ra-2HegelL. BrentanoF. CuhelA. Döring    
 
OSKAR KRAUS
(1872-1942)
Das Bedürfnis
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"Jeder Wille, gerichtet auf Verwirklichung oder Bewahrung der Erkenntnis oder auf Vernichtung oder Abwehr des Irrtums, ist ein effektives Bedürfnis. Armut an Vorstellungen ist ein Übel. Vorstellungsbereicherung erscheint liebenswert; gewisse Vorstellungen erwecken in ganz besonderem Maße ein berechtigtes Wohlgefallen. So ist nicht nur die Wohlfahrt in sinnlicher Beziehung, sondern auch geistige und ästethische Vervollkommnung ein Gegenstand menschlicher Bedürfnisse. Endlich gibt es noch Bedürfnisse nach sittlicher Vervollkommnung, d. h. nach edlen Gemütstätigkeiten. Da sie auf die eigentümlichen Vollkommenheiten der menschlichen Seele gerichtet sind - auf das Wahre, Schöne und Gute - so nenne ich sie ideale Bedürfnisse, und zwar je nach ihrem Objekt ideale Eigenbedürfnisse oder ideal-altruistische Bedürfnisse."

"Der Mensch liebt niemals das Schlechte und wünscht oder will, daß es sei, weil es schlecht ist, sondern höchstens grundlos. (unmotiviert) Der Mensch haßt niemals das Gute und wünscht oder will, daß es nicht sei, weil es gut ist, sondern höchstens grundlos. Wo ein solcher Wille vorzuliegen scheint, liegt eine Instinkthandlung vor. Das ist das Wahre an dem Satz:  Der Wille geht auf das Gute." 


§ 11.

Man hat die Frage aufgeworfen, ob auch Kindern Bedürfnisse im vollen Sinn des Wortes zugesprochen werden dürfen.

Dieser Frage ist zu verneinen bezüglich der Säuglinge, sofern ihre Handlungen reine Instinkthandlungen sind (vgl. PREYER, Die Seele des Kindes, Leipzig 1890, Seite 148); zu bejahen sofern echte Willensakte vorliegen; bei Kindern, die ein gewisses Alter erreicht haben, finden sich sogar hauptsächlich effektive Bedürfnisse, da sie alles, was sie wünschen, auch für durchsetzbar halten. Das Kind braucht eben nur erfahrungsmäßig zu urteilen, daß das Gewünschte infolge des Wunsches selbst irgendwie verwirklicht werden wird; irgendwie, d. h. wenn es selbst auch nicht imstande sein sollte, die Befriedigung zu Ende zu wirken, als den vollständigen Kausalnexus zwischen Wunsch und Befriedigung herzusellen, z. B. wenn ihm die Mittel noch unbekannt oder seiner eigenen Kraft unzugänglich sein sollten.

Unter Mittel verstehe ich die zwischen Wunsch und Erfüllung vermittelnden Zwischenglieder, aber nicht den durch den Glauben an die erzielbare Verwirklichung modifizierten Wunsch, also den Willen, der zwar auch Mittel ist, aber nur im Sinne eines ersten Anstoßes. (1)


§ 12.

Große Vorsicht ist geboten bei der Beantwortung der Frage, ob die Tiere Bedürfnisse haben; dies nicht allein deswegen, weil man sich hüten muß Instinkthandlung und Willenshandlung zu verwechseln, sondern auch deshalb, weil man überhaupt erst untersuchen muß, ob Tiere  in demselben Sinn einen Willen  und daher ein effektives Bedürfnis haben wie der Mensch. Dies scheint nun nicht der Fall zu sein, und zwar aus dem Grund, weil dem Tier mit der Fähigkeit begriffliche Vorstellungen zu bilden auch die Möglichkeit benommen ist, etwas Zukünftiges so vorzustellen, wie es der Mensch tut. -

Der menschliche Wille hat den Begriff der Zukunft zur notwendigen Voraussetzung. Daß die Tiere keine abstrakten Vorstellungen haben, muß indirekt aus dem Umstand erschlossen werden, daß es nicht einzusehen wäre, aus welchem Grund sonst im ganzen Tierreich auch nicht der geringste Ansatz eines wissenschaftlichen oder sittlichen Bestrebens nachgewiesen werden könnte; wenn die Tiere Abstraktionsvermögen, auch nur in minimalem Grad besäßen, warum sollte es nicht entwicklungsfähig sein? Aus welchem Grund besäßen die Tiere keine der menschlichen analoge Sprache, mittels welcher sie sich über abstraktes verständigen könnten?

Warum keinen volkswirtschaftlichen Verkehr? etc. Ich muß demnach der Meinung derjenigen beipflichten, die alle jene psychischen Tätigkeiten, die Abstraktionsvermögen voraussetzen, dem Tier nicht zuerkennen mögen. (Man lese hierüber: MARTY, Ursprung der Sprache, Würzburg 1874, Seite 194 und den Artikel: "Über Sprachreflex, Nativismus und absichtliche Sprachbildung in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XIV, Seite 165f).

Die Phantasie- und Erinnerungsvorstellung des Tieres ist daher nur ein Analogon der menschlichen Phantasievorstellung, die stets mit abstrakten Elementen durchsetzt ist.

Eine  derartige  Erinnerungsvorstellung irgendeines Ereignisses, doer eine ihr ähnliche Phantasievorstellung, kann durch irgendwelche seiner Zeit mit ihr verbundenen und jetzt wieder auftretenden psychischen Phänomenen (oder ihnen ähnlichen) reproduziert werden und mit dieser Vorstellung auch die seiner Zeit auf sie gerichteten (oder ihnen ähnliche) Urteile, Gefühle und Instinkte.

Es gilt vom Tier das, was DAVID HUME irrtümlich vom Menschen ausgesagt hat; es gibt für es kein propter hoc [deswegen - wp]; was den Schein von Schlußfolgerungen erweckt, ist einfach  expectatio casum similum  [Erwartung eines ähnlichen Falls - wp]. Ich sehe hierin einen Ausfluß der Assoziationsgesetze, welche auf dem Gebiet des Urteils und des Gefühls nicht minder als auf jenem der Vorstellungen gelten und im Tierleben eine noch ungleich bedeutendere Stellung einnehmen als beim Menschen.

Man muß sich somit daran gewöhnen, einzusehen, daß "der tierische Wille" vom menschlichen Willen irgendwie verschieden ist, daß er den Namen "Wille" eigentlich nicht verdient; daß statt des letzteren ein Surrogat vorhanden ist, über dessen Wesen wir kaum Aufschluß erwarten dürfen. Wann auch immer von Bedürfnissen der Tiere die Rede ist, man halte sich immer gegenwärtig, daß diese Bezeichnung derart modifiziert verstanden und gebraucht werden müsse, wie es eine vernünftige Tierpsychologie erfordert. (2)


§ 13.

Denken wir uns nun einen Menschen, der noch nie eine Lust erfahren hat und jetzt eine erfährt, dieser wird die bestehende Lust lieben, aber nicht ihr Nichtaufhören wünschen, da er ja ihr Aufhören nicht kennt; höchstens per analogiam kann er sich begrifflich die Vorstellung ihres Aufhörens konstruieren. Vom Augenblick des Aufhörens der Lust jedoch wird der Mensch beim Auftreten dieser und jeder anderen Lust ihr Nichtaufhören, d. h. ihr Fortbestehen wünschen können. Ein  effektives  Bedürfnis wird dieser Wunsch, wenn er zum Willen wird. 2. Resultat:  Jeder Wille, gerichtet auf Bewahrung der eigenen Lust, ist ein effektives Bedürfnis. 


§ 14.

