsten Irrtümer und Mißverständnisse mit unterlaufen, versteht sich von selbst. Was tut das? Die Dinge müssen nun einmal in die üblichen Töpfe geworfen werden, und andere sind in der Apotheke nicht vorrätig.

Aber ich meine, daß im Denken und der Ausdrucksweise von HARTMANNs ein Übel, das leider unter uns verbreitet ist, vielleicht nur ein wenig mehr als sonst zum Vorschein kommt. Durch CHRISTIAN WOLFF, dessen oberflächlich schematisierendem Denken diese Art sich mit philosophischen Weltanschauungen abzufinden so recht entsprochen hat, sind jene Kategorien zuerst festgelegt worden, und KANT hat leider mehr zu ihrer Verbreitung als zu ihrer Beseitigung beigetragen. Nun will ich nicht behaupten, daß es nicht gelegentlich einmal nützlich sein kann, eine bestimmte Richtung des Denkens in einen allgemeinen Ausdruck zusammenzufassen. Aber man sollte doch nicht meinen, damit jemals mehr geben zu können, als einen ersten ungefähren Fingerzeig für den, der noch nicht orientiert ist; und man sollte vor allem vermeiden, solche schablonenhafte Begriffe da anzuwenden, wo man nicht sicher ist, ob sie auch wirklich am Platz sind, etwa bloß um einem Ding, das man vorläufig noch nicht kennt, doch wenigstens einen Namen zu geben, wo dann natürlich die oberflächlichsten und zufälligsten Ähnlichkeiten zu dieser Taufe herhalten müssen.

Ich bin manchmal erstaunt, mit wie großer Sicherheit manche meiner verehrten philosophischen Fachgenossen mich in ihr übliches Schema einzureihen wissen. Ich muß annehmen, daß sie meine Gesinnungen besser kennen, als ich selbst. Denn wenn ich auf mein Gewissen gefragt würde, zu welcher jener vielen Sekten ich mich bekenne, zu den Empiristen, Positivisten, Rationalisten, Idealisten usw., ich müßte wahrhaftig die Anwort schuldig bleiben. "Seht den Eklektiker!" höre ich hier schadenfroh manchen in seinen Kategorien wohlgesattelten Philosophen ausrufen. Natürlich, wer sich zu keiner der üblichen Etiketten bekennen will, bekennt sich zu allen. Denn Schablone muß sein, und Wörter sind da, um das Denken zu erleichtern, manchmal auch, um es überflüssig zu machen.

Aber ich habe hier, wie gesagt, solche Beispiele nicht im Auge. Ein lauter redendes Zeugnis für die Macht der kantischen Traditionen erblicke ich darin, daß selbst solche, die unbefangen genug sind einzusehen,
    "daß man in einigen Jahrzehnten oder doch Jahrhunderten über unsere erkenntnistheoretischen Streitigkeiten und Erörterungen ganz ebenso urteilen und sie für ebenso unfruchtbar erklären wird, wie wir heute den scholastischen Universalienstreit ansehen",
dennoch sich nicht entschließen können, gerade beim Erkenntnisproblem den nun einmal geläufig gewordenen Denkgewohnheiten auch nur so weit zu entsagen, als es erforderlich ist, um eine mit denselben nicht übereinstimmende Ansicht unabhängig zu würdigen. Nur so kann ich es verstehen, wenn z. B. von THEOBALD ZIEGLER gesagt wird, meine Auffassung sei allenfalls möglich gewesen "vor dem kritischen Sündenfall, d. h. vor Kant", jetzt "nachdem einmal die idealistische Hypothese aufgestellt und doch nicht ganz grundlos aufgestellt" ist, sei sie nichts "als ein Rückfall in den *naiven Realismus und Dogmatismus." (3)

