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FRIEDRICH SCHLEGEL
Lessings Geist
aus seinen Schriften

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"Wir sind eine gelehrte Nation, diesen Ruhm macht uns niemand streitig, und wenn wir nicht durch Gelehrsamkeit und Kritik unserer Literatur, die größtenteils erst noch entstehen soll, eine sichere Grundlage geben, so fürchte ich, werden wir bald auch das Wenige verlieren, was wir bis jetzt schon haben."

Allgemeine Einleitung
- Vom Wesen der Kritik -

Alles was LESSING getan, gebildet, versucht und gewollt hat, läßt sich am füglichsten unter den Begriff der Kritik zusammenfassen; ein Begriff, der, so mannigfaltig und weit verbreitet auch die Tätigkeit seines Geistes war, dennoch vollkommen hinreichen kann zur gemeinschaftlichen Übersicht derselben, wenn man, ihm seine alte Würde wiedergebend, ihn so umfassend nimmt, wie er ehedem genommen wurde.

LESSINGs poetische Bestrebungen sind zu betrachten als Beispielübungen für seine Prinzipien der Poetik und Dramaturgie; in der Philosophie aber, demjenigen Gebiet, für welches ihn eigentlich die Tendenz seines Geistes bestimmte, war er durchaus nicht Systematiker und Sektenstifter, sondern Kritiker. Prüfung, freimütige und sorgfältige Prüfung der Meinungen anderer, Widerlegung manches gemeingeltenden Vorurteils, Verteidigung und Wiederanregung dieser oder jener alten, oft schon vergessenen Paradoxie, das war die Form, in welcher er seine eigenen Meinungen in diesem Fach, meistens nur indirekt vorzutragen pflegte. Die große Masse seiner anderen Schriften, antiquarischer, dramaturgischer, grammatischer, und eigentlich literarischer Untersuchungen gehört selbst nach dem gemeineren Begriff hierher und ich weiß nicht, ob nicht auch alle Polemik wenigstens als eine der Kritik sehr nah verwandte Gattung betrachtet werden sollte.

Aber eben weil diese Wissenschaft oder Kunst, die wir Kritik nennen, so viel umfaßt, ihr Gebiet aber so weit sich überhaupt nur die redenden Künste und die Sprachen erstrecken, zu verbreiten pflegt, ist es unumgänglich notwendig, den Begriff derselben genauer zu bestimmen, welches am Besten geschehen kann, indem wir uns an ihren Ursprung erinnern.

Die Griechen, von denen wir selbst den Namen der Kritik übernommen haben, sind es, welches sie zuerst erfunden und gestiftet und zugleich auf den höchsten Gipfel beinah der Ausbildung und Vollkommenheit gebracht haben. Nachdem das Zeitalter der großen Poeten vorüber war, ging bei ihnen doch der Sinn für Poesie nicht völlig unter. Bei der großen Anzahl der schriftlichen Denkmale, welche teils ihre innere Merkwürdigkeit, teils eine sehr umfassende Liebhaberei erhalten hatte, und immer noch fort erhielt, wurde es bald eine Wissenschaft, sie nur alle zu kennen, besonders aber sie zu überschauen, welches ohne eine bestimmte Anordnung nicht möglich war; die Art, wie die Gedichte auf die Nachwelt gekommen waren, und wie Bücher damals vervielfältigt wurden, gab auch demjenigen Scharfsinn, der sich liebt auf ein einzelnes Werk beschränken, als in das große Ganze verlieren mochte, Beschäftigung; die kleineren und größeren Lücken und Zusätze aus den älteren Nachrichten zu folgern, aus Vergleichungen mehrerer Handschriften zu sammeln, oder aus dem Zusammenhang zu erraten und nach vielfach wiederholten Prüfungen und Vergleichungen endlich mit Gewißheit zu bestimmen, auch nur für ein einzelnes Werk, das wurde nun ein jahrelanges weitläufiges Geschäft, zu groß oft, um von Einem vollendet werden zu können.

Dieses beides, die Auswahl der klassischen Schriftsteller, welche das Ganze der griechischen Poesie und Literatur in eine deutliche Ordnung stellen sollte; und zweitens die Behandlung der verschiedenen Lesarten, blieben immerfort die Angeln der alten Kritik. Es mag sein, daß sie das letzte Geschäft durchaus nicht so unverbesserlich vollendet hat, als das erste; es mag sein, daß durch die Auswahl der klassischen Werke manches, was uns merkwürdig sein würde, nicht auf uns gekommen ist, weil es außerhalb dieses Zyklus lag. Das Prinzip aber, nach welchem sie dabei verfuhren, ist durchaus das richtige; indem sie nicht das fehlerfreie, meistens nur das, was keine Kraft hat zum Ausschweifen, für vortrefflich, für gebildet und ewiger Nachbildung würdig hielten; sondern was in seiner Gattung als das Erste, Höchste oder Letzte am kräftigsten angelegt, oder am kunstreichsten vollendet war, mochte es übrigens dem beschränkten Sinn noch so viel Anstoß geben. Und vortrefflich war die Methode ihres Studiums; ein unaufhörliches, stets von Neuem wiederholtes Lesen der klassischen Schriften, ein immer wieder von vorn angefangenes Durchgehen des ganzen Zyklus; nur das heißt wirklich lesen; nur so können reife Resultate entstehen und ein Kunstgefühl, und ein Kunsturteil, welches allein durch das Verständnis des Ganzen der Kunst und der Bildung selbst möglich ist.

