tb-1ra-1p-4ra-1P. SternHerbartR. HönigswaldH. LanzJ. Jeansdow    
 
PAUL NATORP
Quantität und Qualität
[in Begriff, Urteil und gegenständlicher Erkenntnis]
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"Das Gegebene notwendig gedacht als das letzte Einzelne des Allgemeinen. Dem Begrifff ist es wesentlich, sich in den Standpunkt des Allgemeinen zu stellen; auch die Begriffsform, in der das Einzelne, als solches, gedacht wird, ist doch, als Begriffsform, allgemein. Dieses gedachte, geforderte letzte Einzelne soll Empfindung heißen; so ist durch sie die Materie der Erkenntnis in der fraglichen Hinsicht definiert. Man beachte wohl, daß sie so nur definiert werden konnte im Hinblick auf die Begriffsform, durch die sie als Einzelnes des Allgemeinen gedacht wird. Das Datum der Erkenntnis ist für sich kein Einzelnes, in dem Sinne, daß es als Einzelnes schon bestimmt wäre. Bestimmt ist es allein kraft der bestimmenden Funktion, folglich unter der Kategorie der Einzelheit; abgesehen davon läßt es sich nur noch definieren als das so Bestimmbare und notwendig zu Bestimmende. Es bleibt also immer das X der Erkenntnis, nur daß jetzt der Sinn dieses X, in Beziehung auf eben das, als was es in der Erkenntnis zu bestimmen ist, festgestellt ist."

"Erkennen heißt in letzter Bedeutung Bestimmen. Es ist" lautet der Ausdruck der Bestimmung; bestimmen, was ist, heißt aber schon, den Gegenstand erkennen."

"Die Verständlichung des Werdens, der Veränderung - die Lösung des eleatischen Problems: wie Veränderung überhaupt sein kann, da doch Sein eine unwandelbare Bestimmtheit bedeutet; oder wie Veränderung sein kann, da sie doch ein Nichtsein einschließt, denn Werden heißt, aus dem Nichtsein ins Sein, bzw. aus dem Sein ins Nichtsein überzugehen."


III. Die Materie der Erkenntnis im Verhältnis
zur quantitativ-qualitativen Synthesis

28. Um vom Begriff und Urteil zur Erkenntnis des Gegenstands den Übergang zu machen, ist die in den § 9 und 10 aufgeworfene und zurückgestellte Frage nach der Natur des "Gegebenen", d. h. desjenigen Mannigfaltigen, welches zur synthetischen Einheit gebracht werden soll, wieder aufzunehmen. Durch die bloße Begriffsform (Quantität und Qualität) ist nämlich dasjenige Letzte noch nicht definiert, welches zum Begriff zwar zu erheben, ansich aber in einer vom Begriff verschiedenen Art gegeben ist. Die Erhebung zum Begriff bedeutet nun die Bestimmung; folglich ist das Gegebene, abgesehen vom Begriff, zunächst, bloß negativ, zu bezeichnen als das noch Unbestimmte, erst zu Bestimmende, als das bloße X, das letzte Fragezeichen der Erkenntnis. Allein, eben als das zu Bestimmende, wird es doch nicht lediglich negativ gedacht als das noch nicht Bestimmte, sondern zugleich positiv als das Bestimmbare; als solches ist es, im Hinblick auf eben die Formen der Erkenntnis, in denen es bestimmbar und notwendig zu bestimmen ist, einer positiven Charakteristik fähig.

Die "synthetische Einheit" wurde definiert als eine solche Einheit, welche nie gegeben, sondern immer erst zu vollziehen ist; d. h. welche stets zurückweist auf ein gegebenes, noch nicht vereinigtes aber zu vereinigendes Mannigfaltiges, in dessen Vereinigung sie selbst allemal erst entsteht. Daß dies die Beschaffenheit unserer Erkenntnis ist, davon läßt sich ein weiterer Grund so wenig angeben wie davon, daß die fundamentale Form der Erkenntnis eben die synthetische Einheit ist; aber wenigstens, daß die eine dieser Voraussetzungen der andern entspricht, läßt sich leicht einsehen. Wäre kein Mannigfaltiges gegeben, so wäre nach einer synthetischen Einheit gleichsam kein Bedarf; umgekehrt, wäre nicht die Erkenntnisform der synthetischen Einheit gegeben, so wüßten wir auch von keinem gegebenen Mannigfaltigen, denn um auch nur als Mannigfaltiges zu Begriff gebracht zu werden, bedarf es schon dieser Erkenntnisform. Hinter diese letzte Korrelation, welche wir die der Form und Materie der Erkenntnis nennen wollen, können wir nicht zurück, weil wir gar keine Erkenntnisart haben, die nicht durch sie schon bedingt wäre. Gerade der zu einem logischen Zweck notwendige Versuch, die beiden Faktoren möglichst rein voneinander zu sondern, führt am sichersten zu der Einsicht in die Unaufheblichkeit der Korrelation. Wir mußten von der synthetischen Einheit unseren Ausgang nehmen, weil sie, als die Grundform des Erkennens überhaupt, eben der Erkenntnis näher liegt; tatsächlich aber ist darin das X, welches erkannt werden soll, doch vorausgesetzt; wir haben jetzt nur diese stillschweigende Voraussetzung ausdrücklich anzuerkennen und in möglichster Bestimmtheit zu definieren.

29. Definierbar ist das Gegebene allein im Hinblick auf eben die Begriffsformen, in denen es zu bestimmen, d. h. zur Einheit des Denkens zu bringen ist. Als die ursprünglichsten dieser Formen wurden nachgewiesen: Quantität und Qualität.

In Bezug auf die Denkform der Quantität wird das Gegebene notwendig gedacht als das letzte Einzelne des Allgemeinen. Dem Begrifff ist es wesentlich, sich in den Standpunkt des Allgemeinen zu stellen; auch die Begriffsform, in der das Einzelne, als solches, gedacht wird, ist doch, als Begriffsform, allgemein, d. h. sie hat jene Bedeutung der "Funktion", des immer in gleicher Art anzuwendenden Denkverfahrens, die wir so oft (§ 15 und 16 etc.) hervorzuheben hatten. Umso mehr fordert sie dasjenige Einzelne, welches nicht bloß durch die begriffliche Funktion (obwohl bloß für sie) einzeln ist. Dieses gedachte, geforderte letzte Einzelne soll Empfindung heißen; so ist durch sie die Materie der Erkenntnis in der fraglichen Hinsicht definiert.

Man beachte wohl, daß sie so nur definiert werden konnte im Hinblick auf die Begriffsform, durch die sie als Einzelnes des Allgemeinen gedacht wird. Das Datum der Erkenntnis "ist" für sich kein Einzelnes, in dem Sinne, daß es als Einzelnes schon bestimmt wäre. Bestimmt ist es allein kraft der bestimmenden Funktion, folglich unter der "Kategorie" der Einzelheit; abgesehen davon läßt es sich nur noch definieren als das so Bestimmbare und notwendig zu Bestimmende. Es bleibt also immer das X der Erkenntnis, nur daß jetzt der Sinn dieses X, in Beziehung auf eben das, als was es in der Erkenntnis zu bestimmen ist, festgestellt ist.

Nicht Wenigen wird diese Unterscheidung als unnütze Subtilität [Tiefgründigkeit - wp] vorkommen. Und doch liegt hier die scharfe Grenzlinie der "positivistischen" und "idealistischen" Auffassung der Erkenntnis. Empfindung als das letzte Einzelne ist nicht "gegeben" (im Sinne des Positivismus), sie ist vielmehr sozusagen eine Hypothese, beruhend auf der begrifflichen Forderung des letzten Einzelnen als des letzten zu Begreifenden, ansich aber Außerbegrifflichen, d. h. Sinnlichen. "Empfindung" ist es, welche den Begriff von Eins fordert, ohne Zweifel; aber sie fordert ihn, um gedacht zu werden; also läßt sich mit nicht weniger Recht umgekehrt sagen: der Begriff ist es, welcher die Empfindung als absolute Einheit fordert. (1)

30. Wie das Empfundene der Quantität nach als das letzte Einzelne, so ist es der Qualität nach zu definieren als das letzte Identische oder qualitativ Eine. Dies gilt, in gleichem Sinne wie jenes, als Forderung, nämlich des Begriffs: die Bestimmung als dies und dies (Identische) ist Leistung des Begriffs, aber eben der Begriff setzt die Empfindung voraus als das so zu Bestimmende. Daß dagegen die Empfindung in dieser vom Begriff geforderten absoluten Identität von selbst da und "gegeben" wäre, ist doch wohl eine Täuschung. Der Positivismus, nicht der Idealismus verwechselt die Forderung der Erkenntnis mit einer gegebenen Wirklichkeit, macht sich nach dem Bedürfnis unserer Einsicht die "Tatsache" zurecht. Empfindung, als Datum, nicht als Postulat verstanden, ist und bleibt vielmehr das ins Unendliche Bestimmbare, nie absolut Bestimmte. Auf dieser Einsicht beruth jede klare Fassung des Begriffs des Empirischen; sie scheidet den wissenschaftlichen vom unwissenschaftlichen Empirismus.

31. Freilich bin ich mir wohl bewußt, hier den Punkt zu berühren, wo es anscheinend Sache der Parteinahme ist, wie man sich die letzten Grundlagen des Erkennens zurechtlegen will. Es scheint so leicht und ist darum so verführerisch, den Dualismus von Form und Materie, Begriff und Sinnlichem, Bestimmung und Bestimmbarem in eine letzte Einheit aufzuheben. In einer Art tut das der Positivismus, indem er die volle Bestimmtheit und nicht bloß Bestimmbarkeit in das "Gegebene" verlegt und dann natürlich keine Schwierigkeit findet, die bestimmende Funktion des Begriffs in ihrer Eigentümlichkeit zum Verschwinden zu bringen, nämlich auf die Beschaffenheit des "Gegebenen" zurückzuführen. Andererseits, wenn man sich von der Haltlosigkeit dieser Auffassung überzeugt hat, so liegt der Versuch umso näher, den Gegensatz vielmehr von der anderen Seite her aufzuheben: das Bestimmbare, welches ja ein bloßes X, kaum eines klaren Begriffes fähig sein soll, lieber ganz fallen zu lassen oder aus der bestimmenden Funktion selbst abzuleiten. Wir erhalten dann jene Überspannung des Idealismus, die ihren reinsten Ausdruck in der Philosophie FICHTEs erhalten hat.

