Identitätslogische und imaginäre Zeit CORNELIUS CASTORIADIS
Wenn wir die von jeder Gesellschaft explizit instituierte Zeit betrachten, drängt sich sogleich die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen, notwendigen Dimensionen dieser Institution auf, nämlich die zwischen der identitäslogischen und der eigentlich imaginären Dimension. Die als identitätslogische instituierte Zeit ist die metrische Zeit, Meßzeit, Zeit der Messung. Die als imaginäre instituierte Zeit ist die bedeutende Zeit, Zeit der Bedeutung. Mit dieser Unterscheidung soll keineswegs gesagt sein, daß das Unterschiede getrennt wäre.
Die als identitätslogische instituierte Zeit ist die Zeit der Messung oder der Unterwerfung der Zeit unter ein Maß. Diese Zeit ist in identische oder im (freilich unmöglichen) Idealfall kongruente Abschnitte unterteilt. es ist die kalendarische Zeit mit ihren numerischen Einteilungen, die sich meist an periodische Phänomene der natürlichen Schicht anlehnen (Tag, Mondmonat, Jahreszeiten, Jahr), später nach logisch-naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten bearbeitet und verfeinert worden, aber nach wie vor auf räumliche Erscheinungen bezogen sind. Freilich ist diese Anlehnung an die natürliche Schicht nicht allein maßgeblich, und zwar aus den bekannten natürlichen Gründen: Die großen Naturkreisläufe stehen nicht in einfachen Zahlenverhältnissen zueinander (Das Sonnen- oder Sternjahr ist kein ganzzahliges Vielfaches eines Tages oder Mondmonats; die beiden Jahre fallen nicht streng zusammen; usw.). Es gibt dafür aber auch noch andere Grüne, die nur mit der betreffenden Gesellschaft zu tun haben. Das außerordentliche astronomische Wissen der Maya (das es ihnen anscheinend ermöglicht hat, die Venusaufgänge bis auf einen Fehlerquotienten von einem Tag pro sechstausend Jahren vorauszusagen) hinderte sie beispielsweise nicht daran, daneben rituelle Jahre mit 260 Tagen zu verwenden. Ebenso hat der mohammedanische Kalender mit seinen an den Mondphasen orientierten Monaten und seinen im Verhältnis zum Sonnenjahr zu kurzen Jahren keinerlei Gebrauch von dem Wissen gemacht, das zur Zeit seiner Einführung in diesem kulturellen Bereich schon gewonnen war.
Die als bedeutende instituierte Zeit, die imaginäre Zeit der Bedeutung unterhält mit der identitätslogischen Zeit ein Verhältnis wechselseitiger Implikationi. Ein solches zirkuläres Implikationsverhältnis liegt regelmäßig vor, wenn es sich um zwei Dimensionen der gesellschaftlichen Dimensionen der gesellschaftlichen Institution handelt, hier also um die mengen- oder identitätslogische Dimension und die Bedeutungsdimension. Die identitätslogische Zeit ist nur deshalb Zeit, weil sie auf die imaginäre Zeit bezogen ist, die ihr die Bedeutung Zeit verleihen muß, umgekehrt wäre die imaginäre Zeit ohne Rekurs auf die identitätslogische Zeit nicht zu definieren, nicht zu unterteilen, nicht zu begreifen - sie wäre nichts.
So verdoppeln oder verstärken beispielsweise die Untergliederungen der imaginären Zeit die numerischen Markierungen der kalendarischen Zeit. Was in ihr geschieht, ist nicht bloß ein wiederholtes Ereignis, sondern wesenhafter Ausdruck der Weltordnung, wie sie von der betreffenden Gesellschaft instituiert worden ist: Ausdruck der Kräfte, die in ihr wirken, und der herausragenden Momente der gesellschaftlichen Tätigkeit (Arbeit, Riten, Feste, Politik). Deutlich zeigt sich das an den hauptsächlichen Phasen des Tagesablaufs (Morgendämmerung, Abenddämmerung, Mittag, Mitternacht), an den Jahreszeiten und an den Jahren selbst, soweit sie unter das Zeichen einer besonderen Bedeutung gestellt werden. Es brauch wohl kaum daran erinnert zu werden, daß in keiner Gesellschaft vor der unseren Frühlings- oder Sommeranfang bloße Daten im Jahreslauf und auch nicht nur funktionale Zeichen für den Beginn einer bestimmten produktiven Tätigkeit waren, sondern stets mit einem Bündel mythischer oder religiöser Bedeutungen verflochten waren. Selbst der heutigen Gesellschaft ist es noch nicht vollends gelungen, die Zeit als bloß kalendarische zu erleben.
