p-4A. RiehlK. LewinHönigswaldC. PrantlP. Duhem    
 
KURT LEWIN
Der Übergang von der aristotelischen
zur galileischen Denkweise

(in Biologie und Psychologie)
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...mit solchen "Funktionsbegriffen" ist es möglich, vom Speziellen zum Allgemeinen aufzusteigen, ohne doch im allgemeinen das Spezielle "fortzulassen", und sich damit den Rückweg vom Allgemeinen zum Speziellen unmöglich zu machen.

4. Der Sinn des Geschehensdifferentials
Methodisch scheint sich hier nochmals eine prinzipielle Schwierigkeit zu ergeben, die ich besser vielleicht als durch allgemeine Erörterung an einem einfachen Beispiel erläutere. Damit das Wesentliche leichter ersichtlich wird, wähle ich nicht ein Beispiel aus der geläufigen Physik, sondern aus der problematischen Psychologie. Macht man den Versuch, das Verhalten eines Kindes unter anderem auf psychische Feldkräfte zurückzuführen - die Berechtigung dieser These steht hier nicht zur Erörterung -, so kann man leicht folgenden Einwand erheben: Ein Kind (K) stehe angesichts zweier Lockungen (etwa einem Spielzeug (S) und einem Stück Schokolade (C), die sich an verschiedenen Orten befinden mögen (gemäß Abb. 1). Nach der gekennzeichneten Annahme bestehen dann also Feldkräfte in der Richtung a und b. Wie immer das Stärkeverhältnis der Kräfte ist, gleichgültig auch, ob das physikalische Gesetz des Parallelogramms der Kräfte auf psychische Feldkräfte anzuwenden ist oder nicht: sofern überhaupt eine Resultante (r) aus beiden Kräften sich bildet, müßte diese jedenfalls in einer Richtung verlaufen, die weder nach S noch nach C führt. Das Kind würde also, so schließt man leicht, dieser Theorie gemäß weder S noch C erreichen.
vektoren
In Wirklichkeit wäre ein solcher Schluß jedoch voreilig. Denn wenn auch der Vektor im Ausgangsmoment in der Richtung r liegt, so bedeutet das noch nicht, daß das tatsächliche Geschehen nun dauernd diese Richtung beibehält. Vielmehr ändert sich mit dem Geschehen auch dauernd die Gesamtsituation und damit die für die Dynamik in jedem Moment maßgebenden Vektoren, insbesondere ihre Stärke und Richtung. Selbst wenn man das Gesetz des Parallelogramms der Kräfte annimmt und im übrigen eine konstante innere Situation beim Kinde voraussetzt, würde das tatsächliche Geschehen auf Grund dieser Veränderung der Situation das Kind schließlich allemal zu einem der beiden lockenden Gegenstände führen (Abb. 2).

Was ich an diesem einfachen Beispiel veranschaulichen möchte, ist folgendes: Wenn man die Dynamik eines Vorgangs, insbesondere die Vektoren, die ihn beherrschen, aus dem wirklichen Geschehen ableiten will, so ist man in der Regel gezwungen auf Geschehensdifferentiale zurückzugreifen: In unserem Beispiel kann man nur das Geschehen im ersten Moment, nicht den Gesamtverlauf, als unmittelbaren Ausdruck jener Vektoren ansehen, die in der Ausgangssituation vorlagen.

Die bekannte Eigentümlichkeit der meisten physikalischen Gesetze, Differentialgesetze zu sein, scheint mir nicht, wie man das häufig annimmt, ein Beweis dafür zu sein, daß die Physik das Bestreben hat, alles in kleinste "Elemente" aufzulösen und diese Elemente in möglichster "Isolierung" zu betrachten. Sie entspringt vielmehr im wesentlichen dem Umstand, daß die Physik seit der galileischen Begriffsbildung nicht mehr den historisch wirklichen Ablauf eines Geschehens als unmittelbaren Ausdruck der für die Dynamik maßgebenden Vektoren betrachtet. Für ARISTOTELES ist der Umstand, daß die Bewegung einen bestimmten Gesamtablauf zeigt, ein Beweis für eine auf diesen Gesamtablauf gerichtete Tendenz (z.B. zur vollkommenen Kreisbewegung). Die galileische Begriffsbildung trennt dagegen auch noch im einzelnen Geschehensverlauf das Quasi-Geschichtliche von den für die Dynamik maßgebenden Faktoren. Sie nimmt auf die Gesamtsituation in ihrer vollen, konkreten Individualität Bezug, also auf das So-Sein der Situation in jedem einzelnen Zeitmoment.

