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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Tatsachen
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1. Raum-Zeit
2. Bewußtsein
3. Logik
4. Sprache
6. Moral
  7. Ordnung
  8. Recht
  9. Ökonomie
10. Anarchie
11. Religion
"Die Logik ist immer eine Frage des Systems, nicht des Problems. Die Problemkonsequenz wird gewöhnlich zugunsten der Systemkonsequenz abgebrochen. "

Eine totale Erklärung der Welt von den Einzelerscheinungen aus ist nicht nur faktisch, sondern prinzipiell unmöglich. Jeder konstruiert sein eigenes parteiisches Realitätsmodell, indem er die Aspekte seiner Erfahrung, die ihm bedeutsam erscheinen hervorhebt und andere wegläßt. Wer Systeme macht, muß zahllose Lücken durch eigene Erfindung ausfüllen, weil es unmöglich ist,  alle  Aspekte der Wirklichkeit lückenlos beweisen zu wollen. Ein solches Unternehmen ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Der Beweis müßte nämlich immer genau für das logisch nicht erfaßbare, irrationale Minimum geführt werden und nicht, wie das auf seinen Vorteil bedachte Vorurteil annimmt, für das Maximum. Für eine induktiv-verallgemeinernde Beweisführung gibt es deshalb keine tragbare Rechtfertigung. "Einen Zwang, nach dem Eines geschehen müßte, weil etwas anderes geschehen ist, gibt es nicht. Es gibt nur eine  logische  Notwendigkeit." 16)

Gesetze können nur postuliert, aber nicht hinreichend begründet werden. Es liegt in der Definition eines Naturgesetzes, allgemeingültig zu sein, denn erst, wenn wir eine Regel gefunden haben, die das Geschehen ganz und ausnahmslos beschreibt, nennen wir diese Regel Naturgesetz. Beschrieben wird aber immer nur ein Modell, nie der wirkliche Vorgang. Aus jedem Naturgesetz könnten unendlich viele Konsequenzen gezogen werden, entsprechend dem jeweiligen Wertinteresse. "Das alte Wissenschaftsideal des absolut gesicherten Wissens hat sich als Idol erwiesen." 17)

Systematisiertes Wissen erweckt den Anschein der Lückenlosigkeit. Es dient der Vertretung nach außen, um die Brauchbarkeit und Verwertung des Wissens darzustellen. Wer ein  sicheres  Wissen propagiert, verfolgt immer subjektive Zwecke. Um praktisches Wissen zu rechtfertigen, wird sicheres Wissen vorgetäuscht. Weil kein System in sich abgeschlossen ist, haften alle Systeme an gewissen Voraussetzungen, die sich bestreiten lassen. Es kommt immer darauf an, welchen Ausgangspunkt wir haben und zu welcher Setzung wir gelangen. Der Ausgangspunkt ist immer das Problem. In der Setzung des Gegenstandes sind Geltung und Norm notwendig mitgesetzt. Was logisch gesetzt wird,  soll  gelten. Prämisse das heißt: Wertsetzung. Jeder schlüssige Schluß beruth auf der Sicherheit der Prämissen, auf der Subordination eines Satzes unter einen anderen. Innerhalb eines geschlossenen Systems ist er  zwingend,  als Auszug aus diesen Sätzen. Darüberhinaus hat er wenig Aussagekraft.

Die Setzung des Prinzips entscheidet das System von Anfang bis Ende. "Jede logische und rationale Abfolge ist an Prämissen, an erste Sätze gebunden, und in ihnen ist bereits alles, was wir enthüllen können wie im Saatkorn die zukünftige Pflanze, eingeschlossen." 18) Der Erkenntniswert eines Urteils hängt immer von den Prämissen ab. Entscheidungen über Basissätze sind aber nie durch innere Erlebnisse  begründet,  sondern logisch betrachtet eine willkürliche Festsetzung. Kein wissenschaftlicher Satz ist wirklich beweisbar, denn die Ableitbarkeit aus einem unbewiesenen Satz ist kein Beweis. "Wenn die Anfangssätze nicht bewiesen sind, so sind es auch die Schlußsätze nicht." 19)