Freilich hatten sie dabei einen sehr großen Vorteil; das Kunstgefühl war bei den Griechen sehr allgemein, und die Kritiker durften meistens nur die allgemeinen Urteile, die sie schon vorfanden, bestätigen und erklären; nur hie und da hat ihre Willkür daran geändert, nur im Einzelnen haben Nebenrücksichten das Kunstgefühl auf einen Abweg geleitet; und nur über geringere Bestimmungen konnte ein Streit oder Verschiedenheit des Urteils stattfinden; im Ganzen aber war man einig, was das Kunsturteil und die Prinzipien betrifft. Wie natürlich; die griechische Literatur und Poesie war ein vollkommen in sich geschlossenes Ganzes, woe es nicht schwer sein konnte, die Stelle zu finden, die das Einzelne im Ganzen einnimmt. Der poetische Sinn ging nie völlig bei dieser Nation verloren. Die Art aber, wie seit der Erfindung der Buchdruckerei und Verbreitung des Buchhandels durch eine ungeheure Masse ganz schlechter und schlechthin untauglicher Schriften der natürliche Sinn bei den Modernen verschwemmt, erdrückt, verwirrt und mißleitet wird, fand damals noch gar nicht statt. Nicht, als hätte sich nicht unter der Menge der alten Dichter auch wohl einer erhalten, der mittelmäßig war, oder nach etwas ganze Falschem strebte, vom wahren Weg sich weit verirrte. Allein die Majorität der erhaltenen allgemein gelesenen und immer wieder bearbeiteten Werke war doch in der Tat vortrefflich. Die weniger guten waren nur die Ausnahmen, und daher auch unter diesen wohl keins so ganz bildungslos und kunstlos, wie es nur da möglich wird, wo eine gute Schrift eine höchst seltene Ausnahme, absolute Schlechtigkeit aber in der Regel ist.

Ganz anders schon war es bei den Römern, obwohl ihre Kritik nur von den Griechen angenommen, der griechischen ganz und gar nachgeformt war. Denn eben dieser Umstand schon, diese Einführung einer fremden Bildung und Poesie mußte eine weite Kluft zwischen dem gelehrten und ungelehrten Gefühl veranlassen. Und unter den römischen Gelehrten war sogar die Frage, in wie weit das Griechische unbedingt nachzubilden, oder auch das Einheimische beizubehalten sei, der Gegenstand eines nie ganz entschiedenen Streites, der doch nichts Geringeres als die Prinzipien selbst der Literatur betraf. In diesem Stück ist das Verhältnis der Römer schon dem unsrigen ähnlicher. Übrigens aber war der Geist dieser Nation zu praktisch, als daß sie mehr als einige große Gelehrte hätte haben können, die auch bald ohne Nachfolger blieben. Besonders war ihre Poesie zu neuen Ursprungs, zu arm, und hörte, da sie erzwungen war, bald ganz wieder auf.

An einer reichen Poesie fehlte es nun zwar in der romantischen Poesie den Modernen nicht. Es war aber diese Poesie so ganz eine unmittelbare Blüte des Lebens, daß sie ganz an dieses geknüpft war, und mit dem Untergang der Verfassung und Sitten, besonders in Deutschland, zugleich mit untergehen mußte. Es waren meist Ritter und Fürsten, welche sie übten; seltener Geistliche, welche doch nur etwa im Gegensatz jener, Gelehrte genannt werden können. So war es in Deutschland, Spanien, dem südlichen und nördlichen Frankreich. Nur in Italien waren die drei ersten großen Dichter zugleich Gelehrte, freilich von wie beschränkten Hilfsmitteln, aber doch mehr Gelehrte als irgendeiner unter jenen früheren romantischen Erfindern, zugleich Dichter und die ersten Wiederhersteller der alten Literatur. Und auch nur die italienische Poesie jener älteren Zeit ist geblieben, und in steter lebendiger Wirksamkeit erhalten. Die provenzialischen Gesänge, die altfranzösischen Erfindungen, und die herrlichen Werke altdeutscher Dichtkunst sind verschollen, und die fast unbekannt gewordene Poesie harrt meist noch im Staub der Büchersammlungen auf einen Befreier. Da der Geist und das Leben, aus welchem die romantische Poesie hervorging, verschwunden und zerstört war, ging auch diese Poesie selbst unter, und mit ihr zugleich auch aller Sinn dafür, weil hier nicht wie in Griechenland auf das Zeitalter der Dichtung, ein Zeitalter der Kritik folgte; um, da die Kraft neue Schönheit hervorzubringen nicht mehr vorhanden war, wenigstens die alte auf die Nachwelt zu bringen. Der frühe, schnelle und in einigen Ländern wenigstens völlige Untergang der romantischen Poesie (und mit ihr des richtigen Gefühls für das einheimische Leben, und die Erinnerung der Vorfahren) aus Mangel an Kritik, und die Folge dieses Mangels, Vernachlässigung und Verwilderung der Muttersprache, macht die Wichtigkeit und den Wert dieser dem Anschein nach mit geringfügigen Untersuchungen, mehr aus Liebhaberei spielenden als ernsthaft beschäftigten Kunst nur allzu deutlich. In der Tat kann keine Literatur auf die Dauer ohne Kritik bestehen, und keine Sprache ist vor Verwilderung sicher, wo sie nicht die Denkmale der Poesie erhält, und den Geist derselben nährt. So wie in der Mythologie die gemeinsame Quelle und der Ursprung für alle Gattungen des menschlichen Dichtens und Bildens zu suchen, so wie Poesie der höchste Gipfel des Ganzen ist, in deren Blüte sich der Geist jeder Kunst und jeder Wissenschaft, wenn sie vollendet ist, endlich auflöst; so ist die Kritik der gemeinschaftliche Träger, auf dem das ganze Gebäude der Erkenntnis und der Sprache ruht.