Daß nun jener Dualismus für unsere Erkenntnis wirklich unüberwindlich ist, können wir allerdings nur als starre Tatsache behaupten; einen Grund einzusehen, daß es so sein muß, können wir nicht behaupten; das geht über die Kompetenz menschlicher Wissenschaft hinaus, weil uns, wie schon gesagt, keine Erkenntnisart zu Gebote steht, die über jene letzte Korrelation erhaben wäre. Ich wüßte daher zum Beweis dieser Ansicht mich nur zu berufen auf das Gesamtergebnis der Philosophie und Forschung seit dem Beginn der abendländischen Wissenschaft. Erkenntnis ist Begrenzung des insich Unbegrenzten. Darin, daß mit dem begrenzenden Verfahren nie zu Ende zu kommen ist, verrät sich, daß der Begriff allerdings nicht der alleinige Faktor der Erkenntnis ist, daß der Form eine Materie gegenübersteht, die in reine Form niemals aufzuheben ist. Beweis dessen ist die tatsächliche Beschaffenheit des gesamten Erfahrungswissens; Beweis dessen ist die Unendlichkeit, in welche der Prozeß der Erkenntnis sich nach jeder Richtung, die er nur einschlagen mag, hinausgewiesen sieht. Der Begriff, das Einheitsgesetz des Denkens fordert absolute Einheit des Gegenstands; aber wie ist sie dann gegeben, wie ist sie durch die letzten Data der Erkenntnis auch nur ermöglicht? Hier kann nur die Tatsache entscheiden; und ich denke, sie hat entschieden. Gestützt auf die Erfahrung aller Wissenschaft behaupte ich: die geforderte absolute Einheit des Gegenstands ist nicht nur nicht gegeben, sondern nach der Beschaffenheit des Gegebenen und den uns zu Gebote stehenden Erkenntnismitteln, nach KANTs Ausdruck "in den Grenzen möglicher Erfahrung", überhaupt unerreichbar. Sie bleibt dennoch gefordert, in ihr ist unserer Erkenntnis die Aufgabe gestellt; auch ist diese Aufgabe, wiewohl eine unendliche, doch eine durchaus positive und verständliche.

Hier ist zugleich der Ort, die letzte Dunkelheit zu zerstreuen, die noch darin zurückzubleiben schien, daß die synthetische Einheit nicht als gegeben, sondern als immer erst entstehend gedacht werden soll. Das ist eigentlich bloß ein anderer Ausdruck dafür, daß die Form der Erkenntnis auf die Materie, als das ins Unendliche Bestimmbare, jederzeit angewiesen bleibt.

32. Definierten wir das Gegebene der Erkenntnis als das letzte Einzelne der Quantität und Qualität, zusammengefaßt: als Empfindung, so ist damit sein Gehalt noch nicht erschöpft; oder richtiger: eben diese Bestimmungen lassen noch eine weitere Entwicklung zu.

Es genügt nämlich nicht, das Gegebene, in quantitativer Hinsicht, bloß als Einzelnes zu denken; sondern so wie dem Begriff nach das Einzelne nur gedacht werden kann im Verhältnis zu anderem Einzelnen, folglich als Einzelnes einer Mehrheit, ebenso und eben darum, kann auch das Gegebene als Einzelnes nur im Verhältnis zu anderem Einzelnem, folglich als Einzelnes einer gegebenen Mehrheit gedacht werden, d. h. als verbindbar, nämlich von Haus aus fähig eben der Verbindung, welche durch die Kategorien der Quantität am Gegebenen gedanklich vollzogen wird. Die Mehrheit, zu der das Einzelne sich verbinden soll, ist aber, da es sich auch hier um das allgemeine Verfahren der Erkenntnis handelt, notwendig Unendlichkeit (§ 18), äußere wie innere. Folglich ist die Möglichkeit der Verbindung des Mannigfaltigen in äußerer und innerer Unendlichkeit als sinnliche (materiale) Bedingung für die Begriffsform der quantitativen Synthesis vorauszusetzen. Sie ist für den Begriff vorauszusetzen, weil und sofern eben der Begriff (nach seiner Qualitätsbedeutung) sie voraussetzt. Man kann auch sagen: sie ist a priori vorauszusetzen; indem man definiert: etwas (in Bezug auf Erkenntnis überhaupt) a priori voraussetzen heißt, es voraussetzen zum Zweck der Möglichkeit der synthetischen Einheit, als letzter Wurzel der Erkenntnis überhaupt. (2)

Die Möglichkeit der Verbindung (Setzung eines Einzelnen im Verhältnis zu anderen Einzelnen) schließt zweierlei in sich: nämlich die Möglichkeit
    1) der Auseinanderhaltung,
    2) der Zusammennehmung des Auseinandergehaltenen
Es soll gezeigt werden, daß durch erstere die Zeit, durch letztere der Raum, je ihrem ersten Element nach und in Bezug auf den Begriff, nämlich als dessen Bedingung, zu definieren ist.

33. Unmittelbar durch den Versuch ist klar: man kann ein Mehreres in der Vorstellung nicht auseinander setzen, ohne es nacheinander zu setzen; man kann das auseinander Gesetzte nicht wiederum zur Einheit der Vorstellung zusammensetzen oder miteinander vorstellen, ohne es nebeneinander zu ordnen.

Doch dabei erscheint das Nach- und Nebeneinander immer noch als unverstandener Zufall. Wirklich besteht hier ein innerer, sachlich notwendiger Zusammenhang.

Setzung einer Mehrheit ist Setzung des Aus- und Miteinander. Ich habe nicht Zwei, wenn ich nicht Eins und noch Eins (außer ihm Eins) habe; ich habe auch nicht Zwei, wenn ich nicht Eins und Eins, d. h. Eins mit dem Andern zusammen habe. Um von da zu Zeit und Raum zu kommen, bedarf es eigentlich bloß noch der Besinnung, daß Aus- und Miteinander hier notwendig heißt: Aus- und Miteinander im Bewußtsein und zwar im sinnlichen.

Eine Mehrheit setzen heißt
    1) Eins außerhalb eines Anderen setzen; wir haben jetzt nur hinzuzufügen: auseinander im Bewußtsein; also insofern nicht in einem Bewußtsein, sondern wie in einem verschiedenen, gesonderten Bewußtsein.
Eine Mehrheit setzen heißt
    2) das auseinander Gesetzte zugleich miteinander setzen, und zwar wiederum miteinander im Bewußtsein, folglich auch wieder in einem Bewußtsein.
Wie ist es denn möglich, dasselbe in einem und doch auch wieder nicht in einem Bewußtsein zu haben? Wie kann verschiedenes Bewußtsein dennoch ein Bewußtsein sein und umgekehrt? Die Frage kann allein den Sinn haben, auf die gegebene Möglichkeit, daß es so ist, und auf die bestimmte Gestalt, wie diese Möglichkeit allein besteht, hinzuweisen. Diese bestimmte Gestalt ist keine andere als die des zeitlich-räumlichen Bewußtseins. Das Zeitbewußtsein lehrt, wie es tatsächlich möglich ist, daß ein Bewußtsein zugleich verschiedenes Bewußtsein ist; umgekehrt ist das Raumbewußtsein die einzige Art, wie es auf sinnliche Art möglich ist, daß sich verschiedenes Bewußtsein zugleich in einem Bewußtsein zusammenfaßt. Das soll gezeigt werden.

Es scheint ein selbstverständliches Postulat: was ich vorstelle oder wessen ich mir bewußt bin, das muß, indem ich es in der Vorstellung habe, eben dieser Vorstellung gegenwärtig sein. Allein wie ist es dann möglich, Nichtgegenwärtiges überhaupt vorzustellen oder ein Bewußtsein davon zu haben? Das ist aber erforderlich zu jedem Zeitbewußtsein. Zeit ist Vergangenheit und Zukunft, d. h. Nichtgegenwart; sie ist außerdem Gegenwart; allein die Gegenwart, das Jetzt, ist nur die ewig fließende Grenze zwischen den beiden Nichts: dem Nichtmehr und Nochnicht. Was ist also Zeit, und wie ist es möglich, überhaupt ein Bewußtsein von ihr zu haben?

Vergeblich sagt man: das Nichtgegenwärtige wird vertreten durch Gegenwärtiges, durch die "Spur", welche vom Vergangenen in der Erinnerung zurückgeblieben und auch vom Künftigen schon im Voraus gegeben ist. Damit erklärt man nicht die Möglichkeit, Nichtgegenwärtiges, wenn auch durch Gegenwärtiges, doch eben als nichtgegenwärtig vorzustellen. Wie kann ich die jetzt gegebene Spur auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft vorausdeuten, wenn jene für mein Bewußtsein schlechthin vergangen, nicht mehr da, und diese durchaus noch nicht da, d. h. wenn ich mit meinem Vorstellen auf das Jetzt ganz und gar eingeschränkt bin?

Die Existenz des Zeitbewußtseins beweist eben daß die letztere Voraussetzung absolut genommen falsch ist. Es ist nicht der Fall, daß durchaus bloß Gegenwärtiges vorgestellt wird. Repräsentieren wir die Zeit durch eine Linie, so ist das Bewußtsein für jeden Moment nicht auf den Moment (den unteilbaren Punkt der Zeitlinie) eingeschränkt, sondern es greift sozusagen über; es nimmt den Zeitpunkt, das jedesmalige Jetzt bloß gleichsam zum Blickpunkt, um von ihm aus in der Zeitlinie vor- und rückwärts zu schauen. Das ist unbegreiflich, aber es ist. Die Unbegreiflichkeit hat aber nur den Sinn, daß es ein schlechthin ursprüngliches Moment des Bewußtseins ist, auf das wir hier stoßen. Durch dieses ist die verlangte Möglichkeit gegeben, das in einem Bewußtsein Gesetzte zugleich als in verschiedenem Bewußtsein zu setzen, gleichsam auseinanderzuschauen. Und das ist kein Umstand, der sich unter anderem auch an der Zeit findet, sondern dieses Auseinanderschauen ist nur durch die Zeit, nicht auch außerdem (auf sinnliche Art) möglich. Ja, ich finde nicht, wodurch sonst als durch diese Möglichkeit das Zeitvorstellen überhaupt zu definieren wäre.

35. Die Zeit ist aber nur erst die eine sinnliche Bedingung derjenigen Synthesis, deren Einheit der Begriff darstellt; neben ihr steht zweitens und mit gleichem Anspruch der Raum.

Eine Reihenfolge ist nur im Nacheinander vorstellbar, eine ganze Reihe nur im Nebeneinander; Teil um Teil nur im Nacheinander, ein Ganzes aus Teilen nur im Nebeneinander.

Daß dazu nicht etwa der bloß zeitliche Zusammenhang genügt, läßt sich am einfachsten auf dem Weg klar machen, daß man zeigt, wie die zeitliche Verbindung selbst, als Verbindung, als Zusammenhang eines Vor und Nach, allein vorgestellt werden kann, indem man sich die Zeit räumlich repräsentiert, etwa durch eine Linie; sowie man umgekehrt, um die Teile der Linie zu unterscheiden oder auseinanderzuhalten, d. h. sie als Mehrheit vorzustellen, sie sukzessiv [allmählich - wp] durchlaufen, folglich nacheinander in der Vorstellung setzen muß.