Auch für die galileische Begriffsbildung dokumentieren sich die Kräfte, die physikalischen Vektoren, die die Situation beherrschen, an dem resultierenden Geschehen. Aber es gilt, dieses Geschehen "rein", unter Ausschaltung des Quasi-Historischen zu erfassen, und daher ist es notwendig, den jeweiligen Geschehenstypus durch Zurückgehen auf das Geschehensdifferential zu ermitteln, weil er nur in ihm, zwar gleichsam in nuce, aber dafür unverfälscht zum Ausdruck kommt. Das Zurückgehen auf das Geschehensdifferential ist z.T. also eine Komplementärerscheinung der Tendenz, die Dynamik auf die Stellung des Konkret-Einzelnen in der konkreten jeweiligen Gesamtsituation zurückzuführen.

Auch experimentell kommt es darauf an, solche Situationen herzustellen, daß sich dieser "reine" Geschehenstypus faktisch ergibt, beziehungsweise daß er begrifflich aus dem tatsächlichen Geschehen rekonstruiert werden kann.

5. Methodologisches
Auf die weiteren logischen und methodischen Konsequenzen dieser Begriffsbildung näher einzugehen, erübrigt sich. Sind Gesetz und Individuum keine Gegensätze, so steht nichts mehr im Wege, sich im Beweis auch auf (historisch betrachtet) ungewöhnliche, seltene und flüchtige Ereignisse, wie sie die physikalischen Experimente meist darstellen, zu stützen. Ja es wird verständlich, warum es systematisch betrachtet angebracht sein kann, solche seltenen Fälle - wenn auch nicht wegen ihrer Ungewöhnlichkeit an sich - herzustellen.

Die Tendenz, die jeweilige Situation möglichst voll und konkret auch in ihrer individuellen Nuance zu erfassen, macht eine möglichst genaue qualitative und quantitative Bestimmung notwendig und fruchtbar. Aber man darf nicht vergessen, daß erst diese Aufgabe, nicht aber die zahlenmäßige Präzision an sich der "Exaktheit" einen Sinn gibt.

Eine der wesentlichsten Erkenntnisfunktionen der quantitativen und allgemeiner der mathematischen Darstellungsweise ist:
  • die Möglichkeit, an Stelle des Zweischnittes kontinuierlich Übergänge bei der Charakterisierung zu benutzen, die Beschreibung also außerordentlich zu verfeinern;

  • der Umstand, daß es mit solchen "Funktionsbegriffen" möglich ist, vom Speziellen zum Allgemeinen aufzusteigen, ohne doch im allgemeinen das Spezielle "fortzulassen", und sich damit den Rückweg vom Allgemeinen zum Speziellen unmöglich zu machen.
Schließlich wäre hier noch auf die Methode der "Annäherung" bei der Beschreibung von Gegenständen und Situationen hinzuweisen, in der sich die "kontinuierliche", funktionelle Denkweise methodologisch äußert.


B. DYNAMISCHE GRUNDBEGRIFFE IN DER PSYCHOLOGIE

Die Begriffsbildung über die Dynamik ist in der Psychologie und Biologie gegenwärtig noch ganz von aristotelischem Geiste durchsetzt und zwar zeigen sich, wie mir scheint, bis in die Einzelheiten hinein hier die gleichen inneren Zusammenhänge und Motivierungen.

1. Aristotelische Vorstellungen: Situationsunabhängigkeit. Der Trieb
Inhaltlich, das ist am leichtesten aufzuzeigen, entspricht die psychologische Dynamik, wie erwähnt, meist der aristotelischen Begriffsbildung: Sie ist "Teleologie" im aristotelischen Sinne. Nicht die Tatsache, daß gerichtete Größen in der psychologischen Dynamik verwendet werden, gibt ihr den Stempel des aristotelischen Denkens, sondern daß man das Geschehen auf Vektoren zurückführt, die man den Untersuchungsobjekten, etwa den einzelnen Personen, relativ unabhängig von der Umgebung fest zuordnet.