Ich bin über diese Bemerkung umso mehr verwundert, als ich ZIEGLER im Übrigen für seine lichtvollen und selbst in solchen Punkten, in denen unsere Ansichten auseinandergehen, vollkommen objektiven Auseinandersetzungen aufrichtigt dankbar sein kann. Ebenso wird es mir nur unter dem Gesichtspunkt einer - wenn der Ausdruck erlaubt ist - "transzendentalen" Kritik, d. h. einer Kritik, die in den betrachteten Gegenstand festliegende subjektive Kriterien hinüberträgt, verständlich, wenn AUGUST DÖRING meint, die "Identtät von Vorstellung und Objekt" sei mein "Zentraldogma", auf das ich mich "versteift" haben soll, worauf ich dann - glücklicherweise nicht in Wirklichkeit, sondern bloß in effigie [bildlich gesprochen - wp], d. h. in der Vorstellung, die DÖRING von mir hat, - als "dogmatischer Realist" festgenagelt werde. Da in dieses leere Gefäß des dogmatischen Realismus noch manche Andere geworfen werden, so darf ich mich nun freilich nicht wundern, hier mit Philosophen zusammenzutreffen, die in den wesentlichsten Punkten ungefähr das Entgegengesetzte lehren. Wenn der Verfasser dazu bemerkt, der Satz "Vorstellung und Objekt sind ein und dasselbe" sei zweischneidig, auch der radikalste Idealismus kann sich ihn aneignen, so ist das gewiß sehr richtig. Aber es wäre doch wohl noch richtiger gewesen, sich nicht mit einem herausgegriffenen Satz zu begnügen, der alles bedeuten kann und darum für sich allein genommen nichts bedeutet, sondern sich den Zusammenhang zu vergegenwärtigen, in welchem er steht (4).

Doch vielleicht tue ich Unrecht, wenn ich den Grund dieser schiefen und mißverständlichen Auffassungen in Andern und nicht in mir selbst suche. Ich habe überall, besonders aber bei der Erörterung des Erkenntnisproblems, geglaubt am besten zu tun, wenn ich möglichst voraussetzungslos verfahre. Ich bin also den Fragen nachgegangen, wie sie unmittelbar zunächst die gewöhnliche Erfahrung und dann die Behandlung der Begriffe in der Wissenschaft uns darbietet, und ich habe in der Regel erst später und gelegentlich, wo sich naheliegende Beziehungen ergeben haben, auf die verschiedenen philosophischen Theorien und ihr Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens hingewiesen. Vielleicht wäre es richtiger oder, wenn nicht richtiger, so doch für den nächsten Erfolg günstiger gewesen, umgekehrt zu verfahren: also nicht an den Standpunkt des gewöhnlichen Bewußtseins anzuknüpfen und diesen erst zur wissenschaftlichen und dann von hier aus zur philosophischen Betrachtungsweise überzuleiten, sondern von den herrschenden philosophischen Anschauungen auszugehen, zunächst und vor allem also die kantische Lehre zugrunde zu legen und dann zu zeigen, in welcher Beziehung dieselbe teils der Berichtigung, teils der Fortbildung bedarf. Mindestens würde ich dann wohl soviel erreicht haben, daß man nicht, durch jenen äußeren Gang der Untersuchung verleitet, von naivem Realismus oder Dogmatismus geredet hätte, wo, wie ich glaube sagen zu dürfen, in Wahrheit die kritische Analyse der Erkenntnisfunktionen nur um einen Schritt weitergeführt war, als KANT sie geführt hatte.

Nichtsdestoweniger würde ich mich um eines solchen vielleicht rascheren Erfolges willen nicht entschließen können, die gewählte Darstellungsweise zu ändern, da ich sie in Wahrheit für diejenige halte, die - wenn ich so sagen darf - für jedes nicht durch kantische Kategorien verdorbene Gemüt die überzeugendere sein muß.

Auch wäre der durch eine solche Änderung gewonnene Vorzug vielleicht nur durch eine solche Änderung gewonnene Vorzug vielleicht nur durch einen anderen Nachteil zu erkaufen gewesen. Glücklich dem "naiven" oder "dogmatischen" Realismus entronnen, würde meine Auffassung möglicherweise als eine keiner weiteren Beachtung würdige Spielart des "transzendentalen Idealismus" betrachtet worden sein. Sehe ich doch, daß die äußere Anlehnung an KANT in der Unterscheidung der drei Stufen der Wahrnehmungs-, Verstandes- und Vernunfterkenntnis oder die analoge äußere Unterscheidung der transzendenten Ideen auf die Beurteilung des Inhaltes der betreffenden Kapitel gelegentlich herübergewirkt und mir merkwürdigerweise gerade da, wo ich es am wenigsten bin, beinahe den Ruhm eines Kantianers eingetragen hat.

