p-4SanbornJamesJerusalem
WILLIAM JAMES
Psychologie
Der Strom des Bewußtseins
[2/5]

Zweifellos ist es oft bequem die geistigen Tatsachen in einer atomistischen Weise zu formulieren und die höheren Bewußtseins- zustände so zu behandeln, als ob sie alle aus unveränderlichen einfachen Inhalten aufgebaut wären, die da gehen und wiederkehren."

Der Gang unserer Untersuchung muß ein analytischer sein. In den meisten Lehrbüchern wird die sogenannte synthetische Methode befolgt. Mit den einfachen Empfindungsinhalten beginnend, die als ebensoviele Atome betrachtet werden, geht man dazu über, die höheren Geisteszustände aus ihrer "Assoziation", "Integration" oder "Verschmelzung" aufzubauen, geradeso wie Häuser durch das Zusammenfügen von Bachsteinen aufgebaut werden. Dieses Verfahren hat all die didaktischen Vorzüge, welche die synthetische Methode gewöhnlich zu haben pflegt. Aber es erzeugt von vornherein die sehr bedenkliche Auffassung, daß unsere höheren Bewußtseinszustände Zusammensetzungen von Einheiten seien, und anstatt mit dem zu beginnen, was der Leser direkt kennt, nämlich mit den konkreten Gesamtzuständen seines Geistes, geht man von einer Anzahl hypothetisch angenommener "einfacher Inhalte" aus, von denen er gar keine direkte Kenntnis hat und in bezug auf deren angebliche Wechselwirkung er jeden plausiblen Satz gelten lassen muß.

Außerdem setzt uns die Methode des Fortschreitens von dem Einfachen zum Zusammengesetzten auf jedem Gebiet gewissen Täuschungen aus. Natürlich werden alle Pedanten und Abstraktionsenthusiasten sie um keinen Preis aufgeben wollen. Aber ein Student, der den Reichtum der menschlichen Natur liebt, wird der "analytischen" Methode den Vorzug geben, und lieber mit den konkretesten Tatsachen beginnen, mit jenen, die er in seinem Innenleben täglich von neuem kennen lernt. Die analytische Methode wird die elementaren Teile, wenn es solche gibt, zur rechten Zeit und ohne die Gefahr einer voreiligen Annahme aufzeigen.

Die Grundtatsache. Die erste und oberste konkrete Tatsache, die jedermann bezüglich seiner inneren Erfahrung konstatieren wird, ist die, daß Bewußtsein irgendwelcher Art stattfindet. In ihm folgen seelische Zustände aufeinander. Wenn wir sagen könnten "es denkt", so wie wir sagen "es regnet" oder "es windet", würden wir damit die betreffende Tatsache am einfachsten und mit einem Minimum von Hypothesen konstatieren. Da wir das aber nicht können, müssen wir eben sagen, daß Bewußtseinsgeschehen stattfindet.

Vier Eigentümlichkeiten des Bewußtseins. Wie findet es statt? In der Beantwortung dieser Frage bemerken wir sofort vier wichtige Eigentümlichkeiten an dem Prozeß, der in dem gegenwärtigen Kapitel seine allgemeine Behandlung finden soll.
  • Jeder "Zustand" tritt auf mit dem Anspruch Teil eines persönlichen Bewußtseins zu sein.

  • Innerhalb jedes persönlichen Bewußtseins wechseln die Zustände fortwährend.

  • Jedes persönliche Bewußtsein ist merklich kontinuierlich.

  • Es interessiert sich ausschließlich für bestimmte Teile des ihm gegenübertretenden Objekts mit Vernachlässigung anderer und ist beständig beschäftigt aufzunehmen oder abzuweisen, kurz zu wählen unter seinen Gegenständen.
Wenn wir diese vier Punkte der Reihe nach betrachten, werden wir gleich in medias res geführt, was unsere Nomenklatur anlangt, und müssen psychologische Termini gebrauchen, die erst in den späteren Kapiteln dieses Buches zureichende Bestimmung finden können. Allein es weiß jeder was diese Termini in groben Umrissen bedeuten; und wir werden uns ihrer vorläufig nur in diesen groben Umrissen bedienen. Dieses Kapitel gleicht der ersten Kohlenskizze, die der Maler auf seine Leinwand wirft, und in der noch keine Feinheiten zu entdecken sind.