Normen und Werte bilden den Ausgangspunkt des Denkens. Die praktische Anwendung der Logik ist letztlich immer von unserem Willen abhängig. Um den Wert der Logik burteilen zu können, bedarf es immer einer Entscheidung für bestimmte Normen. Das Werturteil liegt bereits darin, daß wir die Logik überhaupt anwenden und die Geschehnisse z.B nicht einfach betrachtend auf uns wirken lassen. Wir müssen immer entscheiden, ob die abstrakten Denkformen passen oder nicht. Verallgemeinerung des Wissens bringt stets ein Verwischen der Unterschiede mit sich und so werden viele Probleme einfach deshalb übersehen, weil Verallgemeinerungen in Form von festgefügten Begriffsstrukturen und Abstraktionen ein erneutes Durchdenken nicht mehr zulassen. Die Zusammenstellung des Wissens zu einem System hemmt deshalb den weiteren Fortschritt. "Vollständigkeit ist der Tod der Wissenschaft." 20) Die von einer etablierten Haltung beherrschten Denkweisen können es sich nicht erlauben, ständig an neue Ergebnisse angepasst zu werden. Ein Wissen, das dagegen lebendigen  Tatsachen  Rechnung tragen will, muß sich stets einen experimentellen Charakter bewahren.

System heißt Zusammenfügung. Die Logik ist immer eine Frage des Systems, nicht des Problems. Die Problemkonsequenz wird gewöhnlich zugunsten der Systemkonsequenz abgebrochen. Unterschiedsprinzipien widersprechen den Nutzenprinzipien. Das Nutzenprinzip ist ein Maximierungsprinzip. Alle Systematisierungsfragen sind Zweckmäßigkeitsfragen. "Zweckbewußtsein und Weltendlichkeit fordern einander. ... Zweckbewußtsein und Geradlinigkeit fordern einander. ... Zweckbewußtsein und Dinglichkeit fordern einander. ... Zweckbewußtsein und Gesetzlichkeit fordern einander. ... Zweckbewußtsein und Ursachglaube fordern einander. ... Zweckbewußtsein und Zählbarkeit fordern einander." 21)

Die Systematik der Wissenschaft besteht in systematischer Abstraktion. Zu verallgemeinern heißt ein System zu schaffen.  Wissenschaft  ist jedoch kein System von Wissen, sondern ein System von Hypothesen. Logik ist immer Spekulation. Die Wahrheit bleibt ein Problem. Objektive Zusammenhänge werden lediglich vereinbart, um daraus praktische Absichten legitimieren zu können.  Entspricht den Tatsachen  ist nur eine Redewendung. Jede Anerkennung eines Naturgesetzes ist stark durch Gründe der Einfachheit und Zweckmäßigkeit bestimmt. Naturgesetze sagen nicht was  ist,  sondern was sein  soll  unter diesen oder jenen Bedingungen. Eine objektive Ursache ist ein bloßer Gedankenbetrug. Im systematischen Denken wird alles aus einem Prinzip abgeleitet. Es besteht die Tendenz auf die Totalität der Prinzipien hin. Jede Systematik enthält aber notgedrungen immer schon ein erhebliches Maß an  Unwissen,  das uns im Grunde den weiteren Weg der Erkenntnis verstellt, ohne daß das besonders offensichtich würde. Es ist aber ein großer Fehler, wenn wir die Naturgesetze mit universalen Prinzipien gleichsetzen.

Wir müssen die  Tatsachen  als das begreifen, was sie sind: produzierte. Probleme der Wirklichkeit werden nie durch Beweise, sondern durch subjektive Entschlüsse gelöst. Wir empfinden das Bedürfnis nach einem zusammenhängenden, systematischen Wissen und das Verlangen nach der Gewißheit eines allgemeinen Prinzips, durch das sich das Vielfältige der Erscheinungen erklären läßt.  Methode  heißt für den klassischen Wissenschaftler nichts anderes, als Problemlösungen in objektiver, d.h. in einer abstrakten Form zu geben. Das Realitätsprinzip funktioniert zu diesem Zweck als Nützlichkeits-, Leistungs- oder Sicherheitsprinzip. Das Bedürfnis nach Rationalität ist im Grunde ein Bedürfnis nach Rechtfertigung. Hierfür werden meist Unklarheiten und Unsicherheiten verschwiegen. Es ist das alte Bestreben, die bloße Tatsächlichkeit in eine Denknotwendigkeit zu verwandeln. Alle Begründungen sind spekulativ und auf subjektive Interessen bezogen. Die Logik dient den Absichten. Sie wird gewöhnlich gebeugt, wenn Interessen mit im Spiel sind.