Durch die Zeit allein wäre die Möglichkeit der Sonderung, aber nicht auch die der Wiederverbindung des gesonderten Bewußtseins gegeben; wenn nämlich überhaupt eine solche Isolierung denkbar wäre. Aber natürlich ist sie nicht denkbar; mit dem einen ist vielmehr das andere notwendig gegeben. Die Möglichkeit der Sonderung wäre nicht gegeben, wo nicht zugleich die Möglichkeit der Verbindung gegeben wäre, und umgekehrt; denn, wo bloß Scheidung, nicht zugleich Verbindung wäre, da wäre gar nicht mehr eins vom anderen geschieden; dazu gehört doch, daß zugleich das eine auf das andere bezogen, mit ihm in einem Verhältnis (d. h. aber schon in Verbindung) gesetzt wird. Noch weniger wäre eine Verbindung möglich, wo nicht zugleich eine Scheidung möglich wäre; denn Verbindung setzt eine Mehrheit zu verbindender Elemente voraus. Wie aber beides im Verein möglich ist, wie verschiedenes Bewußtsein in einem Bewußtsein sich verknüpfen, wie umgekehrt das eine Bewußtsein sich in verschiedenes gleichsam auseinanderlegen kann, diese Möglichkeit der Einigung des Differenten, der Differenzierung des Einen ist allerdings nicht weiter abzuleiten, sondern nur als vorhanden aufzuweisen in Gestalt des zeitlich-räumlichen Bewußtseins; genauer: diese Möglichkeit, in ihrer Doppelseitigkeit, ist als gegebene nur auszudrücken durch diese beiden somit untrennbaren Grundbedingungen des sinnlichen Vorstellens überhaupt: Zeit und Raum.

36. Aber, wenn nach unserer paradoxen Behauptung das Zeitvorstellen zugleich ein Raumvorstellen, das Raumvorstellen zugleich ein Zeitvorstellen ist, was unterscheidet dann noch, wird man fragen, das Zeit- und Raumvorstellen? Der Unterschied kann einzig in der Art der Setzung im Bewußtsein liegen. Die Inhalte, die in der Zeit und die im Raum gesetzt werden, mögen ganz und gar dieselben sein, so wie ein und dieselbe Strecke zugleich als räumliches Ganzes und als sukzessiv zu beschreibender Weg, folglich selbst sukzessiv gegeben, vorgestellt werden kann; einzig die Art der Setzung macht den Unterschied. Ich sehe aber nicht, worin dieser Unterschied der Setzung weiter bestände als darin, daß das Mannigfaltige einerseits auseinander, andererseits miteinander gesetzt wird. Das Auseinander ist stets das Auseinander des zugleich miteinander zu Setzenden, das Miteinander das Miteinander des zugleich auseinander zu Setzenden; so intim ist nun einmal die Verknüpfung von Zeit und Raum, die dennoch nicht Identität ist, im gemeinsamen letzten Ursprung beider Vorstellungsarten. Zeit und Raum.

Daß Zeit und Raum sich gar nicht durch irgendeinen angebbaren Inhalt der Vorstellung, sondern lediglich durch die Art der Setzung "im Gemüt", d. h. im Bewußtsein, unterscheiden, ist eine der tiefsinnigsten wenn auch nicht der beachtetsten Entdeckungen KANTs. Im Hinblick darauf läßt sich auch sein Ausdruck lex animi [Gesetz der Seele - wp] (3) verstehen. Allerdings haben Zeit und Raum insofern nicht den Charakter von "Gesetzen", da durch sie, ohne die synthetische Einheit, keine Ordnung des Mannigfaltigen bestimmt, sondern nur eine Bestimmtheit der Ordnung überhaupt möglich ist. "Gesetz" im eigentlichen Sinne ist eine allgemeine Regel, nach Maßgabe deren der Einzelfall bestimmt ist; Zeit und Raum sind Regeln des Vorstellens und zwar von unbedingter Allgemeinheit, gemäß welchen aber das Einzelne nicht bestimmt, sondern bloß bestimmbar ist; durch sie ist, nach der vielleicht treffendsten von KANT gegebenen Erklärung (4), Synthesis a priori möglich, während sie durch die Verstandeseinheit (gemäß den Kategorien) erst wirklich wird. Zeit und Raum bedeuten, wie die Kategorien, jederzeit zur Verfügung stehende Verfahrensweisen des Bewußtseins; wie in ihrem wesentlichen Merkmal der Unendlichkeit deutlich zutage tritt; aber sie repräsentieren bloß die Möglichkeit der Setzung, nicht die wirkliche Setzung. Auch ihre Unendlichkeit ist natürlich nur denkbar durch den Begriff (siehe § 18). Diese Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit ist schließlich nur wieder ein anderer Ausdruck für jenen Dualismus von Materie und Form, über den in den Grenzen unseres Erkennens nicht hinauszukommen ist (siehe § 31).

Aus unserem Resultat ergibt sich, daß und warum Zeit und Raum unmittelbar zur Empfindung, nicht zum Begriff gehören; Empfindung ist das letzte Bestimmbare, Zeit und Raum bezeichnen die Art ihrer Bestimmbarkeit, immer zwar in Bezug auf die Kategorien der Quantität, die erst die wirkliche Bestimmung ergeben, aber zugleich in strengster Unterscheidung von diesen. Durch dieses Verhältnis der Empfindung zur Anschauung - um nun den kantischen Terminus nicht zu vermeiden - wird erst das Gegebene der Empfindung zum hier und jetzt Gegebenen, richtiger, im Zeit- und Raumpunkt erst Festzustellenden, zu Fixierenden. Durch die Empfindung ist kein Hier und Jetzt, früher als durch Zeit und Raum, ja durch die Kategorien, bestimmt, wohl aber ist durch sie und für sie diese Art der Bestimmung gefordert, welche der Begriff, auf Grundlage der a priori gegebenen Bestimmungsmöglichkeiten oder "Bedingungen", Zeit und Raum, leistet.

Vermutlich hätte man auch ohne diese umständliche Deduktion [Ableitung - wp] eingeräumt, daß ein Empfundenes allein in Zeit und Raum bestimmbar ist. Allein, außer daß wir bei der bloßen Berufung auf die Evidenz keine Garantie haben, daß gerade diese zwei Bedingungen die maßgebenden und zulänglichen sind, war auf diesem Weg der Ableitung allein die engste mögliche Verbindung von Begriff, Anschauung und Empfindung, bei zugleich deutlichster Scheidung, zu erreichen; eine Verbindung, die selbst bei KANT, wie sehr auch angestrebt, doch nicht überzeugend genug dargelegt ist. (5)

37. Auf das notwendige Verhältnis der Empfindung zur quantitativen Synthesis gründet sich das apriorische Gesetz des zeitlich-räumlichen Anschauens. Ein direkter Anteil daran kommt der qualitativen Synthesis nicht zu. Doch versteht es sich aus der engen Verknüpfung, in der die qualitative mit der quantitativen Synthesis steht, daß die Gesetze der ersteren, wie für die letztere, so auch für deren sinnliche Bedingung eine mittelbare Bedeutung gewinnen.

Die Qualität ist an und für sich durchaus unanschaulich; wurzelt sie doch unmittelbar in der Denkeinheit, nicht wie die Quantität erst in deren Beziehung auf das sinnlich, folglich anschaulich gegebene Mannigfaltige. Wirklich ist Identität, Verschiedenheit, vollends die Identität des zugleich Unterschiedenen ansich völlig unanschaulich. Veranschaulichen läßt sie sich jedoch, zufolge der erwiesenen Entsprechung zwischen den Grundverhältnissen der Quantität und Qualität, wonach auch das qualitativ Mannigfaltige, als Mannigfaltiges, zugleich einer quantitativen Auffassung unterliegt. Insofern ist auch die qualitative Unterscheidung und Vergleichung an die Bedingungen der Zeit und des Raumes gebunden. Nicht bloß das quantitativ, auch das qualitativ eine und andere läßt sich auseinander- und zugleich zusammenhalten nur in einem Nach- und Nebeneinander.

Auf eben diesem Verhältnis der quantitativen und qualitativen Synthesis beruth es, daß sich das spezifische Merkmal der Qualität, die Kontinuität, im gleichen Sinn und aus gleichem Grund wie auf die Quantität (vgl. § 27), auch auf die Vorstellung von Zeit und Raum überträgt. Ansich - wenn sie überhaupt ansich genommen werden dürfen - enthalten beide bloß ein Mannigfaltiges aus- und miteinander; aus keinem dieser Verhältnisse folgt etwas von Stetigkeit; sie entspringt ausschließlich auf dem Boden der qualitativen Synthesis, bleibt daher auch durchaus unanschaulich. Dennoch wird sie die Beziehung auf das Sinnliche, als das zu vereinigende Mannigfaltige, nicht los; und also überträgt sie sich, obwohl bloß folgeweise, auch auf Zeit und Raum, nämlich auf den Begriff von beidem.

Es ist also irrig zu glauben, daß Zeit und Raum ansich, bloß als Weisen der Anschauung, stetig sind, und durch diese ihnen von Haus aus eigene Stetigkeit wohl gar die im Begriff gedachte zu begründen wäre. Vielmehr sind beide, als stetig, nicht durch die bloße Anschauung, sondern allein durch das Denken, obwohl in Bezug auf die Anschauung, gegeben.

38. Die qualitative Synthesis ist demnach nur von einer indirekten Bedeutung für Zeit und Raum, und folglich für die Empfindung, sofern sie bloß auf Zeit und Raum bezogen ist, bloß den Zeit- und Raumpunkt als gegeben markiert; sie begründet insofern nur, daß der Übergang von Punkt zu Punkt (von Empfindung zu Empfindung) in der Zeit und im Raum stetig gedacht wird. Eine ganz direkte Beziehung hingegen hat die qualitative Synthesis zur Empfindung nach ihrer anderen, inhaltlichen Bedeutung.

