ra-2ra-1E. FrankL. MeyerW. JamesTh. ZieglerR. A. Lipsius    
 
ERICH ADICKES
Wissen und Glauben

"Der Laie wird sich nicht leicht von der Vorstellung trennen können, daß die Körper draußen im Raum von uns unabhängige Dinge sind und so, wie wir sie vor uns sehen, in Wirklichkeit existieren. Jedoch ein Durchdenken der Tatsache, daß Farben und Töne, Weiche, Härte, Rauheit, Geruch und Geschmack nicht in den Objekten, sondern nur in unseren Sinnen sind, dürfte ihn in andere Bahnen leiten. Er wird zugeben müssen, daß die Dinge im Raum um uns herum von uns abhängig sind, unsere Schöpfungen, die wir in den Raum hineinprojizieren, daß wir es also sind, welche die leuchtende und tönende Welt rings herum schaffen. Die Welt ist unsere Vorstellung."

"David Hume, und nach ihm viele andere, haben es unwidersprechlich gezeigt, daß wir aus unserem Bewußtsein nicht herauskönnen, daß keine im strengsten Sinne gültige Denkoperation von einer Vorstellung zum Grund der Vorstellung überleitet, welcher keine Vorstellung mehr ist. Der Schluß von einer Wirkung auf ihre Ursache ist nur dann erlaubt, wenn feststeht, daß die Wirkung nur aus einer ganz bestimmten Ursache hervorgehen kann. Die Vorstellungen in uns können aber aus den verschiedensten Ursachen entspringen. A priori kann man darüber gar nichts aussagen. Im Gegenteil, es lassen sich verschiedene Möglichkeiten denken, von denen keine an einem inneren Widerspruch leidet."

"Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen", sagt KANT. Und FICHTE setzt hinzu: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist." Gegenüber den Ansprüche der Einzelwissenschaften proklamieren diese beiden Worte das Recht des persönlichen Glaubens auf die Weltanschauung.

Doch von der Gegenseite her tönt die Stimme des Zweiflers: "Ich  brauche  keinen Glauben. Aller Glaube ist Jllusion. Ich will nur Wissen. Jenseits desselben ist leerer Raum; nicht nur für mich, sondern überhaupt."

Aber, würde ihm geantwortet werden, gerade indem Du dies sagst, legst Du einen Beweis Deines Glaubens ab. Du glaubst Deinen Unglauben, welcher dem Glauben die Existenzberechtigung abstreitet, Und weiter! Sollte es dabei sein Bewenden haben? Ist nicht auch Dein vermeintliches Wissen oft nur ein Glauben? Sicher. Oder solltest Du nicht bisweilen von einer Weltentwicklung irgendwelcher Art träumen, sei der Traum noch so seltsam und abweichend von den Träumen Deiner Umgebung? Und wenn das nicht, wenigsten von einem Fortschritt der  Menschheit,  zu einem bestimmten Ziel hin? Solltest Du nicht von diesem Ziel der Zukunft aus die Vergangenheit beurteilen, ihre Epochen und Ereignisse werten? Wer setzt aber dieses Ziel, wenn nicht Dein Glaube? Keine Erfahrung zeigt es. Was uns persönlich das Große, das Hohe, das Gute ist, das machen wir zum Ziel der Entwicklung, das erhoffen wir von der Geschichte, ja! das meinen wir schließlich aus ihr herauszulesen. Und wie in der Vergangenheit, so in der Gegenwart. Auch hier beurteilen wir den Wert der Handlungen, Ereignisse, Parteiungen, durch welche die Geschichte der ganzen Gattung oder auch nur eines Volkes oder Volksteiles beeinflußt wird, nach jenem Ideal; auch hier werden wir im letzen Grund nicht von unserem  Wissen,  sondern von unserem individuellen Fühlen und Wollen, von unserem  Glauben  geleitet.

Ist es unter solchen Umständen irgendeinem Menschen möglich, sich vom Einfluß dieser subjektiven Faktoren völlig zu befreien und mit seinem Wissen auszukommen? Oder muß der Glaube als eine berechtigte Macht im Menschenleben anerkannt werden? Um die Frage zu beantworten, müssen wir feststellen: was ist Wissen? was ist Glauben? Zunächst aber möge die große Lehrmeisterin Geschichte über den bisherigen Verlauf des Kampfes zwischen Wissen und Glauben, soweit er sich innerhalb der abendländischen Welt abspielte, in großen Zügen berichten.


I.

Solange der phantasie-entsprossene religiöse Mythos alleiniger Gebieter ist, herrscht tiefer Friede. Im Mythos glauben die Menschen ein Wissen zu besitzen. Mit seinen erträumten Göttern gehen sie um fast wie mit Ihresgleichen. In Opposition dazu entsteht die Metaphysik. An die Stelle der frei gestaltenden Dichtungskraft tritt die vernünftige Überlegung. Die zufälligen Assoziationen, unwillkürlich sich aufdrängend, verlieren an Bedeutung. Phantastische, wirklichkeitsfremde Gedankenbildungen werden seltener. In demselben Maße wächst das Bedürfnis, den einzelnen Kausalzusammenhängen der  Erfahrung  nachzugehen, um von dieser Grundlage aus auch das  über die Erfahrung Hinausliegende  kühn zu erfassen. Der Mythos sinkt für die Metaphysik - deutet sie ihn nicht symbolisieren um - zum unbegründeten Glauben, zum Aberglauben herab.

Sie selbst tritt in dogmatischem Gewand auf. Stolz auf ihre vermeintlichen transzendenten Entdeckungen, stolz vor allem auf unbestreitbare Errungenschaften innerhalb des Erfahrungsgebietes, glaubt sie an die Stelle des bisherigen Falschen "das Wahre" setzen zu können: ein sicheres, streng beweisbares Wissen.

Doch nie gab es  "die  einige allgemeine Metaphysik", nie wird es sie geben. Dogmatischen Ansichten treten abweichende Lehren entgegen, in ebenso dogmatischem Gewand, mit demselben Anspruch auf Beweisbarkeit. das Trugbild der Einheit - scheinbar ein Vorrecht der Metaphysik gegenüber dem vielgestaltigen Mythos - zergeht, kaum daß es entstanden war.

Etwas Neues wird. Der Skeptiker tritt auf. Zum ersten Mal wird auf die Grenzen menschlichen Erkennens hingewiesen. Früher unbedingtes Zutrauen zu den Erkenntniskräften - jetzt Zweifel bis zum unbegrenzten Mißtrauen. Wenn zwei Ansichten sich diametral gegenüberstehen, beide mit dem Anspruch auf völlige Sicherheit. Beide streng apodktisch erwiesen: so werden (schließt man) beide falsch sein, und die Vernunft, welche beiden ihren Stempel aufdrücken konnte, ist des Vertrauens nicht würdig, welches man in sie setzte. Überträgt der Skeptiker dieses Mißtrauen gegen die  Vernunft  auf ihre transzendenten  Erkenntnisobjekt,  leugnet er mit anderen Worten das Vorhandensein jenes Etwas, welches die Metaphysiker, der eine abweichend vom andern, zu bestimmen suchten: so fällt er in den Dogmatismus zurück. Wendet er aber die Skepsis auch gegen sich selbst, so wird er zum Agnostiker. Als solcher wird er dem Metaphysiker das Transzendente preisgeben, als ein Gebiet, welches für die Wissenschaft nicht vorhanden ist, das aber der Glaube des Individuums nach Bedürfnis mit seinen Träumen erfüllen mag.

Die Zeiten wechseln. In neuen Formen erscheint der alte Streit. Die Verhältnisse sind jetzt mannigfaltiger; der Kämpfer, der Verwicklungen mehr. An die Stelle des religiösen Mythos tritt die geoffenbarte Religion. Ursprünglich rein auf Glauben gegründet, auf die persönliche Hingabe an den göttlichen oder gottgesendeten Stifter, wird sie der Menge alsbald zum Wissen von göttlichen und menschlichen Dingen - einem Wissen, welches durch Lehren und Lernen übertragbar ist und weit hinausreicht über das Gebiet des eigentlich Religiösen. Die Führer der Menge, die Verkündiger der geoffenbarten Religion sind Testamentsvollstrecker des Stifters, sollten der Entartung entgegentreten. Aber sie werden fortgerissen vom Zug der Zeit. Und noch ein besonderes Moment kommt bei ihnen hinzu. Aus der  Gemeinschaft  der Gläubigen, innerlich eins, ist eine Kirche, eine Religions gesellschaft  geworden, durch ein äußeres, staatliches Band zusammengehalten. Die Zeugen des Glaubens sind zugleich Regierende, Beamte in dieser Kirche. Durch ein innerliches Verhalten kann der Beweis der Zugehörigkeit zu ihr nicht mehr erbracht werden. Es bedarf dazu eines äußerlichen, weithin erkennbaren Zeichens, dem allgemeine Anerkennung gezollt werden muß. Auf subjektive Glaubensgründe fußen, heißt dem Belieben des Individuums Raum geben, zugleic aber auch die Grundvesten der Kirche und die Macht der Kirchenhäupter schwächen. So wird aus dem lebendigen Glauben ein totes System dogmatischer Formeln. Als Wissenssätze erlauben und erfordern sie strenge Beweise. Auch diese Aufgabe wird gelöst, von der Kirche gemeinsam mit der Metaphysik. Noch ist diese jener untertan. Aber die Jahre der Knechtschaft sind zugleich Zeiten der Selbstbesinnung. Unter den immer erneuten Versuchen, die Kirchenlehre als vernunftnotwendig zu erweisen, bilden sich die ersten Keime geistiger Mündigkeit und Freiheit. Freilich nur Keime! Das zunächst in die Augen fallende Resultat ist, daß die Religion ihren Charakter vollständig ändert. Früher Sache des Glaubens, auf persönlichen Erlebnissen beruhend, und daher ebenso persönlich eigenartig und vielgestaltig wie diese Erlebnisse selbst, ist sie jetzt (wenigstens offiziell) eine feste bestimmte, beweisbare, lehrbare Wissenschaft. Als in sich geschlossene Weltanschauung umfaßt sie Jenseits und Diesseits mit gleich eisernen Klammern. Sie öffnet und schließt die Tore des Fegefeuers. Dem Naturforscher ruft sie ihr "Bis hierher und nicht weiter!" zu. Sitte und Recht, gesellschaftliche und staatliche Zustände: Alles trägt ihren Stempel. Dieser höchste Punkt der Entwicklung wird jedoch nicht erreicht, ohne daß wiederholt gegen die Vermischung von Offenbarung und Vernunft, von Glauben und Wissen Einspruch erhoben und auf das alleinige Recht des  Glaubens  innerhalb des religiösen Gebietes bedeutungsvoll hingewiesen wäre.