Wenn ich sage jeder "Zustand" oder Bewußtseinsinhalt ist Bestandteil eines persönlichen Bewußtseins, so ist "persönliches Bewußtsein" einer der in Frage stehenden Termini. Solange uns niemand auffordert, ihn zu definieren, wissen wir was damit gemeint ist, aber eine genaue Bestimmung desselben zu geben, ist die schwierigste philosophische Aufgabe.

In diesem Zimmer - sagen wir diesem Hörsaal - befinden sich eine Menge von Gedanken, die Ihrigen und die meinigen, von denen einzelne miteinander zusammenhängen und andere nicht. Es ist ebensowenig jeder einzelne von ihnen ganz für sich und von den übrigen unabhängig, wie sie alle zusammengehören. Sie sind keines von beiden: kein einziger von ihnen steht vereinzelt da, aber jeder hängt mit gewissen anderen und mit keinen außer diesen zusammen. Ob sich irgendwo in diesem Zimmer ein Gedanke "ansich" befindet, der der Gedanke von niemand ist, darüber können wir keine Gewißheit erlangen, denn etwas derartiges liegt außerhalb unserer Erfahrung. Die einzigen Bewußtseinszustände, mit denen wir normalerweise zu tun haben, finden sich in irgendeinem persönlichen Bewußtsein, in irgendeiner Seele, einem Selbst, irgendeinem besonderen konkreten Ich oder Du.

Jede dieser Seelen hat ihre eigenen Gedanken für sich. Es findet kein Gehen oder Tauschen zwischen ihnen statt. Es kommt auch kein Gedanke einem Gedanken irgendeines anderen persönlichen Bewußtseins als seines eigenen gegenüber in die Lage direkt erfaßt zu werden. Absolute Isolation, irreduktibler Pluralismus das ist die Regel. Es scheint also ob nicht der Gedanke oder dieser Gedanke oder jener Gedanke, sondern  mein  Gedanke die psychische Grundtatsache wäre, da jeder Gedanke einem Subjekte zugeteilt ist. Weder Gleichzeitigkeit, noch räumliche Nähe, noch Ähnlichkeit von Qualität oder Inhalt vermögen Gedanken miteinander zu verschmelzen, die durch diese Schranke der Zugehörigkeit zu verschiedenen Persönlichkeiten getrennt sind. Die Kluft zwischen solchen Bewußtseinsinhalten ist die absoluteste Kluft in der Natur.

Jedermann wird die Richtigkeit dieses Satzes einsehen, solange man nur Nachdruck legt auf die Existenz von Etwas, was dem Wort "persönlicher Geist" entspricht, ohne sich auf eine bestimmte Theorie über seine Natur festzulegen. In diesem Sinne könnte das persönliche Ich mit mehr Recht wie der einzelne Bewußtseinsinhalt, als das für die Psychologie unmittelbar Gegebene behandelt werden. Die allgemeinste Bewußtseinstatsache ist nicht die, daß "Gefühle und Gedanken existieren", sondern die, daß "ich denke" und daß "ich fühle". Keine Psychologie kann die Existenz persönlicher Ichs irgendwie bestreiten. Zusammenhängende Gedanken, sofern wir sie als zusammenhängend auffassen, sind das was wir unter dem persönlichen Ich verstehen. Das schlimmste was eine Psychologie tun kann ist, das Wesen dieser persönlichen Ichs so zu interpretieren, daß ihre Bedeutung dabei verloren geht.

Das Bewußtsein befindet sich in fortwährender Veränderung. - Ich will damit nicht sagen, daß kein psychischer Zustand irgendwelche Dauer hätte - selbst wenn dem so wäre, würde es schwerlich festzustellen sein. Auf was ich besonders Gewicht lege ist, daß kein psychischer Zustand, der einmal vorüber ist, wiederkehren und identisch sein kann mit dem, was er zuvor war. Jetzt sehen wir, jetzt hören wir; jetzt fällen wir ein Urteil, jetzt wollen wir etwas; jetzt leben wir in der Erinnerung, jetzt in der Erwartung; jetzt fühlen wir Liebe, jetzt Hass; und auf hundertfach andere Weise noch wissen wir unsere Seele bald so, bald anders in Anspruch genommen.