Empfindung bezeichnet nicht bloß die leere Stelle in Zeit und Raum, sondern gibt ihr zugleich ihren Inhalt (vgl. § 30). Ja, das ist ihre eigentlichste Bedeutung; auch die Stelle in Zeit und Raum bezeichnet sie nur dadurch, daß sie ein Etwas, einen Inhalt in beide setzt. Ich brauche mich dafür nicht erst auf die neueren "psychologischen" Theorien des Raum- und Zeitvorstellens zu berufen, welche durchweg und mit Recht annehmen, daß ohne qualitativ unterscheidbaren Inhalt auch keine bestimmte Zeit- oder Raumstelle unterscheidbar wäre. Dasselbe folgt nämlich direkt aus unseren Voraussetzungen. Wie die Begriffseinheit für die Auffassung des Mannigfaltigen in ihr, der Inhalt für den Umfang des Begriffs, die Qualität des Urteils (der Gesichtspunkt der Identität) für die Quantität (den Geltungsbereich) bestimmend ist, ebenso und aus gleicher Notwendigkeit ist die inhaltliche Bedeutung der Empfindung, als Merkzeichen der Unterscheidung (als kritike dynamis nach ARISTOTELES), bestimmend für ihre andere, auf den Umfang bezügliche Bedeutung als des letzten Einzelnen oder was den Zeit- und Raumpunkt unterscheidbar macht. Also müssen die Kategorien der Qualität eine analoge Beziehung auf die Empfindung, nach dieser ihrer Grundbedeutung, haben, wie die der Quantität auf die Anschauung (Zeit und Raum). Die kantische Proportion: Empfindung zu Qualität wie Anschauung zu Quantität (folglich Empfindung zu Anschauung wie Qualität zu Quantität) ist demnach voll berechtigt. Doch bleibt zugleich das Verhältnis der Empfindung zur Quantität zu berücksichtigen; im Hinblick darauf möchte ich lieber sagen: Empfindung steht, nach ihrer Inhaltsbedeutung, im gleichen Verhältnis zur Qualität, wie, nach ihrer Bedeutung, das letzte Einzelne, folglichen den bloßen Zeit- und Raumpunkt als gegebenen zu bezeichnen, zur Quantität.

Daraus folgt, daß das Grundgesetz der qualitativen Synthesis, d. h. das Gesetz der Kontinuität, ebendamit zum Gesetz der Empfindung, nämlich ihrer Objektivierung, wird. Das Etwas, welches die Empfindung bezeichnet, ist begrifflich allein durch die Kontinuität zu fassen, d. h. nicht bloß als mit sich identisch und vom andern unterschieden, sondern als in einem stetigen Zusammenhang mit anderen Etwas stehend. Sofern das Mannigfaltige der Qualität notwendig durch die Zeit unterschieden wird, verwandelt sich die Stetigkeit des Zusammenhangs in die Stetigkeit des Übergangs, der Veränderung; Empfindung ist nicht bloß ein Merkzeichen der Unterscheidung, sondern der Veränderung, die eben deswegen notwendig als stetig gedacht wird. Indem schließlich auch noch die andere Bedingung, der Raum, hinzugenommen wird, determiniert sich die Stetigkeit der Veränderung weiter zur Stetigkeit der Bewegung. Diese Determination vollzieht sich einfach durch die sukzessive Verknüpfung der sämtlichen, hier der Reihe nach abgeleiteten Bedeutungen der Empfindung.

Damit stehen wir unmittelbar an der Schwelle unserer letzten Aufgabe: der Deduktion der Quantität und Qualität nach ihrer Bedeutung für die Konstitution des Gegenstandes. Das einfache Prinzip, auf dem sie beruth, ist: die Vereinigung der sämtlichen, bis dahin sorgsam geschiedenen Erkenntnisfaktoren. Die gegenständliche Bedeutung jedes einzelnen Erkenntnisfaktors bestimmt sich je nach seiner Rolle in der Wechselwirkung sämtlicher Faktoren.


IV. Quantität und Qualität in der
Erkenntnis des Gegenstandes

39. Der einzig mögliche Standpunkt für eine Theorie der Gegenständlichkeit der Erkenntnis ist der in § 2 bezeichnete: daß der Gegenstand, als das X der Erkenntnis, von vornherein in Beziehung zu ihr gedacht, nur durch sein Verhältnis zum Grundgesetz der Erkenntnis definiert wird; sonst würde eine Erkenntnis des Gegenstandes, eine Gegenständlichkeit der Erkenntnis, ein nicht bloß unlösbares, sondern überhaupt unverständliches Problem sein. Die Bedeutung des Gegenstandes = X ist allein festzustellen in Bezug auf die Gleichung der Erkenntnis. Die Elemente dieser Gleichung haben wir jetzt vollzählig beisammen. Es sind: einerseits die synthetische Einheit als Grundgesetz der Bestimmung, andererseits das Gegebene, welches, als das in sich Unbestimmte, im Begriff jedoch zu Bestimmende, sich allein definieren läßt in Bezug auf die bestimmende Funktion selbst. Ein Mehreres ist nicht zu finden; in dieser Korrelation von Bestimmung und Bestimmbarem bewegt sich alle Erkenntnis, durch sie ist also der "Gegenstand" zu definieren.

Die Bestimmung des Bestimmbaren, das eben ist die Erkenntnis des zu Erkennenden, folglich des Gegenstandes; denn Erkennen heißt in letzter Bedeutung Bestimmen. "Es ist" lautet der Ausdruck der Bestimmung; bestimmen, was ist, heißt aber schon, den Gegenstand erkennen.

Jedoch sind zwei Bedeutungen des Gegenstands wohl zu unterscheiden. Er bedeutet einmal den erst gesuchten, also noch nicht erkannten Gegenstand. Insofern scheint er außerhalb der Erkenntnis zu stehen, das Unerkannte zu bedeuten, so wie das X der Gleichung die "unbekannte Größe" bezeichnet. Der so verstandene Gegenstand deckt sich einfach mit dem "Gegebenen" der Erkenntnis. Daher begreift sich, wie KANT von einem "gegebenen Gegenstand" sprechen kann; unzweideutiger würde er der aufgegebene heißen, oder der Gegenstand als Aufgabe.

Oder man versteht den fertigen, erkannten, also die schon erreichte Bestimmung des Bestimmbaren gemäß den Gesetzen der synthetischen Einheit, oder das Resultat X = A.

Das eigentliche Problem des Gegenstands liegt nun nicht in diesem oder jenem, nicht in der dynamis und nicht in der entelecheia [sich im Stoff verwirklichende Form - wp] der Erkenntnis, sondern in dem Prozeß, durch welchen die dynamis zur entelecheia, der gegebene zum erkannten Gegenstand wird; ohne Gleichnis gesprochen: in der Art der Verbindung sämtlicher zur Erkenntnis zusammenwirkender Faktoren. Bloß als gegebener nämlich wäre der Gegenstand für die Erkenntnis so gut wie nicht da; für sie "ist" nur, was bestimmt ist, das "ist" besagt eben die Bestimmung; für die Erkenntnis ist aber nichts, was nicht erst durch sie bestimmt worden ist (vgl. § 9).

Das ist der einfache, oft wunderlich mißverstandene Grundgedanke des "kritischen" Idealismus. Erkenntnis schafft den Gegenstand, aber nicht aus Nichts, sondern schlechterdings aus einem Gegebenen, welches für sie zwar ein relatives Nichts (weil noch nichts Bestimmtes), aber darum doch nicht absolut Nichts, sondern positiv definierbar ist als das zu Erkennende = X.

Man verfehlt also die Aufgabe einer Theorie der gegenständlichen Erkenntnis nicht weniger, wenn man den Gegenstand (mit dem "Dogmatismus") abgesehen von der Erkenntnis schon in seiner Bestimmtheit gegeben sein läßt, als wenn man ihn (mit dem "Skeptizismus"), darum, weil er abgesehen von der Erkenntnis ein bloßes X ist, der Erkenntnis überhaupt unerreichbar glaubt. Der zweite Fehler ist eigentlich die Folge des ersten: wird vorausgesetzt, daß der Gegenstand abgesehen von der Erkenntnis in seiner Bestimmtheit gegeben sein müßte, so ist der Einwurf des Skeptizismus unbesiegbar. Und so bleibt allein der dritte Weg: der Gegenstand ist, abgesehen von der Erkenntnis, zwar ein bloßes X, allein dieses X bedeutet, nicht bloß negativ das Unbestimmte, sondern positiv das Bestimmbare, welches in der Erkenntnis und nach ihrem Gesetz bestimmt wird zum erkannten Gegenstand.

49. Dem Gesagten zufolge ist der Gegenstand nicht enthalten in den bloßen Formgesetzen der synthetischen Funktion, sondern erst in deren Beziehung auf die sinnliche Materie. Wohl aber enthalten sie, weil die Form, in der allein der Stoff erkenntnisgemäß zu gestatten ist, zugleich die Form, in der der Gegenstand "gedacht", d. h. im Entwurf des Denkens, gleichsam in seinem Grundplan verzeichnet wird.

Umgekehrt ist der Gegenstand nicht enthalten in der bloßen sinnlichen Materie, sondern erst in deren Beziehung zur Denkform der synthetischen Einheit; aber sofern es der Stoff ist, der in dieser Denkform zu gestalten ist, hat es Sinn zu sagen, daß dadurch der Gegenstand "gegeben" ist. Durch ihren Hinzutritt wird erst der "gedachte" Gegenstand zum "erkannten".

So bedarf jeder der beiden Faktoren des andern und ergänzt ihn erst zum wirklichen, erkannten Gegenstand. Durch "Sinnlichkeit" ist, nach KANTs Formulierung, der Gegenstand bloß gegeben, durch den "Verstand" bloß gedacht, erst in der Wechselbeziehung beider Faktoren wird der bloß gegebene oder bloß gedachte Gegenstand zum erkannten.

Nun ist, zufolge der Grundbeschaffenheit unserer Erkenntnis (siehe § 31), die Materie nie ganz in eine reine Form aufzuheben: also kann der gegebene Gegenstand nie ohne Rest zum erkannten werden; er behält immer den Sinn der Aufgabe. Die Gegenständlichkeit der Erkenntnis ist eine stets intendierte, nie vollendete; es gibt Stufen der Gegenständlichkeit, und der Möglichkeit nach eine unendliche Folge von Stufen. Das Gegebene ist von Haus aus nicht allein das Bestimmbare, sondern das ins Unendliche Bestimmbare, jede wirkliche Bestimmung also von bloß relativer Gültigkeit. So wird der "empirische" Gegenstand zum "bloß" empirischen. Die absolute Bestimmung des Bestimmbaren, der absolute Gegenstand - KANTs Ding ansich - hat für die Erkenntnis bloß den Sinn einer äußersten Grenze, der sie sich zwar ohne Schranken, aber auch ohne sie je zu erreichen, annähert.