Aus Mangel an gründlicher Gelehrsamkeit und Kritik also haben wir Neueren und besonders wir Deutschen, unsere Poesie und mit ihr die alte der Nation angemessene Denkart verloren. Zwar an Gelehrsamkeit fehlte es nicht in Europa, seit die flüchtigen Griechen ihre Schätze verbreitet hatten, römisches Recht eingeführt, die Buchdruckerei erfunden, und Universitäten gestiftet waren. Da aber diese Gelehrsamkeit so ganz und gar eine nur ausländische war, so wurde die Muttersprache nur noch mehr vernachlässigt; die poetische Anschauung aber war nun schon so gänzlich verloren, daß es diesen Gelehrten, die dann oft auch weiter nichts waren als Gelehrte, gleich an der ersten und wesentlichsten Bedingung zur Kritik fehlte. Das zeigte sich recht sichtbar in den ersten Versuchen, diese poetische Anschauung wieder zu erschwingen, und ein Urteil über ästhetischen Wert oder Unwert fällen zu können. Denn als man nun doch allmählich auch Philosophie mit der Gelehrsamkeit verbinden wollte, und so die allgemeinen Begriffe von Schönheit und Kunst anzuwenden versuchte, oft ohne recht zu unterscheiden, wo sie passen könnten oder nicht; da auch manches der Art in den Schriften der Alten sich vorfand, was wenigstens als Tradition wirkend einen dunklen Glauben und allerlei Versuche der Anwendung erregen mußte; so zeigte sichs doch gleich an der ersten Frucht dieses Bestrebens, aus welchem absoluten Mangel an Kunstsinn, aus welcher Entfernung von aller Poesie, man sich ihr wieder zu nähern suchte. Denn nur über die einzelnen Stellen wagte man ein Urteil, stritt über ihren Wert oder Unwert bis in ein Detail, wo alles Gefühl aufhört, und suchte den Grund des Vergnügens über solche Stellen nicht sowohl aus der Natur der Seele physikalisch zu erklären, als vielmehr aus einigen ziemlich leeren Abstraktrionen darüber, oft nicht ohne die gewaltsamsten Spitzfindigkeiten herzuleiten. Die erste Bedingung allen Verständnisses, und also auch das Verständnis eines Kunstwerks, ist die Anschauung des Ganzen. An diese war nun bei jener der wahren diametral entgegengesetzten Methode nicht zu denken, und es kam endlich so weit, daß man die Dichter nur auf solche Stellen las, die man poetische Gemälde nannte, und deren Regeln man ordentlich in ein System brachte. In diese Epoche fällt die erste Stufe der LESSINGschen Laufbahn und Kritik; und wiewohl seine Ästhetik noch durchaus an seine falsche Tendenz erinnert, so darf man doch, ohne die Schwäche der ersten Schritte diese großen Geistes mehr als billig zu erheben, Folgendes zum Lob derselben sagen. Selbst in denjenigen seiner ersten ästhetischen Ansichten, die bloß auf eine Erklärung des Kunstvergnügens nach der zergliedernden Psychologie der WOLFFischen Schule gehen, - einer Erklärungsart des Kunstphänomens, bei welcher zuerst willkürlich vorausgesetzt wird, die Sinne seien vernünftig, sodann aber auch die Vernunft selbst, damit sie ja nicht wieder ins Unvernünftige verfalle, für vollkommen eigennützig gehalten wird - selbst in diesem schwächsten Versuch seines ersten Denkens wird man nicht ohne Vergnügen den Unterschied einer größeren Strenge gewahr; es wird fast alles auf den Begriff der Realität zurückgeführt, als den einzig reellen; und mancher möchte schon hier einen ersten Keim der nachherigen Philosophie LESSINGs finden, die sich zunächst an den strengsten und konsequentesten Realismus anschloß.