Denken wir uns nun wieder einen Menschen, der noch nie eine Unlust erfahren hat und setzen wir den Fall, es trete eine bestimmte Unlust auf; von diesem Augenblick an wird dieser Mensch, so oft in ihm die Vorstellungen, die Erinnerung an das Auftreten dieser Unlust auftauchen sollte, das Nichtwerden dieser Unlust wünschen. Sollte dieser Mensch aber durch irgendwelche Umstände hierzu veranlaßt,  das Urteil fällen,  die von ihm erfahrene Unlust sei bevorstehend, dann wird er es wohl meist nicht beim bloßen Wunsch bewenden lassen, sondern es wird sich das Begehren hinzugesellen, das Nichtwerden der Unlust zu bewirken, d. h. der Wunsch wird zum Willen und es liegt das effektive Bedürfnis vor, die es schon einmal erfahrene Unlust abzuwehren. Dieses eben erwähnte Urteil kann ein blindes, z. B. ein gewohnheitsmäßiges sein; jedoch ist der Mensch auch einsichtiger Urteile fähig, insbesondere auch einsichtiger Schlußfolgerungen.

Namentlich spielen in der menschlichen Wirtschaft Wahrscheinlichkeitsschlüsse eine große Rolle. So vermag der Mensch das Eintreffen einer bereits einmal erfahrenen Unlust aus entfernten und unscheinbaren Anzeichen zu erschließen. In letzter Linie wurzelt diese, der tierischen weit überlegene Urteilskraft im Abstraktionsvermögen des Menschen; so wie nämlich der Mensch ein zweites Mal eine von der ersten verschiedene Unlust erleidet, wird er sich bereits eben infolge dieses Vermögens den allgemeinen abstrakten Begriff der Unlust bilden und wünschen können, es möge in Zukunft überhaupt keine wie immer geartete Unlust auftreten. Um die Abwehr künftiger Unlust überhaupt zu wünschen, braucht der Mensch demnach durchaus nicht jede abzuwehrende Unlust erfahren zu haben. Es genügt das Auftreten zweier voneinander verschiedener Unlustarten, um den gemeinsamen Begriff der Unlust durch Abstraktion zu bilden; das Tier kann eine einmal erfahrende Unlust vermöge einfacher expectatio casum similium für mit dem gegenwärtigen psychischen Phänomen verbunden halten. Eine Anzahl Schädlichkeiten vermeidet das Tier übrigens rein instinktmäßig. (3)

Urteilt oder schließt der Mensch - ob mit Recht oder Unrecht und aus welchem Grund ist gleichgültig - irgendein psychisches Phänomen, das unter den Begriff der Unlust fällt, besitze eine - wenn auch noch so geringe - Wahrscheinlichkeit in - wenn auch noch so entfernter - Zukunft aufzutreten, so kann schon dieses Urteil ihn veranlassen - die Abwehr der jetzt begrifflich vorgestellten Unlust zu wollen.

3. Resultat:  Jeder Wille, gerichtet auf Abwehr künftiger Unlust, ist ein effektives Bedürfnis  - künftig im Sinne des als irgendwie wahrscheinlich Beurteilten.


§ 15.

Wir denken uns einen Menschen, der noch nie eine Lust erfahren hat; dieser Mensch kann den Beginn der Lust nicht wünschen; setzen wir den Fall, es trete eine Lust auf, von diesem Augenblick an wird der Mensch, so oft in ihm die Vorstellung, Erinnerung an das Auftreten  dieser  Lust auftaucht, auch das Auftreten  dieser  Lust bereits wünschen können; das Auftreten jeder, wie immer gearteten Lust, wird er jedoch erst wünschen können, wenn auch nur ein zweites Mal eine von der ersten verschiedene Lust auftritt; denn nun wird er sich infolge seines Abstraktionsvermögens den allgemeinen Begriff der Lust bilden und das Auftreten eines jeden, unter diesen Begriff fallenden, psychischen Phänomens wünschen können.

Wird der Wunsch zum Willen, so entsteht das effektive Bedürfnis. Dies kann jedesmal dann geschehen,  wenn der Mensch das Urteil fällt,  das Auftreten der Lust habe eine, wenn auch noch so geringe Wahrscheinlichkeit. Das Kind, das von der Mutter den Mond verlangt, hat ein Bedürfnis im vollen Sinn des Wortes; die Mutter gibt ihm ja alles, was es wünscht, warum nicht auch den Mond, wenn es ihn wünscht? - Das Tier strebt meist triebartig, vermöge angeborener Disposition nach einem lustbringenden Akt, ohne daß es jemals die mit dieser Handlung verbundene List erfahren zu haben braucht. Bezüglich der Frage, ob das Tier nach einmal bereits erfahrender Lust  begehren  kann, gilt auch hier, daß wohl ein  Surrogat  vorhanden sein muß, dessen Natur aber schwerlich wird ergründet werden können.

4. Resultat:  Jeder Wille, gerichtet auf Erlangung künftiger Lust, ist ein effektives Bedürfnis;  künftig im Sinne des für künftig wahrscheinlich gehaltenen.


§ 16.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die auf zukünftige Lust oder Unlust gerichteten Bedürfnisse ihrem Wesen nach den auf gegenwärtige Lust und Unlust gerichteten gleichzustellen sind. Ein Unterschied ist allerdings vorhanden; er liegt in den Ursachen, den Begehrungsreizen. Das eine Mal ist das Bedürfnis hervorgerufen durch die gegenwärtige Lust oder Unlust selbst, das andere Mal bloß durch die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens. Dieses Erkenntnis muß ich namentlich gegenüber >BÖHM-BAWERK hervorheben. BÖHM-BAWERK übersieht vollständig, daß ein Urteil und nicht eine bloße Vorstellung zu den Bedingungen des Begehrungsaktes gehört.

Ist aber der Begehrungsreiz in beiden Fällen ein verschiedener, so ist notwendig auch das Objekt ein verschiedenes; das eine Mal eben die Vernichtung gegenwärtiger Unlust oder die Bewahrung gegenwärtiger Lust, das andere Mal die Abwehr künftiger Unlust oder die Erlangung künftiger Lust.

Es ist aber a priori durchaus nicht einleuchtend, welcher von beiden Wünschen sich dem anderen gegenüber behaupten müsse; z. B. es ist a priori durchaus nicht einleuchtend, daß der Wunsch die gegenwärtige Unlust zu vernichten, sich der auf die befürchtete Unlust gerichteten gegenüber notwendig behaupten müsse; die Erfahrung lehrt das Gegenteil; richtig ist nur, daß er sich behaupten  kann.  WIESER ist meines Wissens der erste gewesen, der im Gegensatz zur herrschenden Lehre die prinzipielle Gleichstellung der sogenannten "gegenwärtigen und künftigen Bedürfnisse" vertreten hat.


§ 17.

Die Nationalökonomen pflegen zu sagen, der Mensch besitze in ganz vorzüglichem Maße die Fähigkeit für "künftige Bedürfnisse" vorzusorgen. Darunter ist, wenn wir an unserem oben erörterten Begriff des Bedürfnisses festhalten, nichts anderes, als die eben behandelte Tatsache zu verstehen, daß der Mensch imstande ist ein Bedürfnis zu fühlen, daß durch das Urteil über die künftige Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ereignisses hervorgerufen und auf dieses Ereignis gerichtet ist; z. B. ein Bedürfnis, hervorgerufen durch das Urteil: ein auf Lust oder Unlust gerichtetes Bedürfnis sei in Zukunft irgendwie wahrscheinlich oder (was dasselbe ist) es sei z. B. eine Lust oder Unlust in Zukunft mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

"Ich trage Vorsorge für zukünftige Bedürfnisse" heißt demnach: ich habe ein Bedürfnis nach den Mitteln zur Verwirklichung, bzw. Abwehr einer zukünfitgen Unlust, bzw. Unlust" oder "ich habe ein Bedürfnis nach den Mitteln zur Befriedigung eines in Zukunft wahrscheinlichen Bedürfnisses" Denn wer den Zweck will, muß das Mittel wollen. (Vieles, was erst als Mittel zum Zweck gewollt wurde, kann später gewohnheitsmäßig ohne Rücksicht auf einen Zweck begehrt werden.)


