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PETER L. BERGER / THOMAS LUCKMANN
Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit

[Eine Theorie der Wissenssoziologie]
[6/7]
"Die  Sozialisation  ist die grundlegende und allseitige Einführung des Individuums in die objektive Welt einer Gesellschaft oder eines Teils einer Gesellschaft. Die primäre Sozialisation ist die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird. Sekundäre Sozialisation ist jeder spätere Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist. In der primären Sozialisation internalisiert das Kind die Welt seiner Eltern als  die  Welt und nicht als Welt, die in einen bestimmten institutionalen Zusammenhang gehört. Einige jener Krisen, die nach der primären Sozialisation auftreten, kommen tatsächlich von der Erkenntnis, daß die Welt der Eltern nicht die einzige Welt ist, daß sie vielmehr einen bestimmten Ort hat."

"Man braucht keinen Menschen zu kennen und mit keinem zu reden. Dennoch sichert die Masse der Mitfahrer die Grundstruktur der Alltagswelt. Mit ihrem Allerweltsbenehmen holen sie den Einzelnen aus der vernebelten Wirklichkeit seines Morgenkaters heraus und demonstrieren ihm unmißverständlich, daß die Welt aus ernsten Männern, die zur Arbeit fahren, besteht, aus Pflichtbewußtsein und Terminkalendern, aus der New-Haven-Bahn und der New-York-Times. Vom Wetterbericht bis zu  Babysitter gesucht beteuert sie ihm, daß er die wirklichste aller möglichen Welten bewohnt."


III. Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit

1. Die Internalisierung der Wirklichkeit

a) primäre Sozialisation

Da Gesellschaft objektiv und subjektiv Wirklichkeit ist, muß ihr theoretisches Verständnis beide Aspekte umfassen. Beiden Aspekten wird, wie wir schon sagten, erst eigentlich gerecht, wer  Gesellschaft  als ständigen dialektischen Prozeß sieht, der aus drei Komponenten besteht: Externalisierung, Objektivation und Internalisierung. Als gesamtgesellschaftliches Phänomen sind die drei Komponenten nicht etwa im Sinne einer Aufeinanderfolge in der Zeit vorzustellen. Sie sind vielmehr simultan für die Gesellschaft und alle ihre Teile charakteristisch, so daß jede Analyse, die nur eine oder zwei ins Auge faßt, nicht ausreicht. Dasselbe gilt für das einzelne Mitglied der Gesellschaft, das simultan sein eigenes Sein in die Gesellschaft hinein externalisiert, das heißt also, sich seiner entäußert und die Gesellschaft wiederum umgekehrt internalisiert, das heißt: sich ihre objektive Wirklichkeit "einverleibt". In der Gesellschaft sein heißt mit anderen Worten, an ihrer Dialektik teilhaben.

Der Mensch wird jedoch nicht als Mitglieder der Gesellschaft geboren. Er bringt eine Disposition für Gesellschaft mit auf die Welt. Zu ihrem Mitglied aber muß er erst werden. Daher gibt es für jedes Leben eine Spanne, in deren zeitlichen Verlauf der Mensch in seine Teilhaberschaft an der gesellschaftlichen Dialektik eingeführt wird. Dieser Prozeß ist die Internalisierung: das unmittelbare Erfassen und Auslegen eines objektiven Vorgangs oder Ereignisses, das Sinn zum Ausdruck bringt, eine Offenbarung subjektiver Vorgänge bei einem Anderen also, welche auf diese Weise für mich subjektiv sinnhaft werden. Das bedeutet nicht, daß ich den Anderen richtig verstehen muß. Ich kann ihn auch mißverstehen. Sein hysterisches Auflachen kann ich für Fröhlichkeit halten. Dennoch ist das Subjekt des Anderen objektiv zugänglich für mich und wird sinnhaft, einerlei ob sein und mein subjektiv gemeinter Sinn zusammenfallen oder nicht. Die volle Übereinstimmung beiderseits und das reziproke [wechselseitige - wp] Wissen um diese Übereinstimmung setzt, wie oben erörtert wurde, Signifikanz voraus. Internalisierung in dem allgemeinen Sinn, wie wir sie hier verstehen, liegt jedoch sowohl der Signifikanz als auch ihren einzelnen komplizierteren Formen zugrunde. In eben diesem generellen Sinn ist sie das Fundament erstens für das Verständnis unserer Mitmenschen (1) und zweitens für das Erfassen der Welt als einer sinnhaften und gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Dieses Welterfassen ist nicht das Ergebnis selbstherrlicher Sinnsetzungen seitens isolierter Individuen, sondern es beginnt damit, daß der Einzelne eine Welt "übernimmt", in der Andere schon leben. Gewiß, das "Übernehmen" ist bei jedem menschlichen Organismus in gewissem Sinne ein ansich genuiner [echter - wp] Prozeß, und die "übernommene" Welt kann schöpferisch umgewandelt oder sogar in seltenen Fällen neu geformt werden. Immer jedoch "verstehe" ich bei den komplexen Formen der Internalisierung nicht nur die augenblicklichen subjektiven Vorgänge im Anderen, sondern ich "verstehe" die Welt, der er lebt, und diese seine Welt wird meine eigene. Voraussetzung dafür ist, daß er und ich nicht nur vorübergehende Zeit gemeinsam haben und daß eine übergreifende, umfassende Perspektive besteht, mittels deren die Sequenz von Situationen intersubjektiv verbunden wird. Wir verstehen nun nicht nur jeder des Anderen Bestimmung gemeinsamer Situationen, wir bestimmen sie wechselseitig füreinander. Ein Nexus der Motivationen ist zwischen uns entstanden, der bis in die Zukunft reicht. Das Wichtigste ist, daß nun eine ständige wechselseitige Identifikation zwischen uns vor sich geht. Wir leben nicht nur in derselben Welt, wir haben beide teil an unser beider Sein.

Nur wer diesen Grad der Internalisierung von Welt erreicht hat, ist Mitglied der Gesellschaft. Der ontogenetische Prozeß, der das zustandebringt, ist die  Sozialisation (2), die damit als die grundlegende und allseitige Einführung des Individuums in die objektive Welt einer Gesellschaft oder eines Teils einer Gesellschaft bezeichnet werden kann. Die primäre Sozialisation ist die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird. Sekundäre Sozialisation ist jeder spätere Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist. Wir können die Sonderfrage nach der Aneignung von Wissen über Gesellschaften, in die man nicht hineingeboren ist, und auch den Vorgang der Internalierung solch fremder Welten als Wirklichkeit beiseite lassen. Mindestens oberflächlich gesehen, hat ein solcher Prozeß Ähnlichkeit mit primärer und sekundärer Sozialisation, ist jedoch strukturell mit keiner der beiden Formen identisch.

Daß die primäre Sozialisation für den Menschen normalerweise die wichtigste ist und daß ihr die sekundäre in ihrer Grundstruktur entsprechen muß, bedarf keines Zweifels. Jeder Mensch wird in eine objektive Gesellschaftsstruktur hineingeboren, innerhalb derer er auf jene "signifikanten Anderen" trifft, denen seine Sozialisation anvertraut ist (3). Diese signifikanten Anderen sind ihm auferlegt. Ihre Bestimmungen seiner Situation sind für ihn als objektive Wirklichkeit gesetzt. So wird er also nicht nur in eine objektive Gesellschaftsstruktur hineingeboren, sondern auch in eine objektive gesellschaftliche Welt. Die signifikanten Anderen, die ihm diese Welt vermitteln (4), modifizieren sie im Verlauf der Übermittlung. Sie wählen je nach ihrem eigenen gesellschaftlichen Ort und ihren eigenen biographisch begründeten Empfindlichkeiten Aspekte aus. So wird die gesellschaftliche Welt für das Individuum doppelt gefiltert. Das Kind der unteren Klassen nimmt sie nicht nur aus der Perspektive der unteren Klassen wahr, sondern auch in der Färbung der Abneigungen seiner Eltern oder anderer, die seine Primärsozialisation übernommen haben. Ein und dieselbe Perspektive - die der unteren Klassen - kann Verachtung, Resignation, Ressentiment oder flammende Empörung einflößen. So kann es dazu kommen, daß das Kind der unteren Klassen nicht nur eine Welt bewohnt, die von der der höheren Klassen sehr verschieden ist, sondern daß es sie in einer Weise bewohnt, die wiederum von der des Kindes der unteren Klassen nebenan ganz verschieden ist.

Selbstverständlich umfaßt die primäre Sozialisation weit mehr als bloßes kognitives Lernen. Sie findet unter Bedingungen statt, die mit Gefühl beladen sind, und es gibt sogar triftige Gründe dafür anzunehmen, daß ohne eine solche Gefühlsbindung an die signifikanten Anderen ein Lernprozeß schwierig, wenn nicht unmöglich wäre (5). Das Kind identifiziert sich mit seinen signifikanten Anderen emotional in mancherlei Weise. Wie auch immer es sich identifiziert, zur Internalisierung kommt es nur, wo Identifizierung vorhanden ist. Das Kind übernimmt die Rollen und Einstellungen der signifikanten Anderen, das heißt: es internalisiert sie und macht sie sich zu eigen. Durch seine Identifikation mit signifikanten Anderen wird es fähig, sich als sich selbst und mit sich selbst zu identifizieren, seine eigene subjektiv kohärente und plausible Identität zu gewinnen. Mit anderen Worten ist das Selbst ein reflektiert-reflektierendes Gebilde, das die Einstellungen, die Andere ihm gegenüber haben und gehabt haben, spiegelt (6). Der Mensch wird, was seine signifikanten Anderen in ihn hineingelegt haben. Das ist jedoch kein einseitiger, mechanischer Prozeß. Er enthält vielmehr eine Dialektik zwischen der Identifizierung durch Andere und einer Selbstidentifikation, zwischen objektiv zugewiesener und subjektiv angeeigneter Identität. Die Dialektik, die immer da ist, wenn sich das Individuum mit seinen signifikanten Anderen identifiziert, ist sozusagen derjenige Anteil an der weiter oben behandelten allgemeinen Dialektik, der dem Einzelnen zufällt.

Zwar sind die Details dieser Dialektik für die Sozialpsychologie gewiß von größter Bedeutung. Doch würde es unseren Rahmen überschreiten, ließen wir uns auf ihre Konsequenzen für eine Theorie der Sozialpsychologie ein (7). Für uns ist die Tatsache entscheidend, daß der Einzelne nicht nur Rollen und Einstellungen Anderer, sondern in ein und demselben Vorgang auch ihre Welt übernimmt. Identität ist also objektiv als Ort in einer bestimmten Welt gegeben, kann aber subjektiv nur zusammen mit dieser Welt erworben werden. Anders gesagt: Identifizierung und Identifikation finden vor Horizonten statt, die eine besondere soziale Welt umschließen. Das Kind lernt zu sein, wen man es heißt. Hinter jedem Namen steht ein ganzer Sprachbereich, der umgekehrt einen markierten gesellschaftlichen Ort durchscheinen läßt (8). Eine Identität zu bekommen heißt, einen bestimmten Platz in der Welt angewiesen zu erhalten. Indem sich das Kind diese Identität subjektiv aneignet ("Ich  bin  John Smith") eignet es sich die Welt an, auf die diese Identität verweist. Die subjektive Aneignung der eigenen Identität und die subjektive Aneignung der sozialen Welt sind nur verschiedene Aspekte ein und desselben Internalisierungsprozesses, der durch  dieselben  signifikanten Anderen vermittelt wird.

Die primäre Sozialisation bewirkt im Bewußtsein des Kindes eine progressive Loslösung der Rollen und Einstellungen von speziellen Anderen und damit die Hinwendung zu Rollen und Einstellungen überhaupt. Für die Internalisierung von Normen bedeutet zum Beispiel der Übergang von "Jetzt ist Mami böse auf mich" zu "Mami ist immer böse auf mich, wenn ich meine Suppe verschütte" einen Fortschritt. Wenn weitere signifikante Andere - Vater, Oma, große Schwester usw. - Mamis Abneigung gegen verschüttete Suppe teilen, wird die Gültigkeit der Norm subjektiv ausgeweitet. Der entscheidende Schritt wird getan, wenn das Kind erkennt, daß  jedermann  etwas gegen Suppeverschütten hat. Dann wird die Norm zum "Man verschüttet Suppe nicht" verallgemeinert. "Man" ist dann man selbst als Glied einer Allgemeinheit, die im Prinzip das Ganze einer Gesellschaft umfaßt, soweit diese für das Kind signifikant ist. Das Abstraktum der Rollen und Einstellungen konkreter signifikanter Anderer ist für die Sozialpsychologie der generalisierte Andere (9). Das Zustandekommen einer solchen Abstraktion im Bewußtsein bedeutet, daß das Kind sich jetzt nicht nur mit konkreten Anderen identifiziert, sondern mit einer Allgemeinheit der Anderen, das heißt mit einer Gesellschaft. Nur kraft dieser allgemeinen Identifikation gewinnt seine eigene Selbstidentifikation Festigkeit und Dauer. Es hat nun nicht nur eine Vis-á-wis-Identität diesem oder jenem signifikanten Anderen gegenüber, sondern überhaupt Identität, die es subjektiv als gleichbleibend erfährt, welchen anderen, signifikant oder nicht, es auch begegnet. Diese von nun an kohärente Identität vereinigt in sich all die verschiedenen internalisierten Rollen und Einstellungen - unter anderem auch die Selbstidentifizierung als jemand, der seine Suppe nicht verschüttet.