Aber, könnte man einwenden, all das sind komplexe Zustände, hervorgebracht durch die Kombination einfacherer; - folgen nicht die einfacheren einem anderen Gesetz? Sind nicht die Empfindungen, die wir, von dem gleichen Objekt z.B., haben, stets dieselben? Liefert uns die gleiche Klaviertaste, mit der gleichen Kraft angeschlagen, nicht stets die gleiche Gehörsempfindung? Veranlaßt dasselbe Gras nicht stets die gleiche Grünempfindung? derselbe Himmel nicht dieselbe Blauempfindung? und haben wir nicht immer die gleiche Geruchsempfindung gleichviel wie oft wir unsere Nase der gleichen Eau-de-Cologne-Flasche nähern? Es scheint ein Stück metaphysischer Sophisterei zu sein, wenn man daran denkt, daß dies nicht der Fall sei; und doch zeigt uns eine sorgfältige Untersuchung des Tatbestandes, daß gar kein Grund vorliegt für die Annahme, irgendeine zentripetale Nervenerregung könne uns genau die gleiche körperliche Empfindung zweimal vermitteln.

Was uns zweimal gegeben ist, ist das gleiche Objekt. Wir hören den gleichen Ton immer und immer wieder; wir sehen die gleiche Qualität  grün,  riechen den gleichen objektiven Wohlgeruch, oder erleben die gleiche Art von Schmerz. Die Realitäten, konkret und abstrakt, physisch und ideal, an deren permanente Existenz wir glauben, scheinen beständig wieder vor unserem Bewußtsein aufzutauchen, und veranlassen uns, wenn wir nicht ganz genau achtgeben, zu der Annahme, daß unsere "Ideen" von ihnen immer die gleichen Ideen sind. Wenn wir später zu dem Kapitel von der Wahrnehmung kommen, werden wir sehen, wie fest wir daran gewöhnt sind, die sinnlichen Eindrücke lediglich als die Brücke zu verwenden, über die hinweg wir zur Erkenntnis der Realitäten gelangen, deren Dasein sie ankündigen.

Der Rasen, den ich jetzt vor meinem Fenster sehe, besitzt für mich dasselbe Grün, da wo die Sonne draufscheint und da wo er im Schatten liegt, und doch müßte ein Maler, um den tatsächlichen Empfindungseffekt wiederzugeben, einen Teil davon tiefbraun, den anderen leuchtend gelb malen. Wir geben, in der Regel, zu wenig darauf acht, wie verschiedenartig die gleichen Dinge bei verschiedener Entfernung oder unter verschiedenen Umständen aussehen, klingen und riechen. Die Identität der Dinge ist es, auf deren Feststellung wir ausgehen; und alle Empfindungen, die uns vom Vorhandensein solcher Identität überzeugen, werden wahrscheinlich in Bausch und Bogen als miteinander identisch betrachtet.

Dies ist es, was uns veranlaßt, die im Ton der Selbstverständlichkeit abgegebenen Urteile über die subjektive Identität verschiedener Empfindungen als einen Tatsachenbeweis einfach nicht gelten zu lassen. Alles was wir über die sogenannte Empfindung wissen, bedeutet einen Kommentar zu der Tatsache, daß wir nicht imstande sind, anzugeben, ob zwei Sinnesqualitäten, die uns getrennt gegeben werden, genau gleich sind. Was unsere Aufmerksamkeit weit mehr fesselt als die absolute Qualität eines Eindrucks, ist sein Verhältnis zu den übrigen Eindrücken, die wir gleichzeitig mit ihm haben. Wenn alles dunkel ist, läßt uns der Eindruck einer geringeren Dunkelheit ein Objekt  weiß  erscheinen. HELMHOLTZ hat ausgerechnet, daß der gemalte weiße Marmor auf einem Bild, das ein vom Mondlicht beschienenes Gebäude darstellt, bei Tageslicht gesehen, 10 - 20 000 Mal heller ist, als der wirkliche mondbeschienene Marmor sein würde.