§ 18.

Mit den auf zukünftige Lust oder Unlust gerichteten Bedürfnissen ist die Tatsache der menschlichen Wirtschaft erklärt; im Vermögen des Menschen, durch abstrakte Vorstellungen gewisser Ereignisse und durch die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit ihres künftigen Auftretens zum Handeln angerecht zu werden, wurzelt seine wirtschaftliche Natur. Das Tier vermag nicht zu abstrahieren; so wie es sich nur über konkretes mit anderen Wesen verständigen kann und daher keine menschlichen Laut- oder Taubstummensprache analoges Verständigungsmittel besitzt (4), ebenso hat es - wenn ich so sagen darf - nur konkrete "Bedürfnisse"; wo es, wie der Hamster oder die Ameise, Vorräte aufspeichert, folgt es immer nur einem blinden Trieb; wer das bezweifelt, dem gebe man zu erwägen, daß ja diese Tiere Vorräte sammeln, bevor sie jemals die Unlust erfahren haben, die einer Unterlassung folgen würde; andererseits bedenke man, daß eine Unzahl anderer Tiere, trotz alljährlicher "Erfahrung" nichts tun, um den Nöten des Winters widerstehen zu können. Wor das Tier sonst für die Zukunft Sorge zu tragen scheint, wird es durch expectatio casum similium [Erwartung ähnlicher Fälle - wp] zu entsprechenden Handlungen veranlaßt. Wie überalle, so sicher auch hier das Abstraktionsvermögen dem Menschen jene ungeheure geistige Überlegenheit, die als eine der mächtigsten Waffen, ihn aus dem Kampf ums Dasein als Sieger hervorgehen ließ.

Hier hat der Tauschverkehr und demgemäß das Geldwesen seinen Ursprung. Das Tier kennt keinen Tausch; 1. weil es nur jene Dinge schätzt, die einem "Bedürfnis" dienen, daß kein Abstraktionsvermögen voraussetz (vgl. § 12), 2. weil es ihm an den erforderlichen Verständigungsmitteln gebricht, was ebenfalls im Mangel des Abstraktionsvermögens seine Begründung findet.


§ 19.

Fassen wir das Resultat unserer bisherigen Untersuchung zusammen; es lautet kurz: Jeder Wille, gerichtet auf Erlangung oder Bewahrung der eigenen Lust oder auf Abwehr oder Vernichtung eigener Unlust ist ein effektives Bedürfnis; ein latentes Bedürfnis liegt vor, wo der Wunsch deshalb nicht zum Willen wurde, weil der Bedürfende an seiner Realisierbarkeit verzweifelt. Man pflegt die hierhergehörenden Bedürfnisse "egoistische" zu nennen. Da aber das Gebiet der "egoistischen" Bedürfnisse sich später als ein umfassenderes herausstellen wird, bezeichne ich diese engere Gruppe der "egoistischen Bedürfnisse" als  "hedonistische",  wobei jede üble Nebenbedeutung auszuschließen ist.

Diese Gruppe von Bedürfnissen ist die wichtigste für die Erhaltung des Individuums; denn Schmerz und Lust haben bekanntlich die sehr zweckmäßige Tendenz, dem Individuum daseinshemmende respektive, daseinsfördernde Einflüsse zu signalisieren; daher ind die hierhergehörenden Bedürfnisse entwicklungsgeschichtlich die ersten und zugleich die verbreitetsten und häufigsten. Dieser Umstand hat dazu beigetragen, daß frühere Nationalökonomen diese Gruppe für die einzige gehalten und die Wirtschaft überhaupt als Domäne des Egoismus angesehen haben, wie gezeigt werden soll, mit Unrecht. Unter den hedonistischen Bedürfnissen sind die auf zukünftiges gerichteten wiederum genetisch später und zugleich seltener als die auf gegenwärtige Lust oder Unlust gerichteten; denn das Wesen, das sie fühlt, muß nicht nur urteilen können, sondern - wenn ein echtes Bedürfnis vorliegen soll und nicht nur ein Surrogat, wie beim Tier, auch abstrakter Vorstellungen fähig sein. Doch sind Wünsche, die auf Zukünftiges gerichtet sind, durchaus nicht immer die schwächeren; vielmehr behaupten sie sich neben den auf gegenwärtige Lust oder Unlust gerichteten, vermögen sich mit ihne zu verbinden, indem sie sie verstärken und nehmen endlich sogar den Kampf mit ihnen auf und - wie die Erfahrung lehrt - haben sie im Großen und Ganzen die Tendenz, ihn erfolgreich durchzuführen; ruht doch die moderne Wissenschaft fast vollständig auf dieser Basis. Bei allen zivilisierten Völkern erreicht die wirtschaftliche Vorsorge einen mehr oder minder hohen Grad, einen umso höheren, je fortgeschrittener die Nation, bis schließlich, um mit BÖHM-BAWERK zu sprechen, die "Zukunft in der Wirtschaft" das wichtigste Moment derselben wird. Bevor das aber geschieht, muß eine langandauernde Schulung des Willens durchgemacht werden, eine Schulung, die sich als sehr heilsam erweist, indem sie "späteren Konflikten moralischer Natur" einen günstigen Boden schafft. Denn wie WIESER sagt, "dieser Konflikt ist ja nur ein besonderer Fall des Kampfes zwischen Trieben und Vernunft." Freilich ist dieser Kampf deshalb noch nicht "moralischer Art." Er ist ein Schritt zur Moral, aber kein moralischer Schritt.

Die siegverleihenden Waffen in diesem Kampf sind:
    1. Das Abstraktionsvermögen des Menschen.

    2. Das damit zusammenhängende Vermögen zu einleuchtenden Urteilen und Schlußfolgerungen, insbesondere zu Wahrscheinlichkeitsschlüssen.

    3. Die Wahlfreiheit, d. h. das Vermögen mit der Entscheidung des Willens, zurückzuhalten und mit  Überlegung  zu wählen zwischen Gegenwart und Zukunft; sie setzt ebenfalls Abstraktionskraft voraus. (5) Dem Tier gehen diese Eigenschaften ab; d
Das Kind, der Wilde, der unzivilisierte Naturmensch besitzen sie nur in geringem Maße. Die "hedonistischen Bedürfnisse" sind ansich berechtigt und nicht unsittlich.


§ 20.

Die Analyse der "hedonistischen Bedürfnisse" habe ich mit größerer Ausführlichkeit zu geben versucht, selbst auf die Gefahr hin, den Gang der Untersuchung ermüdend und schleppend erscheinen zu lassen. Um so kürzer werde ich mich im folgenden halten können.

Einem Menschen, der schon eigene Unlust erfahren hat und einen anderen Unlust erleiden sieht, wird das Aufhören dieser  fremden  Unlust direkt wünschenswert erscheinen können; denn es ist eine psychologische Tatsache, daß der Mensch nicht nur seine eigene Unlust, sondern die Unlust schlechtweg zu hassen und nicht nur seine eigene Lust, sondern jedwede Lust, an und für sich zu lieben imstande ist.

Jeder Wille, gerichtet auf Verwirklichung und Bewahrung  fremder  Lust oder Vernichtungund Abwehr  fremder  Unlust ist ein effektives Bedürfnis.