Der Begriff des Triebes in seiner klassischen Form ist hierfür vielleicht das eindringlichste Beispiel. Die Triebe sind der Inbegriff dessen, was man einem Individuum an festen, "anlagemäßig" bedingten Vektoren glaubt zuschreiben zu müssen. Die Ermittlung der Triebe geschieht im wesentlichen dadurch, daß man aufsucht, welche Aktionen im tatsächlichen Leben des Individuums oder der gleichartigen Individuen besonders häufig und regelmäßig vorkommen. Das, was diesen häufigsten Handlungen gemeinsam ist (etwa Nahrungsaufnahme, Kampf, gegenseitige Hilfe), wird als das Wesen dieser Prozesse angesehen. Wiederum durchaus im aristotelischen Sinne wird dieser abstraktiv gewonnene Klassenbegriff zugleich zum Ziel und zur Ursache des Geschehens erhoben, und zwar erscheinen die auf diese Weise als Durchschnitt der historischen Tatsächlichkeit gewonnenen Triebe um so grundlegender, je abstrakter dieser Klassenbegriff ist, je größer die Zahl und je verschiedenartiger die Art der Fälle ist, aus denen der Durchschnitt genommen wird. Glaubt man doch auf diese Weise und nur auf diese Weise jene "Zufälligkeiten" überwinden zu können, die dem einzelnen Falle und der konkreten Situation anhaften. Die Tendenz, möglichst viele Fälle zu häufen und Durchschnitte aus möglichst großen Zahlen zu gewinnen, die das Verfahren der Psychologie und Biologie auch gegenwärtig noch in weiten Gebieten beherrscht, basiert also auf dem Streben, sich von der Gebundenheit an bestimmte Situationen frei zu machen.

2. Innere Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten
Die Verschiedenheit der aristotelischen und der galileischen Denkweise tritt besonders deutlich hervor, wenn man sich einmal klar macht, welche Konsequenzen sich aus einer solchen festen Zuordnung der Triebe zu den Individuen "an sich" für eine strenge galileische Auffassung des Gesetzesbegriffs ergeben würde. Es würde dann der Trieb (etwa, der mütterlichen Fürsorge oder des Kampfes) wirklich ununterbrochen wirksam sein; ebenso würde die Erklärung des Trotzes aus der "Natur" des dreijährigen Kindes für eine galileische Begriffsbildung die Konsequenz enthalten, daß alle dreijährigen Kinder den ganzen Tag über (ja eigentlich 24 Stunden lang) trotzig zu sein versuchen müßten.

Die aristotelische Gesamteinstellung der Psychologie vermag allerdings dieser Konsequenz auszuweichen. Da man beim Nachweis der Existenz der Feldkräfte sich damit begnügt, eine gewisse Häufigkeit des Vorkommens festzustellen, entgeht man der Notwendigkeit, aus der "Ausschaltung der Situation" die Konsequenz ziehen zu müssen, daß die betreffende Feldkraft nun in jeder Situation als existent anzunehmen ist. Beim Zugrundelegen des strengen Gesetzesbegriffs kann man die Behauptung der Existenz eines derartigen Triebes dadurch widerlegen, daß man für gegebene konkrete Fälle seine Nichtexistenz nachweist. Die aristotelische Begriffsbildung braucht eine solche Widerlegung nicht zu fürchten, da sie den Hinweis auf einen konkreten Einzelfall immer durch ein Sich-Zurückziehen auf die nur durchschnittliche Geltung beantworten kann.

Allerdings wird diese Begriffsbildung damit auch unfähig, das Geschehen des einzelnen Falles, also nicht das Verhalten eines abstraktiv definierten Durchschnittskindes, sondern etwa das Verhalten eines ganz bestimmten Kindes in einem bestimmten Moment zu erklären.