Um einen solche Unterschied zu erfassen, dazu hat nicht die sinnliche Wahrnehmung ausgereicht; er mußte durch eine Reihe indirekter Erwägungen erschlossen werden. Dies bringt uns zu der Überzeugung, daß unsere Sensibilität sich fortwährend verändert, so daß ein und dasselbe Objekt uns nicht leicht dieselbe Empfindung noch einmal mitteilen kann. Wir empfinden die Dinge verschieden je nachdem ob wir schläfrig oder wach, hungrig oder gesättigt, frisch oder müde sind; wir empfinden sie anders bei der Nacht als am Morgen, anders im Sommer als im Winter; und vor allem anders in der Kindheit, im Mannes- und im Greisenalter.

Und dennoch zweifeln wir nie daran, daß unsere Empfindungen uns stets die gleiche, mit den gleichen sinnlichen Qualitäten ausgestattete und von den gleichen sinnlichen Objekten erfüllte Welt offenbaren. Der Wandel unserer Empfindlichkeit tritt am deutlichsten zutage in dem Unterschied der Gemütsbewegungen, zu denen uns die Dinge Veranlassung geben, wenn wir in verschiedenem Lebensalter oder verschiedenem organischen Zustand ihnen gegenübertreten. Was uns einmal licht und anregend dünkte, kann ein anderes Mal ermüdend und nutzlos erscheinen. Des Vogels Sang wird langweilig, das Säuseln der Luft traurig, der Himmel düster.

Diesem Gedankengang, der uns zu der Annahme geführt hat, daß unsere Empfindungen dem Wechsel unserer Gemütsempfänglichkeit entsprechend, stets wesentliche Veränderungen erleiden, tritt ein anderer Gedankengang zur Seite, der sich auf die Vorgänge im Gehirn bezieht. Jede Empfindung entspricht irgendeinem Gehirnvorgang. Damit eine identische Empfindung wiederkehre, müßte dieselbe zum zweiten Male in einem unmodifizierten Gehirn stattfinden. Aber da dies im strengsten Sinn des Wortes eine physiologische Unmöglichkeit ist, so ist auch ein unmodifiziertes Wiederauftreten der Empfindung etwas Unmögliches; denn wir nehmen an, daß jeder, wenn auch noch so kleinen Gehirnmodifikation eine gleichgroße Veränderung in dem an das betreffende Gehirn gebundenen Bewußtsein entspricht.

Aber wenn schon die Annahme "einfacher Empfindungen", die in unveränderlicher Form immer wieder auftauchen, so leicht als grundlos erwiesen werden kann, um wieviel grundloser ist dann die Annahme einer Unveränderlichkeit in den komplexeren Bewußtseinsinhalten.

Deshalb ist es klar und offenbar, daß unser Geisteszustand niemals genau derselbe ist. Jeder Gedanke, den wir von einer gegebenen Tatsache haben, ist, streng genommen, einzig und ist unseren anderen Gedanken von dem gleichen Tatbestand nur in dem Sinne ähnlich, wie mehrere Individuen der gleichen Art einander ähnlich sind. Wenn genau dieselbe Tatsache wieder auftritt, müssen wir auf eine neue Art darüber denken, sie unter einem etwas anderen Gesichtswinkel betrachten, sie in Beziehungen bringen, die verschieden sind von denen, in welchen sie das letzte Mal stand. Und der Bewußtseinsinhalt, der sich auf die betreffende Tatsache bezieht, sofern sie in jenen Beziehungen steht, ein Bewußtseinsinhalt, zu dem das Bewußtsein des ganzen dunkel erfaßten Zusammenhangs hinzugehört.

Oftmals staunen wir selbst über die seltsamen Unterschiede, die unsere Betrachtung eines und desselben Dinges von Fall zu Fall aufweist. Wir wundern uns, daß wir über eine bestimmte Sache so denken konnten, wie wir es im letzten Monat taten. Wir sind unversehens herausgewachsen aus der Möglichkeit, diesen Seelenzustand zu erleben. Von Jahr zu Jahr sehen wir die Dinge in anderem Licht. Was unwirklich war ist Wirklichkeit geworden, und was wir anregend fanden, erscheint uns abgeschmackt. Die Freunde, die einmal eine große Rolle in unserem Leben gespielt haben, sind Schatten geworden, die einst so vergötterten Frauen, die Sterne, die Wälder und die Meere, wie abgeblaßt und alltäglich heute!