Man pflegt derartige Akte des Interesses als "altruistische" zu bezeichnen. Da aber das Gebiet der altruistischen Bedürfnisse sich als ein umfassenderes herausstellen wird, nenne ich diese engere Gruppe der altruistischen Bedürfnisse  "sympathische  Bedürfnisse"; die sympathischen Bedürfnisse sind ansich berechtigt, gleich den hedonistischen.


§ 21.

Sind die hedonistischen Bedürfnisse die wichtigsten für die Erhaltung des Individuums, so sind die sympathischen von nicht geringerer Bedeutung für die Erhaltung der Gattung; auch hier stehen die auf gegenwärtige Lust oder Unlust eines andren gerichteten voran; vorzüglich die letzteren. Sie sind daher genetisch die früheren und überhaupt die häufigeren; auch das Tier ist, wenn nicht ihrer selbst, so doch eines sie ersetzenden Aktes fähig. "Der Ausdruck der Gemütsbewegungen" erfüllt hier seine teleologische Bestimmung. Fremde Lust und Unlust wird niemals direkt angeschaut; nur ihre Äußerung kann wahrgenommen werden. Mittels Ideenassoziation und durch instinktive, d. h. blinde Urteile erkennt das Tier die Unlust eines anderen Wesens; hieran kann sich impulsiv etwas wie ein Verlangen knüpfen, sie zu beseitigen; für zukünftige Lust oder Unlust eines anderen Wesens in demselben Sinn besorgt zu sein, wie der Mensch, ist das Tier außerstande. Beim Menschen tritt eben das Abstraktionsvermögen und die damit zusammenhängende hohe Entwicklung der Urteilskraft und Wahlfreiheit hinzu.

Die sympathischen Bedürfnisse haben ihre Wurzel in den sympathischen Gemütstätigkeiten des Individuums, in dem auf fremde Unlust gerichteten Hass und der auf fremde Lust gerichteten Liebe; sie behaupten sich neben den egoistischen Bedürfnissen und können sich auf mannigfaltigste Weise mit ihnen verbinden und mit ihnen verschmelzen.

Sympathie und Egoismus können auch miteinander in Konflikt geraten. Hierbei können die sympathischen Wünsche über die egoistischen den Sieg davontragen, indem sie nämlich dem Individuum sittlich vorzüglicher erscheinen; sie werden aber dann nicht etwa der intensiveren Lust wegen gewählt, sondern ihner inneren Vorzüglichkeit willen, die sich dem Individuum unmittelbar kundzugeben pflegt und seinen Willen dahin beeinflußt, ihr das eigene sinnliche Wohlsein aufzuopfern; in diesem Fall ist die Bevorzugung der altruistischen Bedürfnisse vor den egoistischen wirklich sittlich sanktioniert. (6)

Von den Nationalökonomen sind die sympathischen Bedürfnisse (wie die altruistischen überhaupt) lange nicht beachtet worden, oder wenn, so versuchte man sie gewaltsam in die Gruppe der egoistischen einzureihen. Die Wirtschaftslehre hat mit den sympathischen (und altruistischen) Bedürfnissen überhaupt ebenso zu rechnen, wie den egoistischen; erst in neuerer Zeit ist diese Erkenntnis aufgedämmert.

Die mit egoistischem Begehren durchsetzten sympathischen Bedürfnisse sind keine rein altruistischen Bedürfnisse mehr.


§ 22.

Sowohl bei den hedonistischen als auch bei den sympathischen Bedürfnissen ist das Begehrte das Sein der Lust oder das Nichtsein der Unlust; aber noch etwas anderes wird von den Menschen begehrt: so streben alle Menschen von Natur aus nach der Erkenntnis.

Jeder Wille, gerichtet auf Verwirklichung oder Bewahrung der Erkenntnis oder auf Vernichtung oder Abwehr des Irrtums, ist ein effektives Bedürfnis. 

Weiter: Armut an Vorstellungen ist ein Übel. Vorstellungsbereicherung erscheint liebenswert; gewisse Vorstellungen erwecken in ganz besonderem Maße ein berechtigtes Wohlgefallen. So ist also nicht nur die Wohlfahrt in sinnlicher Beziehung, sondern auch geistige und ästethische Vervollkommnung ein Gegenstand menschlicher Bedürfnisse. Endlich aber gibt es noch Bedürfnisse nach sittlicher Vervollkommnung, d. h. nach edlen Gemütstätigkeiten. Alle diese Bedürfnisse können sich sowohl auf die eigene Person als auch auf andere Personen beziehen; in letzterem Fall umfassen sie entweder einzelne Individuen oder auch größere oder kleinere Gruppen beseelter Wesen. Da sie auf die eigentümlichen Vollkommenheiten der menschlichen Seele gerichtet sind - auf das Wahre, Schöne und Gute - so nenne ich sie  ideale Bedürfnisse,  und zwar je nach ihrem Objekt  ideale Eigenbedürfnisse  oder  ideal-altruistische Bedürfnisse. 


§ 23.

Die idealen Bedürfnisse sind genetisch die spätesten, und überhaupt die seltensten; sie setzen Abstraktionsvermögen voraus und soweit unsere Erfahrung reicht, vermag daher unter allen lebenden Wesen der Mensch allein sie zu empfinden; in der menschlichen Seele schlummerte ihr erster Keim und hier allein vermochten sie sich zu entfalten. Unter den idealen Bedürfnissen sind die auf Vervollkommnung der eigenen Individualität gerichteten wiederum älter und verbreiteter als die auf universellere Verwirklichung der Ideale gerichteten Bestrebungen, und die auf Bewahrung des in sich Liebenswerten und Vernichtung des in sich Abscheulichen älter und zahlreicher als die auf Erlangung des Guten und Abwehr des Schlechten gerichteten. Ihre Wurzel haben diese Bedürfnisse in der als recht charakterisierten Liebe, mit der das für gut erkannte geliebt und dem sich als berechtigt kundgebenden, begründeten Hass, mit dem das als Schlecht beurteilte verabscheut wird. Sie behaupten sich neben den hedonistischen (und egoistischen überhaupt) sowie neben den sympathischen Bedürfnissen, verbinden sich mit ihnen und untereinander, vermögen sich jedoch auch im Kampf gegen beide zu behaupten, wenn sie im Falle des Konfliktes sittlich vorzüglicher erscheinen und das Urteil über ihre sittliche Vorzüglichkeit den Willen zu beeinflussen imstande ist.

Es kann geschehen, daß ein, sonst ansich berechtigtes Bedürfnis im konkreten Fall dennoch unsittlich ist, wenn ihm nämlich ein Besseres hintangesetzt wird: "Was wahr ist, ist eben alles gleich wahr, was gut ist aber, nicht alles gleich gut und das Bessere besagt nichts anderes, als das gegenüebr anderem Guten vorzügliche, also das, was einem Guten um seiner selbst willen mit richtiger Bevorzugung vorgezogen wird." (BRENTANO) (7)


§ 24.

Wir besprachen bisher die hedonistischen, die sympathischen und idealen Bedürfnisse. Die idealen unterschieden wir in ideale Eigenbedürfnisse und ideal-altruistische. Es bleibt noch eine Gruppe zu behandeln übrig, die durch den Namen "gewohnheitsmäßige Bedürfnisse" am besten charakterisiert werden dürften, und zu den egoistischen gehören. Schon in den hedonistischen Bedürfnissen haben wir solche kennen gelernt, die ihr Wurzel haben in einer blinden Gemütstätigkeit; kraft ursprünglicher, angeborener Anlage werden gewisse Sinnesinhalte instinktiv, d. h. blind gehaßt oder geliebt, mit einem Hass oder einer Liebe, deren eigentümlicher Gefühlston jedem aus der inneren Erfahrung bekannt ist. Ähnliches kann aber auch durch Gewohnheit bewirkt werden; was nämlich anfangs als Mittel geliebt oder gehaßt wird, kann später gewohnheitsmäßig unmittelbar ohne Bewußtsein des ursprünglichen Zwecks, unmotiviert geliebt oder gehaßt werden - gewohnheitsmäßige Bedürfnisse. (§ 17.)