Das erwachende Bewußtsein für den generalisierten Anderen markiert eine entscheidende Phase der Sozialisation. Sie bedeutet, daß die Gesellschaft als Gesellschaft mit ihrer etablierten objektiven Wirklichkeit internalisiert und zugleich die eigene kohärente und dauerhafte Identität subjektiv etabliert wird. Gesellschaft, Identität  und  Wirklichkeit sind subjektiv die Kristallisation eines einzigen Internalisierungsprozesses. Diese Kristallisation ergibt sich im Gleichschritt mit der Internalisierung von Sprache. Sprache ist aus Gründen, die nach unseren einschlägigen Erörterungen evident sein dürften, sowohl der wichtigste Inhalt als auch das wichtigste Instrument der Sozialisation.

Sobald das Bewußtsein den generalisierten Anderen für sich herauskristallisiert hat, entsteht eine Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit. Was "außen" wirklich ist, entspricht dem, was "innen" wirklich ist. Objektive Wirklichkeit kann leicht in subjektive Wirklichkeit "übersetzt" werden - und umgekehrt -, wobei Sprache natürlich das Hauptvehikel dieses fortwährenden Übersetzungsprozesses in beiden Richtungen ist. Wichtig ist jedoch, daß die Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit nicht vollkommen sein kann. Die beiden Wirklichkeiten entsprechen einander, ohne sich zu decken. Immer ist mehr objektive Wirklichkeit "erreichbar", als tatsächlich von irgendeinem individuellen Bewußtsein internalisiert wird, und zwar einfach deshalb, weil die Inhalte der Sozialisation durch die gesellschaftliche Zuteilung von Wissen bestimmt sind. Kein Einzelner internalisiert die Totalität dessen, was in seiner Gesellschaft als Wirklichkeit objektiviert ist, nicht einmal dann, wenn die Gesellschaft und ihre Welt verhältnismäßig einfach sind. Andererseits gibt es immer auch Bestandteile der subjektiven Wirklichkeit, die nicht in der Sozialisation wurzeln. Das des eigenen Körpers Innesein ist zum Beispiel vor und unabhängig von allem, was in der Gesellschaft über ihn erlernbar ist. Das subjektive Leben ist nicht völlig gesellschaftlich. Der Mensch erlebt sich selbst als ein Wesen innerhalb und außerhalb der Gesellschaft (10). Das deutet darauf hin, daß die Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit niemals statisch, niemals ein unabänderlicher Tatbestand ist. Sie muß immer  in actu [aktuell - wp] produziert und reproduziert werden. Die Beziehung von Individuum und sozialer Welt ist mit anderen Worten ein fortwährender Balance-Akt, dessen anthropologische Voraussetzungen - wie bereits dargelegt - in der Sonderstellung des Menschen im Tierreich zu suchen sind. Bei der primären Sozialisation ist die Identifikation kein Problem. Man kann sich die signifikanten Anderen noch nicht aussuchen. Die Gesellschaft setzt dem Sozialisationskandidaten ein fertiges Ensemble von signifikanten Anderen vor, das er ohne die Möglichkeit, sich für ein anderes entscheiden zu können, hinnehmen muß.  Hic Rhodus, hic salta.  Mit den Eltern, die einem das Schicksal bestimmt hat, muß man sich abfinden. Die eindeutige Folge dieser weniger begünstigten Situation des Kindes ist die, daß ihm, obgleich es nicht ganz unbeteiligt und passiv während seiner Sozialisation ist, die Erwachsenen die Spielregeln aufstellen. Es kann gern oder ungern mitspielen, ein anderes Spiel jedenfalls ist nicht zu haben. Was daraus folgt, ist wichtig: Da das Kind sich seine signifikanten Anderen nicht aussuchen kann, ist seine Identifikation mit ihnen quasi-unvermeidlich. Es internalisiert die Welt seiner signifikanten Anderen nicht als eine unter vielen möglichen Welten, sondern als die Welt schlechthin, die einzige vorhandene und faßbare. Darum ist, was an Welt in der primären Sozialisation internalisiert wird, so viel fester im Bewußtsein verschanzt als Welten, die auf dem Weg sekundärer Sozialisation internalisiert werden. Wie weit auch immer das ursprüngliche Gefühl der Unausweichlichkeit einer späteren Ernüchterung weichen mag: die Erinnerung an eine nie wiederkehrende Gewißheit früher Morgenröte der Wirklichkeit bleibt der ersten Welt der Kindheit verhaftet. Die primäre Sozialisation treibt demnach, was später Einsicht freilich als der größte Schabernack vorkommt, den sich die Gesellschaft mit dem Vertrauen des Einzelnen leistet: sie spiegelt ihm, auf daß der Zufall der Geburt sinnvoll erscheinen soll, etwas als Notwendigkeit vor, was tatsächlich ein Bündel von Zufälligkeiten ist.

Die speziellen Inhalte, die mit der primären Sozialisation internalisiert werden, sind natürlich von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Einige allerdings sind überall zu finden. Vor allem ist es die Sprache, die internalisiert werden muß. Als Sprache und mittels Sprache werden beliebige institutionell festgesetzte Begründungs- und Auslegungszusammenhänge internalisiert - so benimmt man sich etwa wie ein tapferer kleiner Junge und glaubt, daß kleine Jungen von Natur aus nach tapfer und feige zu unterscheiden sind. Derartige Schemata versorgen das Kind für das Alltagsleben mit institutionalisierten Programmen, deren einige unmittelbar verwendbar sind, während andere ein Benehmen, das die Gesellschaft späteren Lebensphasen beibehält, antizipieren - Tapferkeit, die uns einen Tag voller Mutproben, von den Nächsten und allen Arten von Anderen gestellt, bestehen läßt, aber auch die Tapferkeit, die später gefordert wird - wenn man etwa zum Ritter geschlagen oder von Gott berufen wird. Programme, unmittelbar verwendbar oder antizipatorisch, unterscheiden die eigene Identität von anderen - Mädchen z. B., Sklavenkindern oder Jungen aus einem anderen Clan. Schließlich und endlich werden mindestens die Ansatzpunkte für den Legitimierungsapparat internalisiert. Das Kind lernt, "warum" Programme da sind, was und wie sie sind. Man muß tapfer sein, weil man ein wirklicher Mann werden will. Man muß die frommen Bräuche in Ehren halten, weil die Götter sonst zürnen. Man muß dem Häuptling gehorchen, damit die Götter in Zeiten der Gefahr hilfreich und gewogen sind, usw.

Die erste Welt des Menschen wird also in der primären Sozialisation konstruiert. In ihrer lichten Wirklichkeit stiftet die Welt der Kindheit Vertrauen, nicht nur zu den signifikanten Anderen als Personen, sondern auch zu ihren Bestimmungen der Situation. Die Welt der Kindheit ist dicht und zweifelsfrei wirklich (11). Das wäre in diesem Entwicklungsstadium des Bewußtseins wohl gar nicht anders möglich. Erst später kann sich der Mensch den Luxus des Zweifels in einem bescheidenen Rahmen leisten. Der Protorealismus der Welt ist wahrscheinlich phylogenetisch und ontogenetisch notwendig (12). Die Welt der Kindheit ist jedenfalls so verfaßt, daß sie eine nomische [integrierende - wp] Struktur präsentiert, der das Individuum vertrauen kann: "Es ist ja alles in Ordnung", ist wahrscheinlich das, was Mütter am häufigsten sagen, wenn Kinder weinen. Das einiges weit entfernt davon ist, "in Ordnung" zu sein, diese späte Entdeckung mag mehr oder weniger schlimm sein, je nach den biographischen Umständen, aber selbst dann behält die Welt der Kindheit im Rückblick noch ihre eigenartige Wirklichkeit. Sie ist und bleibt die "heimatliche Welt", die wir noch in fernste Regionen des Lebens, wo wir keineswegs heimisch sind, mit uns nehmen.

Die primäre Sozialisation arbeitet mit Lernsequenzen, die gesellschaftlich festgesetzt sind. Im  A-Alter soll das Kind  X  lernen, im  B-Alter Y usw. Jedes derartige Programm enthält gesellschaftliche Zugeständnisse an eine biologische Reifung und Differenzierung. So muß zum Beispiel jedes Programm in jeder Gesellschaft damit rechnen, daß ein einjähriges Kind nicht lernen kann, was ein dreijähriges lernt. Die meisten Programme bestimmen auch wohl, was Mädchen und was Jungen lernen müssen. Solche kleinen Zugeständnisse muß die Gesellschaft biologischen Tatsachen natürlich machen. Jenseits von ihnen bestehen jedoch große sozio-historische Verschiedenheiten hinsichtlich der Setzung der Lernsequenzen und Lebensstadien. Was in einer Gesellschaft noch zur Kindheit gehört, mag in einer anderen Gesellschaft schon als erwachsen definiert werden. Auch die gesellschaftlichen Ansichten über  Kindheit  variieren stark - so etwa, was ihr an Gefühlen, moralischer Verantwortlichkeit oder geistigen Möglichkeiten zugeschrieben wird. Die modernen westlichen Gesellschaften neigten - zumindest vor FREUD - dazu, Kinder grundsätzlich "unschuldig" und "süß" zu finden. Andere Gesellschaften hielten sie für "sündig und von Natur unrein" und unterschieden sie von Erwachsenen nur nach Kraft und Verständnis. Ähnliche Auffassungsunterschiede bestanden hinsichtlich kindlicher Sexualität, Verantwortlichkeit für Verbrechen, Offenheit für göttliche Eingebungen usw. Variationen wie diese bei der gesellschaftlichen Definition der Kindheit und ihren Stadien wirken sich offensichtlich auf das ganze Lernprogramm aus. (13).

Der Charakter der primären Sozialisation wird auch von den Anforderungen mitgeprägt, die der zu vermittelnde Wissensvorrat stellt. Manche Legitimationen beanspruchen, wenn sie verstanden werden sollen, einen höheren Grad sprachlicher Differenzierungsmöglichkeiten als andere. Schätzungsweise braucht ein Kind zum Beispiel weniger Worte, um einzusehen, daß es nicht masturbieren soll, weil sein Schutzengel traurig wird, als weil es seine spätere sexuelle Anpassungsfähigkeit gefährdet. Auch die Anforderungen der allgemeinverbindlichen institutionalen Ordnung wirken sich auf die primäre Sozialisation aus. Von verschiedenen Lebensaltern werden verschiedene Fertigkeiten erwartet, was wiederum nach verschiedenen Gesellschaften oder verschiedenen Teilen derselben Gesellschaft variiert. Das Alter, in dem einem Jugendlichen die Berechtigung und Fähigkeit, Auto zu fahren, zugeschrieben wird, mag in einer anderen Gesellschaft das sein, in dem er seinen ersten Feind getötet haben muß. Ein Kind aus der Oberschicht lernt "die Fakten des Lebens" unter Umständen erst kennen, wenn ein gleichaltriges Kind der unteren Klassen schon die Anfangsgründe der Abtreibung beherrscht. Ein Kind der oberen Zehntausend gibt sich den ersten patriotischen Gefühlen hin, wenn sein proletarischer Altersgenosse den ersten Haß auf die Polizei und alles, wofür sie steht, mühsam hinunterwürgt.

Die primäre Sozialisation endet damit, daß sich die Vorstellung des generalisierten Anderen - und alles, was damit zusammenhängt - im Bewußtsein der Person angesiedelt hat. Ist dieser Punkt erreicht, so ist der Mensch ein nützliches Mitglied der Gesellschaft und subjektiv im Besitz eines Selbst und einer Welt. Seine Internalisierung von Gesellschaft, Identität und Wirklichkeit gilt jedoch nicht ein für allemal. Sozialisation ist niemals total und niemals zu Ende. Daraus ergeben sich für uns zwei weitere Probleme. Erstens: Wie wird die in der primären Sozialisation internalisierte Wirklichkeit im Bewußtsein bewahrt? Und zweitens: Wie gehen neue Internalisierungen - oder sekundäre Sozialisationen - im späteren Lebenslauf vor sich? Wir wollen die beiden Fragen in umgekehrter Reihenfolge angehen.


b) Sekundäre Sozialisation

Man kann sich durchaus eine Gesellschaft vorstellen, in der auf die erste keine weitere Sozialisation mehr folgt. Eine solche Gesellschaft hätte natürlich einen ziemlich schlichten Wissensvorrat. Alles Wissen wäre für alle relevant, und die Individuen hätten höchstens verschiedene Perspektiven, unter denen sie dieses Wissen betrachten. Eine solche Vorstellung ist als abstrakte Abgrenzung brauchbar. Doch wissen wir von keiner Gesellschaft, die keinerlei Arbeitsteiligkeit hätte und dementsprechend keinerlei gesellschaftliche Distribution von Wissen. Sobald aber beides vorhanden ist, wird eine sekundäre Sozialisation unerläßlich.