Doch, nachdem ich nun einmal den Rechtstitel eines "Realisten" mit viel Mühe erworben habe, hat es jetzt vielleicht keine Gefahr mehr, auch einen anderen Weg einzuschlagen. Ich will daher im Folgenden den Versuch machen, von kantischen Sätzen ausgehend einige Hauptfragen der Erkenntnistheorie zu behandeln. Für den gegenwärtigen Zweck wird es genügen, wenn ich mich auf die Lehre von den Anschauungsformen und auf einen kurzen Blick in die Kategorienlehre beschränke. Auch wird es der Leser wohl gerechtfertigt finden, wenn ich nur auf Hauptpunkte eingehe, hinsichtlich der Einzelheiten aber auf die ausführlichere Darstellung in meinem Werk verweise. Ich habe bei meinen Erörterungen einen überzeugten Kantianer im Auge, der aber unbefangen genug ist zuzugeben, daß die kantische Kritik nicht zum Dogma erstarren darf, sondern einer kritischen Weiterbildung zugänglich ist.


III.

KANT hat gezeigt, daß Raum und Zeit als Anschauungsformen a priori jeder einzelnen Wahrnehmung vorausgehen, weil wir keinen Gegenstand wahrnehmen können, ohne ihn sofort räumlich und zeitlich zu ordnen. Wenn er demnach Raum und Zeit als "transzendentale Formen" bezeichnet hat, so will dieser Ausdruck, wie heute wohl allgemein anerkannt ist, nicht etwa bedeuten, daß sie als leere Formen in uns liegen, bereit jeden sich ihnen von außen darbietenden Empfindungsinhalt aufzunehmen, sondern daß sie vielmehr "Funktionen" unseres Bewußtseins sind, die immer erst in dem Augenblick in Wirksamkeit treten, wo uns Empfindungen gegeben werden. Daraus folgt von selbst, daß auch die "Materie der Empfindungen" niemals ohne jene ordnenden Formen gegeben sein kann, daß es sich also überall da, wo wir von einer "reinen Empfindung" reden, nur um logische Abstraktionen handeln kann. Bei der reinen Empfindung abstrahieren wir ebenso von der Raum- und Zeitform, wie wir umgekehrt bei dieser vom Empfindungsinhalt abstrahieren, ohne den uns nie der Raum und die Zeit in der Wirklichkeit gegeben sein kann.

Ist auf diese Weise jede sinnliche Wahrnehmung ein räumlich-zeitlich geordneter Komplex von Empfindungen, so erhebt sich nun aber unabweislich die Frage, welches die logischen Motive sind, die uns veranlassen, beide, die Anschauungsformen und die Materie der Empfindungen, überhaupt voneinander zu trennen. KANT ist auf diese Frage nicht eingegangen. Er begnügte sich mit dem ersten Schritt, welchen hier die Analyse tun mußte, indem er nachgewiesen hat, daß Raum und Zeit weder mit zur Materie der Empfindung gehören, wie der Empiriker LOCKE vorausgesetzt hat, noch daß sie a priori in uns liegende, völlig ohne sinnliches Substrat denkbare Begriffe sind, wie die rationalistische Philosophie in der Regel angenommen hatte. Im Gegensatz zu beiden stellte KANT fest, daß Raum und Zeit durchaus anschaulich sind, da sie unmittelbar in jede sinnliche Wahrnehmung eingehen und ohne eine solche gar nicht von uns vorgestellt werden können, daß sie aber zugleich eine von der Empfindung wesentlich verschiedene Bedeutung besitzen müssen, da sie eben ordnende Formen der Empfindung, d. h. nicht selbst Empfindungen sind. Insofern diese Formen zu jeder Wahrnehmung erforderlich sind, nannte sie KANT a priori. Freilich aber hatte dieses a priori bei ihm eine ganz andere Bedeutung als im älteren Apriorismus. Es konnte, da ja die Anschauungsformen immer nur in der einzelnen sinnlichen Wahrnehmung wirksam werden, nur bedeuten: das allen einzelnen Wahrnehmungen Gemeinsame, für sie Allgemeingültige.