Übrigens zeigt es sich in dieser Tendenz noch ganz besonders, wie fremd den Menschen die Poesie geworden war; das Kunstgefühl war ihnen ein Phänomen, das sie vor allen Dingen zu begreifen und zu erklären wünschten; wodurch aber weder das Verständnis der Kunst eröffnet, noch auch der Dichter selbst gefördert wird. In neuerer Zeit hat man, besonders seit KANT, einen anderen Weg eingeschlagen, und durch die Zurückführung eines jeden besonderen ästhetischen Gefühls auf das Gefühl des Unendlichen, oder die Erinnerung der Freiheit wenigstens die Würde der Poesie gerettet. Für die Kritik aber ist damit immer nicht viel gewonnen, solange man den Kunstsinn nur erklären will, statt daß man ihn allseitig üben, anwenden und bilden sollte. Hätte man auch, wie sich eine Physik des Auges und des Ohres für den Maler und Musiker teils denken läßt, teils auch schon in einzelnen Datis und Ideen wenigstens dem Keim nach vorhanden ist, eine ähnliche Wissenschaft für die Poesie, die aber eben darum, weil dieses die umfassendere Kunst ist, nicht Ästhetik sein dürfte, auch nicht Fantastik, weil diese wieder zu allgemein im Grunde mit dem Begriff der Philosophie als einer Wissenschaft des Bewußtseins zusammenfallen würde, sondern etwa Pathetik sein müßte; eine richtige Einsicht in das Wesen des Zornes, der Wollust usw.; zu deren Aufstellung aber unstreitig die physikalische Theorie des Menschen und der Erde noch viel zu unvollkommen ist; so würde eine solche Wissenschaft zwar als Teil der Physik eine sehr reelle Wissenschaft sein, schwerlich aber dem Dichter zur Ausübung helfen, oder seine Natur verändern können. Kunstbildung wenigstens würde nich dadurch entstehen, und für die Kritik würde dieses Bestreben verloren sein.

Aber LESSINGs Geist war nicht gemacht, eine falsche Tendenz bis ans Ende zu verfolgen. Kühn ging er von einem zum andern über, in unregelmäßiger Laufbahn, viele Systeme, so wie sehr verschiedene Fächer der Literatur durchschneidend. Früh schon äußert sich bei ihm neben der psychologischen Erklärung das Streben, die Gattungen der Kunst streng zu scheiden, ja ihren Begriff mit wissenschaftlicher Präzision zu bestimmen. Es ist herrschend in seinen antiquarischen, wie in seinen dramaturgischen Versuchen und es hat ihn nie verlassen. Ein vortreffliches Bestreben, wodurch erst eigentlich der Grund gelegt wird zur besseren Kritik, welche uns die alte, verlorene, wiederherstellen soll. Bei den Alten war der Unterschied der Gattungen jedem aus der Anschauung deutlich; die Gattungen hatten sich frei entwickelt, aus dem Wesen der Kunst und der Dichtkunst überhaupt, und aus dem der griechischen, und blieben meist ihrem Charakter selbst in Abweichungen noch unverkennbar und unwandelbar treu. Im größeren Ganzen aber der Poesie aller alten und neuen Völker, was bei uns allmählich Gegenstand der Kritik werden soll, sind der Gattungen zu viele und diese zu mannigfaltig modifiziert, als daß das bloße Gefühl ohne einen ganz bestimmten Begriff hinreichend sein könnte. Und in Rücksicht der damals, da LESSING schrieb und anfing zu schreiben, herrschenden Ansichten; so zeigte sich die ungeheure Unkunst der allgemeinen Denkart auch darin, daß man von jedem alles forderte, und so gar keinen Begriff hatte, daß wie jedes Ding, so auch jedes Werk nur in seiner Art und Gattung vortrefflich sein soll, oder sonst ein wesenloses Allgemeinding wird, dergleichen so manche in der modernen Literatur sind. -

So mancher Berichtigung also auch LESSINGs Begriffe von der Kunst bedürfen mögen, so führte doch seine Ästhetik wenigstens auf den rechten Weg; denn die Sonderung der Gattungen führt, wenn sie gründlich vollendet wird, früher oder später zu einer historischen Konstruktion des Ganzen der Kunst und der Dichtkunst. Diese Konstruktion und Erkenntnis des Ganzen aber ist von uns als die eine und wesentlichste Grundbedingung einer Kritik, welche ihre hohe Bestimmung wirklich erfüllen soll, aufgestellt worden.

Die andere war die Absonderung des Unechten; aber dieses Element muß freilich in der Anwendung auf die einheimische Literatur eine ganz andere Gestalt gewinnen. Was aus alten Zeiten erhalten wurde, ist durch äußere Bedingungen mehr vor Verfälschungen gesichert gewesen; dagegen aber ist die Masse des Falschen und Unechten, was in der Bücherwelt, ja auch in der Denkart der Menschen die Stelle des Wahren und Echten einnimmt, gegenwärtig ungeheuer groß. Damit nun wenigstens Raum geschafft werde für die Keime des Besseren, müssen die Irrtümer und Hirngespinste jeder Art erst weggeschafft werden. Dieses kann man füglich mit LESSING Polemik nennen, der diese Kunst sein ganzes Leben hindurch, besonders in der letzten Hälfte, trefflich geübt hat.

Die bis hierher gegebene historische Entwicklung des Begriffs der Kritik umfaßt zugleich LESSINGs schrifstellerische Laufbahn, und fällt zusammen mit den verschiedenen Epochen seines Geistes. Überall aber wird man auch jene ursprüngliche sogenannte Philologie bemerken, jenes regsame Interesse für alles, was nur irgendwie literarisch interessant sein kann, selbst das, was nur darum noch dem eigentlichen Literator oder Bibliothekar interessant ist, weil es irgendwann einmal interessiert hat. Mit Vergnügen wird man hie und da Spuren gewahr von der sorgfältigsten Aufmerksamkeit auf die deutsche Sprache; und eine immer noch seltene, damals aber noch seltenere Bekanntschaft mit den alten Denkmalen derselben. Zum Heldenbuch hatte er schon früh einen großen Kommentar geschrieben, dessen Verlust sehr zu beklagen ist; und noch spät und mitten unter dem Drang ganz anderer Beschäftigungen waren die epischen Romane vom heiligen Gral und von der Tafelrunde ihm ein Gegenstand der Forschung.