Sekundäre Sozialisation ist die Internalisierung institutionaler oder in einer Institutionalisierung gründender "Subwelten". Ihre Reichweite und ihre Eigenart werden daher von der Art und dem Grad der Differenziertheit der Arbeitsteiligkeit und der entsprechenden gesellschaftlichen Verteilung von Wissen bestimmt. Auch allgemein relevantes Wissen kann natürlich gesellschaftlich bemessen sein - zum Beispiel in Form von Klassen-"Versionen". Was wir jedoch hier meinen, ist die gesellschaftliche Verteilung von "Spezialwissen", das heißt Wissen, das als Ergebnis der Arbeitsteiligkeit entsteht und dessen "Träger" institutionell bestimmt sind. Wir können sagen, daß sekundäre Sozialisation - lassen wir einmal ihre anderen Dimensionen beiseite - der Erwerb von rollenspezifischem Wissen ist, wobei die Rollen direkt oder indirekt von der Arbeitsteiligkeit herkommen. Eine so eindeutige Definition läßt sich durchaus vertreten, doch sagt sie keineswegs alles. Die sekundäre Sozialisation erfordert das Sich-zu-eigen-Machen eines jeweils rollenspezifischen Vokabulars. Das wäre einmal die Internalisierung semantischer Felder, die Routineauffassung und -verhalten auf einem institutionalen Gebiet regulieren. Zugleich werden die "stillen Voraussetzungen", Wertbestimmungen und Affektnuancen dieser semantischen Felder miterworben. Die "Subwelten", die mit der sekundären Sozialisation internalisiert werden, sind im allgemeinen partielle Wirklichkeiten im Kontrast zur "Grundwelt", die man in der primären Sozialisation erfaßt. Aber auch die Subwelten sind mehr oder weniger kohärente Wirklichkeiten mit normativen, kognitiven und affektiven Komponenten.

Auch sie brauchen zumindest die Grundelemente eines Legitimationsapparates, mit dem oft rituelle oder materielle Symbole verbunden sind. Stellen wir uns einmal vor, wie eine Trennung zwischen Soldaten zu Fuß und zu Pferde zustande kommt. Die Kavallerie muß eine Sonderausbildung haben, die mehr verlangt als den richtigen Umgang mit Schlachtrossen. Ihre Sprache wird bald sehr anders werden als die der Infanterie. Um Pferde, ihren Nutzen und Nachteil, und um Situationen, die das Reiterleben mit sich bringt und die für das Fußvolk gänzlich irrelevant sind, wird ein Wortschatz aufgebaut. Aber auch über einen solchen simpel instrumentalen Gebrauch hinaus wird der Reitersmann bald seine eigene Sprache sprechen. Ein zorniger Infantrist schwört bei seinen brennenden Füßen, der Kavallerist beim Hintern seines Rosses. "Mit anderen Worten" häuft sich ein Schatz von Bildern und Sinnbildern auf, der auf der instrumentalen Grundlage der Reitersprache ruht. Wenn der einzelne Mann für den Kampf zu Pferde gedrillt wird, internalisiert er die rollenspezifische Frage  in toto [im Ganzen - wp]. Er wird zum Kavalleristen nicht nur, weil er die nötigen Hand- bzw. Fußfertigkeiten erlernt hat, sondern weil er fähig ist, die Sprache der Kavallerie zu sprechen und zu verstehen. Mit seinen berittenen Kameraden kann er sich in Anspielungen ergehen, die sinnvoll für Kavalleristen und völlig dunkel für Infanteristen sind. Daß ein solcher Internalisierungsprozeß eine subjektive Identifikation mit der Rolle und ihren Normen verlangt, versteht sich von selbst. "Ich bin ein Reitersmann", "Kein Reiter läßt einen Feind den Schwanz seines Pferdes sehen", "Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht", "Toller Reiter in der Schlacht, toller Spieler bei der Rast" usw. Ist das Bedürfnis vorhanden, so wird ein solcher Sinnvorrat durch Legitimationen gestützt, die von einfachen Maximen (wie den soeben genannten) bis zu komplizierten mythologischen Konstruktionen reichen. Am Ende gibt es dann vielerlei repräsentatives und liturgisches Zeremonielle mit handfesten Kultobjekten - das alljährliche Fest des Gottes der Pferde etwa, bei dem nur hoch zu Roß gespeist und den frisch initiierten Reitern der Pferdeschwanz-Fetisch verliehen wird, den sie von nun an als Halsschmuck tragen.

Der Charakter einer sekundären Sozialisation wie in unserem Beispiel hängt vom Status des betroffenen Wissensbestandes in der symbolischen Sinnwelt als Gesamtheit ab. Man braucht Training, ob man sein Pferd einen Düngerkarren ziehen läßt oder es sattelt und in die Schlacht reitet. Eine Gesellschaft jedoch, die sich damit begnügt, Pferdekräfte vor Düngerkarren zu spannen, braucht das kaum liturgisch oder fetischistisch zu überhöhen. Auch ist unwahrscheinlich, daß das Düngerkarrenpersonal sich in einem tieferen Sinn mit der Düngerkarrenrolle identifiziert. Legitimationen sind, sofern überhaupt nötig, wahrscheinlich kompensatorischer Art. Die sekundäre Sozialisation stellt sich also in diversen sozio-historischen Spielarten dar. Den Übergang von der primären zur sekundären Sozialisation markiert in den meisten Gesellschaften jedoch ein besonderes Ritual. (14)

Die Formen der sekundären Sozialisation werden durch ihre fundamentale Schwierigkeit bestimmt: da sie immer einen vorhergegangenen Prozeß der Primärsozialisation voraussetzt, muß sie mit einem schon geprägten Selbst und einer schon internalisierten Welt rechnen. Subjektive Wirklichkeit kann sie nicht  ex nihilo [aus dem Nichts - wp] aufbauen. Damit ergibt sich ein Problem, weil nämlich bereits eine internalisierte Wirklichkeit die Neigung hat, haften zu bleiben. Welche neuen Inhalte auch zu internalisieren sind, irgendwie muß die schon vorhandene Wirklichkeit überlagert werden. So kommt es zum Problem der Verschränkung von ursprünglichen und hinzukommenden Internalisierungen. Je nach Lage des Falles ist es mehr oder weniger schwer zu lösen. Hat man gelernt, daß Reinlichkeit am eigenen Körper eine Tugend ist, so läßt sich das unschwer auch auf das eigene Pferd beziehen. Hat man aber als Kleinkind gelernt, daß gewisse Unmanierlichkeiten widerlich sind, so bedarf es dann doch einer gewissen Erläuterung, warum sie bei der Kavallerie Ehrensache sind. Wenn ein Zusammenhang hergestellt und gewahrt werden soll, so benötigt die sekundäre Sozialisation theoretische Konstruktionen, mit deren Hilfe isolierte Wissensbestände integriert werden können.

Bei der sekundären Sozialisation gewinnen die biologischen Grenzen zunehmend Bedeutung für die Lernsequenzen, die nun ihrerseits eine Angelegenheit des zu erwerbenden Wissens werden. Wer zum Beispiel gewisse Arten von Jagd kennenlernen will, muß vorher klettern lernen, oder wer Differentialrechnung lernen will, muß Algebra können. Solche Lernfolgen können auch, je nach Interessenlage des sie verwaltenden Personals, manipuliert werden. So kann etwa eine Verordnung bestehen, daß man zuerst aus den Eingeweiden der Tiere weissagen können muß, bevor man aus dem Vogelflug weissagen darf, oder daß man nicht ohne High-School-Diplom Lehrling in einer Einbalsamierungsanstalt werden kann, oder daß man eine Prüfung in Gälisch bestehen muß, um einer Stellung im irischen Verwaltungsdienst für würdig befunden zu werden. Solche Klauseln werden dem praktischen Wissen, das zu den Rollen des Wahrsagers, Einbalsamierers oder irischen Beamten gehört, von außen hinzugefügt. Sie sind institutionell abgesichert, um das Prestige dieser Rollen zu erhöhen oder anders gerichtete ideologische Interessen zu parieren. Die Grundschulbildung mag völlig ausreichen, um dem Lehrplan der Einbalsamierungsschule gewachsen zu sein, und irische Beamte betreiben ihr Geschäft normalerweise auf englisch. So ist es möglich, daß die manipulierten Lernfolgen für die Praxis unbrauchbar - um nicht zu sagen "disfunktional" - sind. Kommt es etwa nicht vor, daß "Meinungsforscher" Testate über den Besuch "allgemeinbildender" Hochschulkollegs beibringen müssen, obgleich ihre soziologische Betätigung gerade ohne einen solchen Höhenflug besser gelänge?

Während die primäre Sozialisation nicht ohne die gefühlsgeladene Identifikation des Kindes mit seinen signifikanten Anderen zustande kommt, vollzieht sich die sekundäre Sozialisation in den meisten Fällen ohne eine solche Identifikation. Sie braucht zu ihrem Erfolg nur ebensoviel wechselseitige Identifikation, wie sie zu jedem Austausch zwischen Menschen gehört. Grob gesagt: es ist notwendig, daß man seine Mutter, nicht aber seinen Lehrer liebt. Sozialisation im späteren Leben ist meistens dann gefühlsbetont, wenn sie versucht, die subjektive Wirklichkeit des Individuums radikal umzumodeln. Damit stellt sich ein besonderes Problem, auf das wir später noch eingehen werden.

In der primären Sozialisation faßt das Kind seine signifikanten Anderen nicht als "Funktionäre" von Institutionen auf, sondern einfach als Vermittler von Wirklichkeit. Es internalisiert die Welt seiner Eltern als  die  Welt und nicht als Welt, die in einen bestimmten institutionalen Zusammenhang gehört. Einige jener Krisen, die nach der primären Sozialisation auftreten, kommen tatsächlich von der Erkenntnis, daß die Welt der Eltern nicht die einzige Welt ist, daß sie vielmehr einen bestimmten Ort hat, vielleicht sogar einen, dessen übliche Bewertung verletzend ist. So entdeckt das Kind z. B., daß die Welt, die ihm seine Eltern verkörpern und die es bisher als Gewißheit, als einzige Wirklichkeit hingenommen hat, "in Wirklichkeit" die Welt eines armseligen, törichten Volks im ländlichen Süden der Vereinigten Staaten ist. In der sekundären Sozialisation erkennt man gewöhnlich institutionale Zusammenhänge, was natürlich noch kein differenzierteres Verständnis für all ihre Verzweigungen und Verwicklungen bedeutet. Doch nimmt das Kind aus den Südstaaten, um im Beispiel zu bleiben, seinen Lehrer als institutionell Beauftragten hin, was ihm die Eltern nie waren, und es erfaßt die Rolle des Lehrers, die besondere institutionale Sinnverfestigungen repräsentiert - wie etwa die Bedeutung der Nation im Gegensatz zur Region, die amerikanische Mittelstandswelt im Kontrast zum Arme-Leute-Mief seines Zuhauses und schließlich den ganzen Abstand zwischen Stadt und Land. Die gesellschaftliche Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden kann auf diese Weise formalisiert werden. Die Lehrer brauchen keine signifikanten Anderen in irgendeinem Sinn zu sein. Sie sind institutionelle Funktionäre, förmlich angewiesen, ein spezifisches Wissen zu vermitteln. Die Rollen haben bei der sekundären Sozialisation ein hohes Maß an Anonymität, d. h.: sie sind von ihren individuellen Trägern leicht ablösbar. Dasselbe Wissen kann ein anderer Lehrer lehren. Jeder Funktionär dieses Typus könnte Wissen dieses Typs lehren. Die Funktionäre können als Individuen subjektiv auf verschiedenste Weise verschieden sein (mehr oder weniger geeignete, bessere oder schlechtere Rechenlehrer). Im Prinzip aber sind sie austauschbar.

Formalität und Anonymität entsprechen natürlich dem Affektcharakter gesellschaftlicher Beziehungen in der aktuellen Situation. Ihre wichtigste Folge ist jedoch, daß die Inhalte dessen, was in sekundärer Sozialisation gelernt wird, mit viel weniger subjektiver Unausweichlichkeit befrachtet sind als die der primären Sozialisation. Daher wird der Wirklichkeitsakzent auf Wissen, das in sekundärer Sozialisation internalisiert wird, viel leichter verwischt. Das heißt: der subjektive Sinn für die Wirklichkeit dieser Institutionalisierungen ist flüchtiger. Es bedarf ernster Erschütterungen im Leben, bis die dichte Wirklichkeit, die in der frühen Kindheit internalisiert wird, auseinanderfällt. Wirklichkeit, die später internalisiert wird, ist viel leichter zu zerstören. Die Wirklichkeit sekundärer Internalisierungen ist leicht zu entthronen. Das Kind lebt wohl oder übel in einer Welt, die seine Eltern ihm bestimmen. Aber die Welt der Rechenaufgaben kann es fröhlich hinter sich lassen, wenn es das Schulzimmer verläßt.

So entsteht die Möglichkeit, einen Teil des Selbst und die dazugehörige Wirklichkeit gleichsam beiseitezustellen, da sie nur für die jeweils rollenspezifische Situation relevant sind. Der Mensch setzt also Distanz zwischen sein Selbst einerseits und ein rollenspezifisches Teil-Selbst mit seiner Wirklichkeit andererseits (15). Dieses Kunststück ist erst möglich, nachdem die primäre Sozialisation schon stattgefunden hat. Noch einmal grob gesagt: das Kind kann sich leichter vor seinem Lehrer "verbergen" als vor seiner Mutter. Andererseits ist die Kunst des Verheimlichens ein wesentliches Moment des Erwachsenwerdens.