Die Erkenntnis von Tatsachen ist von der Wertsetzung nicht zu trennen. Wir müssen die  Tatsachen  immer auch beurteilen und treffen diese Entscheidung nach gewissen Normen, Zwecken oder Vorlieben. Alle Tatsachen lassen sich auf Zwecke zurückführen. Aus der praktischen Wirksamkeit ist aber auf keine theoretische Richtigkeit zu schließen. Daß mir etwas nützt oder von Vorteil ist, ist keine objektive Begründung. Alle Kategorisierungsschemata sind mehr oder weniger beliebig, d.h. letztendlich immer auf individuell verschiedene, subjektive Interessen zurückzuführen. "Welche Eigenschaften eines Begriffs ich am besten zu seiner Definition benütze, hängt nur von Zweckmäßigkeitsgründen ab." 22) Wir geben in einer bestimmten Situation einem speziellen Interesse den Vorzug und lenken unsere Aufmerksamkeit dementsprechend. Zwischen einer Begründung und einer Beschlußfassung besteht aber ein logisch grundlegender Unterschied. "Es gibt nicht eine Weise des Denkens und Urteilens für das  Setzen  von Existenzen und eine andere für die  Bewertung."  23) Wertfreiheit und Objektivität der Wahrnehmung zu postulieren, ist selbst schon ein Werturteil. Werturteile sind aber eine Sache des Glaubens und entziehen sich der wissenschaftlichen Berechnung.

Die  Tatsache  ist der positivistische Grundbegriff. Jede Tatsache ist im Grunde jedoch nur eine Annahme. Tatsachen beschreiben Wirkungen, keine Ursachen. Mit der Wirklichkeit haben sie nur wenig zu tun. Gesetzmäßigkeit der Natur ist ein Mythos, der von Menschen in die Natur hineingelegt wird.

"Wir müssen (deshalb) vom Positivismus der Naturwissenschaften lösen, da alles Beobachtbare und Meßbare, bringt man den Menschen ins Blickfeld, nur repräsentativen, nicht elementaren Bedeutungswert hat. Eine solche Naturwissenschaft ist nicht realistisch, nicht einmal relativistisch, sondern nur noch symbolistisch." 24)
Alle Probleme sind Probleme in Bezug auf eine  gesetzte  Ordnung. Die Frage der menschlichen Zwecksetzung hat aber nichts mit den Notwendigkeiten des physischen Geschehens gemein. Deshalb ist es vernünftiger, sich über  Zwecke  zu streiten, die jemand verfolgt, als über die Objektivität, bzw. Rationalität und Logik der  Dinge-ansich.  Ein solcher Streit bleibt immer unfruchtbar und unbefriedigend, weil bewiesen werden soll, was nicht bewiesen werden kann.
"Einen vernünftigen, argumentierenden Meinungsstreit kann es nur zwischen denen geben, die denselben Zweck verfolgen; die Wahl eines Zwecks aber ist allein Sache des Entschlusses, über den es einen Streit mit Argumenten nicht geben kann." 25)
Am Ende entscheiden immer außertheoretische Interessen. Wissen wird als Antwort auf Fragen produziert. Jede formulierte Problemstellung enthält aber bereits die Hälfte ihrer Lösung, weil Form und Theorie einer Frage bereits einer Theorie entsprungen sind. Jede Fragestellung ist von ihren sprachlichen Bedingungen abhängig. "Einer Frage entspricht immer eine Methode." 26) Fragen lenken die Aufmerksamkeit im Interesse des Fragers in eine ganz bestimmte Richtung. Wie etwas gesucht wird, drückt aus, was jemand erwartet. Die Art einer Frage bestimmt die Art der Antwort. "Sage mir  wie  du suchst, und ich werde dir sagen,  was  du suchst." 27) Die meisten Fragen sind deshalb zugleich Manipulationen. Es sollte deshalb weniger nach Antworten gesucht werden, als danach, wie die  richtigen  Fragen zu formulieren sind.
"Erst müssen Fragen da sein, dann können Antworten gegeben werden. Fragen sind stets Ausdruck unseres Interesses an der Welt. Sie sind im Grunde Wertungen. Wertungen sind also mit Notwendigkeit schon dann im Spiel, wenn wir noch Tatsachen beobachten und theoretische Analyse betreiben, und nicht erst im Stadium, in dem wir (politische) Folgerungen aus den Tatsachen ableiten und Wertungen vornehmen." 28)
Alles Denken ist Denken von Bedeutungen und nicht von objektiven Gegebenheiten. Es ist immer das  Meinen,  das einem Satz Sinn gibt und dieses Meinen ist etwas im seelischen Bereich. Alle Gefühle sind aber nur, was sie uns bedeuten. Die Beschäftigung mit dem Unbewußten sollte uns deshlab immer mißtrauisch machen gegen scheinbar offen zutage liegende  objektive Bedeutungen  von Worten.
"Diejenigen Wertungen und Überzeugungen, die als Motive für bestimmte Handlungen oder Unterlassungen angeführt werden, werden in Hinsicht auf ihre Zweckdienlichkeit für die jeweilige Gelegenheit ausgewählt. Es sind mehr die  guten,   denn die  wirklichen  Gründe, kurz, es handelt sich immer um Rationalisierungen." 29)
Es besteht kaum eine Möglichkeit herauszufinden, was tatsächlich richtig ist, unabhängig vom Zustand unserer Gefühle.