§ 25.

Ein Beispiel eines gewohnheitsmäßigen Bedürfnisses ist die Geldgier des Geizigen; es ist das Geld, das er liebt, das begehrt wird ohne Rücksicht auf irgendeinen durch es zu erreichenden Zweck. - Vieles kann gewohnheitsmäßig begehrt werden, so auch das sittlich schlechte Mittel. Dann liegt ein Bedürfnis vor, wo das Schlechte unmotiviert gewollt wird; zwar kann das früher als Endzweck gewollte auch jetzt noch verwirklichkeit werden - aber doch nur per accidenz [durch Zufall - wp] Ein sittlich schlechtes Mittel, z. B. das Übel eines andern kann selbst irrtümlicherweise als falsches Mittel gewählt und trotzdem später gewohnheitsmäßig, unmotiviert, geliebt werden.

So sind die dem Klassen-, Rassen- und Nationalitätenhaß entspringenden Bestrebungen, meist durch Erziehung eingeimpfte Bedürfnisse, überdies aber auch noch irregeleitete. Meist schon in frühester Jugend im Individuum entfacht und geschürt von den "Erziehern", sind sich diese selbst über das ursprüngliche Motiv eines solchen Hasses unklar - ist er doch auch sie ebenfalls traditionell überkommen; es werden daher nicht selten für alte Mittel zu vergessenen Zwecken neue Zweck fingiert (eine besondere Art "eingebildeter Bedürfnisse", vgl. Anmerkung 1), wenn der Satz vom zureichenden Grund seine Rechte geltend macht, und ein Motiv für so einen blinden Hass vermißt wird.

Im übrigen sind die gewohnheitsmäßigen Bedürfnisse von den hedonistischen nur durch die Verschiedenheit ihres Ursprungs unterschieden. Während jene einer unmotivierten Liebe oder Hass entspringen, die vermöge einer  angeborenen  Anlage ursprünglich auftreten, und in diesem Sinne instinktiv genannt zu werden verdienen, entspringen die gewohnheitsmäßigen Bedürfnisse unmotivierten Gemütstätigkeiten, die kraft erworbener Disposition auftreten.


§ 26.

Es gibt keine anderen Bedürfnisse, als die genannten:
    1) Eigenbedürfnisse, die zerfallen in  egoistische  (hedonistische und gewohnheitsmäßige) und  ideale; 

    2) altruistische Bedürfnisse, die in sich begreifen die  sympathischen  und  idealen. 
Alles, was sonst den Schein erweckt ein Bedürfnis in der hier entwickelten Bedeutung zu sein, ist eine Instinkthandlung oder auf einen Instinkt im  engeren  Sinne zurückzuführen. (Im Gegensatz zum Instinkt im  weiteren  Sinne, der überall dort vorliegt, wo kraft ursprünglicher, angeborener Anlage blinde, unmotivierte Phänomene des Urteils oder des Interesses auftreten; instinktiv ist der Glaube an die Wirklichkeit der Objekte (Inhalte) der sogenannten äußeren Wahrnehmung, oder die blinde Lust an gewissen Geschmacksempfindungen usw.)

Instinkthandlungen, oder auf Instinkte im engeren Sinne zurückzuführen, sind alle jene Erscheinungen, die den Schein von Willenshandlungen erwecken, ohne solche zu sein,  weil kein Gewolltes vorgestellt, vorhanden ist.  (Siehe Anmerkung 8)


§ 27.

Der Wandertrieb der Zugvögel ist ein solcher Instinkt; mit größter Präzision stellt er sich zur bestimmten Zeit alljährlich ein - der Geschlechtstrieb, der Nahrungstrieb der Tiere gehört hierher; durch die Wahrnehmung eines Objekts wird hier impulsiv der Drang einer auf das Objekt gerichteten Handlung erregt; den Mangel an Abstraktionsvermögen ersetzt dem Tier sehr zweckmäßig eine mechanisch wirkende Notwendigkeit, eine Notwendigkeit, die zugleich Nötigung ist. Mit Recht nennt daher K. E. BAER den Instinkt eine "Ergänzung des Lebensprozesses der Tiere". Die relative Vollkommenheit der Instinkte erklärt sich aus "der strengen Art der Zuchtwahl zur Zeit der Entwicklung, da jeder Fehlschlag Verderben nach sich zieht" (WALLACE). Das Wesen diser höchst bewunderungswürdigen Einrichtung ist und bleibt uns aber völlig unbegreiflich. (siehe Anmerkung 3)

Es ist durchaus falsch, die Instinkthandlung oder den Instinkt mit SCHNEIDER einen Willen im weiteren Sinne nennen zu wollen; wohl aber ist dem gegenüber die in § 26 gemachte Unterscheidung zwischen Instinkt im engeren und weiteren Sinne zu betonen, und die instinktive Lust und Unlust von der Triebhandlung, Instinkthandlung zu unterscheiden. Das Tier erreicht häufig instinktive Lust durch einen instinktiven Trieb, wo der Mensch sie durch wirkliche Willensakte anstrebt. - Ist aber der Instinkt Stellvertreter der Intelligenz, so dürfen wir auch erwarten, daß ihm beim Menschen nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen ist. (8)


§ 28.

Wir sagten, es gebe keine anderen Bedürfnisse als Eigenbedürfnisse und altruistische; insbesondere gibt es keine Bedürfnise nach Schlechtem, um des Schlechten willen.

Der Mensch liebt niemals das Schlechte und wünscht oder will, daß es sei, weil es schlecht ist, sondern höchstens grundlos.  (unmotiviert)

Der Mensch haßt niemals das Gute und wünscht oder will, daß es nicht sei, weil es gut ist, sondern höchstens grundlos. 

Wo ein solcher Wille vorzuliegen scheint, liegt eine Instinkthandlung vor. Das ist das Wahre an dem Satz: "Der Wille geht auf das Gute." Mir scheint diese Erkenntnis von Interesse für die Ethik (Pädagogik) sowohl, als auch für die Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp].


§ 29.

Es können Äußerungen der Rachsucht, Mordgier, des Blutdurstes beim Menschen instinktartige sein, wie beim Tier. Sind es aber reine Instinkthandlungen, dann ist eben kein  Wille  zum Bösen vorhanden (§ 26) sondern ein Drang, eine physiologische oder besser  psychologische Nötigung  zu einer Emotion; das Schlechte wird dann von den Trägern des Instinkts nicht gewollt. Wo immer menschliche Racheakte reine Instinkthandlungen sind, kann von einem Wollen des Schlechten (einem effektiven Bedürfnis) seitens des Menschen nicht die Rede sein. Beim erwachsenen Kulturmenschen kommen reine Triebhandlungen selten oder nie vor (§ 27) an ihre Stelle treten alsbald Willensakte von vorzüglich hedonistischen und überhaupt egoistischem Charakter; denn wo die Erinnerung an frühere Racheakte mitspielt, kommt die Erwartung einer, an sie geknüpften (blinden) Lust hinzu. Gewiß hat der Urmensch ungleich mehr die Anlage zu Instinkthandlungen besessen, als der moderne Kulturmensch - viele Instinkte sind, als sie nicht mehr von Nutzen waren, im Laufe der Phylogenese [Stammesgeschichte - wp] verkümmert; auch das Kind besitzt gewisse ihm eigentümliche Triebe, die der Erwachsene nicht besitzt. Überhaupt sind  reine  Triebhandlungen nur bei primitiven Seelenleben (wenn ich von pathologischen Fällen absehe) möglich. Denn der mit Abstraktionsvermögen begabte Mensch kann bereits nach den ersten Triebhandlungen eine begriffliche Vorstellung des durch den Trieb Erreichten bilden. Es ist also sehr wahrscheinlich, daß anstelle der reinen Instinkthandlung das nächstemal eine Willenshandlung tritt. (9)


§ 30.