Es ist ein Mißverständnis, wenn man am Begriff des "Dings ansich" auf kritischem Boden Anstoß nehmen zu müssen glaubt, weil ein schlechthin Unerkanntes und Unerkennbares, wie das Ding-ansich es sein soll, auch nicht als der Gegenstand, den unsere Erkenntnis erreichen sollte, gedacht werden kann. Dieser Einwand, dem der Kritizismus KANTs noch nicht kritisch genug ist, beruth im Grunde auf einem bloß versteckterem Dogmatismus. Ist der Gegenstand seinem ganzen Begriff nach nur durch die Erkenntnis und ihr Gesetz gegeben, so ist es gar nichts Unerhörtes, daß vom Standpunkt der Erkenntnis selbst und ihres Gesetzes der Gegenständlichkeit dieser Unterschied festgesetzt wird zwischen dem Gegenstand, wie er schlechthin erkannt wäre, und wie er in der Erkenntnis wirklich zu erreichen ist (nämlich ins Unendliche bloß relativ). Nur wenn man vielmehr ( dogmatisch) voraussetzt, daß der Gegenstand, im Unterschied von der Erkenntnis, auch außerhalb aller Beziehung zu ihr gedacht werden müßte, ist der Anstoß begreiflich, den man am Begriff des Gegenstandes, wie er "ansich" erkannt, d. h. schlechthin bestimmt wäre, genommen hat. Erkenntnis als unendlichen Prozeß zu begreifen, das ist die große Leistung der kritischen Philosophie. Diese Lehre ist der wahre "Empirismus", sofern sie die empirische Erkenntnis, d. h. diejenige, welche auf die Korrelation von Bestimmung und Bestimmbarem immer angewiesen bleibt, für die einzige uns zustehende erklärt und ihren Bereich, eben aufgrund jener unaufhebbaren Korrelation, schrankenlos ausdehnt; andererseits begrenzt sie sie eben damit gegen eine andere, uns unerreichbare aber doch als Ideal vor Augen stehende Erkenntnis, die erst die schlechthin gültige und wahre wäre; sie begrenzt sie so, nicht durch ein fremdes Machtgebot, sondern durch ihr eigenes innerstes Gesetz.

Dieses Gesetz und der dadurch bestimmte Grundcharakter der Gegenständlichkeit der Erkenntnis ergab sich als Fazit aus unseren Voraussetzungen. Es bleibt nur übrig, es in den bestimmteren Gestaltungen, die sich aus den besonderen Gesetzen der qualitativ-qualitativen Synthesis ergeben, darzulegen.


A. Die Quantität

41. Das Sinnliche als die Materie der Erkenntnis zerlegten wir in die beiden Bestandteile:
    1) die Empfindung und
    2) die unmittelbare Verbindungsweise der Empfindungen oder die Anschauung (Zeit und Raum).
Es wurde festgestellt, daß die quantitative Synthesis sich unmittelbar auf die Anschauung, und auf die Empfindung bloß, sofern sie eine bestimmte Stelle in Zeit und Raum bezeichnet, die qualitative dagegen direkt auf die Empfindung, nach ihrer eigentlichsten Bedeutung als Anzeiger des Anschauungs- folglich Zeit- und Rauminhalts, bezieht.

Zeit und Raum, als Arten der Anschauung, sind die notwendigen und ursprünglichen, voneinander untrennbaren Verfahrensweisen, ein Mannigfaltiges überhaupt in Verbindung zu bringen; eben diese Verbindung, in synthetischer Einheit gedacht, ergibt die Quantität in ihren drei Stufen. Daraus folgt, daß alles Gegebene, als in der Anschauung gegeben, notwendig zu objektivieren ist als Größe, umgekehrt alle Größe, sofern sie eine gegenständliche Bedeutung haben soll, notwendig darzustellen ist in der Anschauung, folglich nicht bloß in der abstrakten Zahl, sondern in Zeit und Raum.

Die Zahl erzeugt sich aus den zwei Momenten
    1) der Reihenfolge der auseinander gesetzten Einheiten,

    2) der Zusammennehmung des in einer Reihe auseinander Gesetzten zu einem Ganzen, d. h. zu einer neuen Einheit.
Mit jenem Auseinandersetzen der Glieder in einer Reihe ist aber, wie bewiesen, die Zeit, mit dieser Zusammennehmung zur ganzen Reihe der Raum, je ihrem ersten Element nach, gegeben. Folglich ist der gleiche und selbige synthetische Akt ausreichend für die Zeit- und Raumgröße wie für die Zahl; man kann hier nichts mehr vermissen, wenn man sich klar gemacht hat, was Zeit und Raum im Apparat der Erkenntnis, d. h. im Verhältnis zur synthetischen Einheit, bedeuten und wie sie mit dieser zusammenhängen.

KANTs Beweis des ersten Grundsatzes beruth auf demselben Prinzip. Doch scheint mir durch die noch engere Fassung des Verhältnisses der "Anschauungsformen" Zeit und Raum zur quantitativen Synthesis die Evidenz der Sache nicht unbeträchtlich verstärkt zu sein. Die Bedeutung dieses "Grundsatzes", dieser fundamentalen Setzung des Größenbegriffs in Bezug auf alles Gegebene der Anschauung liegt darin, daß durch sie die Objektivierung des Sinnlichen, einem grundwesentlichen Bestandteil nach, vollzogen ist.

42. Größe ist notwendig in der Anschauung darzustellen, so wie umgekehrt die Anschauung notwendig als Größe zu objektivieren ist. Das muß namentlich der Mathematik, als reiner Größenlehre, vorgehalten werden. Der Begriff der Größe darf nicht in einer Höhe der Abstraktion schweben bleiben, auf der von der Anschauung gänzlich abgesehen werden konnte. Was den Schein hervorruft, als sei das möglich, ist vielleicht nur die Merkwürdigkeit, die sich uns aber völlig einleuchtend erklärt hat, daß der Größenbegriff sich unterschiedslos auf Zeit und Raum, überhaupt auf ein Mannigfaltiges, auch ein bloß qualitatives, anwenden läßt. Das ist der Fall, weil
    1) Zeit- und Raumanschauung in der letzten Wurzel Eins und untrennbar, nur die notwendig zueinander gehörigen Elemente des Verfahrens der Anschauung überhaupt sind, und weil

    2) in eben diesem Verfahren die unentbehrliche sinnliche Grundlage gegeben ist für jedes Denken eines Mannigfaltigen, folglich für die Größe als Begriff.
Auch ein qualitativ Mannigfaltiges, bloß als Mannigfaltiges betrachtet, läßt sich von dieser sinnlichen Bedingung nicht losmachen.

Das besagt die "Gleichartigkeit", die als Voraussetzung des Größenbegriffs auch von KANT geltend gemacht wird: daß das Mannigfaltige bloß als Mannigfaltiges zu erwägen, folglich von aller sonstigen Unterscheidung, der "Art" nach, abzusehen ist. Darauf beruth die Abstraktion der reinen Zahl, der berechtigte Kern der Auffassung, als sei sie im letzten Grund von aller Anschauung frei zu machen. Wir gingen ja (§ 27) sogar noch weiter, indem wir behaupteten, daß sich selbst die Stetigkeit auf die reine Zahl, ohne daß auf Zeit und Raum erst zurückgegangen werden müßte, übertragen läßt. Es bedarf einfach deshalb dieses Rückgangs nicht, weil jede Synthesis eines Mannigfaltigen von vornherein an diese sinnlichen Bedingungen gebunden ist; ebendarum ist es nicht nötig für irgendeine besondere Gestaltung des Größenbegriffs, die aus den Gesetzen der Synthesis eines Mannigfaltigen sich überhaupt ableiten läßt, die Anschauung ausdrücklich heranzuziehen (6). Die Mathematik hat also Recht, und die Erkenntniskritik hat dennoch und noch mehr Recht.

43. Freilich reicht diese Betrachtung nicht aus, wenn es sich darum handelt, den Unterschied der geometrischen von der bloßen Zahlgröße und vollends die physikalische Bedeutung, den Realwert, welchen die Größe überdies gewinnt, zu begründen. Es wird dann unerläßlich, sich auf das notwendige Verhältnis der Anschauung zurück zu besinnen.

Zeit und Raum liegen allem Denken der Größe überhaupt, folglich auch der Zahlgröße zugrunde; aber sie selbst sind als Größen, vollends als reale Größen, nur gegeben, sofern sie die Formen sind, in denen die Empfindungen sich ordnen müssen. Auch nach KANT sind Zeit und Raum allein real vermöge der Empfindung. Aber auch schon die reine Geometrie bezieht sich zumindest auf die mögliche Ordnung der Empfindungen; anders ließe sich die geometrische Größe von der bloßen Zahlgröße gar nicht unterscheiden.

Dann entsteht freilich das Problem, wie die Anschauungsgröße, überhaupt exakt zu definieren ist, da die Empfindung ansich diese Exaktheit nicht zu gewährleisten vermag und bloße Anschauung ohne Empfindung nichts ist. Die Geometrie drückt diese Schwierigkeit nicht; sie ist in vollem Recht, die Größe und alle Verhältnisse unter Größen, unbekümmert um das Sinnliche in der Bestimmtheit vorauszusetzen, wie der Begriff sie formuliert. Diese Souveränität des Begriffs gegenüber dem Sinnlichen überhaupt unterliegt gar keinem Bedenken. Nur wie, angesichts der Unbestimmtheit des gegebenen Sinnlichen, die Größe in der vom Begrif geforderten und vorausgesetzten, identischen Bestimmtheit sich behaupten läßt, ist das Problem, welches dem Keim nach schon den Argumenten der Eleaten zugrunde lag, und welches in der Unfindbarkeit der letzten Einheit in Zeit und Raum immer neu erstanden ist. Empfindung sollte diese letzte Einheit sein, d. h. so wird sie dem bloßen Begriff nach, genauer, in Bezug auf den Begriff, in dem sie zu objektivieren ist, gedacht oder gefordert; allein die Empfindung als Datum, in ihrer unendlichen Bestimmbarkeit, scheint vielmehr dieser begrifflichen Forderung zu widersprechen als sie zu erfüllen. Es geht aber weder an, darum das Zeugnis der Empfindung zu verwerfen, noch auch sie als absolutes Datum zu nehmen; was, wie HUMEs Beispiel lehrt, vielmehr zur Verwerfung aller exakten Begriffe der Mathematik führt; dieser wie jener Ausweg ist abgeschnitten, nachdem sich der unauflösliche Zusammenhang der Erkenntnisfaktoren Empfindung, Anschauung, Begriff herausgestellt hat. Nur ein Weg bleibt offen. Man lasse die Empfindung als empirisches Größenmaß, aber nur hypothetisch, gelten, d. h. mit dem immer festzuhaltenden Vorbehalt der Korrektur. Dabei werden die reinen, unwandelbar festen Größenbegriffe der Mathematik notwendig zugrunde gelegt, d. h. das Gesetz der synthetischen Einheit bleibt maßgebend; hypothetisch sind nicht die Begriffe, sondern der Ausdruck der Empfindung durch sie; dieser ist jederzeit korrigierbar, das läßt aber den Begriff und seine Gültigkeit als Grundlage einer empirischen Größenbestimmung unberührt. Daraus versteht sich, daß alle empirische Zeit- und Raumbestimmung, so relativ sie auch ist, doch notwendig auf die "absolute" Zeit, den "absoluten" Raum zurückbezogen wird, die doch ebensowenig empirisch gegeben wie etwa lediglich für die Geometrie vorhanden sind; es sind die geometrisch entworfenen Grundschemata für alle empirische Bestimmung von Zeit- und Raumgrößen. Sie selbst sind daher nicht veränderliche Hypothesen, noch weniger bloße Fiktionen, sondern unwandelbare Grundlagen der stets hypothetischen und wandelbaren Größenbestimmungen des Sinnlichen.

