ra-4 Paul SternJohannes von MalottkiHeinrich Lanz

Der Mythos des Gegebenen
WILFRID SELLARS

 
Ich bin mit meinen Überlegungen nunmehr an einem Punkt angelangt, der zumindest  prima facie  [auf den ersten Blick - wp] nicht mehr mit den Grundannahmen des logischen Atomismus im Einklang steht. Solange man nämlich den Begriff des  Grün-Scheinens  als denjenigen Begriff ansieht, auf den sich der Begriff des  Grün-Seins  zurückführen läßt, solange klingt es nicht unplausibel, daß die zu einer beobachtbaren Tatsache gehörenden Grundbegriffe diejenige logische Unabhängigkeit voneinander besitzen, die für die empiristische Tradition kennzeichnend ist. So aber mutet die Situation auf den ersten Blick  ziemlich  beunruhigend an. Wenn nämlich die Fähigkeit zu erkennen, daß  x  grün zu sein scheint, den Begriff des  Grün-Seins  voraussetzt, und wenn dieser Begriff wiederum mit dem Wissen um die Bedingungen einher geht, unter denen man einen Gegenstand betrachten muß, wenn man seine Farbe bestimmen will, dann scheint es, als wäre man nicht in der Lage, den Begriff des  Grün-Seins  zu bilden. Man kann nämlich nur schwerlich die Umstände bestimmen, ohne daß man erkennt, daß bestimmte Gegenstände bestimmte wahrnehmbare Charakteristika aufweisen, zu denen auch Farben zählen. Und aus den gleichen Gründen wäre man nicht in der Lage, die Begriffe der anderen Farben zu bilden, ohne daß man sie bereits hat.

Es hätte wenig Sinn, darauf zu erwidern, daß es genügt, mit der Vokabel  Das ist grün  auf grüne Gegenstände zu reagieren, wenn es sich tatsächlich um Standardbedingungen handelt, damit man den Begriff des Grünen hat, damit man also weiß, was es heißt, daß etwas grün ist. Es genügt nicht, daß Bedingungen vorliegen, die angemessen sind, um die Farbe eines Gegenstandes durch Anschauen zu bestimmen. Das Subjekt muß  wissen daß Bedingungen dieser Art angemessen  sind Und während man dazu keine Begriffe haben muß, bevor man sie hat, so kann man doch nur dann über den Begriff des Grünen verfügen, wenn man bereits über einen ganzen Komplex von Begriffen verfügt, von denen  grün  ein Element ist. Während also der Prozeß des Erwerbs des Begriffs  grün  eine lange Geschichte haben kann und tatsächlich auch hat, eine Geschichte, zu der gehört, daß man es  nach und nach  lernt Gewohnheiten der Reaktion auf verschiedene Gegenstände unter verschiedenen Umständen auszuprägen, kann man doch in gewissem Sinne  nicht  über einen Begriff verfügen, der zu den beobachtbaren Eigenschaften physischer Gegenstände in Raum und Zeit gehört, ohne daß man sie alle hat - und außerdem noch eine ganze Menge mehr. (1)


LITERATUR, Wilfrid Sellars, Der Empirismus und die Philosophie des Geistes
    Anmerkung
    1) Ergänzung aus dem Jahr 1963: Das Argument erlaubt es, einen prinzipiellen Unterschied zu machen zwischen einem rudimentären [unvollständigen - wp] Begriff von "grün", der erlernt werden kann, ohne daß man gleichzeitig den logischen Raum der Rede des Scheinens erlernt, sowie einem reicheren Begriff von "grün", bei dem "ist grün" durch "sieht bloß grün aus" angezweifelt werden kann. Entscheidend ist, daß selbst der Besitz des rudimentären Begriffs den Besitz eines Komplexes weiterer Begriffe voraussetzt.