Im Rahmen dieser imaginären Zeit werden auch die Grenzen und Perioden der Zeit festgelegt. Aus den Grenzen der Zeit wird verständlich, wieso es logisch notwendig ist, die Zeit als imaginäre zu instituieren. Der Gedanke eines Ursprungs und Endes aller Zeiten wie auch die Idee des Fehlens eines solchen Ursprungs und Endes hat keinen natürlichen, logischen, wissenschaftlichen oder gar philosophischen Inhalt oder Sinn. Trotzdem muß bei der gesellschaftlichen Institution der Welt die Entscheidung zugunsten eines dieser beiden Gedanken fallen. Die Zeit, in der die Gesellschaft lebt, muß sich entweder von einem Anfang bis zu einem Ende erstrecken - oder unendlich sein. Beide Festsetzungen sind notwendigerweise gänzlich imaginär und können sich an keine natürliche oder logische Tatsache anlehnen. So findet entweder zu einem datierbaren Zeitpunkt oder überhaupt zu einem Zeitpunkt eine Schöpfung der Welt statt. Oder es gibt Kreisläufe, die sic wiederholen. Oder die Welt findet ein Ende, das man zu erwarten und auf das man sich vorzubereiten hat. Oder sie hat eine unbegrenzte Zukunft vor sich - usw. Zum Magma imaginärer Bedeutungen der betreffenden Gesellschaft gehört natürlich auch die Periodisierung der Zeit: christlice oder muselmanische Epoche; goldenes, silbernes, bronzenes Zeitalter; Äonen, große Maya-Zyklen und dgl. Diese Periodisierung kann bei der imaginären Institution der Welt der betreffenden Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielen. Für die Christen gibt es etwa einen unbedingten qualitativen Unterschied zwischen der Zeit des Alten und des Neuen Testaments; die Menschwerdung CHRISTI teilt die Weltgeschichte zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht ganz entscheidend in zwei Teile. Welches Schicksal ein Mensch in der Ewigkeit haben wird, hängt in entscheidendem Maße davon ab, ob er vor oder nach CHRISTUS gelebt hat.
Schließlich hat für jede Gesellschaft die Zeit als solche eine gewisse Qualität: das, was sie ausbrütet oder vorbereitet, womit sie schwanger geht: Zeit der Vertreibung der Juden in der Diaspora, Zeit der Prüfung und der Hoffnung für die Christen, Zeit des Fortschritts für die Abendländer. Diese Qualität entspricht dem Magma instituierter imaginärer Bedeutungen und scheint aus diesem abgeleitet; eigentlich müßte man genauer von einem eigentümlichen Affekt der betreffenden Gesellschaft sprechen. Dieses Zeitgefühl beweist, daß die instituierte Zeit niemals auf ihre rein identitätslogische, kalendarische und metrische Dimension reduziert werden kann. Selbst in den westlichen Gesellschaften des modernen Kapitalismus, in denen eine solche Reduktoin am konsequentesten versucht worden ist, bewahrt der Zeitfluß (als Zeit des Fortschritts und der Akkumulation) nicht nur ganz deutlich eine Qualität; darüberhinaus ist die Reduktion der Zeit auf eine rein metrische selbst nur eine der Formen, in denen sich das Imaginäre dieser Gesellschaft äußert und durch die es sich materialisiert. Die Zeit darf nur ein neutrales, homogenes Medium, der Parameter t einer Familie von Exponentialfunktionen sein, damit sich eine "Realisierungsquote" der Zukunft bestimmen läßt (wie die Ökonomen sagen), damit alles meßbar und berechenbar erscheint und damit die zentrale imaginäre Bedeutung dieser Gesellschaft - die Pseudo- Rationalisierung - sich wenigstens mit einem Minimum an Kohärenz ausstaffieren kann, und den eigenen Normen zu genügen. Dieses Beispiel illustriert nur anhand der Zeit eine allgemeinere Behauptung: Eine Zeit, die als ausschließlich identitätslogische instituiert wäre, ist unmöglich, weil eine Welt, die ausschließlich als identitätslogische instituiert wäre, unmöglich ist und weil sich die mengenlogische Organisation der gesellschaftlichen Welt nicht von den gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen trennen läßt.
LITERATUR - Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Organisation, Ffm 1984