44. Daß alle empirische Größenbestimmung stets hypothetisch bleibt, kann nicht überraschen; es folgt vielmehr direkt aus der Unendlichkeit alles Sinnlichen, in der früher festgesetzten Bedeutung der unendlichen Bestimmungsmöglichkeit.

Die unendliche Fortsetzbarkeit der Zahlenreihe, die Unendlichkeit des Fortgangs in Zeit und Raum scheint keine besondere Schwierigkeit zu enthalten; der bloße Mangel des Abschlusses in der gesamten empirischen, auf Zeit und Raum bezogenen Erkenntnis bedroht ja nicht die Sicherheit der einzelnen empirischen Erkenntnis, noch weniger den Fortschritt zu weiteren und weiteren Erfahrungen. Nach einem absoluten Abschluß ist vorerst kein Bedarf; ist nur der Anfang gehörig gesichert und der Fortgang, so ist den Forderungen der Erfahrung, die nur in einem unbegrenzten Fortgang von Erkenntnis zu Erkenntnis besteht, vorerst genügt. Allein eben am gesicherten Anfang, an der haltbaren Einheit der Zeit- und Raumgröße scheint es zu fehlen, da jeder Zeit- oder Raumteil, den wir als Einheit setzen würden, sich wiederum teilen, d. h. als Mehrheit einer anderen Einheit betrachten läßt usw. ohne Ende. Daran scheitert alles Bemühen eine unwandelbar feste Einheit zu setzen; fehlt aber die ursprüngliche Einheit, wie begreifen wir die aus Einheiten bloß bestehende ganze Größe? Sie soll durch Komposition entstehen; komponieren aber läßt sie sich aus beliebigen, aus unendlichen Teilen; wie werden denn die unendlichen Teile zur einen Größe? Das ist doch auch rein begrifflich schwierig und als Schwierigkeit, seit man exakte Begriffe von Größen besaß, immer empfunden worden. Wie ist die Synthesis vollziehbar, welche die unendlichen Teile zum einen Ganzen zusammenschließt? Wie ist ein Objekt dadurch bestimmt, wenn es doch bloß bestimmt ist als Ganzes aus Teilen - die zuletzt aber selbst unbestimmt bleiben?

Es gibt nur eine Antwort: Die Größe bleibt absolut unbestimmt, aber sie ist dennoch relativ bestimmbar. Mit Relationen aber haben wir es auf dem gesamten Gebiet der quantitativen Synthesis, d. h. in der gesamten Welt der Erscheinungen in Zeit und Raum, überhaupt nur zu tun. Eben diese Relativität des Gegenstandes selbst war es, woran man Anstoß nahm; und doch ist sie es, welche das Problem allein lösen kann. Daher war es für die Eleaten freilich unüberwindlich; ARISTOTELES wollte es nicht sehen; die neuere Wissenschaft hat es in seiner Reinheit wiederhergestellt, aber sie hat Mittel und Wege gefunden, sich inmitten der grenzenlosen Relativität der Erfahrung heimisch zu machen; mit Erkenntnismitteln, die ganz auf diese Relativität berechnet sind, hat sie ein Gebiet der Forschung nach dem andern, in einem unaufhaltsamen, freilich fast ziellos erscheinenden Fortschritt, der Erkenntnis erobert. Die Relativität, welche der Größe unüberwindbar anhaftet, ist jetzt sozusagen kein Fehler mehr; sie behindert nicht, vielmehr gerade sie ermöglicht die objektive Gültigkeit dieses Grundbegriffs - seine Gültigkeit nämlich für Gegenstände, die selbst bloß relative, nicht absolute Gegenstände sein wollen.

Allerdings selbst in der Relativität der Erfahrung würde die quantitative Synthese allein nicht zur Objektivierung ausreichen ohne die qualitative; die wir übrigens, im Moment der Stetigkeit, stillschweigend schon vorausgesetzt haben.

B. Die Qualität

45. Empfindung markiert nicht bloß den gegebenen Punkt der Zeit und des Raumes, sondern setzt ein Etwas, einen Inhalt in beide (§ 38). Das ist es, was KANT mit dem Ausdruck Realität bezeichnete, der insofern allerdings nicht glücklich gewählt scheint, da der Gedanke an die sonst gebräuchliche Unterscheidung des Reellen vom Imaginären, die hier nichts zu tun hat, zu nahe liegt, ansich aber sich sehr wohl eignet den Sachgehalt der Vorstellung, die "Etwasheit", zu bezeichnen. Das aber, worin dieser Sachgehalt allemal besteht, was Sache von Sache, Etwas von Etwas unterscheidet, heißt Qualität. Die Qualität am Objekt entspricht dann genau der begrifflichen Qualität, und nicht durch bloße Homonymie [Mehrdeutigkeit - wp]; es ist eigentlich das ti en einai, das identische "Was" des Gegenstand, der Inhalt des Begriffs, sofern er nämlich den Gegenstand bedeutet. Daher ist es die qualitative Synthesis, welche die Objektivierung der Empfindung, nach ihrer Inhaltsbedeutung, vollbringt. Selbstverständlich gilt dann eben für diese Objektivierung das Grundgesetz der Qualität: das Gesetz, wonach Quale und Quale jeweils in ihrer Identität festzuhalten, voneinander zu unterscheiden, und unter der höheren Identität der Gattung wieder zusammenzufassen sind.

Nun entsprechen die drei Stufen der qualitativen Synthesis genau denen der quantitativen und sind durch sie vollständig auszudrücken bis auf das charakteristische Merkmal der Kontinuität, welches auf dem Boden der Qualität entspringt und sich erst folgeweise auf die Quantität überträgt (§ 38). Also wird der durch die Kontinuität erweiterte Begriff der Größe genügen müssen auch zum wissenschaftlichen Ausdruck der Qualität. Wirklich kennt die heutige Naturwissenschaft keine anderen Qualitäten mehr als die in einem quantitativen Ausdruck objektivierbar sind. Die nicht so objektivierten, die sogenannten sinnlichen Qualitäten gelten ihr eben darum als bloß subjektiv vorhanden und kommen für sie, deren ganze Aufgabe in der Objektivierung des Sinnlichen besteht, nicht weiter in Betracht. Richtiger zwar als zwischen subjektiven und objektiven Qualitäten würde man unterscheiden zwischen der Qualität in der Subjektivität der Empfindung und derselben als objektiviert in ihrem Größenausdruck (z. B. Ton und Schwingungszahl). Auch die objektive (physikalische) Qualität ist eine Empfindungsqualität, genauer: die Qualität, die "der Empfindung am Gegenstand entspricht". (7)

Der quantitative Ausdruck der Qualität ist der Grad. Er vertritt die Eigentümlichkeit, daß Quale und Quale je innerhalb einer Gattung (Geschwindigkeit, Wärme) um einen angebbaren Betrag verschieden gedacht, folglich, unter der Voraussetzung einer beliebigen Einheit, auch je für sich als Quantum ausgedrückt werden können. Sofern aber durch diesen Begriff die Qualität nur als diskrete Größe gedacht wird, ist dadurch der Empfindungsinhalt nach seiner punktuellen Bestimmtheit noch nicht gedeckt. Zu seinem adäquaten Ausdruck gehört unerläßlich, daß der Unterschied von Quale und Quale definiert wird im Hinblick auf das Kontinuum der Gattung. Der wissenschaftliche Ausdruck für die Stetigkeit (des Übergangs von Größe zu Größe, folglich der Veränderung, insbesondere der Bewegung, vgl. § 38) wird damit zum spezifischen Ausdruck für den Realwert, den die Empfindung anzeigt. Dieser Ausdruck muß ein mathematischer sein; die Mathematik hat ihn gefunden oder vielmehr geschaffen in ihrem Begriff des "Unendlichkleinen".

46. Wir sehen jetzt, wie dieser wissenschaftliche Fundamentalbegriff im Apparat der Erkenntnis begründet ist. Die bloße Quantität würde ihn freilich nicht begründen. Aber jedes Quantum ist das Quantum eines Quale, z. B. Länge ist die Größe der Geraden oder der krummen Linie. Dieser Ausdruck der Größe als Eigenschaft an einem irgendwie qualitativ bestimmten Gebilde (welches doch darum keine Substanz ist) beruth offenbar darauf, daß die Größe (Quantität) wechselt, während das, was Größe hat, seiner Qualität nach identisch beharrt. Es hat eigentlich keinen Sinn zu sagen, daß sich die Größe verändert, größer oder kleiner wird. Nicht die Größe (das Soundsogroß) wird größer und kleiner, sondern eine Größe, d. h. Etwas, das Größe hat. Wodurch ist denn dieses Etwas zu definieren? Offenbar nicht wiederum durch die Größe, wohl aber durch das Gesetz, wonach die Größe als sich erzeugend gedacht wird. Das Gesetz bleibt identisch, während die Quantität wechselt; z. B. es beharrt die Einheit der Richtung, oder es beharrt das Gesetz der Krümmung, während das nach jenem oder diesem Gesetz erzeugte geometrische Gebilde sich an Größe ändert. Durch diese Beharrung der Qualität wird das Gleichnis verständlich, wonach das Quantum als Substanz und die Quantität als bloßes Akzidenz [Merkmal - wp] an dieser betrachtet wird. Die Substanz der Größe ist nichts anderes als das Gesetz ihrer Erzeugung.

Eben darin löst sich das Problem der Stetigkeit.

Anscheinend ist die gewöhnlich angebotene Lösung ja sehr einleuchtend. Das Wagnis, die Bestimmtheit, die man in der endlichen Größe zu besitzen glaubt, preiszugeben durch den Übergang von der beliebig klein aber immer noch endlich genommenen Differenz zur unendlich kleinen, erstreckt sich tatsächlich nie auf eine isolierte Größe, sondern auf zwei in konstanter Beziehung zueinander stehende. Der rechtfertigende Grund für den Überschritt zum Unendlichen wird daher, ganz richtig, darin gefunden, daß die Beziehung zwischen den Änderungen beider Größen (die Funktion) der Substanz nach unverändert bleibt und nur einen anderen Ausdruck annimmt, wenn man gleichzeitig beiderseits die Differenzen der Null sich ohne Grenzen nähern läßt. Man geht daher stets vom Differentialquotienten aus, dessen bestimmter Wert sozusagen keine Hexerei ist; das "Differential" bedarf dann gar nicht noch einer eigentümlichen Begründung.