Wissen, das in der primären Sozialisation internalisiert wird, erhält seinen Wirklichkeitsakzent quasi-automatisch. In der Sekundärsozialisation muß er durch besondere pädagogische Maßnahmen bekräftigt werden. Das Kind muß mit ihm "vertraut" gemacht werden. Die Redensart ist verführerisch. Denn die ursprüngliche Wirklichkeit der Kindheit ist "vertraut". Sie stellt sich ein als Vertrautheit, unvermeidlich und "natürlich". Im Vergleich dazu sind alle späteren Wirklichkeiten "künstlich". So bemüht sich der Lehrer, Inhalte, die er vermittelt, "vertraut zu machen"; er macht sie lebendig. Das heißt: er macht sie scheinen, als wären sie vertraut wie die "vertraute" Welt des Kindes daheim. Er macht sie relevant. Das heißt: er baut sie in die Relevanzstrukturen ein, die in der "vertrauten" Welt schon bestehen. Und er macht sie interessant. Das heißt: er "verleitet" das Kind, sein Augenmerk von den "natürlichen" auf diese "künstlicheren" Objekte zu richten. Solche Kunstgriffe sind nötig, weil schon eine internalisierte Wirklichkeit da ist und sich beharrlich neuen Internalisierungen "in den Weg" stellt. Präzisionsgrad und Charakter der pädagogischen Methoden richten sich nach den Beweggründen, die jemand hat, wenn er sich neues Wissen aneignet.

Je subjektiv einleuchtender die Kontinuität vom ursprünglichen zum neuen Wissen mittels solcher Methoden wird, desto kräftiger ist der Wirklichkeitsakzent, den sie setzen. Man lernt eine zweite Sprache dadurch, daß man auf der "gewissen" Wirklichkeit der "Muttersprache" aufbaut. Lange übersetzt man zurück in die eigene Sprache, was man an neuen Elementen der neuen Sprache kennenlernt. Nur auf diese Weise wird die neue Sprache jemals wirklich. Erst wenn sie sich als Wirklichkeit eigenen Rechts im Bewußtsein etabliert hat, kann man allmählich auf eine Rückübersetzung verzichten. Man wird fähig, in der neuen Sprache zu "denken". Dennoch ist es selten, daß eine im späteren Leben erlernte Sprache die unabänderliche, selbstverständliche Wirklichkeit der Sprache der Kindheit erreicht. Daher kommt natürlich die Gefühlsbetontheit der "Muttersprache".  Mutatis mutandis [bei vergleichbaren Bedingungen - wp] gelten auch für andere Lernsequenzen der sekundären Sozialisation dieselben Merkmale: das Aufbauen auf der "vertrauten" Wirklichkeit, die Angliederung fortschreitender Lernprozesse an sie und deren allmähliche Ausgliederung aus ihr.

Daß sekundäre Sozialisationsprozesse kein hohes Maß an Identifikation verlangen und ihre Inhalte nicht unausweichlich sind, kann von praktischem Nutzen sein, weil dadurch rational und emotional kontrollierte Lernsequenzen möglich werden. Weil jedoch die Inhalte dieses Typs von Internalisierung als subjektive Wirklichkeit zerbrechlich und unzuverlässig sind, müssen in manchen Fällen besondere Verfahren entwickelt werden, um eben die Identifikation und Unabänderlichkeit zu erreichen, die jeweils erwartet wird. Die Notwendigkeit für solche Methoden kann als solche zum Lernen und Umgehenkönnen mit den internalisierten Inhalten gehören. Sie kann aber auch von außen gesetzt werden, um den Interessen des "Personals" entgegenzukommen, das mit der Verwaltung des betreffenden Sozialisationsprozesses betraut ist. Jemand, der zum Beispiel ein guter Musiker werden will, muß sich in sein Fach bis zu einem Maß versenken, wie es für jemanden, der Ingenieur werden will, ganz überflüssig ist. Technische Ausbildung kann durch formale, höchst rationale, gefühlsneutrale Prozesse vermittelt und erworben werden. Bei Musik dagegen muß man sich viel eher mit einem Lehrmeister identifizieren und in die Wirklichkeit der Musik versenken. Dieser Unterschied liegt an der inneren Andersartigkeit von technischem und musikalischem Wissen und an den verschiedenartigen Lebensformen, bei denen diese beiden Wissensbestände Anwendung finden. Auch ein Berufsrevolutionär muß erheblich mehr mit seinem Wissen identifiziert sein als ein Ingenieur. Aber in seinem Fall liegt das nicht an wissensimmanenten Eigenschaften - Revolutionärswissen kann durchaus simpel und dürftigen Inhalts sein -, sondern daran, daß eine revolutionäre Bewegung von ihren Mitgliedern das persönliche Engagement für die Interessen der Bewegung fordert. Gelegentlich ist die Notwendigkeit einer methodischen Erhärtung von neu internalisierten Wirklichkeiten auch von äußeren  und  inneren Faktoren bedingt. Die institutionseigne sekundäre Sozialisation des "Personals" aller Religionen ist ein anschaulicher Beleg dafür.

Die Verfahren, die in solchen Fällen gewählt werden, sollen den Affektdruck des Sozialisationsprozesses verstärken. Meistens gehört ein institutionalisierter, ausgetüftelter Initiationsprozeß dazu, ein Noviziat, in dessen Verlauf sich der Novize völlig der Wirklichkeit, die er internalisiert, anheimgibt. Verlangt der Vorgang eine echte Transformation der "vertrauten" Wirklichkeit des Individuums, so muß er dem Wesen der primären Sozialisation so getreu wie möglich nachgebildet sein, worauf wir noch eingehen werden. Aber auch bei nur unwesentlicher Transformation wird die sekundäre Transformation bis zu dem Grad mit Affekt aufgeladen, in dem Versenkung in und Hingabe an die neue Wirklichkeit institutionell für unerläßlich gehalten werden. Die Beziehung der Person zum sozialisierenden Personal wird dementsprechend mit "Signifikanz" ausgestattet. Das heißt: dieses Personal übernimmt vis-à-vis der Person, die sozialisiert werden soll, die Funktion signifikanter Anderer. Die Person überläßt sich dann völlig der neuen Wirklichkeit. Sie "ergibt" sich der Musik, der Revolution, dem Glauben, nicht nur halben Herzens, sondern mit allem, was subjektiv ihr ganzes Leben ist. Die Bereitschaft zur Selbstaufopferung ist die äußerste Folge dieser Art von Sozialisation.

Ein wichtiger Anlaß für solche Steigerungen ist eine Konkurrenzsituation zwischen dem Personal für die Wirklichkeitsbestimmung verschiedener Institutionen. Beim Training zum Revolutionär ergibt sich das delikate Problem einer "Vergesellschaftung" gegen die Gesellschaft, das heißt einer Sozialisation in eine Kontradefinition der Wirklichkeit hinein - "kontra" die offiziellen Legitimatoren der Gesellschaft. Aber auch die Sozialisation des Musikers in eine Gesellschaft hinein, die den ästhetischen Maßstäben der Musikantengilde eine scharfe Konkurrenz entgegenstellt, muß intensiviert werden. Ein werdender Musiker in Amerika muß sich heutzutage wahrscheinlich mit einer Intensität der Musik widmen, die im Wien des 19. Jahrhunderts unnötig gewesen wäre, gerade weil in der amerikanischen Situation die mächtige Konkurrenz dessen besteht, was ihm subjektiv als "materialistisch", als "Massenkultur" des "Rat Race", der Jagd nach der Futterkrippe, erscheint. Auch die Ausbildung zum Priester macht in einer pluralistischen Situation "künstliche" Methoden der Wirklichkeitsakzentuierung nötig, die bei einem religiösen Monopol überflüssig sind. In Rom ist es noch immer "natürlich", katholischer Priester zu werden, während dies in Amerika nicht in gleicher Weise gilt. Amerikanische Priesterseminare müssen daher mit dem Problem des "Wirklichkeitsverlustes" rechnen und Methoden entwickeln, die diese ihre Wirklichkeit an die Kette legen. Kein Wunder, daß sie auf den sinnreichen Ausweg verfallen sind, vielversprechende Studenten für ein Weilchen nach Rom zu schicken.

Auch in ein und demselben institutionalen Gebilde können ganz ähnliche Intensitätsgefälle bestehen. Sie hängen dort von den Aufträgen ab, die verschiedenen Kategorien von Personal zugeschrieben werden. Das Maß an Hingabe für das Militär, das von Karriere-Offizieren erwartet wird, kann ganz verschieden sein von dem des Rekruten, was sich in den entsprechenden Ausbildungsgängen widerspiegelt. Auch von einem leitenden Beamten kann mehr Hingabe an die institutionale Wirklichkeit verlangt werden als von dem kleinen Büroangestellten in seiner Dienststelle, von seinem Psychiater mehr als von einem Irrenwärter usw. Direktoren oder Präsidenten müssen politisch "versierter" sein als Bürovorsteher, und für den Psychoanalytiker ist die Lehranalyse Pflicht, die dem Fürsorger nur nahegelegt werden kann. So gibt es dann höchst differenzierte Systeme der sekundären Sozialisation in höchst differenzierte Institutionen hinein, die sehr fein auf den mannigfaltigen Bedarf an Personal und dessen vielerlei Belange abgestimmt sein müssen. (16)

Die institutionelle Arbeitsteilung zwischen primärer und sekundärer Sozialisation entspricht der gesellschaftlichen Verteilung des Wissens. Solange sie noch unkompliziert ist, kann dieselbe institutionelle Instanz von der primären zur sekundären Sozialisation übergehen und letztere in beachtlicher Form betreiben. Bei einer großen Aufsplitterung des Wissens müssen Sonderinstanzen für sekundäre Sozialisation geschaffen werden, ein hauptberufliches Personal, das eigens für spezielle Aufgaben ausgebildet ist. Ist die Durchspezialisierung geringer, so können die Sozialisierungsinstanzen einander ablösen und ihre einschlägigen Aufgaben zusätzlich zu anderen erfüllen. So kann z. B. die Regelung bestehen, daß ein Junge in einem bestimmten Alter die Hütte seiner Mutter verläßt und in die Zelte der Krieger zieht, wo er zum Reitersmann ausgebildet wird. Dafür ist kein hauptamtliches Personal nötig. Alte Pferdediebe können junge ausbilden. Unser modernes Erziehungssystem andererseits ist eine einleuchtende Demonstration für sekundäre Sozialisation, wie sie bei großer Instanzenspezialisierung stattfindet. Die maßstabsgerecht abnehmende Bedeutung der Familie für die sekundäre Sozialisation ist so gerichtsnotorisch, daß wir sie hier nicht zu beklagen brauchen (17).


c) Bewahrung und Verwandlung subjektiver Wirklichkeit

Da die Sozialisation niemals abgeschlossen ist und die internalisierten Inhalte der subjektiven Wirklichkeit immer gefährdet sind, muß jede Gesellschaft, die überleben will, Möglichkeiten bieten, auch die subjektive Wirklichkeit zu bewahren, um eine gewisse Symmetrie zwischen ihr und der objektiven Wirklichkeit zu sichern. Wir haben darauf schon bei der Behandlung der Legitimation hingewiesen. Hier geht es nun mehr um subjektive als um objektive Wirklichkeit, um eine Wirklichkeit, wie sie das individuelle Bewußtsein begreift - mehr als um ihre institutionale Bestimmung.

Die primäre Sozialisation internalisiert eine Wirklichkeit, die als unausweichlich erlebt wird. Die Internalisierung hat Erfolg, wenn dem Menschen der Sinn für die Unausweichlichkeit seiner Wirklichkeit mindestens so lange gegenwärtig ist, wie er an der Welt des Alltagslebens teilhat. Die Alltagswelt aber wird, auch wenn  in actu  ihre massive Gewißheit bewahrt bleibt, von den Grenzsituationen menschlicher Erfahrung bedroht, die sich eben nicht total in Alltagsaktivität einklammern lassen. Wir wissen von den unheimlichen Metamorphosen, erlebten und möglichen, und immer begegnen wir irgendwo in der Gesellschaft dräuend [drohend - wp] konkurrierenden Bestimmungen der Wirklichkeit. Ein ehrbarer Familienvater mag in nächtlicher Abgeschiedenheit von schwelgerischen Orgien träumen. Etwas anderes ist es, wenn er sie in der Freikulturkolonie von nebenan leibhaftig vor sich sieht. Träume kann man achselzuckend als "Unsinn" oder seelische Verwirrung unter die Quarantäne des Bewußtseins stellen und im Stillen bereuen. Im Angesicht der Alltagswelt bleiben sie Phantasterei. Ihr Leibhaftigwerden erzwingt sich jedoch den Eintritt ins Bewußtsein. Ein Ärgernis muß oft physisch zerstört werden, um als Vorstellung ertragen zu werden. Jedenfalls läßt es sich nicht verleugnen, so wie die Grenzsituationen und ihre Metamorphosen mindestens versuchsweise verdrängt werden können.