Man kann das große Verdienst, das sich KANT durch diese Feststellungen erworben hat, rückhaltlos anerkennen, und man wird doch sagen müssen: er hat diese Zerlegung des Wahrnehmungsinhaltes in eine a priori gültige Form und in einen in jedem einzelnen Fall empirisch gegebenen Stoff nicht völlig zu Ende geführt. Wäre das a priori der Anschauungsformen so zu verstehen, daß diese uns als leere Formen gegeben werden, die wir auch als reine Formen vorstellen können, so würde es freilich keiner weiteren Erklärung bedürfen. Da das aber nicht der Fall ist, da vielmehr die Anschauungsform immer nur mit dem Stoff zugleich gegeben ist, so hat die Analyse unseres Erkennens die weitere Aufgabe, nachzuweisen, welches die logischen Motive sind, die zu einer Trennung der Anschauungsformen vom Stoff der Empfindungen führen müssen. Und noch mehr. Da unsere Wahrnehmungen immer räumlich und zeitlich zugleich sein, so ist außerdem nachzuweisen, welches die logischen Gründe sind, die uns veranlassen, die Zeit als eine besondere Anschauungsform dem Raum gegenüberzustellen, nicht etwa beide als untrennbar zusammengehörige Bestandteile einer Anschauungsform anzusehen. Da wie gesagt alle Erfahrung räumlich und zeitlich zugleich ist, so kann wiederum diese Trennung nicht als von selbst gegeben betrachtet werden. KANT scheint das freilich so gesehen zu haben, da er die Zeit als die Anschauungsform des "inneren Sinnes", den Raum als die des "äußeren Sinnes" bezeichnet. Aber wenn irgendwo, so werden wir da, wo psychologische Auffassungen mit in Frage kommen, KANTs Ansichten nicht für unabänderlich feststehend halten dürfen. Jene Unterscheidung fußt sichtlich auf der Meinung, daß innere und äußere Wahrnehmung zwei völlig voneinander verschiedene Wahrnehmungsgebiete wären. Dem ist aber nicht so. Unsere Vorstellungen sind räumlich, ob wir sie nun auf Außendinge beziehen oder für rein innere Zustände unseres "Gemüts" halten mögen. Gefühle, Affekte, Willensregungen hält aber heute kein einsichtiger Psychologe mehr für Vorgänge, die völlig isoliert, ohne die innigste Verbindung mit räumlichen Vorstellungen vorkommen können. Wenn man unter den Vorstellungen selbst gewisse, wie die Gehörsvorstellungen, "unräumliche" nennt, so ist diese Ausdrucksweise bekanntlich nicht streng zu nehmen. Ohne irgendeine Lokalisation können wir auch Töne nicht hören. Gerade so wie die innere Wahrnehmung räumlich, so ist aber hinwiederum die äußere zeitlich. Der einzelne Wahrnehmungsakt selbst wird als ein zeitliches Geschehen aufgefaßt, und die Objekte, die wir wahrnehmen, erscheinen uns entweder als dauernd oder als veränderlich in der Zeit.

Demgemäß habe ich bei diesem Punkt KANTs Zerlegung des Wahrnehmungsinhaltes in eine allgemeingültige Form und in einen zufällig wechselnden Inhalt weiterzuführen gesucht, indemich die logischen Gründe der Zerlegung erstens der ganzen Wahrnehmung in die Anschauungsform und die Materie der Empfindung, und zweitens der Anschauungsform in die beiden Formen des Raumes und der Zeit aufzufinden bemüht war. Das Hauptresultat dieser Untersuchung läßt sich kurz dahin zusammenfassen, daß die formalen Bestandteile der Wahrnehmung, Raum und Zeit, nicht geändert gedacht werden können, ohne daß zugleich eine Änderung im Stoff der Empfindungen eintritt, während der letztere sich völlig verändern kann bei konstant bleibender Raum- und Zeitform.

Als das entscheidende Motiv für die logische Trennung der beiden letzteren ergibt sich somit die Tatsache, daß beide wieder unabhängig voneinander veränderlich, daß aber beider Veränderungen abermals nicht gleichwertig sind, indem zeitliche Änderungen (am Empfindungsinhalt) ohne begleitende räumliche, nicht aber umgekehrt räumliche ohne zeitliche denkbar sind, daß dagegen der Raum in seinen bloß formalen Eigenschaften ohne Rücksicht auf die Zeit, nicht aber umgekehrt die Zeit als ein bloß formaler Vorgang ohne Herbeiziehung des Raumes betrachtet werden kann. Dem letzteren Umstand entspricht es, daß es zwar eine reine Raumlehre, die Geometrie, aber keine reine Zeitlehre gibt, sondern daß die abstrakte Behandlung des Zeitbegriffs allein in der Bewegungslehre, also in zeitlich-räumlicher Form möglich ist (5).