Die jungen Mädchen, die uns einen Hauch der Unendlichkeit gebracht, jetzt kaum beachtete Existenzen; die Bilder so leer; und die Bücher - was war da so mysteriös Bedeutungsvolles bei GOETHE, so Vollgewichtiges bei JOHN MILL zu finden? Was sie verloren haben, hat die Arbeit an Bedeutung gewonnen, die Arbeit, die uns heute besser schmeckt als je; und voller und tiefer ist uns aufgegangen der Sinn für die Bedeutung alltäglicher Pflichten und alltäglicher Freuden.

Ich bin überzeugt, daß diese aufs Konkrete und Ganz gerichtete Art die Veränderungen des Geistes zu betrachten, die einzig richtige ist, wie schwer es auch sein mag, sie bis in die Details durchzuführen. Wenn irgend etwas unverständlich daran erscheint, wird es im folgenden klarer werden. Einstweilen ist es, wenn sie richtig ist, sicherlich ebenso richtig, daß niemals zwei "Vorstellungen" genau gleich sind, und das ist der Satz, den wir zu beweisen unternommen haben. Dieser Satz ist theoretisch wichtiger als es auf den ersten Blick erscheint. Denn er macht es uns bereits unmöglich getreu in den Spuren der LOCKEschen oder HERBARTschen Schule zu wandeln, Schulen, welche in Deutschland und bei uns einen fast unbegrenzten Einfluß ausgeübt haben.

Zweifellos ist es oft bequem die geistigen Tatsachen in einer atomistischen Weise zu formulieren und die höheren Bewußtseinszustände so zu behandeln, als ob sie alle aus unveränderlichen einfachen Inhalten aufgebaut wären, die da "gehen und wiederkehren". Ebenso ist es oft bequem Kurven so zu behandeln, als ob sie aus kleinen geraden Linien zusammengesetzt wären. Aber in dem einen wie in dem anderen Falle dürfen wir nie vergessen, daß wir uns bildlich ausdrücken, und daß in Wirklichkeit nichts vorhanden ist, was genau mit unseren Begriffen übereinstimmt. Ein dauernd vorhandener "Inhalt", der in periodischen Intervallen vor den Rampenlichtern des Bewußtseins auftaucht, ist ein ebenso sagenhaftes Wesen wie der ewig wandernde Ahasver (ewige Jude).

"Substanzartige" und "transitive" Bewußtseinszustände." - Wenn wir einen allgemeinen Überblick auf den wunderbaren Strom des Bewußtseins werfen, dann fällt uns zuerst der an verschiedenen Stellen so verschiedene Verlauf auf. Wie im Leben eines Vogels so herrscht auch hier ein beständiger Wechsel von flüchtiger Bewegung und Ruhe. Das kommt zum Ausdruck im Rhythmus der Sprache, wo jeder Gedanke in einem Satz ausgedrückt, und jeder Satz durch einen Punkt geschlossen wird. Die Ruhe-Stellen sind gewöhnlich durch anschauliche Vorstellungen irgendwelcher Art ausgefüllt, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie für eine bestimmte Zeit vor der Seele festgehalten und ohne sich zu verändern betrachtet werden können; an den Stellen der Bewegung findet sich das Bewußtsein von Relationen, statischer oder dynamischer Art, die in den meisten Fällen zwischen den Gegenständen erfaßt werden, deren Betrachtung die Perioden relativer Ruhe ausfüllt.

Wir wollen die Ruhe-Stellen die "substanzartigen", die Bewegungs-Stellen die "transitiven" Bestandteile des Bewußtseinsstromes nennen. Es zeigt sich alsdann, daß unser Bewußtsein, wenn es eben von einem substanzartigen Bestandteil sich entfernt hat, sogleich einem anderen dieser Art zustrebt. Und wir können sagen, daß die Hauptaufgabe der transitiven Teile darin besteht, uns von einem substanzartigen Endziel zum anderen zu führen.