Das ist es eben. Sein Geist war nicht in die enge Sphäre anderer Gelehrten gebannt, die nur im Lateinischen oder Griechischen Kritiker sind, in jeder anderen Literatur aber wahre Unkritiker, weil sie fremd darin sind und ohne Einsicht. LESSING hingegen behandelte alles mit kritischem Geist; Philosophie und Theologie nicht weniger als Dichtkunst und Antiquitäten. Das Klassische behandelte er oft mit der Leichtigkeit und Popularität, in der man sonst nur vom Modernen zu reden pflegt, und das Moderne prüfte er mit der Strenge und Genauigkeit, die man ehedem nur bei der Behandlung der Alten notwendig fand. Er studierte, wie erwähnt, die einheimische alte Literatur, und war doch mit der ausländischen neueren bekannt genug, um wenigstens den Weg richtig anzuzeigen, wohin man sich zu lenken, und was man zu studieren hat; die ältere englische Literatur nämlich, statt der bis auf ihn prädominierenden französischen, und dann die italienische und spanische.

So umfassend aber seine Kritik war, so ist sie doch durchaus populär, ganz allgemein anwendbar. Wenn ein allumfassender Gelehrter mit großem Geist, wie Sir WILLIAM JONES, nicht bloß das Gebäude der Dichtkunst, sondern das ganze Gewebe aller Sprachen durch die Kette der Verwandtschaften bis zu ihrem Ursprung verfolgt, die verborgene Werkstätte zuerst enthüllend; wenn ein WOLFF mit unvergleichlichem Scharfsinn durch das Labyrinth aller Vorurteile, Zweifel, Mißverständnisse, grundlosen Annahmen, Halbheiten und Übertreibungen, gröbere und unmerklich feinere Verfälschungen und Verwitterungen der Zeit, zum größten Vergnügen des Forschers endlich durchdringt bis zur Quelle und zur wahren Entstehung des ältesten Kunstdenkmals der kunstreichen Nation des Altertums; so ist es in der Natur der Sache gegründet, daß nur Wenige an diesen Untersuchungen teilnehmen können und teilnehmen sollen. Es ist genug, wenn es einige Kritiker dieser esoterischen Art in einem Zeitalter gibt, und einige wenige, die sie verstehen.

Der Geist der LESSINGschen mehr populären Kritik aber liegt ganz im Kreis des allgemein Verständlichen. Er sollte überall verbreitet sein im ganzen Umkreis der Literatur; denn nichts ist so groß und nichts ist so anscheinend geringfügig in der Literatur, worauf er nicht anwendbar wäre; dieser freimütig untersuchende, überall nach richtigen Kunstbegriffen strebende, es immer strenger nehmende, und doch sich so leicht bewegende Geist, besonders aber jene billige Verachtung und Wegräumung des Mittelmäßigen oder des Elenden.

Für Deutschland insonderheit wäre dies ganz vorzüglich angemessen und wünschenswert. Wir sind eine gelehrte Nation, diesen Ruhm macht uns niemand streitig, und wenn wir nicht durch Gelehrsamkeit und Kritik unserer Literatur, die größtenteils erst noch entstehen soll, eine sichere Grundlage geben, so fürchte ich, werden wir bald auch das Wenige verlieren, was wir bis jetzt schon haben.

Jetzt noch einige Worte, um zum Beschluß dieser Einleitung wenigstens anzudeuten, wie man sich den Begriff der Kritik noch genauer und wissenschaftlich zu bestimmen habe, als in der bis hierher gegebenen Geschichtsentwicklung geschehen konnte. Man denke sich die Kritik als ein Mittelglied der Historie und der Philosophie, das beide verbinden, in dem beide zu einem neuen Dritten vereinigt sein sollen. Ohne philosophischen Geist kann sie nicht gedeihen; das gibt jeder zu; und ebensowenig ohne historische Kenntnis. Die philosophische Läuterung und Prüfung der Geschichte und Überlieferung ist unstreitig Kritik; aber eben das ist ebenso unstreitig auch jede historische Ansicht der Philosophie. Es versteht sich von selbst, daß hier nicht die Komplikationen der Meinungen und Systeme gemeint sein können, die man wohl so nennt. Eine Geschichte der Philosophie, wie die, von welcher hier die Rede ist, könnte auch wohl nur ein System, nur einen Philosophen zum Gegenstand haben. Denn nichts Leichtes ist es, die Entstehung auch nur eines Gedankensystems und die Bildungsgeschichte auch nur eines Geistes richtig zu fassen, und wohl der Mühe wert, wenn es ein origineller Geist war. Es ist nichts schwerer, als das Denken eines Andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachkonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können. In der Philosophie ist dies bis jetzt bei weitem am schwersten, liege es nun daran, daß ihre Darstellung bis jetzt weniger vollkommen ist, als die der Dichter, oder sei es im Wesen der Gattung selbst gegründet. Und doch kann man nur dann sagen, daß man ein Werk, einen Geist versteht, wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann. Dieses gründliche Verstehen nun, welches, wenn es in bestimmten Worten ausgedrückt wird, Charakterisieren heißt, ist das eigentliche Geschäft und innere Wesen der Kritik. Man mag nun die gediegenen Resultate einer historischen Masse in einen Begriff zusammenfassen, oder aber einen Begriff nicht bloß zur Unterscheidung bestimmen, sondern in seinem Werden konstruieren, vom ersten Ursprung bis zur letzten Vollendung, mit dem Begriff zugleich die innere Geschichte des Begriffs gebend; beides ist eine Charakteristik, die höchste Aufgabe der Kritik und die innigste Vermählung der Historie und Philosophie.