Die Metaphysik befreit sich aus den Banden der Theologie und bringt aus ihrem Schoß die exakte Naturwissenschaft hervor. Zunächst wächst, wie dem Riesen ANTAIOS, der Metaphysik neue Kraft zu durch diese Berührung mit dem mütterlichen Boden der Erfahrung. Man entdeckt die Grundgesetze der Bewegung, durchforscht die Fernen des Himmels, den bloßen Sinnen unerreichbar. Kühne Deduktionen, aus reiner Vernunft scheinbar ersonnen, finden an der Erfahrung eine überraschende, glänzende Bestätigung. Was Wunder, daß man glaubt,  alles  mit der Vernunft erfassen zu können, Makrokosmos und Mikrokosmus; das Alleine: GOtt, und das Einfache: die Seele; das Walten des Göttlichen Geistes in Natur und Geschichte, wie den Zweck des Bösen; des Lebens Ursprung, wie das Ende aller Dinge, daß man meint, Poesie und jede Kunst wie ein Handwerk lehren und lernen zu können, daß man versucht, das "natürliche" Recht und die "natürliche" Gesellschaftsordnung, die wahre Sittlichkeit und die wahre Religion  a priori  zu deduzieren und in logische Formeln zwängen zu können.

Es entsteht das zweite große System der Wissenschaften, nicht minder umfassend als das erste, das kirchliche, und von ebenso einheitlichem Geist durchdrungen, bei aller Mannigfaltigkeit der Formen in den einzelnen Erscheinungen. Im kirchlichen System war einst die Offenbarung der Maßstab gewesen, an welchem die Vernunft gemessen wurde. Die Offenbarung hatte den Stoff gegeben; der Vernunft war nur die Aufgabe geblieben, seine Denknotwendigkeit zu erweisen. Der Glaube behauptete nicht nur Wissen zu sein; er hatte auch auf das Wissensgebiet übergegriffen und dort bestimmt,  was  wahr sei,  was  man wissen könne. Jetzt rächt sich das Wissen. Die Offenbarung wird vor das Forum der Vernunft geladen. Die Vernunft stutzt sie hier und da, beschränkt sie auf das angeblich Denknotwendige,  a priori  Beweisbare und stellt so  ihrerseits  den Inbegriff einer  möglichen  Offenbarung fest. Den  Akt  der Offenbarung entkleidet sie des Wunderbaren, Geheimnisvollen, und wenn sie ihn nicht überhaupt verwirft, erklärt sie ihn natürlich. Die einzige Bedeutung, die ihm gelassen wird, ist die historische. Offenbarung ist auf keinen Fall  absolut  nötig, höchstens  bedingter Weise.  Oder auch das nicht einmal, sondern nur wünschenswert und zweckmäßig aus raumzeitlichen Nützlichkeitsgründen. Nichts kann in ihr enthalten sein, was dem Denker des 18. Jahrhunderts nicht auch die eigene Vernunft als denknotwendig zu demonstrieren vermöchte. Das Wissen bemächtigt sich des Glaubensgebietes und will ein für allemal bestimmen, was auf demselben - nicht  geglaubt  werden  soll,  sondern -  gewußt  werden  muß. 

Weder vor noch nach den großen Tagen des Rationalismus hat es je eine profane Weltanschauung, durchgeführt in einem Gesamtsystem der Wissenschaften, gegeben von so allumfassendem Umfang, von so einheitlichem Charakter, mit so einfacher, stets gleicher Methode und darum: von so faszinierender Wirkung. Der Ariadnefaden schien gefunden, welcher durch das Labyrinth des Alls führt. Im Prinzip war nichts mehr der Vernunft unerreichbar; ein ewig verschlossenes Geheimnis blieb zurück, kein mystisches Dunkel, keine individuelle, eben darum aber auch unsichere und oft seltsame Glaubensüberzeugung. Alles nur klares, deutliches Wissen, sicher beweisbar, aus einander ableitbar. Die ganze Welt schien ein großes Rechenexempel zu sein, dessen Lösung zwar die verschiedenartigsten Operationen erforderte, schließlich aber durchaus nicht zweifelhaft war. Man verlor das Verständnis für das Wunder der Persönlichkeit, für den Zauber der Individualität. Den meisten Aufklärern geht die Auffassungskraft für das Wesen des Genies und der Kunst völlig ab.  L'homme machine:  das würde die allgemeine Parole des Rationalismus geworden sein, hätten nicht religiöse Interessen und mannigfache Gründe der Feigheit die meisten seiner Vertreter gehindert, sich zu ihr zu bekennen.

Die Vernunft war es, der man alles verdankte. Die Vernunft war es deshalb, die alles galt. Durch sie konnte man die Welt umspannen, vermöge ihrer den Himmel auf die Erde herabziehen. Keinen Augenblick konnte LEIBNIZ deshalb über das Wesen seiner Monaden im Zweifel bleiben. Vernunft, Erkenntnis, Vorstellung mußt das Primäre sein. Nie ist das Wissen, das Erkenntnisvermögen im Menschen so überschätzt, nie der Göttin Vernunft solcher Weihrauch gestreut worden. Wenn ihr in Paris ein Altar errichtet wurde, war das zwar nicht im Sinne der  Aufklärer;  die Tendenz der  Aufklärung  aber, als einer geschichtlichen Strömung, kam darin sehr gut zum Ausdruck.

Das große Werk des Rationalismus war ein Koloss auf tönernen Füßen. Die Reaktion bleibt nicht aus. Stürmisch verlangen die lange mißhandelten und unterdrückten Seiten der menschlichen Natur ihr Recht. ROUSSEAU weist auf die geheimnisvollen Tiefen der menschlichen Herzens, der Persönlichkeit hin. Das höchste Ziel war bisher Kultur, Zivilisation, Aufklärung. ROUSSEAU sieht darin nur Verfall. Nicht Verstandesgröße und Gelehrsamkeit erhebt nach ihm auf die Höhen der Menschheit, sondern die Tiefe des Gemüts, die Glut der Begeisterung, die Kraft des Glaubens an die Postulate des Gewissens, die sittliche Reinheit des Willens. HUME zerstört die natürliche Theologie des Deismus zugleich mit der ganzen bisherigen Metaphysik und scheint selbst der Wissenschaft ihre sicheren Grundlagen entziehen zu wollen. Von WINCKELMANN, LESSING und HERDER kommt Verständnis und Enthusiasmus für wahre Kunst. Die Stürmer und Dränger erheben sich. Genialität und Originalität ist ihr Feldgeschrei. So "absurd" ihr "Most sich auch gebärdet, er gibt zuletzt doch noch einen Wein." Aus Sturm und Drang gehen unsere Dichterheroen hervor.

Inmitten dieser Entwicklung bereitet sich in Königsberg in einer stillen Denkerklause die große Revolution der Philosophie vor. Der Name IMMANUEL KANT bezeichnet den letzten hohen Gipfel in der Geschichte des Rationalismus. Er bedeutet zugleich den Umschwung. In seinen Ansichten über Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit zählt KANT zum Rationalismus. Aus dem Drang, den letzteren zu retten, wenn auch auf beschränktem Gebiet, entspringt sein System. Alles wahre Wissen soll notwendig und allgemeingültig, eben darum aber nicht der Erfahrung entlehnt, sondern apriorisch sein. Ein solches Wissen kann es freilich von den Dingen, wie sie ansich sind, nicht geben, wohl aber von den Dingen dieser Welt, den Erscheinungen, die sich unseren Auffassungsformen anbequemen müssen. So entwirft KANT, ohne dadurch der empirischen Forschung der  einzelnen  Erfahrungstatsachen irgendwie Abbruch zu tun, eine Metaphysik der Natur und der Sitten mit apodiktischem Charakter. Er verkündet eine "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft",  scheinbar  ganz im Sinne der Aufklärungszeit. In  Wirklichkeit  aber doch nicht! Denn Grundlage der Religion ist jetzt die Sittlichkeit. Grundlage der Sittlichkeit zwar auch die Vernunft, aber nicht die theoretische, sondern die praktische, nicht der erkennende, sondern der fühlende, wollende und handelnde Mensch. KANT steht hier zu ROUSSEAU. Das Wissen wird entthront, der Glaube wieder in seine Rechte eingesetzt. Freilich noch nicht ganz. KANT wagt es nicht, die Konsequenzen aus der neuen Anschauungsweise zu ziehen. Ein bloß subjektiver, individueller Glaube bot nach seiner Ansicht für Moral und Religion keine zureichende Stütze. Es galt daher, dem Glauben das Persönliche, Individuelle (seine Hauptstärke!) zu nehmen und ihn wenigstens mit einem  Schein  von Allgemeingültigkeit zu umkleiden. Das hieß aber den Glauben wieder zum Wissen hinaufschrauben und in die alte, unfruchtbare Auffassung der Aufklärungszeit zurückfallen.

KANTs Erfolg, zumindest der Einfluß seiner Moral- und Religionsphilosophie, war ein beispielloser. Aber gerade dem, worin er auf religiösem Gebiet seine Größe suchte: der Entkleidung des Glaubens von allem Persönlichen und der Herstellung einer allgemeingültigen Grundlage für die Religion -  dem  kann die Geschichte nur eine ephemere [kurzzeitige - wp] Bedeutung beimessen. Die nächste Generation übereifriger Anhänger und unverständiger Schüler übertrieb KANTs Schwäche noch. Die "natürliche Religion" der Aufklärungszeit, kaum abgestorben, erlebte eine Auferstehung und kurze Nachblüte. Dieselben Sätze ungefähr früher und jetzt, dieselbe Übertragung des Wissens auf das Glaubensgebiet, dieselbe Plattheit und Nüchternheit: nur daß nicht mehr die theoretische, sondern die praktische Vernunft die Grundlage ist. Dieselbe Ware, nur ein anderer Name, ein anderes Aushängeschild.

Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Die Folgezeit hat die erneute Vermischung von Glauben und Wissen nach kaum begonnener Scheidung als Rückfall in alte Laster verworfen. Und wenn die moderne Theologie neben SCHLEIERMACHER KANT zu ihren Schöpfern zählt, so ist es  der  KANT, welcher zuerst auf die POSTULATE der praktischen Vernunft hinwies und in den  persönlichen  Hoffnungen, Wünschen, Bedürfnissen und inneren Erlebnissen des Menschen den Grund des religiösen Glaubes entdeckte, nicht  der  KANT, welcher diesen Glauben allgemein verbindlich und notwendig machen wollte, ihn dadurch zugleich zu einer neuen Abart des Wissens erniedrigend.

Der Königsberger Weise hatte über die Welt der Dinge-ansich ganz bestimmte theoretische Ansichten gehabt. Aber weil er ein Wissen über jenes Gebiet nicht für möglich hielt, hatte er diese Privatmeinungen und Glaubensüberzeugungen nie zusammenhängend entwickelt. Seine Nachfolger sind nicht so vorsichtig. Mit überkühner Hand greifen sie nach den fernsten Sternen. Das Absolute wollen sie mit ihrer Vernunft, als Geist von seinem Geiste, fassen. Sein Wesen  vor  aller Zeit, seine Entwicklung  in  der Zeit durch Natur und Geschichte hindurch soll in einem System apodiktischen [unumstößlich sicheren - wp] Wissens rekonstruiert werden. So erlebt, wie in der nachkantischen Religionsphilosophie die  Vernunftreligion  der Aufklärungszeit, in der nachkantischen Metaphysik der  Rationalismus  seine Auferstehung.

Aber während die natürliche Religion der Kantianer den alten Wein in die alten, notdürftig zusammengeflickten Schläuche füllt, bringt die Philosophie des Absoluten etwas Neues. Eine neue Kategorie wird entdeckt: das  Werden Der alte Rationalismus kannte in Religion und Sitte, Recht und Staat nur fertige Vernunftprinzipien, nur das absolute Sein der Norm, gemäß welcher alles Vorhandene gemessen und - verurteilt wurde. Jetzt lernt man die Bedeutung des Werdens, die relative Berechtigung früherer Formen begreifen. Dieses Verständnis für natürliche und geschichtliche  Entwicklung  ist die Morgengabe der Romantik bei ihrer Vermählung mit der Philosophie.

Und noch ein anderes führt sie im Gefolge, was dem alten Ratonalismus abging: Verständnis und Begeisterung für die Kunst, speziell für die Poesie. Die Romantiker sind die nachgeborenen Brüder der "Original- und Kraftgenies" im Kampf gegen das Banausentum der Aufklärungszeit.

Die Überschätzung des Wissens ist deshalb jetzt auch von ganz anderer Art als einst beim alten Rationalismus. Dort handelt es sich um einen Eingriff des Wissens in das Glaubensgebiet. Ersteres wollte bestimmen, was auf letzterem denknotwendig sei. Jetzt findet, wie früher im kirchlichem System der Wissenschaften, ein Eingriff des Glaubens in das Wissensgebiet statt. Das Ursprünglich Gegebene ist die persönliche Glaubensüberzeugung, die Weltanschauung der Philosophen. Sie hüllt sich in das Gewand der Wissenschaft, bis sie glaubt, selbst Wissen geworden zu sein. So umgestaltet und unkenntlich gemacht, beeinflußt sie die Einzelwissenschaften, deren einzige Grundlage die vorurteilslose Erforschung der Erfahrung sein muß. Naturwissenschaften wie Geisteswissenschaften, Entwicklungsgeschichte der Organismen wie die Geschichte der Menschheit sucht die absolute Philosophie unter ihre Herrschaft zu bringen und mit ihren apriorischen, eben darum aber auch willkürlichen Deduktionen und Konstruktionen zu durchsetzen.

Auch hier blieb die Rache nicht aus. Wie einst dem kirchlichen System vom Rationalismus Gleiches mit Gleichem vergolten wurde, so hier der Metaphysik von der Naturwissenschaft. Letztere begnügt sich nicht damit, die Metaphysik in die ihr gebührenden Schranken zurückzuweisen; sie wird, vor allem als materialistische Weltanschauung, aggressiv. Statt sich auf den Standpunkt des Agnostizismus zu stellen und die eigentlich metaphysischen Fragen, als für die strenge Wissenschaft nicht lösbar und darum auch nicht vorhanden, abzuweisen, eignet sie sich einen Teil des Glaubensgebietes an, um über ihn Wissenssätze aufzustellen; den anderen Teil erklärt sie für nicht vorhanden, weil sie die Irrealität der Gegenstände, um die es sich handelt, behauptet nachweisen zu können.

Seit den siebziger Jahren hat die aggressive Strömung in der Naturwissenschaft nachgelassen. Letztere hat einsehen gelernt, daß die Probleme leugnen nicht heißt: sie lösen. Der Materialismus, einst eine hochgehende Woge, ist verrauscht. Die wissenschaftliche Welt, mit wenigen Ausnahmen, rechnet nicht mehr mit ihm. Dafür ist er die Weltanschauung der Afterwissenschaft und der Halbbildung geworden. In der Metaphysik hat sich immer intensiver das Bedürfnis geltend gemacht auf  den  Philosophen zurückzugehen, der mit der Scheidung zwischen Glauben und Wissen begann, wenn er sie auch nicht vollendete, auf KANT und auf die Probleme, die er zwar nicht löste, aber doch formulierte.

Noch ist die Metaphysik (und mit ihr, als in gleicher Verdammnis befindlich: die Religion) in einer Verteidigungsstellung gegenüber den Einzelwissenschaften, vor allem gegenüber der Naturforschung. Oft noch steht in diesem Streit ihr Sein oder Nichtsein in Frage. Doch die metaphysikfreundliche Strömung ist im Wachsen. Wird sie soweit erstarken, daß Metaphysik oder Religion es noch einmal wagen können, das Geschick der Einzelnwissenschaften zu beeinflussen? Und wird dann ein neuer Rückschlag erfolgen und das alte Spiel von Neuem beginnen? Oder wird es gelingen, Glauben und Wissen endlich miteinander zu versöhnen? den beiden getrennte Gebiete anzuweisen?

Diese Fragen führen uns von der geschichtlichen zur philosophischen Betrachtung hinüber. Unsere Aufgabe ist jetzt, das Wesen des Glaubens und des Wissens zu untersuchen und die Grenzen des letzteren festzustellen.


II.

Was ist Glaube? Worin unterscheidet er sich vom Wissen? Beides sind Zustände des erkennenden Subjekts, die über objektive Verhältnisse außer ihm (sei es von Erscheinungen, sei es von Dingen-ansich) Auskunft geben wollen. Beide sind also zunächst etwas rein Subjektives, beanspruchen aber, in das Gebiet des Objektiven überzugreifen.

Der Unterschied besteht darin, daß Wissen Gültigkeit für jedermann in Anspruch nimmt, Glaube dagegen zunächst nur für den einzelnen Gläubigen gilt, dann aber auch für andere, die ähnlich organisiert sind wie er, und die deshalb von den Glaubensgründen ebenso affiziert werden. Wissen wird auf  Gründen  beruhen, die im Objekt liegen und daher jeden in gleicher Weise beeinflussen. Glaube muß sich dagegen auf Gründe zurückführen lassen, die  nicht im Objekt,  sondern im  Subjekt  liegen, die daher mit der Individualität wechseln; mit ihnen zugleich aber auch der Glaube.

So weit das Subjekt sich rein erkennend, theoretische, widerspiegelnd verhält, sprecen wir bei ihm von Verstand und Vernunft. In ihnen muß das Wissen als Abspiegeln des Objekts seine Quelle haben. Sie bearbeiten die Eindrücke der Sinnlichkeit, formen den Stoff der Empfindung und bringen so  Erkenntnisse,  d. h. geistige Rekonstruktionen der Wirklichkeit hervor. Wissen ist deshalb selbstlos und kalt. Von Neigungen und Wünschen darf es nicht beeinflußt sein. Es geht auf das Nicht-Ich, nicht auf das Ich.

Anders der Glaube! Seine Quelle kann nicht Verstand, nicht Vernunft sein. Denn sie sind für alle Menschen gleich, soweit die  Gültigkeit  ihrer Gründe und Erörterungen in Betracht kommt. Die Unterschiede gehen hier nur auf Stärke, Feinheit, Schärfe der Erkenntniskräfte, auf das Vorwiegen dieses oder jenes Elementes. Gewißt tragen auch solche Unterschiede dazu bei, die Individualität zu bilden. Eigenartige Persönlichkeiten werden eine eigenartige Mischung der Erkenntniskräfte haben. Aber ungleich wichtiger sind Gefühlsart und Willensrichtung. Das sind diejenigen Faktoren, in welchen der innerste Kern des Menschen zum Ausdruck kommt. Und aus diesem innersten Wesen, aus der Persönlichkeit, dem Charakter des Menschen geht der Glaube hervor; nicht aus Erkenntnissen und Erkenntnisfunktionen. Nicht das  Wesen des Objekts,  erkannt durch Verstand und Vernunft, gibt den Ausschlag, sondern das  Wesen des Subjekts,  unser Wünschen und Wollen hinsichtlich des Objekts. Der Glaube  will  zwar eine Erkenntnis sein, er  möchte  gern objektive Gültigkeit haben. In Wirklichkeit ist er ein Ideal angelegt an das Objekt. Er drückt aus, nicht was das Letztere ist, sondern wie wir es wünschen und haben möchten. Das Wissen sagt: so  ist  es; der Glaube:  so denke, so träume  ich es mir, so  sollte  es sein, so  muß  es sein, wenn es Wert für mich haben soll. Dieses Wertelement macht den eigentümlichen Charakter aller Glaubensurteile aus. Was im Glauben erkennt, ist eigentlich Wille und Gefühl. Der Intellekt tritt in ihren Dienst. Nur er allein kann zwar das tatsächliche Material herbeischaffen, aufgrund dessen geglaubt wird. Aber was dieses Material sichtet und wertet, was den Tatsachen ihre beweisende Kraft gibt und dadurch allererst Glaubensgründe aus ihnen macht: das ist die Individualität.