Der mehr oder weniger "künstliche" Charakter der sekundären Sozialisation macht die subjektive Wirklichkeit ihrer Internalisierungen gegenüber bedrohlichen Wirklichkeitsbestimmungen verwundbar, nicht weil die internalisierten Inhalte im Alltagsleben einen minderen Gewißheits- und Wirklichkeitsstatus erreichten, sondern weil ihre Wirklichkeit weniger tief im Bewußtsein verwurzelt ist und daher leichter entwurzelt werden kann. Wir nehmen z. B. sowohl das Nacktheitsverbot, dem unser Schamgefühl entgegenkommt und das wir in der primären Sozialisation internalisieren, als auch die in der sekundären Sozialisation erworbenen Garderobevorschriften für verschiedene gesellschaftliche Anlässe im Alltagsleben als Gewißheit hin. Solange sie nicht gesellschaftlich angefochten werden, sind beide für den Einzelnen kein Problem. Im ersten Fall müßte jedoch die Anfechtung viel stärker sein als im zweiten, wenn sich aus ihr eine Gefahr für die Routinegewißheit seiner Wirklichkeit herauskristallisieren soll. Eine recht geringe Verschiebung der subjektiven Wirklichkeitsbestimmung reicht jedoch aus, damit ein Mann ohne Schlips in sein Büro geht und dies auch noch selbstverständlich findet. Viel drastischer müßte die Verschiebung sein, damit derselbe Mann es selbstverständlich findet, unbekleidet herumzulaufen. Im ersten Fall genügt eine kleine gesellschaftliche Umstellung - ein Ortswechsel etwa von einem ländlichen zu einem großstädtischen College. Der zweite Fall würde eine Revolution im Milieu des Mannes bedeuten und subjektiv von ihm, vielleicht erst nach heftigem Widerstand, als Konversion erlebt werden.

Die Wirklichkeit der sekundären Internalisierung wird nicht allzu sehr durch Grenzsituationen gefährdet, weil sie meistens für diese irrelevant ist. Was allerdings passieren kann, ist, daß die sekundär internalisierte Wirklichkeit als nichtig erlebt wird, gerade weil ihre Irrelevanz für eine Grenzsituation zutage tritt. Die Wirklichkeit der eigenen mehr oder weniger vorläufigen Selbstidentifikation als Mensch, als Christ, als sittliches Wesen wird im Angesicht des Todes arg in die Enge getrieben. Die Selbstidentifikation als stellvertretender Leiter einer Damenstrumpfabteilung dagegen erweist sich in derselben Lage eher als trivial. Umgekehrt kann man sagen, daß die Beharrungskraft primärer Internalisierungen in Grenzsituationen ein guter Maßstab für ihre subjektive Wirklichkeit ist. Auf die sekundäre Sozialisation angewendet, wäre dieser Test ganz irrelevant. Es mag Sinn machen, als ein Mann zu sterben, kaum aber als stellvertretender Leiter der Damenstrumpfabteilung. Wo die Gesellschaft ein solches Maß an Wirklichkeitskraft in Grenzsituationen erwartet, da müssen die Begleitumstände der Sozialisation wieder so erhärtet und intensiviert werden, wie wir früher dargelegt haben. Und wiederum könnten wir unschwer mit Beispielen aus dem religiösen oder militärischen Bereich zur Jllustration dienen.

Nach all dem liegt es nahe, zwei Möglichkeiten subjektiver Wirklichkeitsabsicherung zu unterscheiden: Routine und Bewältigung von Krisen. Die erste muß die subjektive Wirklichkeit in der Alltagswelt garantieren. Die zweite gilt für Grenzsituationen. Beide beruhen grundsätzlich auf denselben gesellschaftlichen Prozessen. Doch möchten wir einige Unterschiede anmerken.

Wir haben gesehen, daß die Wirklichkeit in der Alltagswelt sich selbst dadurch sichert, daß sie sich in eine Routine einbetten läßt. Das eben ist das Wesen der Internalisierung. Darüber hinaus wird sie jedoch ständig neu abgesichert durch eine gesellschaftliche Interaktion des Einzelnen mit den Anderen. Genauso wie Wirklichkeit ursprünglich mittels eines gesellschaftlichen Prozesses internalisiert wird, wird sie auch mittels gesellschaftlicher Prozesse im Bewußtsein festgehalten. Diese späteren Prozesse sind von den früheren der Internalisierung nicht etwa drastisch verschieden. Auch sie spiegeln die fundamentale Tatsache, daß subjektive Wirklichkeit in Beziehung stehen muß zu einer objektiven Wirklichkeit, die gesellschaftlich bestimmt ist.

Für den sozialen Prozeß der Wirklichkeitsabsicherung kann man einen Unterschied machen zwischen "signifikanten" und sonstigen Anderen (18). Alle oder zumindest die meisten Anderen, denen der Einzelne im Alltagsleben begegnet, tragen auf beachtliche Weise dazu bei, ihn seiner subjektiven Wirklichkeit zu versichern. Dergleichen spielt sich sogar in einer so wenig "signifikanten" Situation ab, wie wenn man in einem Vorortzug fährt. Man braucht keinen Menschen zu kennen und mit keinem zu reden. Dennoch sichert die Masse der Mitfahrer die Grundstruktur der Alltagswelt. Mit ihrem Allerweltsbenehmen holen sie den Einzelnen aus der vernebelten Wirklichkeit seines Morgenkaters heraus und demonstrieren ihm unmißverständlich, daß die Welt aus ernsten Männern, die zur Arbeit fahren, besteht, aus Pflichtbewußtsein und Terminkalendern, aus der New-Haven-Bahn und der New-York-Times. Vom Wetterbericht bis zu "Babysitter gesucht" beteuert sie ihm, daß er die wirklichste aller möglichen Welten bewohnt. Zusätzlich wird er noch mit der Gewißheit darüber versehen, daß den seltsamen Ekstasen, die er vor dem Frühstück erlebt hat, nur ein ziemlich minderer Wirklichkeitsstatus zukommt: dem sonderbaren Aussehen angeblich vertrauter Gegenstände beim Erwachen aus einem verworrenen Traum, dem Schock, das eigene Gesicht im Badezimmerspiegel kaum wiederzuerkennen, dem unaussprechlichen Verdacht, Weib und Kinder seien geheimnisvolle Fremde. Die meisten Leute, die anfällig für einen solchen metaphysischen Schabernack sind, schaffen es, ihn durch stramme Morgenriten mehr oder weniger zu vertreiben, so daß die Wirklichkeit des Alltagslebens zumindest einigermaßen intakt ist, wenn sie aus ihrer Wohnungstür treten. Verläßlich wird die Wirklichkeit aber erst in der stillen Bruderschaft im Vorortzug. Wenn er schließlich in Grand Central Station einfährt, ist sie schon ganz hübsch massiv.  Ergo sum [also bin ich - wp], murmelt unser Mann vor sich hin. Und wach und selbstsicher begibt er sich in sein Büro.

Es wäre also falsch zu glauben, nur signifikante Andere könnten uns die subjektive Wirklichkeit garantieren. Allerdings nehmen sie eine zentrale Stelle im Wirklichkeitshaushalt ein. Sie sind für die ständige Absicherung jenes entscheidenden Elementes der Wirklichkeit, das wir Identität nennen, von besonderer Wichtigkeit. Um gewiß zu bleiben, daß er tatsächlich ist, der er zu sein glaubt, braucht der Mensch nicht nur die indirekte Gewißheit seiner Identität, die ihm noch die zufälligsten Alltagskontakte geben, sondern die ausdrückliche und gefühlsgetragene Gewißheit, die ihm seine signifikanten Anderen entgegenbringen. Unser Vorortzugfahrer findet diese Versicherung wahrscheinlich in seiner Familie und bei anderen privaten Kontakten (Nachbarschaft, Kirche, Klub und dgl. mehr). Unternimmt er dann gelegentlich einen kleinen Seitensprung mit seiner Sekretärin, so ist ihm seine Identität sicher und wird auch noch aufgewertet. Wir gehen dabei natürlich von der Annahme aus, daß unser Mann seine Identität gesichert wissen möchte. Dieselben Bedingungen gelten jedoch leider auch für die Sicherung solcher Identitäten, die man nicht gerade schätzt. Auch Gelegenheitsbekanntschaften können eine Selbstidentifizierung als hoffnungsloser Versager bestätigen. Erst Frau, Kinder und Sekretärein drücken ihr jedoch den Stempel unweigerlicher Gültigkeit auf. Der Schritt von der objektiven Wirklichkeitsbestimmung zur subjektiven Wirklichkeitsbestätigung ist also auf beide Male derselbe.

Die signifikanten Anderen sind im Leben des Einzelnen die Starbesetzung im Spiel um seine Identität. Sie sind so etwas wie die Versicherungsagenten seiner subjektiven Wirklichkeit. Weniger signifikante Andere fungieren als eine Art Chor. Ehefrau, Kinder und Sekretärin versichern feierlich und täglich neu, daß man ein Mann von Gewicht oder ein hoffnungsloser Versager ist. Unverheiratete Tanten, Köchinnen und Liftboys untermalen die Rezitative [Sprachgesänge - wp] in abgewogener Lautstärke. Allerdings ist es sehr wohl möglich, daß es zur Kakophonie [unangenehme Geräusche - wp] kommt, wenn nämlich alle diese Leute nicht übereinstimmen. Damit ist unserem Mann die Bewährungsprobe gestellt. Er kann nun entweder seine Wirklichkeit oder seine wirklichkeitssichernden Verbindungen modifizieren. Er kann seine Identität als Versager hinnehmen - oder er kann seiner Sekretärin den Stuhl vor die Tür setzen bzw. sich von seiner Ehefrau scheiden lassen. Es bleibt ihm unbenommen, ein paar signifikante Andere zu entthronen und sich anderen Wirklichkeitsgaranten zuzuwenden - dem Psychoanalytiker oder den alten Spezis im Klub. So steckt dann die Organisation von wirklichkeitssichernden Beziehungen voller Schwierigkeiten und Widerhaken, besonders in einer hochmobilen und nach Rollen differenzierten und differenzierenden Gesellschaft (19). Die Beziehung zwischen Stars und Chor, den signifikanten und den sonstigen Anderen, ist dialektisch. Das heißt: sie stehen sowohl in Interaktion miteinander als auch mit der subjektiven Wirklichkeit, die sie bewahren sollen. Eine entschieden negative Identifizierung seitens der weiteren Umwelt kann die seitens der signifikanten Anderen beeinträchtigen. Wenn schon der Liftboy versäumt, "Sir" zu sagen, kann schließlich auch die Ehefrau die Identität des Familienoberhauptes als Mann von Gewicht bezweifeln. Umgekehrt können die signifikanten Anderen auf die weitere Umgebung wirken. Eine Frau, "auf die man sich verlassen kann", ist von einigem Nutzen, wenn man versucht, mit einer gewissen Identität auf seine Geschäftspartner Eindruck zu machen. Wirklichkeitssicherung und Wirklichkeits ver sicherung betreffen also die gesamte gesellschaftliche Situation des Einzelnen, auch wenn die signifikanten Anderen dabei eine Vorzugsstellung einnehmen.

Das Bedeutungsgefälle zwischen den signifikanten Anderen und dem "Chor" wird am deutlichsten, wenn man sich Gelegenheiten der Nichtbestätigung vorstellt. Ein die Wirklichkeit negierender Akt der eigenen Frau hat, als solcher genommen, mehr Gewicht als derselbe Akt einer Zufallsbekanntschaft. Was irgendwelche Leute tun bzw. unterlassen, muß schon recht massiv sein, um dem Tun oder Lassen der signifikanten Anderen den Rang abzulaufen. Wenn mir mein bester Freund wiederholt erklärt, die Zeitung bringe nichts über wichtige Vorgänge hinter den Kulissen, so hat das mehr Gewicht, als wenn der Friseur dieselbe Ansicht zum Ausdruck bringt. Wenn jedoch zehn Gelegenheitsbekannte nacheinander dieselbe Überzeugung ausdrücken, so kann das allmählich eine gegenteilige Ansicht meines besten Freundes aufwiegen. Was sich schließlich subjektiv als Ergebnis derart abweichender Wirklichkeitsauffassungen herauskristallisiert, wird am Ende bestimmen, wie ich mich verhalte, wenn eines Morgens im Vorortzug eine geschlossene Phalanx grimmiger, schweigender Chinesen mit Aktentaschen auftaucht. Das heißt: es wird die Bedeutung bestimmen, die ich selbst diesem Phänomen für meine eigene Wirklichkeitsbestimmung beimesse. Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Wenn ich ein gläubiger Katholik bin, so braucht die Wirklichkeit meines Glaubens nicht durch andersgläubige Mitinhaber meiner Firma beeinträchtigt zu werden. Sie wird jedoch sehr wahrscheinlich durch seine andersgläubige Ehefrau gefährdet. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es daher begreiflich, daß die katholische Kirche vielerlei gemischtgläubige Verbindungen im wirtschaftlichen und politischen Leben duldet, aber nicht aufhört, bei der Mischehe die Stirn zu runzeln. Allgemein ausgedrückt: besteht eine Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen wirklichkeitssetzenden Institutionen, so duldet man alle Arten von Sekundärgruppen-Beziehungen der Konkurrenten, solange fest etablierte Primärgruppen-Beziehungen (20) vorhanden sind, in denen die jeweils  eine  Wirklichkeit ständig gegenüber ihrer Konkurrenz behauptet wird. Wie sich die katholische Kirche in Amerika der pluralistischen Situation angepaßt hat, ist ein illustres Beispiel dafür.