Alle Instinkte erwecken in höchstem Grad den Schein der Zweckmäßigkeit. Worauf immer sie gerichtet sind, sie bezwecken im letzten Grund stets die Erhaltung des Lebens. Daher konnte BAER, den DARWIN den "großen" nennt, vom Instinkt sagen: "Die Einsicht, die ihm zugrunde zu liegen scheint, ist nicht die Einsicht der Tiere, sondern eine Nötigung, die eine höhere Einsicht ihnen auferlegt hat." (a. a. O. Bd. I, Seite 282)

Dies gilt auch vom Menschen, sofern er wahrhafter Instinkte fähig ist - so vor allem vom Kind; auch beim Erwachsenen sind z. B. nur jene auf das Schlechte gerichtet, die der Urmensch im Daseinskampf nicht entbehren durfte. Sowie sie entbehrlich werden, beginnen sie zu schwinden. Sie werden entbehrlich, wo der Kampf ums Dasein allmählich aufhört, in der Entwicklung das bedeutsamste Prinzip zu sein. Es ist dies, wie WEISMANN sich ausdrückt, die "Kehrseite der Naturzüchtung." Wo kein direkter Nutzen vorhanden ist, macht sich die erhaltende Kraft der Naturzüchtung nicht mehr geltend; es tritt ein Nachlassen der konservierenden Wirkung der Selektion "Panmixie" auf. Dies geschieht bei körperlichen wie bei geistigen Eigenschaften.


§ 31.

Zusammenfassung:  Jeder Wille, gerichtet auf Verwirklichung eines Gewünschten, ist ein  effektives  Bedürfnis. Ein latentes Bedürfnis' liegt vor, wo ein Wunsch unbedingt zum Willen würde, falls der Glaube an die Verwirklichung des Geliebten, durch die Liebe selbst, hinzutreten würde.

Jedes Bedürfnis ist selbstverständlich ein Interesse, das von einem Individuum ausgeht und in diesem Sinne ein persönliches Interesse; aber durchaus ist nicht jedes Bedürfnis ein egoistisches; wir sahen vielmehr eine Reihe anderer ganz selbstloser Interessen diesen an die Seite treten und den Menschen wachsen mit seinen höheren Zwecken. Nicht egoistisch sind unter den Eigenbedürfnissen die idealen; selbstlos alle altruistischen Interessen. (10)

Alle sittlich berechtigten Interessen sind harmonisch; soweit hat BASTIAT Recht, wenn er lehrt: les interets legitimes sont harmoniques [Berechtigte Interessen sind harmonisch. - wp]

In der Harmonie der Interessen besteht die Harmonie economique. Hier hat die Ethik einzugreifen - warum sollte es ihr nicht gelingen, alle Bedürfnisse dadurch zu sittlichen zu machen, daß sie im Konflikt das minder Gute dem Besseren weichen lehrt - warum sollte sie den Menschen diesem Ideal nicht wenigstens nähern können? Den schwierigsten Teil ihrer Aufgabe hat die Ethik den egoistischen Bedürfnissen gegenüber zu erfüllen. Als Pädagogik wird sie teils den üblen Gewohnheiten entgegenzuwirken, teils den Keim des Bösen in der Seele des jungendlichen Individuums ersticken müssen.

Den Keim des Bösen, d. h. die Bestie im Menschen, die Hinterlassenschaft unserer tierähnlichen Vorfahren: die instinktive, d. h. die blinde  Lust  am Schlechten, und der instinktive, d. h. blinde  Trieb  zum Schlechten. Das Wissen von der menschlichen Seele ist auch hier die notwendigste Grundbedingung. (Vgl. FRANZ BRENTANO, Psychologie, Leipzig 1872, Bd. 1)


§ 32.

Wir haben jedes effektive Bedürfnis für einen Willensakt erklärt, und mit dem Namen "latentes Bedürfnis" jene Wünsche bezeichnet, zu denen nur der Glaube an die Realisierbarkeit hinzutreten müßte, um sie zum Willen zu machen. (11) Es wurde zu zeigen versucht, daß der Nationalökonom nicht minder als der Psychologe unter Bedürfnis nichts anderes verstehen darf und kann - was bisher nicht erkannt worden zu sein scheint; nur insofern hatte man sich dieser Erkenntnis genähert, als man bereits unter Bedürfnis jedes menschliche Begehren begreifen wollte. Es erübrigt nur noch darzulegen, aus welchen Gründen man bisher verkannt hat, daß die Lehre vom Bedürfnis der Hauptsache nach eine Psychologie des Willens und Wunsches sei.

Vorerst haben die älteren nationalökonomischen Schulen dieses Kapitel überhaupt vernachlässigt; die "Psychologenschule" ist neuesten Ursprungs: aber auch die Psychologie selbst lag die längste Zeit gar sehr im argen; erst seit kurzem bricht sich wiederum eine empirische Methode Bahn (vgl. BRENTANO, Über die Zukunft der Philosophie, Wien, 1892). Man hat übersehen, daß der Begriff des Bedürfnisses auf die bezeichnete Art zu fassen sei, weil die frühesten Bedürfnisse des Menschen und zugleich die verbreitetsten, auch heute noch häufigsten und mächtigsten, jene waren, die auf das sinnliche Wohlsein, auf Lust und Unlust gerichtet sind.

Die Bedürfnisse nach geistiger und sittlicher Vervollkommnung sind jünger und seltener; wie man die unkörperlichen Objekte menschlicher Willensakte nicht als Güter betrachtet wissen wollte, so war man auch nicht geneigt, die betreffenden Willensakte als Bedürfnisse zu bezeichnen.

Andererseits hat man unter den Begriff des Bedürfnisses manches mit einbezogen, was weder Wille noch Wunsch war. Hieran ist vor allem die Sprache schuld. Das Wort "Bedürfnis" ist äquivok und seine Äquivokationen [dasselbe Wort für verschiedene Bedeutungen - wp] scheinen durch eine gewisse Verwandtschaft oder Beziehung der Bedeutungen verursacht. Hierdurch wird die reinliche Trennung der Begriffe und die Erkenntnis des Wesens der Erscheinung umso schwieriger.

Eine Folge dieses schwankenden Sprachgebrauchs ist es, daß man namentlich  a)  Bedürfnis im Sinne des Entbehrens, der Bedürftigkeit verwandte, wodurch man  b)  dazu kam, von Bedürfnissen unbeseelter Wesen zu sprechen, z. B. die Pflanze habe ein Beürfnis nach Licht; und  c)  von Bedürfnissen der Tiere zu reden, wo man reine Instinkte im Sinne hatte.