Nicht als ob deshalb die Glaubensüberzeugungen von zwei verschiedenartigen Menschen durchaus verschieden sein müßten. Dieselbe Erscheinung kann bald aus dieser, bald aus jener Ursache hervorgehen. Und außerdem: Die Charaktere vererben sich. Wie Individual-Charaktere, Zeit-Charaktere. Zeiten und Völker drücken den Menschen, die in ihnen leben, ihren Stempel auf. Sie fügen dem rein Persönlichen einen Exponenten bei, welcher so wichtig werden kann, daß ein und dasselben Individuum, in verschiedene Zeiten und Völker gestellt, verschiedene Glaubensüberzeugungen haben könnte. Doch würde bei aller Verschiedenheit der Letzteren das Gleichartige noch immer das Ungleichartige überwiegen. Sonst könnte nicht dieselbe Individualität Grund beider sein. Glaube braucht also seines individuellen  Ursprungs  wegen durchaus nicht bloß individuelle  Geltung  zu haben. Er kann Gruppen, Klassen von Menschen, ja, Völkern und Zeiten gemeinsam sein. Aber auch dann - handelt es sich anders um  wirklichen Glauben,  um ein inneres Aneignen von Ansichten, nicht um bloßes Nachsprechen - ist er nicht durch Lehren und Lernen  übertragen,  sondern hat seinen Grund in einer tieferen Geistesrichtung, die durch Veranlagung und Vererbung, durch Zeit und Umstände aus einer zunächst rein persönlichen zu einer mehr oder weniger generellen geworden ist. Die Gemeinsamkeit des  Wollens,  nicht die des  Denkens,  die Übereinstimmung nicht in logischen Voraussetzungen, sondern in gewissen, ansich individuellen Bedürfnissen, Wünschen, Lebenstendenzen schafft die Grundlage, aus welcher gemeinsame Glaubensüberzeugungen erwachsen. Kann auf ihr Entstehen überhaupt bewußt mit dauerndem Erfolg eingewirkt werden, so geschieht es sicher in erster Linie nicht durch Lehren und Beweisen, sondern durch Vorbild, persönlichen Einfluß, Erziehung, kurz: durch Herstellung jener gemeinsamen Grundlage.

Aber, wird mancher einwenden, wenn der Glaube so durch und durch subjektiv ist, wäre es dann nicht besser, ihn aus dem Leben der Menschen vollständig zu verbannen? Denn kann der Glaube dann jemals mehr sein, als bestenfalls eine Jllusion, oft aber oder gar meistens eine bewußte Selbsttäuschung? Und kann ein wahrheitsliebender Sinn letztere billigen, erstere wünschen? Dieser Einwand setzt voraus, daß der Mensch den Glauben nach Belieben an- und ablegen kann wie ein Gewand. Wenn dem nun nicht so wäre? Wenn aus der Natur des Wissens sich feste, enge Grenzen für dasselbe ergäben? Wenn jenseits seines Gebietes sich immer wieder Fragen aufdrängten, die man nicht kurzer Hand abweisen kann, die aber doch für das Wissen stets unbeantwortbar bleiben werden? Man könnte dann füglich nicht weiter über Berechtigung oder Nichtberechtigung des Glaubens streiten. Man müßte anerkennen, daß es ein Gebiet gibt, auf welchem er gar nicht ausgeschlossen werden  kann;  daß höchstens einzelnen Ausnahmemenschen sich ihm zu versagen oder gänzlich zu entreißen imstande sind - aber nur, indem sie auf eine Beantwortung jener Fragen überhaupt verzichten. Das Ziel wäre dann: nicht Glauben zu zerstören, sondern seine individuelle Natur, seine persönliche Bedingtheit erkennen zu lehren und, will man umgestaltend auf ihn einwirken, zunächst seine subjektive Grundlage umzuwandeln.

Betrachten wir nun nacheinander das tägliche Leben, die Einzelwissenschaften und die Weltanschauung, um zu sehen, ob irgendwo der Glaube die herrschende Macht ist.


III.

Auf dem Gebiet des  täglichen Lebens  tönt häufig das Wort "ich glaube" an unser Ohr, oft noch verstärkt durch ein "gewiß, sicher, entschieden." Da heißt es: "Ich glaube, das Wetter wird morgen gut." "Ich glaube entschieden, dies ist nicht der richtige Weg." Es ist das eine Herabwürdigung des guten alten Wortes, aber ein Mißbrauch, zum Recht geworden durch lange Gewohnheit. Bei allen derartigen Redensarten spricht die Individualität nicht im Geringsten mit. Es handelt sich um Wahrscheinlichkeit aus objektiven Gründen, also um ein Wissen, wenn auch von schwächerem und schwächstem Grad. Einzelne Verhältnisse kommen in Betracht, die unter günstigeren Umständen völlig durchschaut und begriffen werden könnten. Bei einer solchen genaueren Kenntnis würde unser Verstand das künftige Ereignis, welches wir jetzt nur "glauben", mit Gewißheit vorauszusagen vermögen. Für das Glauben im prägnanten Sinn des Wortes ist also in den Situationen und Verwicklungen des täglichen Lebens, soweit nur dieses selbst mit seinen Einzelfragen in Betracht kommt und nicht die Macht einer Weltanschauung hineinragt, kein Platz.

Ebenso dürfen in den  Einzelwissenschaften  (zu denen ich hier auch Logik, Psychologie, Ästhetik und Ethik rechne) nur objektive Gründe entscheiden, nicht die Persönlichkeit des Forschers, so oft sie sich in Wirklichkeit auch mißbräuchlicherweise vordrängen mag. Wie die Dinge sind und waren, wie die Menschen erkennen, fühlen, wollen, handeln, jetzt und früher, wollen wir wissen. Nicht, wie  wir  Menschen und Dinge haben möchten. Zwar kommt in den Norm- und Wertwissenschaften auch Normen und Idealen eine bedeutungsvolle Stellung zu. Es sind die Muster des Vollkommenen, an denen das minder Vollkommene gemessen wird. Doch handelt es sich in den  strengen  Wissenschaften dieser Art nur um objektive Maßstäbe, wie den leiblich und geistig gesunden Menschen im Gegensatz zum kranken, das logische Denken im Gegensatz zu Unrichtigkeit und Irrtum, Recht und Sittlichkeit im Gegensatz zu Unrecht und Laster. Nie darf das subjektive Belieben des Einzelnen den Maßstab machen oder ändern. Freilich, ein Wissen von strengster Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit gibt es auch in den Einzelwissenschaften nicht. Die Rationalisten aller Zeiten träumten davon. Um zu erweisen, daß ihr Wünschen und Hoffen nie in Erfüllung gehen wird, und um zugleich die Grenzen eines möglichen Wissens zu bestimmen, genügt es, den Blick auf zwei erkenntnistheoretische Grundprobleme zu richten: Existenz einer transsubjektiven Außenwelt und allgemeines Kausalgesetz.

Der Laie wird sich nicht leicht von der Vorstellung trennen können, daß die Körper draußen im Raum von uns unabhängige Dinge sind und so, wie wir sie vor uns sehen, in Wirklichkeit existieren. Jedoch ein Durchdenken der Tatsache, daß Farben und Töne, Weiche, Härte, Rauheit, Geruch und Geschmack nicht in den Objekten, sondern nur in unseren Sinnen sind, dürfte ihn in andere Bahnen leiten. Er wird zugeben müssen, daß die Dinge im Raum um uns herum von uns abhängig sind,  unsere  Schöpfungen, die wir in den Raum hineinprojizieren, daß  wir  es also sind, welche die leuchtende und tönende Welt rings herum schaffen. Die Welt ist unsere Vorstellung. Soll es Dinge geben, die auf uns einwirken, so müssen sie außerhalb dieser unserer Vorstellungswelt liegen. Nun kann aber nichts, auch nicht der geschickteste  Salto mortale,  unser  Wissen  über sie hinausführen. HUME, und nach ihm viele andere, haben es unwidersprechlich gezeigt, daß wir aus unserem Bewußtsein nicht herauskönnen, daß keine im strengsten Sinne gültige Denkoperation von einer  Vorstellung  zum  Grund  der Vorstellung überleitet, welcher keine Vorstellung mehr ist. Der Schluß von einer Wirkung auf ihre Ursache ist nur dann erlaubt, wenn feststeht, daß die Wirkung nur aus einer ganz bestimmten Ursache hervorgehen kann. Die Vorstellungen in uns können aber aus den verschiedensten Ursachen entspringen.  A priori  kann man darüber gar nichts aussagen. Im Gegenteil, es lassen sich verschiedene Möglichkeiten denken, von denen keine an einem inneren Widerspruch leidet. Auf  Erfahrungen  können wir uns nicht berufen, denn alle unsere Erfahrungen sind auf die Vorstellungswelt beschränkt. Unzweifelhaft werden sich die meisten Menschen - und ich mit ihnen - für transzendente Dinge als Ursachen der Wahrnehmungen aussprechen. Theorien jedoch wie die BERKELEYs oder FICHTEs, welche die Existenz unbeseelter transzendenter Gegenstände leugnen, sind nicht förmlich zu widerlegen; das Gegenteil kann nicht demonstriert werden. Selbst der Solipsismus, der auch die Existenz anderer  Geister  bestreitet, ist theoretisch unwiderlegbar. Es liegt kein Widerspruch in der Annahme, daß alles  nur  meine Vorstellung ist, daß alles auf mir unerklärliche Weise durch Hemmungen und Selbstbeschränkungen in meinem Innern entsteht. Nur daß die entgegengesetzte Ansicht, nach welcher die Hemmungen von etwas Transsubjektivem ausgehen, so unendlich viel wahrscheinlicher ist, daß ich mit gutem Gewissen jeden Solipsisten als geistig abnorm und reif für das Irrenhaus bezeichnen würde.