Das notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung ist die Unterhaltung. Das Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine (21), die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert. Unterhaltung bedeutet natürlich in erster Linie, daß Menschen miteinander sprechen. Das besagt nichts gegen die lebendige Aura nichtsprachlicher Kommunikation, welche die Sprache umgibt. Dennoch hat die Sprache eine Vorzugsstellung im gesamten menschlichen "Konversationssystem". Entscheidend ist jedoch, daß der größere Teil der Wirklichkeits-"Unterhaltung" implizit, nicht explizit, im Gespräch, stattfindet. Nur die wenigsten Gespräche drehen sich mit vielen Worten um das Wesen der Welt. Unsere Wirklichkeitsbestimmung vollzieht sich vielmehr vor dem Hintergrund einer Welt, die schweigend für gewiß gehalten wird. Der Austausch von ein paar Worten wie: "So, allmählich wird's Zeit, daß ich zum Bahnhof gehe", und: "Stimmt, Schatz, mach's gut im Büro", setzt eine ganze Welt voraus,  innerhalb deren  die anscheinend so einfachen Aussagen Sinn haben. Kraft dieser Eigenschaft bestätigt ein solcher Austausch die subjektive Wirklichkeit der Welt.

Wenn man das zugibt, so wird man bald einsehen, daß der größte Teil, wenn nicht die gesamte tägliche Konversation, die subjektive Wirklichkeit sichert. Ja, diese gewinnt erst durch die Häufung und Dichte eines beiläufigen Gesprächs ihr Volumen - eines Gesprächs, das es sich leisten kann, "beiläufig" zu sein, eben weil es sich um die Routinen der Alltagswelt dreht. Der Verlust an Beiläufigkeit ist das Signal für einen Bruch in den Routinen und, zumindest potentiell, eine Gefahr für die Gewißheit der Wirklichkeit. Man möge sich also ausmalen, was hinter einem Morgenaustausch stehen dürfte, der lautet: "So allmählich wird's Zeit, daß ich zum Bahnhof gehe", und: "Stimmt, Schatz, vergiß dein Schießeisen nicht."

Zur gleichen Zeit, in der die Konversationsmaschine Wirklichkeit "unterhält", modifiziert sie sie auch fortwährend. Gesprächsgegenstände werden fallengelassen und aufgenommen, so daß einiges von dem, was noch gewiß erscheint, abgeschwächt und anderes bestärkt wird. Die subjektive Wirklichkeit von etwas, das nie besprochen wird, fängt allmählich an, hinfällig zu werden. Es ist etwas anderes, in ein nicht gerade ermunterndes erotisches Erlebnis verstrickt zu sein, als vor oder nach Aktschluß darüber zu reden. Umgekehrt verleiht das Gespräch Objekten, die vorher fließend und undeutlich waren, Konturen. Man kann seine religiösen Zweifel mit sich herumtragen, die aber in ganz anderer Weise wirklich werden, wenn man über sie spricht. Man "redet sich hinein" in seine Zweifel. Sie werden als Wirklichkeit im eigenen Bewußtsein objektiviert. Allgemein ausgedrückt: die "Konversationsmaschine" schlägt in Wirklichkeit um, indem wir verschiedene Elemente der Erfahrung "durchsprechen" und sie an einen festen Platz in der wirklichen Welt stellen.

Diese wirklichkeitsstiftende Macht des Gesprächs ist mit der Tatsache der Objektivation durch die Sprache bereits vorgegeben. Wir hatten zu zeigen versucht, wie Sprache die Welt objektiviert, indem sie das "Panta Rhei" [alles fließt - wp] der Erfahrung in eine kohärente Ordnung transformiert. Durch die Errichtung dieser Ordnung  verwirklicht  die Sprache eine Welt in doppeltem Sinn: sie begreift sie und erzeugt sie. Das Gespräch ist die Aktualisierung dieser verwirklichenden "Wirkung" der Sprache in der Vis-à-vis-Situation der individuellen Existenz. Im Gespräch werden die Objektivationen der Sprache zu Objekten des individuellen Bewußtseins. So ist also das fundamentale wirklichkeitswahrende Faktum der dauernde Gebrauch derselben Sprache, umd die sich entfaltende Erfahrung des Lebens zu objektivieren. Im weitesten Sinne sind alle, die dieselbe Sprache sprechen, füreinander wirklichkeitswahrende Andere. Was das bedeutet, läßt sich noch weiter ausführen, wenn man sich fragt, was eigentlich eine "gemeinsame" Sprache ist - von der internen Privatsprache der Primärgruppen über den Dialekt einer Landschaft oder den Jargon einer Gesellschaftsschicht bis hin zur Sprache einer Nation, die sich eben durch ihre Sprachgemeinschaft als Nation versteht. All dem entspricht jeweils eine "Rückkehr zur Wirklichkeit" für den Einzelnen, der "heim"gekehrt zu den wenigen Nächsten, die noch seine persönlichen Anspielungen verstehen, zum Stadtteil, wohin sein Akzent gehört, oder zu der großen Gemeinschaft derer, die sich mit einer bestimmten sprachlichen Tradition, die auch die seine ist, identifizieren. In umgekehrter Reihenfolge wäre das also eine Heimkehr zum Beispiel nach Amerika, nach Brooklyn und zu der Handvoll Leute, mit denen man in die Volksschule gegangen ist.

Wenn die subjektive Wirklichkeit intakt bleiben soll, so muß die Konversationsmaschine gut geölt sein und ständig laufen. Das Reißen der Fäden, der Abbruch der sprachlichen Kontakte, ist für jede subjektive Wirklichkeit eine Gefahr. Wir haben schon erörtert, wie der Mensch drohender Isolierung begegnen kann. Es stehen ihm aber auch noch allerlei technische Hilfsmittel zur Verfügung, um mit dem Abbruch sprachlicher Verbindungen fertig zu werden. "Signifikante" Gespräche etwa kann man trotz räumlicher Trennung schriftlich weiterführen (22). Verschiedenartige Gespräche kann man in Bezug auf die Wirklichkeitsdichte, die sie schaffen oder erhalten, vergleichen. Allgemein steigert die Häufigkeit des Gesprächs seine wirklichkeitssetzende Kraft. Andererseits kann Seltenheit durch Intensität kompensiert werden. Eine Frau kann ihren Liebhaber nur einmal im Monat zu Gesicht bekommen: die Intensität der Unterhaltung bei dieser Gelegenheit mag die Seltenheit so ziemlich ausgleichen. Gewissen Gesprächen wird ausdrücklich eine eindeutige und legitime Vorzugsstellung eingeräumt: beispielsweise der Beichte oder der Analyse. Die "Autorität" des Partners in solchen Fällen beruth auf dem kognitiv und normativ überlegenen Status, der dem Gespräch mit ihm zugeschrieben wird.

Die subjektive Wirklichkeit ist also immer an besondere Plausibilitätsstrukturen gebunden, das heißt: an die gesellschaftliche Grundlage und die gesellschaftlichen Prozesse, die für ihren Bestand erforderlich sind. Man kann seine Selbstidentifizierung als Mann von Gewicht nur in einem Milieu erhalten, das diese Identität bestätigt. Man kann sich seine katholische Religion nur bewahren, wenn man in Beziehung mit der katholischen Kirche bleibt usw. Der Abbruch des signifikanten Gesprächs mit den jeweiligen Mittlern einer Plausibilitätsstruktur bedroht die jeweilige subjektive Wirklichkeit. Gewiß beweist zum Beispiel die schriftliche Korrespondenz, daß uns beim Fehlen der tatsächlichen Gesprächsmöglichkeit Mittel der Aufrechterhaltung einer Wirklichkeit behilflich sein können. Aber die wirklichkeitsschaffende Kraft solcher Methoden ist dem Vis-à-vis-Gespräch, für das sie stehen, weit unterlegen. Je länger die Ersatzmittel isoliert bleiben, ohne Bestätigung von Angesicht zu Angesicht, desto schwieriger wird es, daß sie den Akzent der Wirklichkeit behalten. Der einzelne Mensch, der lange Jahre unter Andersgläubigen lebt, abgeschnitten von der Gemeinschaft seiner Religion, kann sich zwar weiter als Katholik oder was auch immer identifizieren. Durch Gebet, fromme Übungen und dgl. mehr kann seine alte katholische Wirklichkeit weiter relevant für ihn bleiben. Solche Hilfsmittel können seine beständige Selbstidentifikation als Katholiken zumindest unterstützen. Die "lebendige" Wirklichkeit entrinnt ihnen jedoch allmählich, wenn sie nicht durch Kontakte mit anderen Katholiken "wiederbelebt" werden. Gewiß erinnern die meisten Menschen sich an die Wirklichkeiten ihrer Vergangenheit. Der Weg jedoch, sie "aufzufrischen", führt über Gespräche mit den Anderen, für die sie gleich relevant sind. (23)

Eine Plausibilitätsstruktur ist auch die Grundlage für die Absage an den jeweils einschlägigen Zweifel, ohne welche die Bestimmung der entsprechenden Wirklichkeit nicht im Bewußtsein haften bliebe. Zusammen mit der Plausibilitätsstruktur werden gesellschaftliche Sanktionen gegen wirklichkeitszersetzende Zweifel internalisiert und ständig neu gesichert. Solange ein Mensch sich in einer Plausibilitätsstruktur weiß, findet er es lächerlich, wann immer ihn subjektive Zweifel an der entsprechenden Wirklichkeit überkommen. Er weiß, daß die Anderen ihn auslachen würden, wenn er sie ausspräche. Ja, er kann schweigend über sich selbst lächeln und im Geist die Achseln zucken. So lebt er dann weiter in einer so wohlsanktionierten Welt. Es erübrigt sich fast zu sagen, daß diese Art Autotherapie sich als zumehmend schwieriger erweist, wenn die Plausibilitätsstruktur - und erst ihre gesellschaftliche Matrix - unzugänglicher wird. Dann wird das Lächeln gezwungen wirken, und an seine Stelle tritt allmählich ein bedenkliches Stirnrunzeln.

In Krisensituationen geht es im wesentlichen nicht anders als bei der routinemäßigen Wirklichkeitssicherung zu, außer daß sie ausdrücklicher und intensiver sein muß. Während der Einzelne im Angesicht der Krise Wirklichkeitsgarantien improvisieren kann, kennt die Gesellschaft für Situationen, in denen die Wirklichkeit zusammenzubrechen droht, besondere Verfahrensweisen. Zu diesen prädefinierten Situationen gehören auch manche Grenzsituationen, deren bei weitem wichtigste der Tod ist. Wirklichkeitskrisen gibt es jedoch erheblich mehr als Grenzsitutionen. Sie treten kollektiv oder individuell auf, und ihre Art hängt von der Art der Herausforderung der gesellschaftlich bestimmten Wirklichkeit ab. Für die Wirklichkeitserhaltung bei Naturkatastrophen können zum Beispiel kollektive Riten, individuelle Riten für persönliches Mißgeschick institutionalisiert sein. Oder: für den Umgang mit Fremden und ihre latente Gefahr für die "offizielle" Wirklichkeit können bestimmte rituelle Übungen vorgesehen sein. Der Einzelne, der mit Fremden zusammen war, muß hinterher eine rituelle Reinigung vornehmen. Die Waschung wird als subjektive Nihilierung der alternativen Wirklichkeit internalisiert. Auch Tabus, Exorzismen, Flüche gegen Fremde, Abtrünnige oder Wahnsinnige dienen ebenso dem Zweck individueller innerer "Hygiene". Die Härte solcher Verteidigungsmaßnahmen steht in Proportioin zur mutmaßlichen Ernsthaftigkeit der Bedrohung. Wenn sich die Kontakte mit einer alternativen Wirklichkeit und ihren Repräsentanten häufen, so können die Verteidigungsmaßnahmen natürlich ihren Krisencharakter auch verlieren und Routine werden. Wenn man einen Fremden trifft, muß man dreimal spucken - darüber denkt man erst gar nicht nach.

In allem, was wir bisher über Sozialisation gesagt haben, steckt bereits die implizite Möglichkeit, daß sich subjektive Wirklichkeit verändern läßt. In-der-Gesellschaft-Sein ist ansich schon ein Modifikationsprozeß. Wollen wir über die Transformation subjektiver Wirklichkeit sprechen, so müssen wir uns auf die vielen Grade ihrer Modifikation einlassen. Wir wollen uns jedoch auf den Extremfall der nahezu totalen Transformation konzentrieren, das heißt auf Fälle, in denen der Mensch "umschaltet" von einer Welt zur anderen, bzw. eine Welt gegen eine andere austauscht. Sind wir uns erst über diesen Extremfall klargeworden, so werden weniger einschneidende Varianten leichter verständlich sein. Subjektiv wird ein solcher "Schalt-Prozeß" meistens als total aufgefaßt, was natürlich ein gewisses Mißverständnis ist. Denn da subjektive Wirklichkeit niemals völlig sozialisiert ist, so kann sie auch niemals völlig durch gesellschaftliche Prozesse transformiert werden. Schließlich behält der Mensch allermindestens denselben Körper und lebt weiter in derselben physischen Welt. Nichtsdestoweniger gibt es Arten der Transformation, die, verglichen mit geringen Veränderungen, total erscheinen. Wir wollen solche Transformationen "Verwandlungen" nennen. (24)

Zu einer Verwandlung sind Resozialisationen nötig, die der Primärsozialisation ähnlich sind, weil sie radikal neue Wirklichkeitsakzente setzen müssen. Infolgedessen muß die besonders affektgeladene Identifikation mit dem sozialisierenden "Personal", die für die Kindheit charakteristisch ist, noch einmal durchgemacht werden. Von der Primärsozialisation unterscheiden sich diese Vorgänge jedoch, weil sie nicht  ex nihilo [aus dem Nichts - wp] beginnen und daher mit den Schwierigkeiten einer Demontage bzw. der Auflösung früherer nomischer [gesetzmäßiger - wp] Strukturen der subjektiven Wirklichkeit fertigwerden müssen. Auf welche Weise kann das geschehen?