Das ist vollkommen richtig; nur bleibt dabei der Kern der Sache noch zu sehr verhüllt. Er liegt darin, daß das Gesetz der Größenerzeugung beharrt, während die Größe beliebig wechselt. Nicht die Größe (quantitas) ist stetig, das wäre Widersinn. Aber auch, wenn man sagt, der Übergang von Größe zu Größe oder die Erzeugung der Größe sei stetig, so ist das solange unzureichend, als man bloß im Sinn hat, daß und nicht auch, wie, d. h. nach welchem Gesetz der Übergang oder die Erzeugung zu geschehen hat. Man sagt, die diskrete Größe ist die fertige, die stetige, die werdende; aber um den Hergang in der Zeit kann es sich hier doch nicht handeln: also vielmehr um den Ursprung aus dem Gesetz. Die Erzeugung der Größe ist ihre Erzeugung im Gedanken, aus ihrer gedanklichen Voraussetzung (siehe § 5).

Aus dieser Auflösung versteht sich, daß man der Schwierigkeit solange nicht Herr werden konnte, als man die Stetigkeit durch die bloße Quantität zu begreifen suchte. Die richtige Konsequenz ist dann, die Stetigkeit zu leugnen, wie so viele heutige Mathematiker es ja ungescheut tun. Die Quantität als solche, folglich die Zahl, bloß als Ausdruck der reinen Quantität betrachtet, ist freilich qualitätslos und also diskret. Die Zahl selbst ist kein Quantum, sie hat nicht Größe, sie ist vielmehr nur der Ausdruck der Größe (Quantität) an dem was Größe hat. Aber doch kann sie nicht umhin, die Größe dessen was Größe hat, also irgendeines (nur beliebig welches) Quale zu bedeuten; insofern vermag auch sie selbst sich dem Gesetz der Stetigkeit nicht zu entziehen. Ein Ausdruck für den stetigen Übergang von Größe zu Größe überhaupt, mithin auch von Zahl zu Zahl, (der natürlich nicht wiederum eine Zahl sein kann,) ist daher unentbehrlich.

47. Wie hierbei sich das Grundgesetz der qualitativen Synthesis bewährt, bedarf kaum noch der Ausführung. Die komprehensive [Vereinigung von Mannigfaltigem zu einer Einheit - wp] Einheit der Qualität unterschieden wir (§ 27) von der bloß kompositiven der Quantität dadurch, daß die unendlichen Unterschiede nicht bloß äußerlich umfaßt, sondern innerlich, gleichsam punktuell, nämlich in einer neuen Identität zusammenfaßt. Das Verhältnis zur Denkeinheit, d. h. zur Einheit der Synthesis, erklärt den Unterschied, den wir machen zwischen der Entstehung der Größe durch bloße Vervielfältigung einer gegebenen, ansich willkürlichen Einheit, und derjenigen, wobei noch gar keine gegebene Größe zugrunde gelegt, die Größe vielmehr von Anfang an entstehend gedacht wird; oder, was dasselbe ist, zwischen der Veränderung einer Größe durch Zusatz oder Abzug willkürlicher Einheiten, d. h. sprungweise, von Grenze zu Grenze (wenn auch die Grenzen noch so nah zusammenrücken), und ihrer Veränderung in einem sprunglosen Übergang, so daß wirklich "alle" möglichen Punkte zwischen den jedesmaligen Grenzen berührt sein sollen. Diese Allheit kann, wie überhaupt jede, nur verstanden werden durch die qualitative Einheit, also die Gattung. Diese Gattung ist keine andere, als was wir das Gesetz der Erzeugung der Größe nannten, z. B. die Kurve, durch ihre Gleichung gedacht. Woraus sollte auch wohl die Größe, nachdem alle Größe aufgehoben ist, sich wiedererzeugen, wenn nicht aus dem Gesetz der Größe, welches natürlich nicht zugleich hat aufgehoben werden sollen.

Daher versteht sich, inwiefern (nach LEIBNIZ und KANT) das "Intensive" Quell und Grund des "Extensiven" ist. Die intensive Qualität ist keine andere als die erst zu erzeugende, im Ausdruck des Gesetzes gleichsam eingeschlossene, involvierte Größe, die extensive deren Evolution. So enthält die synthetische Einheit den Grund für die Zusammenfassung des Mannigfaltigen in ihr, die qualitative Einheit des Begriffs für die quantitative Allgemeinheit, der Inhalt für den Umfang des Begriffs (vgl. § 38). Das sind nicht bloß Analogien, sondern es wirkt in all dem das gleiche Prinzip. Die Denkeinheit ist es, die sich hier, nicht bloß in unbedingter Überlegenheit über die Anschauung, sondern in schöpferischer Ursprünglichkeit, als wahren und letzten Urheber des Gegenstandes, beweist.

48. Nur auf die wichtigsten Ergebnisse unserer Deduktion sei noch ein Blick getan. Ermöglicht ist dadurch vor allem die Verständlichung des Werdens, der Veränderung; die Lösung des eleatischen Problems: wie Veränderung überhaupt "sein" kann, da doch "Sein" eine unwandelbare Bestimmtheit bedeutet; oder wie Veränderung sein kann, da sie doch ein Nichtsein einschließt, denn Werden heißt, aus dem Nichtsein ins Sein, bzw. aus dem Sein ins Nichtsein überzugehen. Wie ist diese Vereinigung von Position und Negation ohne Widerspruch zu denken, da doch sonst die Vereinigung von Position und Negation eben der Widerspruch ist? Vergeblich meint man die Schwierigkeit loszuwerden, indem man dem Satz des Widerspruchs die Exzeption [Ausnahme - wp] hinzufügt: Dasselbe kann nicht gleichermaßen sein und nichtsein zur selben Zeit, wohl aber zu verschiedenen Zeiten. Außer, daß der Übergang doch eben punktuell gedacht werden, Sein und Nichtsein also im Werden auch zeitlich koinzidieren [zusammennfallen - wp] sollen, so liegt im Begriff der Zeit ganz dieselbe Vereinigung von Sein und Nichtsein, an der man im Begriff des Werdens Anstoß nahm. Es gibt so wenig Zeit wie Veränderung, wenn es kein "Sein des Nichtseins" gibt.

Die einzig denkbare Lösung ist: ein Denkverfahren nachzuweisen, welches den absoluten Gegensatz von Position und Negation überwindet, nämlich auf die Wiedervereinigung des erst Geschiedenen von vornherein und prinzipiell gerichtet ist. Das leistet eben die komprehensive Einheit, die eine Identität des zugleich Unterschiedenen bedeutet, folglich besagt, Eins ist mit dem Anderen dasselbe und doch auch nicht dasselbe. Sie streitet so wenig mit der Logik, daß sie vielmehr das allererste Grundgesetz des Begriffs zum Ausdruck bringt. Freilich wird das nicht einräumen, wer den ursprünglichen Dualismus der Erkenntnisgründe, auf welchem die ganze Deduktion fußt, um jeden Preis überwinden zu müssen glaubt. Doch sehe man zu, wie man alsdann mit den Tatsachen der Erkenntnis im Frieden bleibt.

Infolge dieses unüberwindlichen Dualismus behält freilich auch die Einheit der Qualität für immer den Charakter des Relativen. Auch sie gewährt keine Deckung gegen die grenzenlose Relativität, die uns auch bei der Quantität entgegentrat; sie liefert nur ein neues, wirksameres Mittel, um inmitten der Unendlichkeit der Relationen, in der sich die Erfahrung bewegt, dennoch festen Fuß zu fassen. Aber den Forderungen der Erfahrung ist durch sie allerdings in durchgreifenderer Art entsprochen. Sie ist fortan vom dem Konflikt befreit, der in der Unangebbarkeit der letzten, die Quantität überhaupt begründenden Einheit bestehen blieb. Sie allein ist, aus eben diesem Grund der Empfindung gewachsen und der bloßen Anschauung überlegen, mit der sie dennoch im genauesten Kontakt bleibt.

Und so ist in ihr der solideste Grund gelegt zum Gesetz der Erfahrung; derjenige Grund, auf welchem fernere Kategorien fortzubauen haben werden. Im Gesetz, das seine letzte Wurzel in der Einheit der Qualität hat, ist erst eigentlich und in letztgültiger Form der Gegenstand der Erfahrung begründet. Quantität und Qualität, in ihrer unlöslichen Beziehung zueinander wie zur Anschauung und Empfindung, liefern dazu die ersten, unerläßlichsten Bestandsstücke.


49. Anhangsweise haben wir uns noch mit KANTs Aufstellung der drei Urteilsarten der Qualität und der entsprechenden Kategorien auseinanderzusetzen.

Schon mit seiner Auffassung der Urteilsarten vermag ich nicht übereinzustimmen. KANT sah richtig, daß es einer dritten Kategorie neben Realität und Negation, folglich einer dritten Urteilsart neben Bejahung und Verneinung bedarf; ebenso, daß die dritte Urteilsart aus einer Verbindung der beiden ersten entstehen muß. Von diesem Ausgangspunkt aus stellte er, wie es scheint, neben das bejahende und verneinende Urteil als dritte Klasse das "unendliche", die Bejahung eines ansich verneinenden Prädikats. Im verneinenden Urteil (A ist nicht B) würden nach ihm die beiden Begriffe bloß auseinandergehalten und so der Irrtum abgewehrt, als ob sie identisch seien; im unendlichen dagegen (A ist ein nicht-B) der eine Begriff in den übrigens unbeschränkten Umfang dessen, was übrigbleibt, wenn man den andern ausschließt, positiv gesetzt.

