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Wortfetischismus
John Stuart Mill

Es geht in der Philosophie eben wie in der Religion: die Menschen staunen über die Ungereimtheit der Glaubenssätze Anderer, während ihre eigenen genau parallele Ungereimtheiten aufweisen, und ein und derselbe Mensch wundert sich aufrichtig, daß jemand Worte für Dinge halten kann, während er selbst andere Worte als Dinge auffaßt, so oft er seinen Mund in der Debatte auftut. Niemand, dem die Geschichte der geistigen Entwicklung einigermaßen bekannt ist, wird es leugnen, daß die Verwechslung von Abstraktionen mit Wirklichkeiten die Spekulation des ganzen Altertums und Mittelalters durchwaltet. Der Irrtum wurde verallgemeinert und in ein förmliches System gebracht in den berühmten  Ideen  PLATOs. Die Aristoteliker führten ihn weiter fort. Essenzen, Quidditäten, den Dingen innewohnende Kräfte, wurden allen Ernstes als Erklärungen von Phänomenen hingenommen. Nicht bloß abstrakte Eigenschaften, sondern auch die konkreten Namen von Gattungen und Arten wurden als objektive Wesen angesehen. Man glaubte an allgemeine Substanzen, die allen gewöhnlichen Klassen von konkreten Dingen entsprechen; an eine Substanz  Mensch,  eine Substanz  Baum,  eine Substanz  Tier,  wobei diese Substanzen (und nicht die genannten Individuen) mit den obigen Namen bezeichnet wurden. Das reale Dasein von universalen Substanzen war die Streitfrage, um welche in der späteren Hälfte des Mittelalters jener berühmte Kampf zwischen Nominalisten und Realisten entbrannte. Dieser Streit bildet einen der Wendepunkte in der Geschichte des Gedankens, der sich hier zum ersten Mal von der Herrschaft sprachlicher Abstraktionen zu befreien strebt. Die Realisten waren die stärkere Partei, aber obwohl die Nominalisten zeitweilig unterlagen, so brach doch die von ihnen bekämpfte Lehre bald darauf zugleich mit der ganzen übrigen Scholastik zusammen. Aber während man die Universalsubstanzen und substantiellen Formen, als die gröbsten Arten realisierter Abstraktionen, am frühesten fallen ließ, so erhielten sich die Essenzen, Vermögen und verborgenen Eigenschaften weit länger, ja erst die Kartesianer sprachen ihnen endgültig das reale Dasein ab. Nach DESCARTES' Auffassung der Wissenschaft waren alle physischen Phänomene durch Stoff und Bewegung zu erklären, d. h. nicht durch Abstraktionen, sondern durch unabänderliche Naturgesetze, wenngleich seine eigenen Erklärungen vielfach hypothetische waren und sich schließlich als irrtümlich erwiesen. Noch lange nach ihm aber fuhr man fort, "fingierte Wesenheiten" (im BENTHAMs treffenden Ausdruck zu gebrauchen) als Mittel zur Erklärung der geheimnisvolleren Phänomene zu ersinnen; besonders in der Physiologie, wo geheime  Kräfte  und  Prinzipien  unter den mannigfachsten Namen die Erklärung oder das Surrogat einer Erklärung für alle Lebenserscheinungen abgaben. Moderne Philosophen sehen in diesen Fiktionen bloß die abstrakten Namen für die ihnen entsprechenden Klassen von Phänomenen; und es ist ein Problem der Philosophie, wie die Menschen zuerst eine Reihe von bloßen Namen erfanden, um gewisse Verbindungen von Bildern oder Vorstellungen zusammenzuhalten, und dann dieses ihr eigenes Vorgehen so weit vergessen konnten, um diese Schöpfungen ihres Willens mit objektiver Realität zu bekleiden und den Namen des Phänomens für die wirkende Ursache desselben zu halten. Was vom rein dogmatischen Standpunkt aus ein Mysterium war, das klärt die historische Betrachtung auf. Diese abstrakten Worte sind jetzt allerdings bloße Namen für Phänomene; aber ursprünglich waren sie dies nicht. Für uns bezeichnen sie nur die Phänomene, weil wir aufgehört haben an das zu glauben, was sie früher noch außerdem bezeichneten und ihre Verwendung bei Erklärungen ist für uns augenscheinlich, wie Herr COMTE sagt, die naive Reproduktion der Erscheinung als ihrer eigenen Ursache. Doch war dies früher anders. Die metaphysische Denkart war nicht eine Verunstaltung der positiven, sondern eine Umbildung der theologischen Denkweise. Als der menschliche Geist eine Klasse von Gegenständen bildete, ging er nicht vom Begriff eines Namens, sondern von dem einer Gottheit aus. Die Verwirklichung von Abstraktionen war nicht die Verkörperung eines Wortes, sondern die allmähliche Entkörperung eines Fetischs.

LITERATUR, John Stuart Mill, August Comte und der Positivismus, Leipzig 1874