Nachschrift

Der Grund, warum LESSINGs Gedanken und Forschungen über die Kunst so mangelhaft geblieben sind, als wir sie finden, ist unstreitig eines Teils in der großen Verbildung der freilich auch jetzt noch vorhandenen, damals aber doch noch allgemeiner herrschenden Denkart zu suchen, andern Teils aber auch in dem Mangel an hinlänglicher Anschauung, da er doch seinem Scharfsinn und seiner Neigung zur Gründlichkeit gemäß, sehr in das Einzelne einzugehen strebte.

Er tat, was er in diesen Umständen tun konnte. Er schloß sich an das Gründlichste und Beste an, was sein Zeitalter ihm darbot; und wenn der Scharfsinn, mit dem er weiter daraus folgerte, nicht so glücklich zum Ziel gelangte, als man nach dem Maß dieses Scharfsinns hätte erwarten sollen, so waren daran eben jene Umstände Schuld; die herrschenden Vorurteile, und daß alle wahren Kunstbegriffe so gut als verloren waren, und erst von Neuem wiederentdeckt werden mußten, welches anfangs nur mühsam und unvollkommen vonstatten ging, vor allen Dingen aber der nie zu ersetzende, überall fühlbare und nicht genug in Rechnung zu bringende Mangel an eigener Anschauung.

Die Punkte, von denen LESSINGs antiquarische Kunstforschung ausging, waren auf der einen Seite WINKELMANNs Anschauung der Antike und der bildenden Kunstschönheit. Er hatte ihn anfangs nur mißverstanden, als ob er eine sittliche Beziehung in das Urteil über das Schöne einmischen wollte, da doch WINKELMANN so weit hiervon entfernt war, daß man leicht gewahr werden kann, wie er immer selbst das Sittliche eigentlich nur aus dem Standpunkt des Schönen beurteilte und betrachtete. Unter den allgemeinen Kunsttheorien damals gangbarer Schriftsteller eignete er sich gerade dasjenige zu, was unter den Händen eines Philosophen leicht am gehaltvollsten und wichtigsten werden könnte. Es hatte nämlich einer, der mit den Alten und der Philosophie des Altertums bekannteren, und folglich einer der besseren unter den ausländischen Kritikern, der Engländer HARRIS, auf den Unterschied der in sukzessiven und derin in koexistenten Medien wirkenden oder bildenden Künste mehr aufmerksam gemacht, als die Wichtigkeit desselben ganz erschöpft. Dieser Unterschied nun wurde nebst der WINKELMANNschen Schönheit gleichsam LESSINGs Prinzip der Kunstforschung. Er nahm ihn ganz an, wandte ihn überall weiter an, suchte ihn ganz ins Reine zu bringen, und ist fast überall damit beschäftigt. Und allerdings verdiente dieser Unterschied wohl die größte Aufmerksamkeit, da er gerade das einzige sehr nahe berührt, was die eigentliche Spekulation über die Kunst, ihr Wesen und ihre Art festsetzen wollen kann. Wenn an nämlich nicht bloß auf die äußerlichen Bedingungen bei diesem Unterschied sähe, sondern auf den Geist der Künste selbst, ob diese mehr progressiv oder mehr substantiell, ob das Werdende, Bewegliche in einer Kunst herrschend sei oder das Seiende, Ruhende; so würde dieser Unterschied zusammenfallen, mit der großen Scheidung alles höheren menschlichen Tuns und Denkens in Dualismus und in Realismus, je nachdem die *Freiheit, das unendliche Leben, oder die unbedingte Einheit überwiegend ist. Dieses mögen wohl auch zum Teile jene Männer gefühlt haben, und da, wo sie nur von den äußerlichen Bedingungen zu reden scheinen, bisweilen doch auch den Geist gemeint haben.

Hätte es damals schon einen Anschauer der Malerei gegeben, wie es WINKELMANN für die Antike war, so hätte LESSING besser mit dieser Untersuchung gelingen können; aber so mußte die bei ihm wie bei manchen andern stillschweigend vorausgesetzte Identität der Malerei - mit der Plastik - eine Voraussetzung, über die er sich selbst nie scheint zur Rechenschaft gezogen zu haben - sie mußte, sag' ich, ihn wenigstens über die Malerei ganz auf den Irrweg leiten.