Man wird vielleicht sagen, diese Unterschiede seien selbstverständliche Eigenschaften von Raum und Zeit. Gewiß sind sie das, und wenn sie es nicht wären, so würden sie nicht logische Unterschiedsmerkmale derselben einerseits von der Materie der Empfindungen, andererseits voneinander abgeben können. Aber daß Raum und Zeit Formen der Ordnung unserer Empfindungen sind, ist nicht weniger selbstverständlich. Das ist nun einmal größtenteils die Aufgabe der Erkenntnistheorie, daß sie uns das Selbstverständliche zu klarem Bewußtsein bringen soll. Wenn sie, statt dies zu tun, über die ursprünglichsten Bedingungen unseres Erkennens sehr fern liegende und dunkle Voraussetzungen entwickelt, so kann man das, wie ich glaube, regelmäßig als ein Zeugnis dafür ansehen, daß sie sich auf einem Irrweg befindet.

Neben der Tatsache, daß wir in der Anschauung dem Stoff die Form gegenüberstellen und innerhalb dieser wieder den Raum und die Zeit unterscheiden, bedarf nun aber noch eine weitere Tatsache, die von KANT lediglich als solche hingestellt worden ist, ohne über ihre Gründe Rechenschaft zu geben, der Erklärung. Es ist das die von KANT stark betonte Notwendigkeit, die wir dem Raum und der Zeit, und die wir dann ebenso allen mit den Fundamentaleigenschaften von Raum und Zeit unmittelbar zusammenhängenden Sätzen der Geometrie und reinen Phoronomie [Bewegungslehre - wp] beilegen. Woher stammt diese Notwendigkeit? Sie hängt, wie KANT hervorhebt, mit der Apriorität der reinen Raum- und Zeitanschauung zusammen, da der empirische Empfindungsinhalt immer als zufällig, das Apriorische aber, das als formale Bedingung in jede Erfahrung eingeht, als notwendig uns gegeben ist. Nun können sich, wie wir soeben gesehen haben, auch in KANTs Sinn diese formalen Bedingungen nur mittels bestimmter Merkmale, durch sie aus dem gesamten aus Stoff und Form zusammengesetzten Wahrnehmungsinhalte aussondern lassen, als reine Formen erkannt werden. Sie bilden, während der Stoff der Empfindungen fortwährend wechseln kann, die in ihren allgemeinen Eigenschaften konstant bleibenden Bestandteile der Wahrnehmung. Aus dieser Konstanz folgt von selbst, daß sich keine Vorstellung ohne sie denken läßt. Denn wir können selbstverständlich in unseren Vorstellungen immer nur von denjenigen Bestanteilen abstrahieren, welche möglicherweise auch in der wirklichen Erfahrung durch andere ersetzt werden können. Nie aber können wir uns Bestandteile wegdenken, die tatsächlich niemals fehlen. Diese müssen wir daher nunmehr als solche auffassen, die, wie KANT sich ausdrückt, "Erfahrung allererst möglich machen". Wollte man annehmen, die Notwendigkeit der Anschauungsformen sei in KANTs Sinn anders denn als eine tatsächliche und unaufhebbare Konstanz in der Anschauung zu denken, so müßte man nachweisen, daß die Anschauungsformen aus irgendwelchen der Anschauung selbst vorausgehenden Bedingungen deduziert werden könnten. Aber eine solche Deduktion hat KANT nicht versucht, ja er hat sie ausdrücklich abgelehnt. Denn er sagt: "Raum und Zeit werden uns als Formen a priori gegeben."

Da sie uns nun niemals als leere, ohne jeden Empfindungsinhalt vorstellbare Formen gegeben werden, so können sie eben nur in der aus Empfindung und räumlich-zeitlicher Form zusammengesetzten Anschauung gegeben sein. Daraus folgt unweigerlich, daß die Notwendigkeit dieser Anschauungsormen aus ihrer Konstanz, nicht aber etwa umgekehrt die Konstanz aus ihrer Notwendigkeit abgeleitet werden kann.