Auch für das  allgemeine Kausalgesetz  ist ein strenger Beweise, der allen Anforderungen genügte, noch nicht gefunden. Viele sind aufgestellt, ebensoviele widerlegt. HUMEs kritische Position allen solchen Versuchen gegenüber wird immer unerschüttert bleiben. Sollte ich aber auch gezwungen werden, einen Beweis für befriedigend zu erklären, so würde daraus doch nur folgen, daß  ich augenblicklich  das allgemeine Kausalgesetz für denknotwendig halte. Aber auch morgen noch? Auch in einem Jahr? Auch das Menschengeschlecht in tausend Jahren? Schon oft machte ich an mir selbst die Erfahrung, daß, was ich für denknotwendig und denkunmöglich hielt, mir nachher nicht-notwendig oder möglich schien. Dieselbe Erscheinung überall in der Geschichte. Ganze Geschlechter, ganze Zeiten glaubten Lehren apodiktisch [unumstößlich sicher - wp] bewiesen zu haben, die nachher doch verworfen wurden. Gewohnhit, psychologischer Zwang, welcher sich wandeln  kann,  wird oft mit logischem Zwang verwechselt, der sich nicht wandeln  darf.  Nicht darf? Besser: nicht dürfte! Denn wer steht mir dafür, daß nicht auch meine Logik oder die Logik des Menschengeschlechts sich ändert? Wer verbürgt mir die Gesetzmäßigkeit meines Vorstellungsverlaufs? Auch hier ist kein Beweis möglich, denn jeder Beweis setzt schon die Gesetzmäßigkeit voraus. Und die Erfahrung? Kann sie uns helfen? In keiner Weise. Sie zeigt, streng genommen, stets nur ein  post hoc  [danach - wp], nie ein  propter hoc  [deswegen - wp]. Außerdem: was wir erkennen, ist nur ein kleiner Umkreis. Und in diesem Umkreis gibt es schon eine Anzahl von Fällen, in denen wir einen Kausalzusammenhang (oder richtiger: ein regelmäßiges Aufeinander) wohl hoffen, aber noch nicht nachweisen können. Auch die Betrachtung der Vergangenheit führt uns nicht weiter! Kein  sicherer  Schluß ist aus ihren Erscheinungen auf die der Zukunft möglich. Tausend Mal mag  b  auf  a  gefolgt sein. Warum sollte zum 1001sten Mal  b  nicht fortbleiben? Etwa weil die tausend Fälle uns die Gesetzmäßigkeit verbürgen? Warum soll diese Gesetzmäßigkeit nicht beim 1001sten Mal aufhören? Daß sie sich auch in die Zukunft erstreckt, soll ja erst bewiesen werden.

Und noch eins! Viele, die das allgemeine Kausalgesetz für die äußere Natur behaupten oder gar apodiktisch beweisen, nehmen das Gebiet der menschlichen Handlungen davon aus. Für das Letztere wollen sie die Unverbrüchlichkeit des Kausalzusammenhangs nicht anerkennen, sondern fordern Willensfreiheit. Hier zeigt sich auf das Klarste, daß bei der Annahme oder Nichtannahme des allgemeinen Kausalgesetzes nicht der Intellekt die eigentliche Entscheidung hat, sondern die ganze Persönlichkeit. Gründe für und gegen eine Willensfreiheit sind schon mehr als genug vorgebracht. Was ihnen die Beweiskraft für das einzelne Subjekt, die ausschlaggebende Bedeutung verleiht: das ist nicht der Intellekt, sondern unsere ganze innere Lebenstendenz. Zwar muß der Erstere die Jllusionen aufdecken, welche gerade bei der Frage der Willensfreiheit, zahlreich wie Irrlichter im Sumpf am Wegesrand, sich aufdrängen. Aber der  Wille  muß es  wagen,  die Jllusionen als solche zu erkennen, muß es  über sich bringen,  mit den Vorurteilen der Erziehung, der Sitte, der Gesellschaft zu brechen. Denkt Euch einen guten Mann, der sich Moralität ohne Willensfreiheit nicht vorstellen kann: haltet ihm alles, was für den Determinismus spricht, entgegen. Meint Ihr, daß Ihr ihn überzeugen, ihm den Determinismus andemonstrieren könnt? Nie und nimmer! Und er tut Recht daran, bei seiner Willensfreiheit zu bleiben. Denn er sit fü die deterministische Weltanschauung nicht geschaffen und sie nicht für ihn.

 Wissen,  wirkliches  Wissen  um einen allgemeinen lückenlosen Kausalzusammenhang gibt es nicht und wird es  nie  geben. Persönlich bin ich von seine Existenz so fest überzeugt, daß ich ihm auch die menschlichen Entschließungen und Handlungen einordne. Die deterministische Auffassung scheint mir das ungezwungendste und klarste Gesamtbild der Welt zu geben. Nirgends tut sie den Tatsachen Gewalt an. Statt die Moral zu untergraben, schärft sie den sittlichen Ernst und das Gefühl der Verantwortlichkeit. Sie verwandelt nicht, wie man ihr vorwirft, den Menschen in einen bloßen Durchgangspunkt, in eine Maschine. In der  Persönlichkeit  erkennt sie vielmehr eine selbständige Macht, die Einwirkungen erleidet, auf Einwirkungen reagiert, aber auch Einflüsse ausübt, - alles ihren immanenten Bildungs- und Wirkungsgesetzen gemäß. Apodiktizität findet man also in den Einzelwissenschaften ebenso wenig wie sonst irgendwo. Nur von Wahrscheinlichkeit kann die Rede sein; aber von einer Wahrscheinlichkeit, die so groß ist, daß sie der Gewißheit fast gleichkommt.

Wie weit reicht nun das rechtmäßige Gebiet der Einzelwissenschaften? Wie weit führen ihre als "sicher" zu bezeichnenden Resultate? Nicht weiter als jetzige und künftige Erfahrungen, samt den aus ihnen gezogenen logisch zulässigen Schlüssen. Durch solche Erfahrungen und Schlüsse können wir aber - nach dem Vorhergehenden kann darüber kein Zweifel sein - es nie weiter bringen, als daß wir die faktischen Verhältnisse der Sinnenwelt, ihre Entwicklung, bzw. ihren regelmäßigen Wechsel feststellen und beschreiben, daß wir die Formen und Gewohnheiten erkunden, deren gemäß das uns Unbekannte tätig ist. Gehen wir jedoch über das  Wie?  des Tätigseins hinaus, wollen wir erkennen,  was  da tätig ist,  wie beschaffen  das Wesen jenes Unbekannten ist, ob es aus einzelnen und vereinzelten selbständigen Elementen besteht, oder ob in allen seinen Teilen eine innere Verbindung und inneres Leben herrscht, und  welcher Art  dieser Zusammenhang, dieses Leben ist, so verlassen wir das Gebiet, innerhalb dessen ein Wissen möglich ist. Denn woher sollten wir die Wissensgründe nehmen? Unsere Vernunft gibt sie uns nicht an die Hand. Erfahrung führt uns nicht so weit. Sie beschränkt uns auf unsere Vorstellungen, sagt uns aber nicht,  was  es ist, das da vorstellt, und  was  es ist, das da vorgestellt wird. Sie kann uns nicht einmal vom  Dasein  des Transsubjektiven überzeugen, geschweige denn das Letztere seinem  Wesen  nach näher bestimmen. Selbst objektiv begründet  Hypothesen  sind auf diesem Gebiet nicht möglich, weil es an objektiven Daten fehlt, die jedem wenigstens das Zugeständnis der  Wahrscheinlichkeit  der Hypothesen abringen könnten. Alle Wahrheit, welche wir erkennen, ist nur relative Wahrheit, nur Wahrheit für uns. In das Wesen der Dinge vermögen wir nicht zu dringen; wir können uns nur zu ihnen in ein Verhältnis setzen und sie im Verhältnis zu uns, als unsere Erscheinungen, begreifen. Ohne Zweifel gibt es auch innerhalb des rechtmäßigen Gebietes der Einzelwissenschaften zahlreiche Punkte, wo wir uns jener höchsten Wahrscheinlichkeit, welche der völligen Gewißheit gleichzustellen ist, nicht rühmen können. In vielen Fällen gibt es Grund zu hoffen, daß eine weiter fortschreitende Erfahrung uns zu sicheren Resultaten führen wird. Die Unsicherheit unserer  jetzigen  Erkenntnis ist dann nicht durch die Natur der Dinge, sondern nur durch den augenblicklichen Stand der Forschung und Erfahrung bedingt. So mag die homerische Frage vielleicht einst durch neue Funde in ein ganz neues Stadium gerückt werden. An anderen Stellen werden wir nie über Vermutungen hinaus kommen. Sind Urkunden und Berichte von Augenzeugen über ein historisches Ereignis zerstört worden, so wird keinem Historiker möglich sein, es mit Sicherheit zu rekonstruieren. Überall aber, ob nun die Mangelhaftigkeit unserer Erkenntnis vorübergehender oder dauernder Natur ist,  sollen  allein die Verhältnisse des Objekts, nicht die Stimmungen und Wünsche des Subjekts das Urteil beeinflussen. Mag letzteres auf einen so geringen Grad von Gewißheit herabsinken, daß kaum mehr von Erkenntnis, sondern nur noch von leisem Vermuten die Rede sein kann: nie und nimmer wird ein Glaube daraus. Selbst die gewagtesten Hypothesen sollen ihre Grundlage einzig und allein in der Wirklichkeit der Dinge, auch nicht im mindesten in der Persönlichkeit des Forschers haben.

Es würde jedoch ein großes Mißverständnis sein, wollte man die Ausschaltung der Individualität auch auf das  Forschungsobjekt  ausdehnen. In jeder Art von Geschichte, die sich mit den Verhältnissen des Menschengeschlechts beschäftigt, wäre es ein verhängnisvoller Fehler, wenn man nur fachliche Motive und logische Gesichtspunkte zur Rekonstruktion zuließe und das Moment der Persönlichkeit beiseite schöbe oder erst in zweiter Linie berücksichtigte. Sachlich-moralische Gründe  sollten  allerdings im Leben entscheiden. Was aber in  Wirklichkeit  den Ausschlag gibt, sind nur zu oft persönlich-egoistische Motive, Sympathien und Antipathien, Rücksicht auf Vorteil, statt Rücksicht auf die Güte der Handlung.