Daher kommt es, daß auch dort, wo Bedürfnis im Sinne des Begehrens gebraucht wird, andere Bedeutungen oft und leicht hereinspielen; man denkt bei "Bedürfnis" an etwas passives, weil es auch im Sinne des Entbehrens gebraucht wird (§ 5); weil "Bedürfnis" auch im Sinne des Instinktes gebraucht wird, denkt man an etwas nötigendes, drängendes, meist auch unangenehmes; das Moment des Unbefriedigtsein wird mitgedacht. Im Begriff des unrealisierbar erscheinenden Wunsches sind diese letzteren Moment vorzüglich enthalten; daher hat man bei "Bedürfnis" eher an das, was ich "latentes Bedürfnis" nenne, gedacht, als an den Willen, "das effektive Bedürfnis", das mehr aktiv erscheint gegenüber dem passiven Wunsch. Endlich hat man das eigentümliche Verhältnis zwischen Wunsch und Wille nicht genügend untersucht und ihre Beziehung zum Instinkt nicht richtig erkannt.
LITERATUR Oskar Kraus, Das Bedürfnis - ein Beitrag zur beschreibenden Psychologie, Leipzig 1894
    Anmerkungen
    1) SAX meint, nur da sei ein Bedürfnis vorhanden, wo ich die Mittel zu seiner Befriedigung kenne; ich kann aber doch wohl einen Zweck begehren, ohne die Mittel zu kennen; ich kann die Abschaffung eines schmerzlichen Gefühls begehren, ohne zu wissen, durch welche Mittel dies erreicht werden kann; "in diesem Fall", glaubt SAX, "lernen die Menschen erst  Bedürfnisse kennen,  sobald sie in Kenntnis des Mittels gelangen und dadurch veranlaßt werden den Zweck zu setzen." Sollte man dagegen nicht erwidern können, daß wir durch den Zweck veranlaßt werden die Mittel zu setzen, aber nicht durch die Mittel den Zweck? SAX fährt fort: "Wohl aber liegt ein Bedürfnis vor, wenn die Kausalverbindung zwischen Mittel und Zweckerreichung nur eine irrtümlich angenommene ist, denn der psychische Vorgang und seine Folgen sind da die nämlichen, wie beim faktisch erkannten Zusammenhang  eingebildete  Bedürfnisse". Mit anderen Worten: ein Bedürfnis kann vorhanden sein, und ich kann falsche Mittel wählen es zu befriedigen, falsche Mittel, d. h. Mittel die keine Mittel sind - also was wir behaupteten - man kann die Befriedigung, den Zweck wollen, ohne die Mittel zu kennen.
    2) In unserer Anschauung bezüglich dieser Fragen stehen wir nicht ganz vereinzelt; LOTZE, in seiner Abhandlung "Instinkt" (Kleine Schriften, 1. Band) lehrt, wenn auch auf anderem Weg hierzu gelangt, ähnliches; für sehr fraglich bezeichnet er es, ob die Psychologie den Tieren wirklich einen Willen zuschreiben dürfe. - - Die Seele des Tieres ist, wie jede, außer der eigenen, für uns transzendent, sie fällt nicht direkt in unsere Erfahrung. Die vorliegenden Tatsachen aber, durch die wir genötigt sind auf ein Seelenleben der Tiere zu schließen, erfordern bloß den Schluß auf eine der unseren entfernt ähnliche, nicht aber gleiche psychische Tätigkeit. Wie die vitalistische Auffassung der leblosen Natur deutet die anthropomorphistische Auffassung des tierischen Lebens auf eine niedrige Stufe der Erkenntnis. Dennoch glauben viele Naturforscher der Annahme eines bloß "quantitativen" Unterschiedes zwischen tierischem und menschlichem Seelenleben, als notwendiger Konsequenz der Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] nicht entbehren zu können; dies ist irrig. Erstens bliebe, selbst wenn wir mit dieser Deszendenztheorie die darwinistische Hypothese gelten ließen, zu untersuchen, ob denn die Seele beiseite gelassen, ist zweitens zu bemerken, daß Einheit der Genesis fundamentale deskriptive Unterschiede nicht ausschließt; auch vergißt man noch immer, daß der Darwinismus doch nur eine Hypothese im strengen Sinn der Logik zur Erklärung der Deszendenztheorie bedeutet und durchaus nicht mit ihr zusammenfällt. DARWINs Verdienst besteht (in dieser Beziehung) darin, die natürliche Auslese als einen mächtigen  Faktor  der Entwicklung ein- für allemal bewiesen zu haben. DARWIN selbst aber hebt wiederholt hervor, er sei der Ansicht "daß die Zuchtwahl der Natur das wichtigste aber nicht das einzige Mittel der Abänderung gewesen ist." So haben sich dann auch hervorragende Evolutionisten nicht gescheut, in gewichtigen Fragen vom orthodoxen Darwinismus abzuweichen; WEISMANN leugnet die Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften als solcher, und WALLACE, der diese Lehre rezipiert, widerlegt die "geschlechtliche Zuchtwahl" als Ursache der prächtigen Farbenentwicklung der Tiere und will größtenteils in Übereinstimmung mit WEISMANN die künstlerischen, intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen dem Gesetz der natürlichen Zuchtwahl nicht unterworfen wissen. Lange vor ihnen hat. K. E. BAER, "der größte Ontogenist des Jahrhunderts" (wie ihn HÄCKEL nennt) eben dasselbe erkannt, überdies aber die Notwendigkeit  sprunghafter Entwicklungen  betont. Gerade hiergegen erheben die Darwinisten lauten Protest. Die der Zuchtwahl zu gebote stehenden Variationen seien durchweg klein und von geringem Betrag - in kleinsten Etappen müsse die Entwicklung vor sich gehen. Die Natur macht keine Sprünge. Gewiß! aber auch eine beschleunigte Bewegung ist kontinuierlich! Eine elastische Feder von großer Spannkraft schnellt plötzlich hoch empor - gilt deshalb das Kausalitätsgesetz weniger? - Den noch imemr nicht widerlegten Einwänden gegen die Möglichkeit einer fortgesetzten Entwicklung in kleinen, geringfügigen Schritten kann ich einen neuen hinzufügen: Nutzbringende Veränderungen können weder  unendlich  noch  unmerklich klein sein.  Dies ist einleuchtend und wird selbst von Darwinisten zugegeben. Damit die schutzbezweckende Farbenveränderung eines Schmetterlings z. B. den ihn verfolgenden Vogel täuschen könne, muß sie von der Färbung aller nicht variierenden Schmetterlinge derselben Art mindestens  ebenmerklich  unterschieden sein. Setzen wir den Fall, der Scharfblick des Vogels, der sich von diesen Schmetterlingen nährt, vermöge sich seinerseits der neuen Nuance anzupassen. Soll nun der Schmetterling erhalten bleiben, so muß er neuerdings günstig variieren - und zwar in derselben Richtung - beispielsweise in die Ähnlichkeit zu einem welken Blat; um dem geschärften Blick des Vogels entgehen zu können, muß der Schmetterling nun aber dem welken Blatt  mindestens eben merklich ähnlicher  werden, sich mindestens eben merklich von allen nicht variierenden Schmetterlingen unterscheiden; nun erinnere ich an das eigentümliche Verhältnis von Reiz und Empfindungszuwachse, an das bekannte Gesetz:  "um einen ebenmerklichen Empfindungszuwachse hervorzurufen, muß ein Reiz umsomehr wachsen, je größer er bereits ist."  - - - Obzwar also in unserem Fall der zweite Schritt das Mindestmaß der Merklichkeit eingehalten hat, war er doch notwendig ein größerer Schritt als der erste. Der dritte Schritt muß aber wiederum den zweiten übertreffen usw., soweit die Entwicklung vor sich gehen kann. Damit ist die Notwendigkeit sprunghafter Entwicklung in allen analogen Fällen bewiesen und sonach auch die Möglichkeit derselben schlechthin dargetan. Meiner Ansicht nach kann und muß aber die Entwicklung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten aus jenen der Tiere eine in diesem Sinne sprunghafte gewesen sein. Denn zwischen Wesen, die irgendeiner Abstraktion fähig sind und solcher, die es nicht sind, lassen sich keine vermittelnden Übergänge denken. Daher stelle ich auch das "Tier" dem "Menschen" gegenüber, obwohl mir die diesbezügliche Ansicht WUNDTs (namentlich Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 2) und anderer wohl bekannt ist.