Hiermit sind wir dazu gelangt, uns schließlich auch über die wichtigste Frage der transzendentalen Ästhetik, über die wahre Bedeutung der Apriorität der Anschauungsformen Rechenschaft zu geben. Auf zwei Bedingungen kann, wie sich aus den obigen Erörterungen ergibt, dieselbe zurückgeführt werden: erstens auf ihre Konstanz beim Wechsel der sonstigen Bestandteile des Wahrnehmungsinhaltes, und zweitens auf die logischen Motive, welche uns veranlassen, ihnen die Bedeutung von Anschauungsformen mit konstanten Eigenschaften beizulegen. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß KANT die erste dieser Bedingungen allein berücksichtigt hat. Darum erscheint bei ihm diese Apriorität einigermaßen, wenn ich mir diesen Ausdruck gestatten darf, "wie aus der Pistole geschossen".

Namentlich die tatsächlich vorhandene apodiktische Beschaffenheit der Sätze der reinen Mathematik ist ihm eine zureichende Bürgschaft der Apriorität der den mathematischen Sätzen zugrunde liegenden reinen Raum- und Zeitform. Da nun aber, wie vorhin bemerkt, die Notwendigkeit von Raum und Zeit aus ihrer tatsächlichen Konstanz, nicht umgekehrt diese aus jener abgeleitet werden kann, erscheint hierbei jene Apriorität als eine solche "ex eventu" [nach dem Ereignis - wp]. Wir mögen ihr immerhin die Bedeutung beilegen, daß, noch bevor wir eine einzelne neue Erfahrung machen, wir von vornherein berechtigt sind mit voller Gewißheit anzunehmen, daß sie den allgemeinen Eigenschaften von Raum und Zeit unterworfen ist. Aber diese a priori mögliche Voraussage gründet sich hier doch nur auf die durch die Konstanz der formalen Eigenschaften unserer empirischen Vorstellungen herbeigeführte Unmöglichkeit, uns einen anderen Wahrnehmungsinhal vorzustellen als eben einen räumlich und zeitlich geordneten. Eine derartige Apriorität wird man aber schließlich doch, sofern man, wie es von KANT geschieht, auf eine Begründung überhaupt nicht reflektiert, nur eine tatsächlich gegebene nennen können. So gewiß es also ist, daß KANT hier über eine als tatsächlich gegeben vorausgesetzte Apriorität nicht hinausgekommen ist, so wünschenswert scheint es mir eben darum, in diesem Punkt die kantischen Aufstellungen zu ergänzen. Es ist zwar richtig, daß der ältere Apriorismus sich mit jenem tatsächlichen Apriori begnügt hat. Aber dies war ihm auch eher möglich, weil er überhaupt fertig gegebene Ideen als möglich angenommen hat. Gerade dies haben wir nun von KANT gelernt, daß solche Ideen nicht möglich sind, sondern daß das Apriori, wenn es überhaupt zulässig sein soll, nur in den die Erfahrung ordnenden Begriffen und Anschauungsformen und daher niemals isoliert vom Wahrnehmungsinhalt gegeben sein kann. Wenn aber dies der Fall ist, dann können es nur logische Gründe sein, die uns veranlassen, gewisse Bestandteile der Anschauung als a priori notwendig, andere als bloß empirische gegeben anzusehen. Darum hat KANT selbst nach einer Deduktion der Kategorien gesucht. Bei den Anschauungsformen hat er eine solche Deduktion unterlassen. Hier ist er also offenbar in dieser Beziehung auf dem Standpunkt des alten naiven Apriorismus stehen geblieben, den er doch im Prinzip überwunden hatte. Die notwendige Folge davon ist, daß die Apriorität der Anschauungsformen lediglich eine tatsächliche, auf empirischer Konstanz der formalen Eigenschaften beruhende bleibt.