Und selbst die Regel, daß die Persönlichkeit des  Forschers  gänzlich aus dem Spiel bleiben muß, erleidet eine Ausnahme wenigstens in all den Wissenschaften, die sich mit den geistigen Beziehungen des Menschen zueinander beschäftigen. Um sich die Individualität des andern zu erschließen, ist die eigene Individualität oft der einzige Schlüssel. Namentlich große, eigenartige Menschen können nur von kongenialen Naturen wirklich begriffen werden. Doch darf die Individualität des Forschers sich nicht einmischen, um mit ihrem Wollen und Fühlen die  einzelnen  Resultate der Wissenschaft zu beeinflussen, d. h. zu fälschen, sondern nur um das Verständnis für die fremde Persönlichkeit, als  Ganzes  betrachtet, zu eröffnen. Nicht sich selbst soll man hineintragen in die fremde Individualität, sondern, der eigenen Individualität bewußt, die fremde in sich wiedererzeugen. Ein gewisses subjektives Element kommt dadurch zwar in diesen Teil der Wissenschaft hinein. Doch es ist von ganz anderer Art und auf jeden Fall nicht dem gleichzustellen, was ich als Glauben bezeichne. Die schöpferische Künstlertätigkeit greift hier in die Wissenschaft über, mit ihr zugleich die Subjektivität und Eigenart, aus der allein ein Kunstwerk hervorgehen kann.

Von  Glauben  kann also in den Einzelwissenschaften nicht die Rede sein, sondern stets nur vom  Wissen  in seinen verschiedenen Graden, von der Gewißheit herab bis zur leisen Wahrscheinlichkeit, die kaum die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils übertrifft.


IV.

Wo die Einzelwissenschaften ihre Grenze finden, beginnt das Gebiet der  Weltanschauung.  Auf ihm herrscht die Individualität, der persönliche Glaube. Jede Weltanschauung sucht das Transzendente zu bestimen und von ihm aus die Erscheinungswelt zu deuten. Den  Sinn  der Letzteren will sie herausfinden. Daher ist ihre Hauptkategorie die des Zwecks.

Hier liegt der Schwerpunkt meines Aufsatzes. Seine Absicht geht dahin, das Recht des Glaubens auf die Weltanschauung darzutun; zu zeigen, daß in ihrem Umkreis nicht in erster Linie der Intellekt, sondern das Fühlen und Wollen des Menschen: sein Charakter, seine Lebensrichtung entscheiden  muß  und  faktisch  entscheidet; daß es daher vergeblich ist, eine Weltanschauung beweisen oder widerlegen zu wollen.

In zwei Hauptformen tritt die letztere auf: als "offenbarte Religion" und als Metaphysik. (Zur Metaphysik rechne ich hier auch alle diejenigen religiösen Systeme und Ansichten, welche nicht den Anspruch erheben, auf Offenbarung gegründet zu sein.) Es ist ein Unterschied nicht des Inhalts, sondern der Form, um den es sich dabei handelt. Der Inhalt kann ganz derselbe sein. Die Offenbarungsgläubigen sind der Ansicht, daß ihnen in ihrer Religion durch übernatürlichen Einfluß eine fertige Weltanschauung übermittelt wird. Viele glauben, daß dadurch ein persönliches Formen der Lebensanschauung ausgeschlossen ist. Ich teile diese Annahme nicht. Gelingt es mir, ihre Grundlosigkeit darzutun, so verliert die "offenbarte Religion" die Sonderstellung, welche sie beansprucht, und die späteren Ausführungen über die Weltanschauung überhaupt werden ohne weiteres auch von ihr gelten.

Was mich persönlich betrifft, so bin ich kein Anhänger des Glaubens an eine übernatürliche Offenbarung. Ich glaube und hoffe eine Offenbarung und Selbstentfaltung des Absoluten  (theos)  im All  (pan),  welches mit dem Absoluten Eins ist. Doch liegt es mir fern, die Unmöglichkeit oder Unwirklichkeit einer übernatürlichen Offenbarung  beweisen  zu wollen. Ich würde mir damit selbst ins Gesicht schlagen. Denn der Glaube an eine Offenbarung ist ein Teil der  Weltanschauung  des Einzelnen. Nach meiner Ansicht lehren uns zahlreiche Analogien, die angebliche  übernatürliche  Offenbarung  natürlich  zu erklären. Aber keinem Gläubigen kann der Glaube  widerlegt  werden, daß in der Offenbarung ein  einzigartiges  Ereignis vorliegt, dem gegenüber alle Analogien nicht verfangen.

Es handelt sich also hier nicht um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines  historischen  Faktums der Offenbarung. Es  psychologisches  Faktum ist es, was mich allein interessiert. Es  gibt  Religionen, welche behaupten, auf einer Offenbarung zu beruhen. Es  gibt  Menschen, welche von der Richtigkeit der Behauptung überzeugt sind. Ist diese Überzeugung ein Wissen oder ein Glaube? Das ist die Frage. Die Antwort kann nach meiner Ansicht nur  eine  sein. Sie lautet: ein Glaube. Zwar sindvon alters her Versuche gemacht worden, die Notwendigkeit und Tatsächlichkeit der Offenbarung streng zu beweisen, aber mit geringerer Mühe ist auch stets der Mangel an Logik und Stringenz in solchen Beweisen festgestellt worden. Noch nie ist ein Ungläubiger durch sie dahin gebracht gewesen, die Wirklichkeit der Offenbarung anzuerkennen. Höchstens mit Worten; sicher aber ohne Änderung seiner inneren Lebensrichtung. Geschadet haben sie dagegen viel. Mancher wächst auf  in  der Obhut eines frommen Hauses. Offenbarungsglaube ist die Lust, welche er von Kindheit an atmet. Alles, so wirde er belehrt, könne streng bewiesen, die Notwendigkeit der Offenbarung sowie ihres Inhalts könne demonstriert werden. Er tritt hinaus in die Welt, hört andere Urteile. er sieht selbst die Unhaltbarkeit der Beweise ein. Und mit den Beweisen gibt er die Offenbarung preis, mit der Offenbarung ihren Inhalt, mit ihrem Inhalt den Glauben an die Sittlichkeit und die Freude am sittlichen Handeln. Vielleicht nur vorübergehend. Aber Schiffbruch hat er doch erlitten.

Die Demonstrationsversuche sind immer ein Zeichen des Epigonentums [Nachkommenschaft - wp]. Kein Religionsstifter hat je versucht, seine Lehren streng zu beweisen. Aber  Glauben  hat jeder gefordert: die völlige Hingabe des inneren Menschen, unbedingtes Vertrauen, Liebe und Treue bis in den Tod. Namentlich beim Stifter der christlichen Religion ist das persönliche Element, die innige Verbindung zwischen Gläubigem und Meister, von grundlegender Bedeutung. "Glaubest Du?" das ist stets der Refrain, nicht: "Weißt Du?" Auch nicht: "Glaube meinen Beweisen!" sondern "Glaube  mir!"  "Glaube  an  mich!" Was man zu seiner Zeit Beweise nannte: Zeichen und Wunder, schlägt er ganz gering an. Und daß auch  das  keine  Beweise  waren, zeigt das Verhalten der Pharisäer. Beweisen widersteht man nicht. Wodurch CHRISTUS wirken will, das ist allein die Macht seiner Persönlichkeit, der Herz und Gemüt gewinnende Inhalt seiner Botschaft, der Eindruck seines lauteren Wollens und reinen Handelns. In ein  persönliches  Verhältnis zu einer heiligen Persönlichkeit soll der Gläubige treten und dadurch selbst heilig werden.

Und heutzutage? Haben achtzehn Jahrhunderte an dieser Grundtatsache des Christentums etwas geändert? Verdunkelt, ja! aber nicht geändert. Der moderne Mensch kann nur auf  eine  Weise zum spezifisch christlichen Offenbarungsglauben durchdringen und von ihm durchdrungen werden: er muß sein neunzehntes Jahrhundert samt dessen philosophisch-naturwissenschaftlichen Theorien möglichst weit hinter sich lassen und sich unter die ersten Jünger mischen, mit ihnen den Spuren ihres Meisters nachgehen, mit ihnen der Macht der Persönlichkeit dessen sich hingeben, der ihnen schließlich den Ruf: "mein Herr und mein Gott!" abnötigt. Ist jemand so gläubig geworden, ist das neue innerliche Verhältnis, in welches er dadurch zu CHRISTO und zu seinem Gott getreten ist, ihm erst zum Bedürfnis geworden: so wird alle Philosophie und alle Naturwissenschaft der Welt ihm diesen Glauben schwerlich je wieder entreißen. Freilich, jedermanns Sache ist es nicht, diesen Anachronismus zu begehen und sich der Denkweise, die überall in der Luft liegt, zu entäußern. Aber auch die feinsten Beweise würden bei ihm nicht wirken. Und auch das soll nicht gesagt sein, daß auf dem bezeichneten Weg die meisten jetzigen Christen zu Christen geworden sind. Im Gegenteil, nur eine kleine Minderzahl! Diejenigen nämlich, welche erst durch innere Kämpfe zum Offenbarungsglauben gelangt sind. Die meisten sind nur indirekt zu CHRISTO in ein persönliches Verhältnis getreten, durch Vermittlung ihrer Eltern, Lehrer, Geistlichen, Verwandten, kurz, durch Erziehung jeder Art. Sie hatten jenes Verhältnis bei den Personen, welche ihre irdischen Autoritäten waren, vor Augen, sahen seine Früchte, lernten es auch für sich wünschen und wuchsen allmählich so hinein, daß es ihnen unentbehrlich wurde. So arteten sie ihren Führern nach.

Seit KANT und SCHLEIERMACHER hat die protestantische Theologie entschieden die Tendenz, die Innerlichkeit und persönliche Grundlage des Offenbarungsglaubens und überhaupt allen religiösen Glaubens anzuerkennen. Die Orthodoxie freilich wagt es noch nicht recht, diese Wahrheit zu der ihrigen zu machen. Ihr ist das subjektive Element, welches durch die Reformation in die Kirche hineingetragen wurde, schon zu stark. Denn seine notwendige Folge ist die historische Bibelkritik. Und wo endet diese? Würde nun gar noch die ganze Grundlage des Offenbarungsglaubens in das Belieben des Subjekts verlegt, so würde - fürchtet man - das Band der Kirchengemeinschaft völlig gesprengt werden. Doch der Zwang der Tatsachen ist stärker als das Wünschen und Wollen einer Partei. Und gerade die Charaktervollsten unter den wissenschaftlich gebildeten Orthodoxen, gerade diejenigen, denen es mit dem Leben in CHRISTO am meisten Ernst ist, erkennen bereitwillig die individuelle Natur und Grundlage allen Glaubens an.