Ein "Rezept" für erfolgreiche Verwandlungen muß sowohl gesellschaftliche als auch theoretische Bedingungen erfüllen, wobei die gesellschaftlichen selbstverständlich die Matrix für die theoretischen sind. Die wichtigste gesellschaftliche Bedingung ist das Vorhandensein einer überzeugenden Plausibilitätsstruktur, das heißt also einer gesellschaftlichen Grundlage, die das "Laboratorium" für die Transformation sein kann. Diese Plausibilitätsstruktur muß dem Individuum durch signifikante Andere vermittelt werden, mit denen es zu einer tiefen Identifikation kommen muß. Ohne diese Identifikation ist keine radikale Transformation der subjektiven Wirklichkeit - einschließlich natürlich der Identität - möglich. Unausweichlich müssen die Kindheitserlebnisse der Gefühlsabhängigkeit von signifikanten Anderen noch einmal nachvollzogen werden (25). Die signifikanten Anderen sind die Führer in die neue Wirklichkeit. In den Rollen, die sie als Vis-à-vis des Menschen spielen - Rollen, die meistens ausdrücklich ihrer Resozialisationsfunktion entsprechend bestimmt sind -, repräsentieren sie die Plausibilitätsstruktur und vermitteln sie die neue Welt. Diese Welt hat nun ihren kognitiven und affektiven Blickpunkt in der neuen Plausibilitätsstruktur. Gesellschaftlich bedeutet das eine fast ausschließliche Richtung aller signifikanten Beziehungen auf die neue Gruppe, welche die Plausibilitätsstruktur verkörpert, und eine besondere Konzentration auf das "Personal", das mit der Resozialisation beauftragt ist.

Das historische Urbild der Verwandlung ist die religiöse Konversion. Unsere obigen Betrachtungen treffen auf sie zu, wenn es heißt:  extra ecclesiam nulla salus [Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil! - wp]. Dabei interpretieren wir "Heil" - mit einer angemessenen Verbeugung vor den Theologen, die mit jenem Satz etwas anderes im Sinn hatten - als das erfolgreiche Zustandekommen der Konversion. Nur im Rahmen der Religionsgemeinschaft, der "Ecclesia", bleibt eine Konversion wirklich plausibel. Damit bestreiten wir nicht etwa, daß eine Konversion dem Anschluß an die Gemeinde vorausgehen kann. SAULUS von Tharsos suchte sich nach seiner Konversion die christliche Gemeinde aus. Darum geht es aber gar nicht. Eine Konversion als Erlebnis bedeutet nicht allzu viel. Entscheidend ist, daß man dabei bleibt, daß man das Erlebnis ernst nimmt und sich den Sinn für seine Plausibilität erhält. Hier nun kommt die Gemeinde ins Spiel. Sie liefert die unerläßliche Plausibilitätsstruktur für die neue Wirklichkeit. Mit anderen Worten: SAULUS mag in der Einsamkeit seiner religiösen Ekstase PAULUS geworden sein. PAULUS bleiben aber konnte er nur im Kreis der christlichen Gemeinde, die ihn als PAULUS anerkannte und sein "neues Sein", von dem er nun seine Identität herleitete, bestätigte. Eine solche Verknüpfung von Konversion und Gemeinde ist kein speziell christliches Phänomen - trotz der Einzigartigkeit der  Ecclesia.  Außerhalb der  Umma [Religionsgemeinschaft - wp] des Islam kann man kein Moslem, außerhalb des  Sangha [Gemeinde - wp] kein Buddhist bleiben - und wahrscheinlich außerhalb Indiens auch kein Hindu. Religion braucht religiöse Gemeinschaft, und Leben in der religiösen Welt braucht die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinde (26). Die Plausibilitätsstrukturen der religiösen Konversion sind von säkularisierten Bewegungen nachgeahmt worden. Die besten Beispiele dafür finden sich bei politischen Lehren und in der Psychotherapie. (27)

Die neue Plausibilitätsstruktur muß  die  Welt des Menschen werden, die alle anderen Welten und besonders die, welche er vor seiner Konversion "bewohnte", verdrängt. Das macht seine Absonderung von "Mitbewohnern" der Welt, die er hinter sich gelassen hat, nötig. Im besten Fall ist die Trennung eine physische. Wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht möglich ist, so muß die Absonderung durch eine Definition gesetzt werden, und zwar durch eine Definition, mittels derer die Anderen nihiliert [vernichtet - wp] werden. Der sich verwandelnde Mensch gliedert sich aus der früheren Welt und der Plausibilitätsstruktur, die sie stützt, aus, wenn möglich körperlich, in jedem Fall geistig. Er ist nun nicht mehr mit Ungläubigen zusammen "ins Joch gespannt" und somit vor ihrem latent wirklichkeitsspaltenden Einfluß geschützt. Eine solche Absonderung ist besonders in den frühen Stadien der Verwandlung nötig, im "Noviziat" [Anwärterschaft - wp]. Ist einmal die neue Wirklichkeit erst "geronnen", so können begrenzte Beziehungen zu Außenseitern wieder aufgenommen werden, obgleich diese, die gewöhnlich biographisch signifikant waren, noch immer gefährlich sind. Sie sind diejenigen, die sagen werden: "Mach doch Schluß damit, Saulus"; und es können Zeiten kommen, in denen die alte Wirklichkeit, die sie beschwören, zur Versuchung wird.

Verwandlung bedeutet also auch eine Neukonstruktion der "Konversationsmaschine". Die Partner für signifikante Gespräche haben gewechselt. Und im Gespräch mit den neuen signifikanten Anderen formt sich die neue Wirklichkeit. Durch ein fortgesetztes Gespräch mit ihnen oder in der Gemeinde, die sie repräsentieren, wird sie gesichert. Schlicht gesagt, heißt das, daß man nun sehr aufpassen muß, mit wem man spricht. Menschen und Ideen, die im Gegensatz zu den neuen Wirklichkeitsbestimmungen stehen, werden systematisch gemieden (28). Da das kaum je total gelingen kann, und sei es nur der Erinnerung an die vergangene Wirklichkeit wegen, stellt die neue Plausibilitätsstruktur meistens verschiedene therapeutische Verfahren bereit, die der Neigung zum "Zurücksinken" zuvorkommen. Diese Maßnahmen entsprechen dem allgemeinen Modell der Therapie, das wir früher besprochen haben.

Die wichtigste theoretische Voraussetzung für die Verwandlung ist ein Legitimationsapparat für die ganze Abfolge der Transformation. Nicht nur die neue Wirklichkeit muß legitimiert sein, sondern auch die Phasenfolge ihrer Aneignung und Erhaltung und die Aufgabe oder Verketzerung aller alternativen Wirklichkeiten. Die nihilatorische Seite der theoretischen Konstruktion ist besonders im Hinblick auf das zu lösende Demontageproblem wichtig. Die alte Wirklichkeit, ihre Gemeinschaft und ihre signifikanten Anderen, die einst die Mittler waren, müssen im Rahmen des Legitimationsapparates neu dargestellt werden. Eine solche Neuinterpretation bezeichnet eine Bruchstelle in der subjektiven Biographie: "vor Christi Geburt" und "anno domini", "vor Damaskus" und "nach Damaskus". Alles, was der Verwandlung vorausging, wird nun als auf sie hinführend gesehen - ein "Altes Testament", eine "präparatio evangelii [Vorbereitung der Heilsbotschaft - wp]. Alles, was ihr folgt, strömt aus ihrer neuen Wirklichkeit. Die Folge ist eine Neuinterpretation des verganenen Lebenslaufes  in toto [in Gänze - wp] nach der Formel: "Damals meinte ich ... Heute weiß ich." Oft gehört dazu eine nachträgliche Projektion der neuen Interpretation auf die Vergangenheit: "Ich wußte schon damals, wenngleich auf unklare Weise ...". Beweggründe, die man subjektiv in der Vergangenheit nicht hatte, werden aus der neuen Wirklichkeit übernommen: "Ich tat das in Wirklichkeit, weil ...". Das Leben vor der Verwandlung wird meistens im Ganzen nihiliert, das heißt, einer negativen Kategorie subsumiert, die eine strategische Position im neuen Legitimationsapparat hat: "Als ich noch ein sündiges Leben führte ...". "Als ich noch in einem bürgerlichen Bewußtsein befangen war ...". "Als ich mich noch durch meine unbewußten neurotischen Antriebe leiten ließ ...". Die biographische Bruchstelle wird so zur kognitiven Scheidung von Dunkelheit und Licht.

Zur Neuinterpretation im Ganzen kommen neue Teilinterpretationen vergangener Ereignisse und Personen von vergangener Signifikanz. Der Mensch in der Verwandlung wäre wohl besser dran, wenn er so manches vollkommen vergessen könnte. Aber vollkommenes Vergessen ist bekanntlich nicht leicht. So wird also eine radikale Neuinterpretation des Sinns vergangener Ereignisse oder Personen für die eigene Biographie nötig. Da man leichter etwas erfindet, was sich nie ereignet hat, als etwas vergißt, das sich ereignet hat, fabriziert man Ereignisse und fügt sie ein, wo immer sie gebraucht werden, um Erinnerung und neue Wirklichkeit aufeinander abzustimmen. Weil dem Einzelnen die neue Wirklichkeit nun absolut plausibel erscheint, kann er absolut "aufrichtig" sein. Subjektiv erzählt er keine Lügen über die Vergangenheit, er bringt sie vielmehr "auf Vordermann" jener einen "Wahrheit", die Vergangenheit und Gegenwart umgreifen muß. Übrigens ist das ein wichtiger Punkt für das Verständnis der Motive, die hinter den in der Geschichte immer wiederkehrenden Fälschungen und Verfälschungen religiöser Dokumente stehen. Auch Personen, besonders signifikante Andere, werden auf diese Weise neu "vergegenwärtigt". Wider Willen werden sie Akteure in einem Drama, dessen Sinn ihnen begreiflicherweise dunkel ist. Und meistens weisen sie die Ehre ab, was nicht überraschen sollte. Aus diesem Grund gilt der Prophet nichts im eigenen Land und in diesem Sinne muß man den Anspruch  Jesu  an seine Jünger verstehen, daß Vater und Mutter verlassen muß, wer ihm nachfolgen will.

Nach all dem dürfte es kaum mehr Schwierigkeiten bereiten, einen "Wegweise zur gedeihlichen Verwandlung" zusammenzustellen, wie wenig einleuchtend auch so manche neue Wirklichkeit dem störrischen Außenseiter erscheinen mag. Man kann zum Beispiel Leute dazu bekehren, daß sie mit geheimnisvollen Wesen aus dem Weltraum Verbindung aufnehmen können, solange sie eine strenge Diät aus rohem Fisch einhalten. Wir wollen es der Einbildungskraft des geneigten Lesers überlassen, sich diese Sekte der Ichthyosophisten im Einzelnen auszumalen. Unser "Wegweiser" fordert zunächst eine Plausibilitätsstruktur der Ichthyosophisten, die reinlich von der Außenwelt geschieden und mit geeignetem Personal für Sozialisation und Therapie bestückt zu sein hat. Dazu kommen der ichthysophistische Wissensbestand, sophistisch genug, um hinreichend zu erklären, warum der selbstverständliche Nexus [Verbindung - wp] zwischen rohem Fisch und galaktischer Telepathie bisher noch nicht entdeckt worden ist, und natürlich die unerläßlichen Legitimationen und Nihilierungen, die den Aufbruch des Menschen zu dieser großen Wahrheit erst sinnvoll machen. Wenn alle diese Vorschriften sorgfältig befolgt worden sind, kann aller Wahrscheinlichkeit nach der Erfolg nicht auf sich warten lassen, sobald erst einmal ein Mensch geködert worden ist und der Gehirnwäsche der Ichthyosophisten überlassen wird.