Nur aus einer subjektiven Erfahrung heraus können wir Bedeutungen gewinnen, nicht auf logischem Wege. Das abstrakte Denken  ansich  hat keinen konkreten Bezug zur Wirklichkeit und ist deshalb sinnlos. Die Logik kann zwar allgemeine Typen beschreiben, aber niemals einzelne, individuelle Zwecksetzungen. Das Bedeutende ist qualitativ, gedacht wird aber in quantitativen Einheiten. Jede Qualität ist sinnlich und psychischer Natur. Die Quantität dagegen ist ein den qualitativen Inhalten gegenüber gleichgültige Konzeption. Die Qualitäten der Dinge sind bloße Zustände des empfindenden Subjekts. Qualität existiert nicht im Objekt. Was qualitativ ist, muß subjektiv sein. Die psychischen Erlebnisse müssen deshalb als primär für die Erkenntnistheorie gelten.

Kein Mensch sieht die Welt mit unbefangenen Augen. Schon die bloße Auswahl dessen, worüber wir uns informieren, ist subjektiv. Es ist unmöglich den Tatsachengehalt auch nur einer begrenzten Situation  völlig  auszuschöpfen. Es müssen immer Aspekte unberücksichtigt bleiben. Es läßt sich gar nicht vermeiden, daß wir viele Dinge ignorieren, bewußt oder unbewußt.
"Bei jeder Untersuchung und Erweiterung des Wissens sind wir in eine Handlung verwickelt; bei jeder Handlung in eine Wahl und bei jeder Wahl in einen Verlust, den Verlust dessen, was wir nicht getan haben. Wir finden das in den einfachsten Situationen vor. Wir finden es im Wahrnehmungsvermögen, wo die Möglichkeit wahrzunehmen gebunden ist an die Ignorierung vieler Dinge, die gleichzeitig vor sich gehen. Wir finden es auch in der Sprache, wo die Möglichkeit verstehbaren Sprechens nur gegeben ist, wenn man vieles in der Luft, unter den Tonwellen oder ganz allgemein in der Umgebung Vorhandene nicht beachtet. Sinnerfülltheit ist nur dadurch zu erreichen, daß man Dinge außer acht läßt." 30)
Jedes Urteil ist von einem subjektiven Gesichtskreis aus bestimmt. Alle Dinge besitzen nur in Bezug auf einen Bewußtseinszustand einen Wert für uns. Schon in der Wahrnehmung operieren wir mit einer Wertorientierung als nützliche oder praktische Perspektive. Ein objektiver Wert ist ein Unding und im Grunde wertlos. Wirklichkeit gliedert sich für uns nach Wesentlichem und Unwesentlichem. Würden alle Tatsachen für uns von gleichgroßer Bedeutung sein, dann wären wir intellektuell überfordert oder müßten gleichgültig werden.