Nun ist es sehr schwierig, auf dem Weg der Introspektion (Selbstbeobachtung) die transitiven als das zu erkennen, was sie wirklich sind. Wenn sie nur Übergänge darstellen zu einem Endziel, dann bedeutet es einfach eine Vernichtung derselben, wenn man sie festzuhalten sucht, bevor das Endziel erreicht ist, um sie in diesem Stadium zu betrachten. Warten wir aber bis das Endziel erreicht ist, dann übertrifft dieses die Übergangserlebnisse so sehr an Wucht und Stabilität, daß es dieselben in seinem Glanz vollständig verdunkelt und verschwinden läßt. Laßt jemand versuchen, einen Gedanken in der Mitte entzwei zu schneiden und im Querschnitt zu betrachten, da wird er sehen, wie schwierig die introspektive Beobachtung der transitiven Verbindung ist. Das Denken nimmt stets einen so jähen Anlauf, daß es uns fast immer zum Endziel bringt, bevor wir imstande sind, es anzuhalten. Ist aber einmal unser Vorsatz flink genug, um es zu hemmen, so hört es sogleich auf es selbst zu sein. Wie eine Schneeflocke, in der warmen Hand aufgefangen, aufhört eine Schneeflocke zu sein, und sich in einen Wassertropfen verwandelt, so zergeht uns das seinem Endziel zustrebende Relationsbewußtsein, wenn wir es aufzufassen versuchen, und wir halten statt seiner irgend etwas Substanzartiges fest, gewöhnlich das zuletzt gesprochene Wort, das nun einen statischen Charakter besitzt und seine Funktion, seine Tendenz und seine besondere Bedeutung im Satzganzen verloren hat.

Die Bemühungen, in diesen Fällen introspektive Analyse zu treiben, gleichen wirklich dem Bestreben, einen drehenden Kreisel zu ergreifen, um seine Bewegung festzuhalten, oder dem Versuch, das Gas schnell genug aufzudrehen, um zu sehen, wie die Dunkelheit aussieht. Und die Forderung, diese transitiven Bewußtseinszustände aufzuweisen, die sicherlich von skeptischen Psychologen demjenigen gegenüber erhoben wir, der ihre Existenz behauptet, ist ebenso unpassend wie ZENOs Vorgehen gegen die Vertreter der Bewegungslehre, wenn er ihnen die Frage vorlegte, an welchem Punkt ein fliegender Pfeil sich jeweils befinde, und wenn er die Unrichtigkeit ihrer Behauptung daraus glaubte nachweisen zu können, daß sie auf eine so alberne Frage nicht sofort eine Antwort fanden.

Die Folgen dieser introspektiven Schwierigkeit sind betrüblich. Wenn das Festhalten und Beobachten der transitiven Teile unseres Bewußtseinsstromes so schwer ist, dann muß der große Irrtum, zu dem alle Schulen hinneigen, darin bestehen, daß man es versäumt, sie überhaupt zu verzeichnen und daß man übermäßig viel Gewicht legt auf die mehr substanzartigen Teile des Stroms. Nun hat dieser Irrtum historisch in zweierlei Richtungen gewirkt. Eine Reihe von Denkern ist durch ihn zum Sensualismus geführt worden. Unfähig irgendeinen substanzartigen Bewußtseinsinhalt zu erfassen, der den zahllosen Relationen und Verbindungsformen zwischen den sinnlichen Dingen der Welt entspricht, außerstande benannte Geisteszustände ausfindig zu machen, in denen sich solche Relationen spiegeln, haben sie es größtenteils geleugnet, daß solche Zustände überhaupt vorkommen, und viele von ihnen, wie HUME, sind so weit gegangen, die Realität der meisten Relationen sowohl außerhalb wie innerhalb des Geistes in Abrede zu stellen. Einfache substanzartige "Inhalte", Empfindungen und ihre Abbilder, nebeneinander gesetzt wie die Steine im Dominospiel, aber tatsächlich von einander getrennt, alles andere nur durch die Sprache uns vorgetäucht - darauf läuft schließlich diese Theorie hinaus.

Die Intellektualisten andererseits, die es nicht fertig gebracht haben, die Realität von Relationen  extra mentem  aufzugeben, aber ebensowenig imstande gewesen sind, auf irgendwelche bestimmten substanzartigen Bewußtseinsinhalte hinzuweisen, in welchen sie erfaßt werden, sind zu derselben Annahme gelangt, daß es solche Bewußtseinsinhalte überhaupt nicht gibt. Aber nun haben sie die entgegengesetzte Schlußfolgerung gezogen. Sie sagen: die Relationen müssen in etwas erfaßt werden, was kein Bewußtseinsinhalt ist, kein Geisteszustand, kontinuierlich und wesensgleich mit dem psychischen Material, aus welchem die Empfindungen und deren substanzartigen Bewußtseinszustände gemacht sind. Sie müssen erfaßt werden durch etwas, was auf einem ganz anderen Niveau liegt, durch einen  actus purus  des Verstandes, des Geistes oder der Vernunft, Worte, die durchweg mit großen Buchstaben geschrieben werden und als Bezeichnungen gelten für etwas, was allen flüchtigen und vergänglichen Tatsachen der Sinnlichkeit unsagbar überlegen ist.