Die Künste, auf welche jener Unterschied eigentlich paßt, und wo der Gegensatz des Seienden und Werdenden am schneidensten und strengsten gefunden wird, sind Musik und Plastik; die eine ganz nur wirkend in schnell eingreifende, aber auch schnell vorüber eilende Bewegung, die andere nur in unvergänglichen Werken sichtbar, würdig, daß das ruhige Auge sich ewig in ihre Betrachtung versenke.

Es ist dieser Gegensatz der Tätigkeit und der Ruhe, des Enthusiasmus und der Harmonie ein natürlicher; der Hang, die Neigung dazu ist immer vorhanden. Keineswegs aber ist die Trennung selbst als etwas Letztes unbedingt anzunehmen und zu setzen; vielmehr sollen die Extreme vereinigt werden, und es ist nicht nur eine Aufgabe, den Dualismen und Realismus zu verbinden, als wodurch erst Zusammenhang in die Ideen gebracht, und die höhere Ansicht vollständig gemacht wird, welche in ihrer Vollständigkeit Idealismus nicht nur genannt wird, sondern auch wirklich ist, weil im Mittelpunkt des Geistes, des vollständig gewordenen Bewußtseins die Täuschung, als gäbe es eine Realität außer ihnen, von selbst wegfällt. Es ist auch die einzige im Gebiet des höheren menschlichen Bildens und Denkens; alle Aufgaben, die in diesem Gebiet vorkommen, sind nur jene Eine immer wiederkehrende Schwierigkeit und Forderung, von einer anderen Seite, für einen anderen Fall, aus einem anderen Standpunkt. So sollen also auch Musik und Plastik keineswegs ihrem einseitigen Naturhang ganz folgen, und die eine ganz und gar sukzessiv und in Bewegung sein, die andere aber substantiell und ruhend. Gerade umgekehrt; eben weil der Stoff der Plastik so schwer und leblos ist, sei ihr Gegenstand das Leben, und nur das Leben allein. So sehen wir es in der Antike ausgeführt; die höchste Kraft und die durchgearbeitetste, vollendetste Ausbildung der lebendigen Natur in allen Stufen ihrer organischen Entwicklung klar enthüllt; die höchsten Augenblicke der lebendigsten Luft und der gewaltigsten Leiden für die Ewigkeit festgehalten; so daß man sagen kann, die Fülle des Lebendigen nach seiner ursprünglichen höchsten Erscheinung ist hier so rein dargestellt, so deutlich ausgesprochen, als es nur selten, oder fast nie in der Wirklichkeit der Fall ist; die tote Masse erscheint lebensreicher, lebenskräftiger als das Lebendige selbst, wenn dieses, wie es meistens der Fall ist, nicht vollkommen entwickelt ist. So ist auch nicht diejenige Musik die wahre, welche, da Musik ohnehin nicht anders als lebendig wirken kann, nun auch nur die leichteren Lebensgefühle und Leidenschaften zu erregen sucht; sondern diejenige ist die höhere und göttliche Musik, welche gerade das Schwere und Bleibende auszudrücken und darzustellen sucht, und aus ewigen Verhältnissen der Harmonie gleichsam stolze Tempel erbaut, so daß, wenn die Töne auch schon äußerlich verklungen sind, das Ganze noch fest wie ein Denkmal in der Seele des Hörers stehen bleibt. Von dieser höheren Musik könnte man sagen: der Gegenstand ihrer Darstellung sei die Gottheit, oder die Verhältnisse der Harmonie, dagegen die Plastik die Natur darstellen soll, oder die bildende Kraft des Lebendigen.

Auf die Malerei dürfte der Unterschied des Sukzessiven und Koexistenten kaum noch recht anwendbar sein. Denn obgleich die Art ihrer Darstellung und Einwirkung ganz und gar nicht musikalisch ist, so ist doch auch beides sehr verschieden von der der plastischen Kunst selbst mit Rücksicht auf ihre bloß äußerlichen Bedingungen. Wie wäre es möglich, den Reichtum, welchen uns die meisten der vortrefflichen alten Gemälde darbietet, in eine Anschauung zu fassen? Nur nach und nach sehen wir das Ganze, nach dem ersten Überschauen nun auch jedes Einzelne für sich sorgfältig betrachtend, und dann erst zur nochmaligen Anschauung zurückkehrend. Und keineswegs überläßt es der Maler dem Zufall, was wir zuerst sehen sollen, und was zuletzt. Wer weiß es nicht, wie und durch welche Mittel er das Auge auf dieses oder jenes zu lenken, ja wie genau er diese Anziehung zu graduieren und so gewissermaßen die Stufenfolge der Betrachtung vorher zu bestimmen vermag? Freilich immer noch nicht so sehr und nicht so willkürlich und sicher als der Dichter; aber es ist doch kein Gegensatz mehr, wie bei jenen Künsten, sondern nur ein Unterschied des Mehr oder Minder, aus dem also auch keineswegs eine totale Verschiedenheit der Prinzipien gefolgert werden kann. Der Dichter auf der anderen Seite hat so viel Mittel, was er nur nach und nach, Wort für Wort geben kann, dennoch in ein unauflösliches Ganzes zu verweben und zu verschlingen, indem er überall in dem Gegenwärtigen auch das Kommende schon andeutet, an das Vorhergegangene wieder erinnert, daß ein Werk dieser Kunst sehr wenig von den Eigenschaften eines Kunstwerks haben müßte, wenn nicht am Schluß eines Gedichts das Ganze wie ein Bild in einer Anschauung klar vor den Augen des Hörers, oder selbst des Lesers stände. Auch von dieser Seite paßt die Anwendung nicht recht.