Die  Wert beziehung ist das Kriterium um aus der Fülle individueller Tatsachen wesentliche und unwesentliche zu unterscheiden. Interessant erscheint uns etwas, das mit unseren Wertvorstellungen in Verbindung steht.  Wertvoll  ist, was uns nicht  gleichgültig  ist, sondern wofür wir ein gewisses Interesse besitzen. Wo alles gleichermaßen wissenswert ist, ist auch alles gleichermaßen bedeutungslos.

"Wo wir etwas suchen, tun wir es deswegen, weil das Gesuchte für uns einen  Wert  besitzt. Das völlig Wertfreie zu suchen, kann niemandem einfallen. Das läßt uns  gleichgültig,  wir  kümmern  uns nicht darum." 31)
Es gibt nichts auf der Welt, das nur wahrgenommen und nicht gleichzeitig auch empfunden und erlebt wird. Aber erst, wenn wir uns der Empfindung in Bezug auf unser Denken bewußt werden, kann etwas von Wert für uns entstehen. Wertvorstellungen sind bewußte Relationen zu unseren Sinnesempfindungen und definieren sich aus der Beziehung zu diesen.

Wirklichkeit bezieht sich darum mehr auf die Meinungen und Sinn und Wert, der den sogenannten Tatsachen zugeschrieben wird, als auf wirkliche Tatsachen. Der Wert ist kein Produkt des gegenständlichen Denkens. Werte können nur von psychischen Wesen gewertet werden.  Werte  sind keine Eigenschaften der Dinge, sondern Erlebnisqualitäten. Dem Wert entspricht nichts in der raum-zeitlichen Wirklichkeit Gegebenes. Kein Wert ist in der Wirklichkeit  ansich  vorhanden. Wert und Unwert kommen immer vom Betrachter her und nicht von den Dingen selbst. Alle Wahrnehmungen sind durch eine bestimmte Stimmungslage bedingt und mehr oder weniger durchsetzt mit Werturteilen. "Das  Sein  eines jeden geistigen Dinges besteht in seiner Bedeutsamkeit." 32)

Die Vorstellung von einer wertfreien und  reinen  Wissenschaft ist ein utopisches Ideal. Unsere ganzen Erkenntnisse sind immer auch eine Weltanschauung und nicht bloß ein Wissensgebäude. Fakten brauchen gar nicht erst zur Ideologie verfälscht werden. Es gibt gar keine Tatsache, die nicht schon von vornherein verallgemeinert, d.h. ideologisch wäre. "Tatsachen enthalten Universalien, und wo Universalien gelten, liegt immer gesetzmäßiges Verhalten vor." 33) Der Empirismus dagegen meint, er kommt ohne abstrakte Konstruktionen aus und handelt vom Konkreten. Aus dem unmittelbaren Erleben aber läßt sich logisch zwingend kein abstraktes Gesetz ableiten. Die Naturgesetze sind normativ. Die Einführung von Normen geht immer auf Menschen zurück. Es gibt kein Wissen, hinter dem nicht ein Zweck steht. Im rationalen Denken werden lediglich Begründungen geschaffen, die unsere Zwecke rechtfertigen sollen.