Die "offenbarte Religion" ist also, was ihren Überzeugungsgrund anlangt, von sonstigen Weltanschauungen nicht unterschieden. Nicht weil der Gläubige sie für offenbart hält, ist er von der Wahrheit ihrer Lehren durchdrungen, sondern weil sie die Welt- und Lebensanschauung bietet, welche seiner Individualität entspricht, weil er von der Persönlichkeit ihres ersten Verkündigers hingerissen wird, darum glaubt er ihm. Und weil der Religionsstifter behauptet, in besonderer Weise von Gott gesandt zu sein und in einem besonderen Verhältnis zu ihm zu stehen, darum ist der Gläubige auch von der Wirklichkeit einer übernatürlichen Offenbarung überzeugt.

Die Individualität ist das  A  und  O  jeder Weltanschauung, also auch der  Metaphysik.  Manche Metaphysiker werden mir diese Behauptung sehr verübeln. Sie werden von Popularphilosopie sprechen und meinen, daß von Wissenschaft nicht mehr die Rede sein kann, wo einem subjektiven Faktor, wie dem Glauben, eine solche Macht eingeräumt wird. Darin haben sie nun allerdings Recht.  Metaphysikist keine Wissenschaft und kann es nie werden.  Einen subjektiven Faktor dagegen bringe ich nicht in die Metaphysik hinein. Ich stelle nur fest, daß er  stets  den Ausschlag gegeben hat, daß aus der Individualität des Menschen heraus sich  stets  mit innerer Notwendigkeit seine Weltanschauung entwickelt hat. Ich will nicht ein  neues  Prinzip einführen; ich will nur das  alte  Prinzip, welches immer da war, verstehen lehren.

Daß die Metaphysik keine Wissenschaft ist, das zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte. Auch in den Wissenschaften gibt es zwar Irrtümer, die von der einen Zeit als Wahrheiten verkündet, von der anderen bekämpft werden, aber es findet doch ein Fortschritt statt. In der Metaphysik dagegen sind wir im Grunde nicht weiter als vor zweitausend Jahren. Stets dasselbe Mancherlei von Ansichten und Überzeugungen! Kaum ist der Bau eines Systems vollendet, so beginnt man schon damit, ihn wieder einzureißen. So wird es stets bleiben. So lange es verschiedene Individualitäten gibt, wird die Verschiedenheit auch in ihren Weltanschauungen zum Ausdruck kommen.

Wissensgründe können, wie wir sahen, auf dem Gebiet der Weltanschauung nicht den Ausschlag geben. Es liegt jenseits der Grenzen unserer Vorstellungswelt. Keine Wissenschaft kann uns je über das Erfahrbare Hinaus in das Transzendente führen. Fragen aber, die es betreffen, drängen sich fortwährend auf. Sie wollen entschieden sein und werden entschieden.  Wer  aber trifft die Entscheidung? Können Verstand und Vernunft es nicht aus sich heraus aufgrund objektiven Materials, so bleibt nur eins übrig: der fühlende, wollende und handelnden Mensch gibt den Ausschlag. Ob man sich zum Atomismus oder Dynamismus, zum Materialismus oder Dualismus oder idealistischen Monismus, zum Theismus oder Deismus oder Pantheismus bekennt, ob man eine persönliche Fortdauer nach dem Tode, ob man eine Entwicklung der Welt und der Menschheit annimmt, welches Ziel man dieser Entwicklung der Welt und der Menschheit annimmt, welches Ziel man dieser Entwicklung setzt, welchen Sinn man aus den Dingen heraus oder in sie hineinliest, wie man es erklärt, daß sie gerade  so  sind, wie sie sind: das bestimmt schließlich nicht der Intellekt, sondern die ganze Persönlichkeit mit ihrem besonderen Charakter, ihren Bedürfnissen und Wünschen, mit ihrer ganzen Geistesrichtung und Lebenstendenz. Der Intellekt allein kann nicht entscheiden, aus Mangel an objektiven Daten. Käme es nur auf  ihn  an, so müßten alle jene Fragen als unlösbar beiseite gestellt oder, wenn diskutiert, wenigstens offengelassen werden. Aber es gibt eben andere Momente in unserer Natur, welche das nicht dulden. Es sind  die  Faktoren, welche unserer geistigen Konstitution ihr eigentümliches Gepräge geben.  Sie  verlangen gebieterisch eine Lösung der Probleme, und zwar eine Lösung ihren Bedürfnissen und Wünschen gemäß.  Sie  zwingen uns, die Lücken auszufüllen, welche die Erfahrung hinterläßt.

Den meisten Menschen ist ihre Weltanschauung nicht nur ein idyllisches Träumen in müßigen Stunden; nicht nur ein Arkadien, in das man sich aus dem Getriebe der Welt gern zurückzieht. Einen Halt verlangen sie von ihr im Kampf ums Dasein. Balsam soll sie sein für die Wunden, welche das Leben schlug. Denn Leben heißt Kämpfer sein. In Erwartung der Paradiesfreuden suchte einst der fanatisierte Muselmann den Tod. Der Glaube an einen lebendigen Gott, ohne dessen Willen kein Haar vom Haupte fällt, die Hoffnung einer künftigen Herrlichkeit, der gegenüber alle Leiden dieser Zeit für nichts zu achten sind, waren schon manches schwerbelandenen Mannes, mancher gramgebeugten Frau einziger Trost und Halt. Der Mann in der Blüte seiner Jahre glaubt an ewige Fortdauer, weil er Schaffenslust und Schöpferkraft in sich fühlt, um Jahrhunderte auszufällen, weil er seine Arbeit und sein Werk liebt und um ihretwillen auch das Leben, weil er nicht  will,  daß sein Dasein und mit ihm sein Wirken einst ganz aufhöre. Und derselbe Mann: vierzig, fünfzig Jahre später? Wohlbetagt und lebenssatt, durchdrungen von der Richtigkeit des Lebens und noch von der Eitelkeit allen menschlichen Tuns, mag er nur  ein  Bedürfnis, nur  einen  Wunsch kennen: zu ruhen und immer zu ruhen, zurückzukehren in das All, dem er entstammt, ohne Persönlichkeit, ohne Bewußtsein.

Wohin man blickt auf diesem Gebiet - überall dasselbe Schauspiel. Der individuelle Charakter, Anlagen, persönliche Erlebnisse, Erziehung, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse geben den Ausschlag. Nicht die  Vernunft,  wie KANT meinte, treibt uns immer wieder zu Spekulationen über das Wesen des Transzendenten, sondern unser  Herz.  Der Intellekt schafft nur die Bausteine herbei; ein anderer,  Höherer  sucht die ihm passenden aus und fügt sie zu einer Weltanschauung zusammen. Das Handwerksmäßige mag auch dabei der Intellekt besorgen. Plan und Idee des Baus sind nicht sein.

In jeder Weltanschauung bildet eine ganze Reihe von Werturteilen die Grundlage. Man sollte eigentlich nie sagen: "So ist der Grund das wahre Wesen der Dinge beschaffen", sondern: "So sollte es sein; so muß es sein, wenn es Wert für mich haben soll. Dieses oder jenes ist das für mich allein Wertvolle; darum soll es auch das Ziel der Weltentwicklung sein und sich durch die Weltentwicklung als das wahrhaft Wertvolle herausstellen." Die Persönlichkeit macht den Maßstab und legt ihn an die Dinge. Der Verstand sucht die Dinge zu rechtfertigen - eine Art Kosmodizee [Rechtfertigung des Weltalls - wp] - und nachzuweisen, daß sie den Anforderungen, welche Gefühl und Wille an sie stellen, entsprechen. Was diese in sie hinein lasen, sucht er aus ihnen herauszulesen.

Natürlich darf den sicheren Resultaten der Einzelwissenschaften nicht widersprochen werden. Die letzteren haben aber gerade an den Punkten, welche im Kampf um die Weltanschauung in Frage kommen, keine  Resultate  aufzuweisen. Die Erkenntnis der Formen, in welchen das Unbekannte handelt, vermag uns nie sichere Auskunft zu geben über sein Wesen. Man kann zwar Schlüsse ziehen aus einem Gebiet auf das andere, aber nur ungewisse. Für jede der verschiedenen Weltanschauungen lassen sich Gründe beibringen, für jede Gegengründe.  Gewertet  werden die Gründe von der ganzen  Persönlichkeit.  Nur durch die letztere erhalten sie ihre Beweiskraft für dieses oder jenes bestimmte Individuum. Sache des  Verstandes  ist es, sie hervorzusuchen und ins beste Licht zu stellen, die Gegengründe zu entkräften oder, mit anderen Worten: die vom ganzen Individuum gewählte Position zu verteidigen. Man verstehe mich nicht falsch! Was ich will, ist nicht eine "doppelte Buchhaltung", wie LOTZE sie einst RUDOLPH WAGNER vorwarf. Es soll nicht für den Glauben wahr sein, was für das Wissen falsch ist. Sondern über  die  Punkte, welche für den Glauben wahr sind, kann das Wissen überhaupt keine Entscheidung treffen. Es handelt sich um die prinzipielle Trennung zweier ganz verschiedener Gebiete. Auf dem einen ist objektives Wissen möglich von höherem oder niederem Grad, nur der Intellekt hat hier das Wort. Auf dem anderen, welches an keiner Stelle in das andere übergreift, entscheiden subjektive Faktoren, weil objektive Grundlagen fehlen. Den Einfluß jener leugnen heißt: den Tatsachen Gewalt antun; ihn ausschließen: Unmögliches versuchen; den Versuch als gelungen ansehen: sich selbst betrügen.

Was vom Entstehen der Weltanschauung gilt, das gilt natürlich auch von aller Beurteilung, bei welcher die Weltanschauung eine maßgebende Rolle spielt; d. h. von der philosophischen Betrachtung der Geschichte. Solange die letztere nur das Werden der Ereignisse zu rekonstruieren und die mitwirkenden Kräfte nachzuweisen sucht, solange ist sie Einzelwissenschaft und als solche (sieht man vom Problem des allgemeinen Kausalzusammenhangs ab) nur der Herrschaft des Intellekts unterworfen. Die Persönlichkeit hat zu schweigen. Nicht das Wertvolle soll bestimmt werden. Man will allein das Wirkliche und sein Werden begreifen.