    3) Dies ist insbesondere gegen WALLACE zu betonen. In seinem "Darwinismus" heißt es Seite 386, überhaupt gibt es Beweise dafür, daß die Tiere stets erfahrungsmäßig lernen, was sie fressen müssen und was nicht. - - - Ich frage: "Wie ist es denn mit giftigen Pflanzen, deren Genuß tötet? Können den alle pflanzenfressenden Tiere stets erfahrungsmäßig lernen, daß sie sie nicht fressen dürfen? Ich kann durchaus nicht zustimmen, wenn WALLACE Seite 682 meint, ein großer Teil des Geheimnisvollen, das im Instinkt liegt, rühre daher, daß wir es hartnäckig verschmähen, die Wirkungen der selbständigen Beobachtung und des  Nachdenkens  als einen Teil desselben anzuerkennen. Vielmehr glaube ich, daß JOHANN AUTENRIETH auch heute noch Recht behält, wenn er in seiner Abhandlung über die Instinkte sagt: "Da aber der Instinkt weder Verstand ist, noch allein durch Gefühle erklärt werden kann, die Psychologie also hier unzureichend ist, so wird es Aufgabe der Physiologie sein, seine Rätsel zu lösen." - (Ansichten über Natur- und Seelenleben, 1836) - - - Freilich wird auch die Physiologie nicht alles erklären und vor den Grenzen des Naturerkennens Halt machen.
    4) Man vergleiche MARTYs "Ursprung der Sprache". - Die Entwicklung des Tauschverkehrs, des Geldwesens und der Arbeitsteilung weist mit der Entwicklung der Sprache mannigfache Analogien auf: hat das jedesmalige Bedürfnis nach Verständigung die Sprache, so hat der ganze Komplex der menschlichen Bedürfnisse den eigentümlichen Organismus der menschlichen Wirtschaft geschaffen. Bau und Leben des sozialen Körpers ist Produkt bewußter Akte, aber nicht Erzeugnis eines Planes; somit ist ein "Empirismus" auch in der Frage nach dem Ursprung der Wirtschaft der richtige Standpunkt. Es scheint mir, als würde ein tieferes Eindringen in diesen Gegenstand eine neue Bestätigung der MARTYschen Theorien auf sprachlichem Gebiet ergeben: denn die Analogien zwischen sprachlichem und wirtschaftlichem Verkehrt sind keine äußerlichen, sondern wurzeln tief in der innigen Beziehung beider zueinander.
    5) Es dürfte nicht überflüssig sein zu bemerken, daß  Wahlfreiheit  und  Willensfreiheit  im Sinne des Indeterminismus grundverschiedene Dinge sind. Letztere ist nie vorhanden, erstere kann in mehr oder minder vollkommener Weise gegeben sein. - - PS: Das "Wählen" der Tiere erfolgt "ohne eigentlichen Bedacht und verständige Reflexion" aufgrund von blinden Urteilen und Erwägungen; auch der Mensch "wählt" nicht selten auf diese Art; aber dieser Begriff der "Wahl" im Sinne eines bloß praktischen Vorziehens ist von der überlegten Wahl zu unterscheiden (vgl. MARTY, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 14, Seite 58. Etwas ähnliches auch bei SCHNEIDER, Der menschliche Wille, Seite 289, Anmerkung.
    6) Ich verweise auf die grundlegende Schrift von FRANZ BRENTANO "Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis", Leipzig 1889. Die in ihr enthaltenen Wahrheiten bilden das Gerüst oder besser die Grundpfeiler meiner Ausführungen. Sie werden zweifellos in Zukunft das Fundament jeder wissenschaftlichen Ethik bilden; allerdings aber erst wenn sich die Hochflut wässriger philosophischer Erzeugnisse ein wenig verlaufen hat und der Kritiker Zeit gewinnt nebst der Zahl der Druckseiten auch die der Gedanken in Rechnung zu ziehen.
    7) Von "richtig" und "unrichtig" kann auf dem Gebiet der Gemütstätigkeiten, nur in einem Sinn gesprochen werden, der jenem auf dem Gebiet des Urteils  analog  ist. - Zu bemerken wäre noch: Es kann geschehen, daß jemand im Streben nach dem Guten zu ansich verwerflichen Mitteln greift, die er irrtümlich für gut hält. In diesem Fall ist nur die Liebe zum guten Zweck als richtig charakterisiert, nicht die Liebe zu den irrtümlich gewählten Mitteln; auch heiligt hier der Zweck die Mittel und macht den Willen zu einem "subjektiv sittlichen"; es ist jedoch die Tendenz vorhanden, daß das subjektiv sittliche auch das objektiv gute sei; ein Zeichen sittlicher Weltordnung, da im anderen Fall die Verwirklichung des höchsten Gutes gefährdet wäre.
    8) Nach den geistvollen Untersuchungen WEISMANNs, dessen Vererbungstheorie von WALLACE als "wichtigster Beitrag zur Entwicklungstheorie" seit DARWIN bezeichnet wird, darf die Ansicht, welche Instinkthandlungen für vererbte Gewohnheiten erklärt als abgetan betrachtet werden. Erworbene Eigenschaften, als solche, mithin auch Gewohnheiten werden nicht vererbt. - Daß Instinkte nicht vererbte gewohnheitsmäßige Bedürfnisse sein können, geht überdies aus Folgenden hervor: Bedürfnis ist ein Begehren; jedes Begehren setzt ein Begehrtes voraus, das Begehrt ist stets zugleich ein Vorgestelltes; angeborene Vorstellungen gibt es nicht. - Vgl. zu diesen Fragen und zur Tierpsychologie insbesonere: K. E. BAER, Reden gehalten in wissenschaftlichen Versammlungen II, Braunschweig, Seite 75 und 211. WALLACE, Darwinismus. Deutsch von Brauns, Braunschweig 1891. WEISMANN, Aufsätze über Vererbung, Jena 1892. LUBBOCK, Die Sinne und das geistige Leben der Tiere, 1889 (wo eine umfangreiche Literatur angegeben ist). WUNDT, Physiologische Psychologie II, 2. Auflage, Seite 335f und Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, 2. Auflage, 1892. SCHNEIDER, Der tierische Wille, Leipzig.
    9) Die Unterscheidung zwischen Willenshandlung und Instinkthandlung ist auch von Belang für das Strafrecht. - Dieses sollte sich Instinkthandlungen gegenüber anders verhalten als Willenshandlungen gegenüber. Über diesen Gegenstand vergleiche man besonders KRAFT-EBBING, Psychopathia sexualis, 7. Auflage, Seite 378f und FRANZ von LISZT, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 5. Auflage, Seite 393f.
    10) Um jedem Mißverständnis vorzubeugen sei bemerkt, daß die nicht egoistischen Eigenbedürfnisse meist subjektiv (und daher auch objektiv § 23) sittlicher sind als die egoistischen, die sympathischen meist sittlicher als die Eigenbedürfnisse überhaupt, und die ideal-altruistischen meist ethischer als alle anderen.
    11) Man beachte, daß nicht jeder Wunsch schon dadurch zum Willen wird, daß der Glaube an die Realisierbarkeit hinzutritt. So wünscht vielleicht ein Arzt viele Patienten zu  haben;  er will aber nicht Patienten  machen,  wenn er auch weiß, daß er es vermöchte.