Wissenschaftler werden in der Auswahl ihrer Probleme, in ihrer Herangehensweise und in der Anwendung ihrer Entdeckungen immer von Überlegungen hinsichtlich einer Bedeutung für ihre Wertvorstellungen beeinflußt. Es gibt keinen Gedanken, der nicht gleichzeitig so etwas wie einen Sinn mittransportiert. Es gibt kein Denken, in dem nicht auch ein Wertempfinden wäre. Der Begriff eines gefühlsfreien Denkens hat überhaupt keinen Sinn. Kein Mensch kann wirklich objektiv sein. Es gibt keine reine Erfahrung, genausowenig wie es ein reines Denken gibt. Es ist nie genau zu sagen, wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt. Unser Verstand wird nur allzuleicht von Nachlässigkeit, Denkfaulheit, Leichtsinnigkeit und Voreiligkeit, aber auch von absichtlicher Täuschung, von Parteilichkeit oder intellektuellem Imponiergehabe beeinflußt. "Was Eigeninteresse, Ehrgeiz, Machtbedürfnis, Eitelkeit bei entscheidenden Handlungen mitwirken, läßt sich nur in mäßigem Umfang feststellen." 34)

Tatsachen können nie klar und deutlich von Werten unterschieden werden. Es gibt kein sicheres Wissen - nur Deutung, bzw. Be-deutung. Jede Setzung fordert Anerkennung, d.h. Rechtfertigung. Wo es uns nicht mehr möglich ist, uns auf eine Objektivität der Setzung zu berufen, da sind wir gezwungen, unsere Annahmen  moralisch  zu rechtfertigen. Logische Ableitungen müssen immer auch als Teil einer ethischen Argumentation betrachtet werden. Objektivität und Wertfreiheit sind selbst Werte. Die Aufstellung eines Objektivitätspostulats ist schon eine ethische Entscheidung und nicht das Ergebnis von Erkenntnis. Die geläufige Terminologie ist bereits ideologisch. Alle unsere Begriffe sind wertgeladen, d.h. ideal.  Werte  sind im Grunde die eigentlichen Kategorien, mit denen wir die Welt denken, betrachten und erfahren. Alle objektiven Erkenntnisse sind lediglich subjektive Interpretationen. Praktische Aussagen über  Nützlichkeit,   Wirtschaftlichkeit  etc. sind bereits abgeleitete Werturteile.

Jede Wirklichkeit ist eine Wirklichkeit für besondere Interessen. Wir  wissen  nicht nur, sondern beziehen auch immer irgendwie Stellung. "Ein rein formales Subjekt, das in keiner Weise Stellung nimmt, wäre noch kein  erkennendes  Subjekt." 35) Eine wertfreie Wissenschaft wäre auch eine wertleere Wissenschaft. In der Stellungnahme verbinden sich Wert und Wirklichkeit. Ohne alle Emotion ist weder Politik, noch Wissenschaft möglich. Eine objektive Wirklichkeit gibt es genausowenig wie einen objektiven Menschen. Ein objektiver Mensch hätte keine Persönlichkeit. "Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivier- und Registrierapparate mit kaltgestellten Eingeweiden." 36)

Sie sogenannten Tatsachen dienen im Grunde als Begründungen. Durch bloße Tatsachen wird aber nichts gerechtfertigt. Fakten schaffen kein Recht. Eine Entdeckung allein gibt keine zwingende Begründung ab. Objektive Tatsachen sollen uns lediglich glauben machen, eine über die Tatsächlichkeit hinausgehende Rechtfertigung wäre nicht notwendig Das Problem der Erkenntnis heißt deshalb  Begründung.  Begründung ist die Aufdeckung von Grund und Folge. Grund und Folge jedoch bilden einen unauflöslichen Zusammenhang, der nur der Beschaffenheit unseres menschlichen Erkenntnisapparates gemäß auseinandergehalten wird. Kausalität beruth auf subjektiven Erfahrungen, die logisch nicht legitimierbar sind. Kein abstraktes Gesetz bezieht sich auf seelische Tatsachen. Für die psychischen Erscheinungen gibt es keine objektiven Maßeinheiten.