Noch weniger aber ist es zu billigen, wenn eine so umfassende vielseitige Kunst wie die Malerei aus Mißverständnis beschränkt werden soll, oder wenn gar von Grenzen der Poesie die Rede ist, da es doch eben das Wesen dieser Kunst ist, schlechthin universell zu sein, nicht so wohl eine bestimmte Gattung und Art der Kunst, als vielmehr der allgemeine Geist, die gemeinschaftliche Weltseele aller.

Wenn LESSING demungeachtet in seinen Folgerungen und Anwendungen der gar nicht durchaus richtigen Prinzipien auf die Kunst der Poesie dennoch ungleich glücklicher gewesen ist, als wo er von Malerei redet; so ist dies nicht zu verwundern, da er von der Poesie mehr eigene Kenntnis hatte. Er hatte unstreitig sehr Recht, den deskriptiven Gedichten den Krieg anzukündigen. Sie sind wirklich ganz und gar zu verwerfen, aber nicht deswegen, weil solche Gedichte zu pittoresk sind; denn es gibt mehrere durchaus vortreffliche Gedichte, die ganz und gar im Geist der Malerei gedacht und gedichtet, so wie andere, die ganz musikalisch sind; oder auch beides zugleich, wie mehrere Werke von CERVANTES und TIECK, noch andere, welche mehr von der Plastik haben, wie manche Alte und GOETHE; sondern deswegen sind jene deskriptiven Gedichte gänzlich zu verwerfen, weil die Liebhaberei an den poetischen Gemälden, wie man es damals nannte, und das kindische Streben danach, ein untrüglicher Beweis ist, daß der Sinn beim Bilden und beim Empfangen nur auf das Einzelne gerichtet war. Dieses aber ist der Tod alles Kunstgefühls, als welches zuerst und zuvörderst auf der Anschauung des Ganzen beruth.

Ganz so universell als die Poesie kann die Malerei wohl nicht sein; doch steht sie ihr offenbar in dieser Eigenschaft am nächsten. Die Meinung, sie ebenso beschränken zu wollen, als es für die Plastik vielleicht notwendig sein mag, hat nichts für sich, als die so oft nicht bloß bei LESSING, sondern auch bei vielen eigentlichen Kunstlehrern, ja wohl gar Künstlern, stillschweigend vorausgesetzte, aber nie erwiesene, auch wohl nie zu erweisende Einerleiheit der Malerei und der Plastik. Die Malerei ist eine sehr mannigfaltige reiche und umfassende Kunst; sie kann es sein, durch ihre äußeren Bedingungen, welche nicht auf einzelne Figuren beschränkt, ihr erlauben gleich der Poesie ganze Geschichten und Verflechtungen derselben mit allen Nebenumständen, und die Individuen selbst in ihrer ganzen Umgebung darzustellen; sie war wirklich so reich während der Zeit der großen alten Meister, und es scheint notwendig, daß es es sei, da sie nur zwischen der Fülle der Individualität zu wählen hat, und zwischen der leblosen Steifheit, welche aus der mißverstandenen Nachahmung der Antike in dieser Kunst entspringt.

Ungeachtet nun diese, und wohl noch manche andere Berichtigungen und Einwendungen gegen die LESSINGschen Kunstgrundsätze sich machen ließen, so ist im Ganzen doch jene Kunstforschung und Ästhetik des verflossenen Jahrhunderts als eine Stufe und ein Fortschritt zu betrachten. Sie war der notwendige Übergang von der früherhin allgemein herrschenden, ganz verkehrten Kritik, zu der bessern, wahren, die durch LESSING, WINKELMANN und andere ihm ähnliche zuerst angeregt, und wieder auf den rechten Weg des Altertums gebracht worden ist.

Die poetische Anschauung war, wie schon an einer anderen Stelle gesagt worden, in Europa ganz verloren gegangen, besonders unter den gelehrten und lesenden Ständen. Das Sprachorgan war am meisten verwildert, durch die Menge schlechter Bücher und unnützer Leserei. Da konnte also das Bessere nicht zuerst wieder emporkommen. Es war notwendig, daß der kaum erwachte Kunstsinn sich zuerst in den materiellen Künsten orientierte, deren Einwirkung sinnlich stärker und weniger mißverständlich ist. Es kann auch da, wo der herrschende Zeitgeschmack seicht ist, das ehemalige Gute in den bildenden Künsten doch nicht leicht so ganz in Vergessenheit geraten, wie es in der redenden geschieht. Daher konnte es denn nicht fehlen, daß man, so sehr man anfangs in dieser Kunstforschung und Ästhetik irren, und nach dem Irrigen streben mochte, doch nach einiger Zeit wenigstens die ersten und allgemeinsten Bedingungen der Kunstanschauung wieder entdecken mußte. Dazu mitzuwirken hat auch LESSING, wie billig, das Seinige beigetragen.
LITERATUR Lessings Geist aus seinen Schriften, oder dessen Gedanken und Meinungen zusammengestellt und erläutert von Friedrich Schlegel, Erster Teil, neue unveränderte Ausgabe, Leipzig 1810