Ist nun aber darum etwa die wahre Apriorität, welche, wie gesagt, nach unserer heutigen Auffassung nur eine logische Sein kann, den Anschauungsformen abzusprechen? Behalten die Empiristen Recht, die da behaupten, Raum und Zeit gehören mit zum Empfindungsinhalt, von anderen Empfindungen nur unterschieden durch ihre größere Wichtigkeit für unsere Interpretation der wirklichen Welt? Ich beantworte diese Frage mit nein, und ich glaube, indem ich das tue, auch hier nur die transzendentale Ästhetik KANTs folgerichtig zu ergänzen. In Wahrheit sind es ja, wie wir oben gesehen haben, logische Motive, aus denen wir die räumlich-zeitliche Form vom Empfindungsinhalt und dann innerhalb jener Form den Raum wieder von der Zeit trennen. Diese Unterscheidungen geschehen nach allgemeinen Gesetzen des logischen Denkens, indem wir bei Veränderungen der Wahrnehmung das übereinstimmend bleibende als übereinstimmend, das sich verändernde als verschieden auffassen nach Maßgabe des Satzes der Identität und des Satzes vom Widerspruch, und indem wir an jede formale Änderung eine Änderung in der Materie der Empfindung als Folge gebunden erkennen nach dem Satz des Grundes. So sind bei der Erkennung jener Eigenschaften von Raum und Zeit, denen diese ihre Wertunterscheidung vom Empfindungsinhalt verdanken, und auf denen zugleich die Feststellung ihrer Konstanz beruth, überall die allgemeinen Denkgesetze wirksam. Die Anwendung dieser letzteren wird natürlich angeregt durch das in der Erfahrung gegebene. Aber sie selbst sind doch in uns liegende Funktionen, ohne welche die Trennung in Anschauungsformen und Materie der Empfindung sich niemals vollziehen könnte.

Man wird sagen, bei dieser Ableitung seien nicht Raum und Zeit selbst, sondern eben nur die Denkfunktionen, die zu ihrer Sonderung vom übrigen Wahrnehmungsinhalt und darum zu den Begriffen des reinen Raumes und der reinen Zeit geführt haben, als das eigentliche Apriori anerkannt. Gewiß ist das so. Aber meine Aufgabe war es auch nicht, die Apriorität von Raum und Zeit als ein Dogma zu betrachten, für das ein Beweis zu finden ist, sondern diese Apriorität zu prüfen und auf ihre wahren Quellen zurückzuführen.

Nun hat man seit langer Zeit ein vollgültiges Zeugnis für die Apriorität der Anschauungsformen darin gesehen, daß der reine Raum- und Zeitbegriff uns nirgends in der Erfahrung gegeben ist, und daß uns auch, wie KANT mit Recht hervorhebt, nicht einzelne Objekte gegeben sind, zu denen er sich etwa wie ein allgemeiner Gattungsbegriff verhält. Das Problem dieser Apriorität bestand also darin, zu untersuchen, auf welchen logischen Gründen die Entstehung des reinen Raum- und Zeitbegriffs beruth. Diese Untersuchung habe ich geführt, und sie hat gezeigt, daß jene Begriff zwar den Erfahrungsinhalt voraussetzen, daß sie selbst aber auf rein logischen Motiven beruhen, und zwar auf Motiven, die von den bei der Bildung der Gattungsbegriffe wirksamen wesentlich abweichen. Damit ist nun freilich das Apriori an eine andere Stelle verlegt, als wo man es gesucht hatte. Nicht in der fertigen Raum- und Zeitform ist es enthalten, wie vermöge eines halben Rückfalls in den naiven Apriorismus KANT angenommen hat, sondern in den logischen Funktionen, die zur Abstraktion der reinen Raum- und Zeitanschauung geführt haben. Hiermit ist zugleich das Apriori dahin verlegt, wo es immer bestehen bleiben wird, und wo es seine allein rechtmäßige Stelle hat. Selbstverständlich ist aber mit dieser Zurückverlegung auch das andere verbunden, daß die logisch abgeleiteten Anschauungsformen selbst nicht als reine Schöpfungen des Denkens oder der Einbildungskraft anzusehen sind - solche gibt es überhaupt nicht, wie wiederum KANT bereits deutlich eingesehen hat - sondern als Erzeugnisse, die durch die Bearbeitung der dem Denken gegebenen Objekte entstanden sind.

LITERATUR - Wilhelm Wundt, Was soll uns Kant nicht sein?, Philosophische Studien, Nr. 7, Leipzig 1892
    Anmerkungen
    1) Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. V, Seite 1-96.
    2) Man vgl. hierzu Eduard von Hartmanns Aufsatz "Wundts System der Philosophie" in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 66, Seite 1 und 123f.
    3) Theobald Ziegler, "Wundt, System der Philosophie, Rezension, Göttingische Gelehrte Anzeigen, 1890, Nr. 11, Seite 448.
    4) August Döring, Über den Begriff des naiven Realismus, Philosophische Monatshefte, Bd. XXVI, Seite 397.
    5) vgl. mein System der Philosophie, Seite 109-130.