Es ist ziemlich sinnlos, das Leben eines Menschen naturgesetzlich aufzufassen. Die Seele hat immer mehr Gründe, als sich der Verstand denken läßt. Die Seele ist nicht logisch. Daß ein Mensch eine Seele hat, heißt nichts anderes, als daß er im Grunde keine logischen Ursachen hat. Die wirklichen Beweggründe eines Menschen sind letztlich nie objektiv logisch. Motivationen sind immer schwer zu belegen. Wo aus einer individuellen Existenz heraus eine Entscheidung getroffen wird, ist diese in den wenigsten Fällen auf andere übertragbar. Was dem einen bedeutungslos und nebensächlich erscheint, kann für den anderen von großer Bedeutung sein. Die wirkliche Motivation eines Menschen zu ergründen ist schon für den Betroffenen selbst sehr schwer, ganz zu schweigen für einen Außenstehenden. Alle Versuche, logische Sätze aus psychologischen Tatsachen abzuleiten, müssen notwendigerweise scheitern.

Das Problem der Unterscheidung zwischen Werturteil und Tatsachenfeststellung ist objektiv-rational nicht lösbar. Es ist ein psycho-physisches und besteht in der Frage nach dem Verhältnis von Körperlichem und Psychischem. Logische Fragen müßten immer strikt von psychologischen getrennt werden, aber das ist nicht möglich. Bei allen Bemühungen, das Psychische nach der Art physischer Vorgänge zu erklären, geschieht eine substanzialisierende Fälschung, bei der der eigentliche Gegenstand verloren geht. Werte dagegen  sind  nicht, sie  gelten.  Bei Werten ist es Unsinn zu fragen, ob sie wirklich sind, sondern es muß gefragt werden, ob und warum sie gelten.

Geltung ist eine Frage der  Entscheidung,  d.h. des Wollens und nicht der Tatsachen. In der Geltung liegt die Wurzel des Wertbegriffs. Geltung hat immer praktischen Charakter, weil wir von Geltung immer nur in einer konkreten Situation sprechen können. Daß Werte  ansich  gelten hat gar keinen Sinn. Der Wert ist die Bedeutung für das Subjekt. Inhalt und Bedeutung gehen nicht von außen auf mich über, sondern entstehen erst in mir. Was mir ohne Bedeutung ist, kann für mich auch nicht wirklich sein. Etwas Wertvolles dagegen ist mir unter allen Umständen ein Reales.
LITERATUR, Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    16) LUDWIG WITTGENSTEIN, Tractatus-Logico-Philosophicus, Ffm 1980, Seite 11
    17) KARL R. POPPER, Logik der Forschung, Tübingen 1989, Seite 225
    18) BLAISE PASCAL, Pensées - Über die Religion, Heidelberg 1978, Seite 484
    19) KARL R. POPPER, Logik der Forschung, Tübingen 1989, Seite 450
    20) WILAMOWITZ-MÖLLENDORF ohne Quelle
    21) LUDWIG KLAGES, Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn 1981, Seite 471
    22) MORITZ SCHLICK, Allgemeine Erkenntnislehre, Ffm 1979, Seite 65
    23) EMILE DURKHEIM, Soziologie und Philosophie, Ffm 1985, Seite 155
    24) VIKTOR VON WEIZSÄCKER, Natur und Geist, München 1977, Seite 95
    25) KARL R. POPPER, Logik der Forschung, Tübingen 1989, Seite 12
    26) LUDWIG WITTGENSTEIN, Philosophische Bemerkungen, Ffm 1981, Seite 14
    27) LUDWIG WITTGENSTEIN, Philosophische Bemerkungen, Ffm 1981, Seite 67
    28) GUNNAR MYRDAL, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, Leipzig 1932, Seite IX
    29) GUNNAR MYRDAL, Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Bonn-Bad Godesberg 1975, Seite 100
    30) J. ROBERT OPPENHEIMER in HELMUT KREUZER (Hrsg), Die zwei Kulturen, München 1987, Seite 161
    31) HEINRICH RICKERT, Grundprobleme der Philosophie, Tübingen 1934, Seite 86
    32) KARL MANNHEIM, Konservatismus, Ffm 1984, Seite 119
    33) KARL R. POPPER, Logik der Forschung, Tübingen 1989, Seite 378
    34) WILHELM DILTHEY, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Ffm 1981, Seite 321
    35) HEINRICH RICKERT, Grundprobleme der Philosophie, Tübingen 1934, Seite 117
    36) FRIEDRICH NIETZSCHE, Werke II, Hrsg. KARL SCHLECHTA, Frankfurt/Berlin/Wien 1984, Seite 286