Anders, sobald es sich um Ziele und eine auf ein Ziel hinstrebende Entwicklung handelt. Ziele werden nie gefunden, sie werden gesetzt. Sie entspringen auch nicht aus dem Intellekt, sondern spiegeln den ganzen Charakter der Persönlichkeit wider, welche sie setzte. Was dem Denker das Höchste ist, das soll auch die Geschichte als solches gewährleisten.

Zwar: die Geschichtsphilosophen aller Zeiten und Parteien haben das Gegenteil behauptet. Nur aus der Geschichte wollen sie die Ideen genommen haben, nach welchen sie die Geschichte beurteilen. Sie selbst soll dem sinnenden Geist ihre Ziele offenbaren, ihm den Maßstab der Beurteilung an die Hand geben. Aber wie viele Geschichtsphilosophien sind schon aufgestellt! wie widersprechende! Wie merkt man ihnen allen die Individualität des Philosophen,, seine Zeit, seine Parteistellung! Auch hier gilt es, der Wahrheit die Ehre zu geben und die Beschränktheit der Geschichte als Wissenschaft einzugestehen. Nie vermag sie über das "Wie?" der Ereignisse hinauszudringen. Nie kann sie  Wissen  erwerben und mitteilen über das letzte Ziel der Entwicklung und den tieferen Sinn der einzelnen Entwicklungsstufen.

Jetzt sind wir imstande, die oben aufgeworfenen Fragen befriedigend zu beantworten. Durch die Einsicht, daß jenseits der Grenze der Einzelwissenschaften ein Glaubensgebiet liegt, in welchem subjektive Faktoren entscheiden, wird der alte Streit zwischen Glauben und Wissen endgültig beigelegt. Ohne diese Einsicht wohl kurzer Waffenstillstand, aber kein "ewiger Friede". Jede Einseitigkeit rächt sich schwer. Sollten die Einzelwissenschaften es heutzutage ernsthaft versuchen, das Recht auf Glauben zu verkümmern, sollte es ihnen noch einmal gelingen, innerhalb des Glaubensgebietes eine Gewaltherrschaft zu errichten und Sätze von  angeblich  apodiktischer Gewißheit für dassselbe zu dekretieren, so würde das scheinbar ein großer Erfolg sein, - aber nur ein vorübergehender. Die Vergeltung würde nicht ausbleiben. Jene Sätze, in  Wirklichkeit  nichts als Glaubensansichten, hätten nur für eine bestimmte Art von Individualitäten Geltung. Zwar, zu einer  gewissen  Zeit könnte diese Art sehr wohl die große Majorität eines Volkes oder gar der gebildeten Welt ausmachen. Doch der Rückschlag würde bald erfolgen. Die unterdrückten Individualitäten empören sich, sie fordern Entwicklungsfreiheit. Die geistige Flutwellt strömt zurück, und, nicht zufrieden damit, das verlorene Terrain wieder zu gewinnen, braust sie auch über das Wissensgebiet dahin. In welcher Weise sich Übergewicht und Übergriffe des Glaubens äußern würden - niemand vermag es zu sagen. Aber ausbleiben würden sie nicht. Das lehrt - nicht etwa eine Philosophie der Geschichte, welche im Ausgleich zwischen Glauben und Wissen ein Ziel der Geschichte erblickt - das lehren die Tatsachen der Vergangenheit. Und der Strömung würde wieder die Gegenströmung folgen, dieser jene - ein endloser Kampf, den nur die prinzipielle Scheidung zwischen Wissen und Glauben beenden kann. Umgekehrt: wer diese Scheidung für sich vollzogen hat, wird auf das Sorgsamste bemüht sein, allen Einfluß der subjektiven Faktoren aus dem Wissensgebiet fernzuhalten. Er hat einen Blick hinter die Kulissen getan und erkannt, welche Macht Persönlichkeit, Gefühl und Wille haben. Er weiß aus Erfahrung, wie gern die subjektiven Faktoren sich in das Gewand eines objektiven Wissens hüllen und wie leicht ihnen die Täuschung gelingt. Der Wissensstolz dagegen meint alles Subjektive auszuscheiden und fällt gerade dadurch der Täuschung anheim. Sein eigenes Glauben hält er für Wissen, fremden Glauben für Unwissenheit oder gar Torheit. Jenes soll eine Frucht der Erfahrung sein. Um es aber in ihr zu finden, muß er die Wirklichkeit seinerseits erst konstruieren. Und wo willkürliche Konstruktion ist, da ist keine Wissenschaft.

Aber noch mehr! Wer jene Scheidung vollzogen hat, für den gibt es nicht nur zwischen Wissen und Glauben keinen Konflikt; er wird auch allen Kampf auf dem Glaubensgebiet vermeiden. Nie kann es ihm einfallen, daselbst zu "beweisen" und zu "widerlegen", zu verfluchen und alleinseligmachende Lehren zu verkünden, allgemeine Anerkennung zu erzwingen, statt die Zustimmung Gleichgesinnter zu erhoffen. Hätte man allgemein den besonderen Charakter jener Probleme erkannt, so könnte ein gutteil Polemik aus den metaphysischen Untersuchungen verschwinden. Man würde wissen, daß es verlorene Liebesmüh ist, Glaubensüberzeugungen dem Gegner andemonstrieren zu wollen. Jeder möge jedem seinen Glauben lassen! Wir Philosophen den Theologen, sie aber auch uns! Man beschränke sich darauf, ohne absprechenden Stolz und ohne Aufdringlichkeit im Beweisen, sachlich und ruhig seine Ansichten zu erörtern, in der Hoffnung, die Darlegung werde ähnlich gestimmte Naturen erfreuen und gewinnen.

Ich bin jedoch nicht der Ansicht, daß alles, was es heutzutage an Glaubensüberzeugungen gibt, stets dieselbe Verbreitung haben wird. Im Gegenteil wird man hoffen dürfen, daß später manches davon allgemein als Vorurteil anerkannt wird. Die Geschichte der religiösen Ansichten und die Entwicklung der Naturwissenschaft zeigt, daß man sich immer mehr damit befreundet, überall natürliches Geschehen zu erblicken und Analogieschlüssen kein Gebiet vorzuenthalten. Auf wunderbare Gebetserhörungen, auf besondere "Fügungen", auf übernatürliche Eingriffe des Unendlichen in das Endliche. Einzelnen zuliebe und zuleide, verzichtend, wird man umso mehr danach trachten, alles  sub specie aeternitatis  [im Licht der Ewigkeit - wp] anzuschauen und, dem Notwendigen nicht widerstrebend, tief und sicher im Unendlichen wurzelnd (wie verschieden man sich es auch denke), Freuden und Schmerzen des Weltalls gefaßt zu ertragen. Statt Unmögliches zu wünschen, wird man versuchen, sich dem Gegebenen, das Gegebene sich anzupassen. Einsicht in die Notwendigkeit und Einordnung in den großen Zusammenhang des Ganzen gibt dem Mann (aber nicht der Memme!) Mut und Entschlossenheit, ruhige Entsagung und demütige Ergebung. Doch man denke nicht, daß ein solcher Wechsel der Glaubensüberzeugungen durch Reden und Beweisen, durch einen bloß intellektuellen Zwang, ausgeübt auf die  Gläubigen,  zustande gebracht werden kann. Eine Änderung des Glaubens bedeutet zugleich die Änderung der Lebensrichtung. Die subjektiven Grundlagen allen Glaubens: Charakter, Wollen, Fühlen, müssen zunächst umgestaltet werden, bevor der Glaube ein anderer werden kann. Jenes geschieht durch allmähliche Wandlung des Zeitcharakters, durch eine ebenso allmähliche Wandlung gewisser erblicher Charakterdispositionen, durch die Einwirkungen des Lebens, Vorbild, persönlichen Einfluß, Erziehung. Bevor der Intellekt gezwungen werden kann, gewisse Konsequenzen als notwendig anzuerkennen, muß der Charakter willig gemacht werden, sie zu ziehen, der Wille fähig, sie zu ertragen. Eines der qualvollsten Schauspiele bietet ein schwacher mensch, der seines Glaubens nicht völlig sicher, dem Intellekt Zugeständnisse entreißen läßt, welche seiner Individualität zuwider sein. Zwischen vermeintlichen notwendigen Verstandesfolgerungen und noch stärker zwingenden persönlichen Bedürfnissen hin- und hergezerrt, geht er an einem inneren Zwiespalt jämmerlich zugrunde.

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Ich kehre zu meinem Ausgangspunkt zurück und wiederhole die Frage: Ist irgendein Mensch imstande, mit seinem Wissen auszukommen und sich dem Glauben völlig zu versagen? Nach dem Vorhergehenden kann über die Antwort kein Zweifel sein.  Theoretisch  ist es gewiß möglich. Wenn er nämlich die Grenzen des Wissens anerkennt und auf den Glauben gänzlich verzichtet. Ob jemand das  praktisch  durchzuführen vermag? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall sind es Ausnahmemenschen. Die meisten täuschen sich über sich selbst. Sie glauben, frei zu sein von aller Metaphysik, und stecken doch mitten drin. COMTE und seine Anhänger bieten dafür ein lehrreiches Beispiel. Wer auf jene Ausnahmestellung Anspruch erhebt, müßte sich jeder Ansicht über das Transzendente enthalten. Wollte er es leugnen, so würde eben dieser Unglaube sein Glaube sein. Er müßte darauf verzichten, einen Sinn in den Dingen, einen Sinn in der Geschichte zu suchen. Was vor der schärfsten Prüfung des Verstandes als  Wissen  nicht standhält, müßte er beiseite werfen, zu stolz, sich  selbst  in die Dinge zu tragen. Vereinzelt mag es solche  Männer  geben. Stark geistige Naturen müssen es sein, die ihren Halt ganz in sich selbst finden, die keiner Hoffnung, keines Balsams bedürfen, den die Erfahrung nicht gibt. Der Drang zum Handeln ist in ihnen so mächtig, daß sie zum Träumen einer Weltanschauung keine Zeit und keinen Trieb haben.
LITERATUR Erich Adickes, Wissen und Glauben, Deutsche Rundschau, Bd. 49, Berlin 1898