Das will nun sogleich nicht einleuchten, daß eine so unbestimmte Setzung eine spezifische, und gar die abschließende Leistung des qualitativen Urteilens darstellen sollte. Unsere komprehensive Einheit gewährt, denke ich, einen befriedigenderen Abschluß; wie sie sich dann auch durch die Entsprechung mit der quantitativen Allheit bewährt. Dennoch ist richtig erkannt, daß eine Urteilsart gefunden werden muß, welche nicht wie die einfache Verneinung bloß die Abgrenzung des Einen gegen das Andere, sondern den Überschritt über die erst gesetzte Grenze in das angrenzende Gebiet vertritt. Unrichtig ist nur,
    1. daß das angrenzende Gebiet übrigens ganz unbegrenzt vorgestellt wird, während die Begrenzung in einer (bloß höheren) Einheit durch die Natur der synthetischen Funktion unabweislich gefordert ist; und

    2. daß der ursprünglich gesetzte Begriff dabei ausgeschlossen bleiben, denn das der Erkenntnis neu zu erobernde Gebiet durch den Ausschluß des erst schon besessenen charakterisiert sein soll.
Ebendann ist die Unvollkommenheit der bloß Grenzen setzenden Negation nicht überwunden, die Grenze bleibt starr und unbeweglich, während auf die Erweiterung der ersten Begrenzung, auf die Verschiebbarkeit der Begriffsgrenze, auf den Fortschritt der Erkenntnis über sie hinaus gerade alles ankommt. Eine Unendlichkeit liegt allerdings auch in der komprehensiven Einheit; auch in ihrer Forderung ist Richtiges geahnt. Wirklich liegt die vorzügliche Bedeutung der dritten qualitativen Urteilsart darin, daß sie, in einem noch anderen, grundlicheren Sinn als die quantitative Allheit, eine Einheit des Unendlichen darstellt. Aber dem "unendlichen Urteil" KANTs fehlt nichts Geringeres als eben die Einheit.

Entscheidend ist aber, daß eben das, worauf KANT zielt, die "intensive Größe", durch die komprehensive Einheit ungleich direkter und einleuchtender gegeben ist als durch die aus dem "unendlichen Urteil" hergeleitete Kategorie der "Limitation". Damit kommen wir zum zweiten Punkt.

50. Bei den drei kantischen Kategorien der Qualität, meine ich, ist es noch sichtbarer als schon bei den Urteilsarten, daß KANTs Arbeit, eine so wertvolle Vorstufe des Richtigen sie auch darstellt, doch zu ihrem wahren Ziel nicht gelangt ist. Und zwar muß ich schon gegen die zweite, nicht erst gegen die dritte Kategorie Einspruch erheben.

Nach der deutlichsten Erklärung (Kr. d. r. V., a. a. O., Seite 146), soll "Realität" dasjenige bedeuten, "dessen Begriff ansich ein Sein (in der Zeit) anzeigt", Negation, "dessen Begriff ein Nichtsein (in der Zeit) vorstellt. Die Entgegensetzung beider geschieht also in dem Unterschied derselben Zeit als einer erfüllten oder leeren Zeit".

Diese Kategorie der Negation entspricht nicht der logischen Verneinung, der sie doch entsprechen soll. Das verneinende Urteil, A ist nicht B, besagt die Trennung des einen vom andern, nicht die absolute Aufhebung eines von beiden; A ist etwas, B ist auch etwas, nur A ist ein anderes als B, B ein anderes als A; A und B sind zweierlei. Dagegen soll die Kategorie der Negation "Nichts = 0 = negatio" bedeuten - also nicht A, nicht B, nichts von allem. Sie soll sogar (a. a. O., Seite 163f) die leere oder "reine" Anschauung, ohne Empfindung, vertreten, die es nach den eigenen sonstigen Feststellungen KANTs (a. a. O., Seite 357 Anm.) gar nicht gibt. Wie sollte auch wohl das Nichts zur Kategorie werden, d. h. den Gegenstand konstituieren helfen?

Folgerecht kann die Negation auch in Bezug auf den Gegenstand, an der Qualität des Objekts, nur das Unterscheiden, das Grenzensetzen vertreten. Ich setze (positiv) einen gewissen Grad der Qualität; ich scheide ihn dann, oder eben damit, von einem anderen oder grenze ihn gegen ihn ab gegen einen anderen, gleichfalls in positiver Bestimmtheit gedachten (höheren oder niederen) Grad. Dann ist die Negation erst Folge der Position, nämlich der einen im Verhältnis zur anderen; sie bedeutet den Fortschritt über die in der ersteren vollzogene synthetische Leistung hinaus, mithin eine neue synthetische Leistung; wogegen KANTs zweite Kategorie das durch die erste vollbrachte Werke wieder zunichte zu machen scheint. Zugleich gewinnt man nur so die, nicht etwa der bloßen Symmetrie wegen erwünschte, sondern aus einem inneren Grund unerläßlich geforderte Entsprechung mit der zweiten Quantitätskategorie. Negation bedeutet die qualitative Mehrheit (Mehrerleiheit) und zwar die unabgeschlossene, der Möglichkeit nach unendliche. Diese Unendlichkeit brauchen wir durchaus. KANT führt sie bei der dritten Kategorie ein; aber das Dritte muß vielmehr die Wiedervereinigung des erst bloß Auseinandergehaltenen zur neuen Einheit sein, nämlich der qualitativen Allheit der Gattung. So sind wir mit den erforderlichen drei Schritten am Ziel; während KANT, nachdem er die Negation der Null, die Realität der endlichen Größe der Qualität gleichgesetzt hat, erst wieder neue Fehler begehen muß, um den ersten, soviel wie möglich, wieder gut zu machen.

Die intensive Einheit, die als Ziel so richtig erkannt ist, konnte aus den falschen Prämissen unmöglich richtig hervorgehen. Man muß gestehen, daß KANTs Meinung gerade über diesen Punkt nicht völlig klar zum Ausdruck gekommen ist. Zwar, wie das unendliche Urteil eine Verbindung von Bejahung und Verneinung darstellte, so wird die entsprechende Kategorie, die Limitation, als "Realität mit Negation verbunden" erklärt (a. a. O., Seite 99). Wie aber diese Verbindung, in der nunmehr doch das ganze Rätsel liegt, eigentlich gedacht werden soll, gerade das bleibt im Dunkel. Nach der Analogie des unendlichen Urteils kann man nur verstehen: die Größe der Qualität soll nach der Kategorie der Limitation zwar bloß durch die Unterscheidung von einer anderen, aber dennoch positiv gedacht werden. Da nun KANT auf das Unendlichkleine hinauswill, so könnte man sich denken: das Unendlichkleine soll positiv und doch bloß durch die Unterscheidung von der endlichen Größe gedacht werden; nicht mehr endlich, aber darum doch Etwas, nicht Nichts. Die Analogie zum limitativen Urteil bestände also darin: daß über die endliche Differenz hinausgegangen wird in die Unendlichkeit der unterhalb jeder beliebigen endlichen Differenz möglichen Unterschiede. Ich halte mich nicht dabei auf, daß das so recht nicht der kantischen Auffassung der Negation entspricht, nach welcher die Negation der Größe durchaus die Null, das quantitative Nichts, nicht aber die bloß nicht endliche Größe bedeuten sollte. Auch wenn man darüber hinwegsieht und ferner auch daran keinen Anstoß nimmt, daß der Begriff der Größe ohne eine hinreichende Begründung eingeführt scheint, so trifft die angenommene Analogie zwischen dem unendlichen Urteil und dem Unendlichkleinen offenbar nicht zu. Das Unendlichkleine wird nämlich nicht lediglich durch Unterscheidung von einer endlichen Größe gedacht, sondern durch die unendliche Annäherung an eine feste Grenze, die Null. Nur darum ist sie überhaupt einer "synthetischen Einheit" fähig, deren sie nach der kantischen Vorstellungsart offenbar unfähig bliebe. Somit läßt sich diese dritte Kategorie so wenig und noch weniger rechtfertigen wie die entsprechende Urteilsart.

Dagegen leistset unsere "komprehensive Einheit", was wir an der "Limitation" vermissen: eine neue, von der ursprünglichen verschiedene qualitative Einheit, in welcher die unendliche Möglichkeit der Unterscheidung (zwischen beliebigen endlichen Grenzen) vermöge der Kontinuität zusammenbegriffen wird; wobei diese Zusammenfassung auf der Einheit des Gesetzes beruth, wonach sich die unendlichen Unterschiede erzeugen. Von 0 zu 1 und umgekehrt ist, vermöge der Kontinuität, ein Übergang möglich, der ein festes Ziel hat; nicht so von 1 zu ∞. Nur dem letzteren, nicht dem ersteren Übergang entspräche etwa die Kategorie der Limitation, wie sie, nach der Analogie des unendlichen Urteils, nur verstanden werden könnte; um den ersteren aber handelt es sich doch beim mathematischen Grundbegriff des Unendlichkleinen.

Somit bleibt nichts übrig als die dritte Kategorie und die entsprechende Urteilsart auf die angegebene Art zu ersetzen, zugleich aber die zweite in dem durch die Analogie der zweiten Urteilsklasse zwingend gegebenen Sinn zu berichtigen.
LITERATUR | Paul Natorp, Quantität und Qualität in Begriff, Urteil und gegenständlicher Erkenntnis Philosophische Monatshefte, Bd. 27, Heidelberg 1891
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    1) Vgl. Philosophische Monatshefte, Bd. 23, Seite 280f. Auch was bei einer früheren Gelegenheit (Göttinger gelehrte Anzeigen, 1886, Seite 145f gegen CARL STUMPF) über den Begriff der Empfindung bemerkt wurde, erhält durch das hier und weiterhin Gesagte vielleicht etwas mehr Licht. Am nächsten glaube ich in dieser Auffassung mit HERMANN COHEN übereinzustimmen (in dieser Zeitschrift, Bd. 26, Seite 321: "Der gegebene Gegenstand ist der als gegeben gedachte Gegenstand." (vgl. desselben "Prinzip der Infinitesimal-Methode § 25)
    2) In einem solchen Sinn mag es verstanden werden, wenn KANT (Kr. d. r. V. Ausgabe KEHRBACH, Seite 126) die "Einheit der Apperzeption" das "Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis" nennt.
    3) KANT, Dissertation von 1770, De mundi sensibilis etc. §§ 1, 4 etc. Vgl. COHEN, *Kants Theorie der Erfahrung*, zweite Auflage, Seite 91.
    4) KANT in der Streitschrift gegen EBERHARD "Über eine Entdeckung" etc. (Werke I, Ausgabe ROSENKRANZ, Seite 469).
    5) Daß für KANT Zeit und Raum in der Synthesis der "Apprehension" [Auffassung eines Vorstellungsinhalts - wp] und "Reproduktion" für das Bewußtsein erst entstehen, scheint mir klar. Doch ist diese Wendung noch zu sehr bloß psychologisch. - Auch in dieser ganzen Frage glaube ich am nächsten mit HERMANN COHEN (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 223f) übereinzustimmen.
    6) Daß übrigens die Anschauung als solche die Stetigkeit gar nicht begründen würde, versteht sich aus §§ 37, 38.
    7) Mit Recht hat COHEN diesen Unterschied scharf betont. Möglicherweise hat KANT die "Empfindung" von vornherein nur als Faktor der objektiven Erkenntnis, folglich gar nicht als schlechthin subjektives Datum gedacht. Doch fehlt es allerdings an der gehörigen Klarheit darüber.