In der Praxis bestehen natürlich zwischen Resozialisation, wie wir sie beschrieben haben, und Sekundärsozialisation, die auf primären Internalisierungen aufbaut, viele Zwischentypen. So gibt es Teilumwandlungen der subjektiven Wirklichkeit oder ihrer Ausschnitte. Sie sind in der modernen Gesellschaft mit ihrer sozialen Mobilität und in der Berufsausbildung zum Beispiel gang und gäbe (29). Die Veränderung der subjektiven Wirklichkeit kann beträchtlich sein, wenn jemand etwas zu einem annehmbaren Vertreter der höheren Mittelklasse oder einem tüchtigen Arzt ausgebildet wird und die entsprechenden Wirklichkeitsergänzungen internalisiert. Solche Transformationen sind meistens arm an Resozialisation. Sie setzen auf der Grundlage der primären Internalisierungen an und vermeiden im allgemeinen krasse Brüche in der subjektiven Lebensvorstellung. Das Resultat ist die Schwierigkeit, den Zusammenhang zwischen früheren und späteren Elementen der subjektiven Wirklichkeit zu sichern. Dieses Problem, das bei der Resozialisation in dieser Art nicht vorkommt - da sie die subjektive Biographie auseinanderreißt und die Vergangenheit neu aufrollt, statt sie mit der Gegenwart abzustimmen -, wird dringlicher, je näher die sekundäre Sozialisation der Resozialisation kommt, ohne tatsächlich in sie umzuschlagen. Resozialisation heißt: Man durchschneidet den gordischen Knoten des Zusammenhangsproblems, indem man die Suche nach Zusammenhängen aufgibt und die Wirklichkeit neu konstruiert.

Auch zur Aufrechterhaltung der Zusammenhänge gehört ein gewisses Herumbasteln an der Vergangenheit, allerdings nicht in einem so radikalen Sinn. Das gebietet allein schon die Tatsache, daß in diesen Fällen gewöhnlich die Verbindung zu Personen und Gruppen, die früher signifikant waren, nicht abreißt. Sie sind weiter da und protestieren gegen allzu phantasievolle Uminterpretationen. Sie selbst müssen überzeugt werden, daß Transformationen, wie sie stattgefunden haben, einleuchtend sind. Bei Umformungen, die ihm Rahmen der sozialen Mobilität vorkommen, gibt es beispielsweise vorfabrizierte Interpretationsmuster, die allen Betroffenen klarmachen, was sich  ohne  die totale Metamorphose des Einzelnen ereignet hat. Die Eltern eines aufwärts mobilen Sohnes werden als Begleiterscheinungen seiner neuen Lebenssituation gewisse Veränderungen in seinem Benehmen und seinen Einstellungen für nötig, ja geradezu für wünschenswert halten. "Natürlich", IRVING kann sein Judentum nicht so herauskehren, jetzt wo er Arzt in einem eleganten Vorort ist. "Natürlich" zieht er sich jetzt anders an und spricht anders, "natürlich" wählt er jetzt republikanisch und hat eine Frau, die in Vassar studiert hat. So werden sie sagen. Und vielleicht wird es auch bald "natürlich" sein, daß er nur noch selten zu den Eltern auf Besuch kommt. Solche schematischen Interpretationen, die in einer Gesellschaft mit hoher Mobilität fertig bereitliegen und vom Einzelnen schon internalisiert werden, bevor er selbst tatsächlich mobil wird, garantieren die persönliche Mobilität und mildern die Kontraste bei verpaßten Anschlüssen. (30)

Ähnliches spielt sich bei radikalen Transformationen ab, die aber von vornherein als temporär gedacht sind - zum Beispiel beim Militärdienst auf Zeit oder bei einem vorübergehenden Krankenhausaufenthalt (31). Der Unterschied zur totalen Resozialisation wird besonders deutlich, wenn man vergleicht, wie es bei Berufssoldaten oder bei der Sozialisation chronischer Patienten zugeht. In den Fällen auf Zeit wird der Zusammenhang mit der bisherigen Wirklichkeit und Identität - dem Leben als Zivilist und Gesunder - allein schon durch das Gefühl gewahrt, daß man ja zu gelegener Zeit wieder zurückkehren kann.

Alles in allem, kann man sagen, sind die beiden Vorgänge genau entgegengesetzter Art. Bei der Resozialisation wird die Vergangenheit uminterpretiert, um ihr die gegenwärtige Wirklichkeit anzupassen, wobei sogar Elemente in die Vergangenheit eingeschmuggelt werden, die seinerzeit subjektiv nicht möglich waren. Bei der sekundären Sozialisation wird die Gegenwart so interpretiert, daß sie in einer kontinuierlichen Verbindung zur Vergangenheit steht, wozu dann Transformationen, die tatsächlich zustande gekommen sind, verkleinert werden. Mit anderen Worten: die Wirklichkeitsgrundlage für Resozialisationen ist die Gegenwart, für sekundäre Sozialisationen die Vergangenheit.
LITERATUR: Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1970
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    Anmerkungen
    1) Unsere Auffassung vom "Verstehen des Anderen" haben wir von MAX WEBER und von ALFRED SCHÜTZ.
    2) Was wir mit "Sozialisation" und ihren beiden Untertypen meinen, entspricht dem üblichen Gebrauch des Begriffs in den Sozialwissenschaften. Wir haben den Terminus übernommen, um ihn in unseren allgemeinen theoretischen Rahmen einzupassen.
    3) Wir stützen uns hier weitgehend auf MEADs Theorie der Sozialisation.
    4) Der Terminus "médiation", bzw. "Vermittlung" haben wir von SARTRE, der jedoch keine entsprechende Theorie der Sozialisation hat.
    5) Die affektive Komponente frühkindlichen Lernens hat besonders die Kinderpsychologie in der Nachfolge FREUDs herausgestellt. In der behavioristischen Lerntheorie gibt es viele bestätigende Entsprechungen. Unsere Darlegungen sind jedoch von den theoretischen Prämissen beider Schulen unabhängig.
    6) Unsere Auffassung des sich in einem "Spiegelungsprozeß" entwickelnden Selbst stammt von COOLEY (vgl. Human Nature and the social Order, New York 1964, Seite 168f und MEAD (vgl. Mind, Self and Society, a. a. O., Seite 135f). Die Ursprünge liegen in WILLIAM JAMES' Analyse des "social self" (vgl. The Principles of Psychology, 2 Bde., New York 1950, Bd. 1, Seite 291f).
    7) Auch ohne eine detaillierte Ausführung glauben wir genug gesagt zu haben, um die Möglichkeit einer im Ansatz dialektischen Sozialpsychologie erkennen zu lassen. Sie wäre ebenso wichtig für die philosophische Anthropologie wie für die Soziologie. In der Soziologie müßte sie sich fundamental an MEAD orientieren, ihn jedoch von verschiedenen Seiten her ergänzen. Theoretisch unhaltbare Beziehungen zu freudianischen oder behavioristischen Psychologismen würden dadurch vermieden.
    8) Vgl. dazu CLAUDE LÉVI-STRAUSS, La pensée sauvage, a. a. O., Seite 253f.
    9) Den Terminus "der generalisierte Andere" haben wir hier ganz im Sinne von MEAD verwendet.
    10) Vgl. SIMMEL über die Selbstauffassung des Menschen als sowohl innerhalb wie außerhalb der Gesellschaft stehend. Wir weisen hier auch wieder auf PLESSNERs Formulierung der "exzentrischen Positionalität" des Menschen hin.
    11) Vgl. PIAGET über den Charakter der Wirklichkeit beim Kind.
    12) Vgl. LÉVY-BRUHL zum phylogenetischen Anaologon zu PIAGETs Analyse des "Realismus" des Kindes.
    13) Vgl. PHILIPPE ARIES, Centuries of Childhood, New York 1962.
    14) Hierzu wären die kulturanthropologischen Untersuchungen der "rites of passages" [Übergangsriten - wp] im Zusammenhang mit der Pubertät heranzuziehen.
    15) Der Begriff der "Rollendistanz" stammt von ERVING GOFFMAN (besonders in  Asylums,  New York 1961). Wir behaupten, daß eine solche Distanz nur im Hinblick auf die in der sekundären Sozialisation internalisierte Wirklichkeit möglich ist. Rechnet man mit ihr auch bei der in der primären Sozialisation internalisierten Wirklichkeit, so begibt man sich in das Gebiet der Psychopathologie. Es müßte sich dann um eine mangelhafte Formung der Identität handeln. Aus unseren Überlegungen ergibt sich noch ein interessanter Gedanke zu den strukturellen Grenzen eines "Goffmanschen Modells". Es träfe nämlich nur auf Gesellschaften zu, in denen entscheidende Elemente der objektivierten Wirklichkeit erst in der sekundären Sozialisation internalisiert werden. Wir sollten uns daher hüten, GOFFMANs Modell - das im übrigen für wichtige Charakteristika der modernen industriellen Gesellschaft sehr geeignet ist - mit einem schlechthin "dramatischen Modell" gleichzusetzen. Schließlich hat es in der auf "impression management" versessen ist (vgl. GOFFMAN, The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959, besonders Kapitel V). Für eine klärende Betrachtung dieses Problems vgl. HELMUTH PLESSNER,  Soziale Rolle und menschliche Natur,  in: "Erkenntnis und Verantwortung", Festschrift für Theodor Litt zum 80. Geburtstag, Düsseldorf 1960. (Abgedruckt in PLESSNER, Diesseits der Utopie, Düsseldorf-Köln 1966, Seite 23-35)
    16) Untersuchungen auf dem Gebiet der Berufssoziologie - besonders von EVERETT HUGHES, Men and their Work, Glencoe/Jllinois 1958 liefern interessantes Material zu dieser Frage. Vgl. ferner HOWARD M. VOLLMER und DONALD L. MILLS (Hg),  Professionalization,  New York, 1966.
    17) Vgl. TALCOTT PARSONS, Essays in Sociological Theory. Pure and Applied, Glencoe/Jllinois 1949, Seite 233f (dt.: Beiträge zur soziologischen Theorie, Hg. DIETRICH RÜSCHEMEYER, Neuwied 1964, Seite 84f)
    18) HANS H. GERTH und C. WRIGHT MILLS schlagen für "signifikante Andere", die im späteren Leben an der Bewahrung der Identität Anteil haben, den Ausdruck "intime Andere" vor (in  Character and Social Structure,  New York 1953). Wir sind ihrem Vorschlag nicht gefolgt, weil der Terminus an die "Intimsphäre" erinnert, einen in der neueren deutschsprachigen Soziologie viel verwendeten Ausdruck, der eine für unsere Zwecke irreführende Nebenbedeutung hat.
    19) Hierzu vgl. wieder GOFFMAN, a. a. O., und DAVID RIESMANN, The lonely Crowd, New Haven 1950 (dt.: Die einame Masse, Reinbek 1965)
    20) Die Termini "Primärgruppe" und "Sekundärgruppe" stammen von CHARLES H. COOLEY (vgl.  Social Organization,  New York 1963, Seite 23f). Wir folgen hier der üblichen Verwendung dieser Begriffe in der amerikanischen Soziologie.
    21) Zum Terminus "conversational apparatus" siehe PETER BERGER und HANSFRIED KELLNER, Marriage and the Construction of Reality, a. a. O., Seite 1f. Über die Funktion eines kommunikativen Netzwerkes zur Erhaltung gemeinsamer Wirklichkeit vgl. FRIEDRICH TENBRUCK, unveröffentlichte Habilitationsschrift, a. a. O.
    22) Vgl. zur Korrespondenz GEORG SIMMEL, "Soziologie", a. a. O., Seite 287f.
    23) In diesem Zusammenhang ist der Begriff der "reference group" wichtig. Vgl. dazu MERTON in "Social Theory and Social Structure", a. a. O., Seite 225f.
    24) Vgl. PETER LUDWIG BERGER, Invitation to Sociology, Garden City, New York, 1963, Seite 54f.
    25) Auf dieses Phänomen trifft genau der psychoanalytische Terminus "Übertragung" zu. Die Psychoanalytiker übersehen jedoch, daß "Übertragung" für jeden Sozialisationsprozeß und die zu ihm gehörende Identifikation mit den entsprechenden signifikanten Anderen gilt, so daß keinerlei Schlüsse über die kognitive Gültigkeit der "Einsichten" aus der psychoanalytischen Situation gezogen werden können.
    26) Genau das ist es, was DURKHEIM mit dem unausweichlich gesellschaftlichen Charakter der Religion meint. Wir übernehmen jedoch sein Wort "Kirche" für die "moralische Gemeinschaft" der Religion nicht, weil es nur einen historischen Fall von Institutionalisierung auf religiösem Gebiet trifft.
    27) Untersuchungen über die chinesische "Gehirnwäsche" sind für die fundamentalen Formen der "Verwandlung" höchst aufschlußreich. Siehe z. B. EDWARD HUNTER, Brainwashing in China, New York 1951. GOFFMAN führt in  Asylums  nahezu parallele Vorgänge bei der Gruppentherapie in Amerika an.
    28) Zur Vermeidung von konträren Wirklichkeitsbestimmungen vgl. auch FESTINGER, A Theory of Cognitive Dissonance, Evanston / Illinois 1957.
    29) Vgl. LUCKMANN / BERGER, "Social Mobility and Personal Identity", in  European Journal of Sociology,  Bd. V, 1964, Seite 331f.
    30) Hierher gehören RIESMANs Terminus "außengeleitet" und MERTONs "antizipatorische Sozialisation".
    31) Vgl. die Aufsätze zur Soziologie der Medizin von ELIOT FREIDSON, THEODOR J. LITMAN und JULIUS A. ROTH in ARNOLD ROSE (HG), Human Behavior and Social Processes, a. a. O.