Allein von unserem Standpunkt aus haben sowohl die Intellektualisten als auch die Sensualisten unrecht. Wenn es überhaupt so etwas wie Bewußtseinsinhalte gibt, dann existieren, so sicher als Relationen zwischen den Objekten in  rerum natura,  [der Natur der Dinge entsprechend - wp] ja noch sicherer Bewußtseinsinhalte, in welchen diese Relationen erfaßt werden. Es gibt in der menschlichen Sprache nicht eine Konjunktion oder Präposition und kaum einen adverbalen Ausdruck oder eine syntaktische Form oder eine Modulation der Stimme, die nicht die eine oder andere Nuance einer Relation zum Ausdruck brächte, von deren Existenz zwischen den massiveren Gegenständen unseres Denkens wir jeweils wirklich ein Bewußtsein haben. Wenn wir objektiv sprechen, dann sind es die realen Relationen, die sich uns zu enthüllen scheinen; sprechen wir subjektiv, dann ist es der Strom des Bewußtseins, der jede von ihnen dadurch wiedergibt, daß er selbst eine besondere Färbung annimmt. In beiden Fällen sind die Relationen zahllos, und keine existierende Sprache ist imstande all ihren Schattierungen gerecht zu werden.

Wir müßten ebenso bereitwillig wie von einem Bewußtsein des  Blauen  oder des  Kalten,  von einem Bewußtsein des  Und,  des  Wenn,  des  Aber  und des  Durch  sprechen. Dennoch tun wir das nicht: die Gewohnheit, die substanzartigen Bestandteile allein anzuerkennen, ist so sehr in uns eingewurzelt, daß es die Sprache fast verweigert, sich zu irgendeinem anderen Gebrauche herzugeben.

Betrachten wir wieder einmal die Analogie des Gehirns. Wir halten das Gehirn für ein Organ, dessen inneres Gleichgewicht beständig sich verändert, wobei die Veränderung sich überall bemerkbar macht. Der Pulsschlag der Veränderung ist zweifellos an einer Stelle stärker als an einer anderen, ihr Rhythmus einmal schneller als ein ander Mal. In einem mit gleichförmiger Geschwindigkeit sich drehenen kaleidoskop sind zwar beständig neue Formen in Bildung begriffen, dabei gibt es jedoch Momente, in denen die Veränderung unbedeutend, stockend zu sein, ja ganz zu fehlen scheint. Diesen folgen andere Momente, wo sie mit märchenhafter Geschwindigkeit sich vollzieht, so daß relativ stabile Formen abwechseln mit Formen, die so flüchtig sind, daß wir sie beim zweiten Sehen nicht wiedererkennen würden.

Ebenso muß im Gehirn die fortwährende Umgestaltung manchmal zu Spannungszuständen führen, die relativ lang dauern, während manchmal solche nur eintreten, um sogleich wieder zu vergehen. Wenn nun aber das Bewußtsein zusammenhängt mit der Tatsache, daß die Umgestaltung im Gehirn stattfindet, warum sollte nicht dem unaufhörlichen Verlauf dieser Umgestaltung auch ein unaufhörlicher Fluß des Bewußtseins entsprechen. Und wenn ein langsamerer Verlauf der betreffenden Umgestaltung eine Art von Bewußtsein mit sich bringt, warum sollte nicht ein beschleunigter eine andere Art herbeiführen, die ebensogut ihre Besonderheit hat wie die Umgestaltung selbst. (1)
LITERATUR - William James, Psychologie, Leipzig 1920
    Anmerkungen
  1. Daß die ganze Besonderheit des Relationsbewußtseins nur in seinem beschleunigtem Verlauf besteht, ist nicht wahrscheinlich und läßt sich mit guten Gründen bestreiten.