Der aristotelische Zug der psychologischen Dynamik bringt also nicht nur eine Beschränkung der Erklärung auf die Fälle mit sich, die regelmäßig genug auftreten, um den Anschein der Berechtigung für die Abstraktion von der Situation zu gewähren, sondern sie läßt auch bei den häufig vorkommenden Fällen für den einzelnen Vorgang im Grunde jede Möglichkeit offen.

3. Versuche zur Selbstkorrektur. "Durchschnittliche" Situation
Die inneren Schwierigkeiten, die die aristotelische Begriffsbildung gerade für die Dynamik mit sich bringt und die mit der Ausschaltung der Situation den Erklärungswert der Theorie geradezu aufzuheben drohen, haben sich naturgemäß in der Psychologie immer wieder bemerkbar gemacht und zu den eigentümlichsten Mischverfahren und Versuchen geführt, den Begriff der Situation doch irgendwie aufzunehmen. Das wird besonders an den Versuchen quantitativer Bestimmung deutlich. Wenn man etwa die Frage aufwirft und experimentell zu entscheiden versucht, wie sich die Stärke verschiedener Triebe von Ratten (etwa Hunger, Durst, Sexualität oder Mutterliebe) zueinander verhalten, so hat eine solche Frage (die etwa in der Physik der Frage entspricht, was ist stärker: die Gravitation oder die elektromotorische Kraft) nur dann einen Sinn, wenn man diese Vektoren den Ratten wirklich unabhängig von der konkreten Gesamtsituation, also unabhängig von dem momentanen Zustand der Ratten und ihrem momentanen Umfeld, fest zuordnet. Eine solche starre Zuordnung ist letzten Endes naturgemäß undurchführbar, und man ist gezwungen, diese Begriffsbildung wenigstens zum Teil zu durchbrechen. Der Fortschritt geht zunächst in der Richtung, daß man die Tatsache, daß ein Trieb verschiedene Stärkegrade annehmen kann, wenigstens soweit berücksichtigt, daß man ihre "Maximalstärke" vergleicht. Immerhin wird dadurch wenigstens im Prinzip auf den momentanen Zustand des Triebes Bezug genommen.

Im Grunde ist die aristotelische Einstellung der Begriffsbildung damit allerdings nur wenig gemildert. Selbst wenn man dazu übergeht, die verschiedenen Stärkegrade eines Triebes zu berücksichtigen, pflegt man Schwankungskurven der Stärkegrade zu ermitteln, die nur den für das Einzelindividuum unverbindlichen statistischen Durchschnitt einer großen Zahl von Fällen ausdrücken; vor allem aber wird in dieser Begriffsbildung der Vektor unabhängig von der besonderen Struktur der Situation angesetzt.

Daß die Situation im wirklichen Einzelfall d as Verhalten des Triebes wesentlich mitbestimmt, wird allerdings nicht bestritten. Aber diesen Problemen gegenüber weiß man sich hier, wie etwa in der Frage des spontanen Verhaltens des Kindes nur darauf zurückzuziehen, daß das Gesetz ein Durchschnittsverhalten wiedergibt. Es gelte also für eine "durchschnittliche" Situation. Man vergißt, daß es "Durchschnittssituationen" schlechterdings nicht gibt, so wenig wie es ein Durchschnittskind gibt.

Praktisch, wenn auch nicht prinzipiell, etwas weiter geht die Bezugnahme auf den Begriff der "optimalen" Situation. Aber auch hier bleibt die konkrete Struktur der Situation "beliebig", nur ist ein Maximum von Effekt in bestimmter Richtung gefordert.

Durch alle diese Verfahren werden die beiden Grundmängel der aristotelischen Denkweise nicht beseitigt, daß man nämlich die für die Dynamik des Geschehens entscheidenden Vektoren dem isolierten Gegenstand unabhängig von der konkreten Gesamtsituation zuspricht, und daß man sich in bezug auf die Gültigkeit der psychologischen Thesen für die konkrete Wirklichkeit des einmaligen Prozesses mit einem sehr geringen Anspruchsniveau begnügt.

Das gilt selbst für die Begriffsbildung, die sich unmittelbar mit der Bedeutung der Situation befaßt. Die Situation wird selbst wiederum wie ein fester Gegenstand betrachtet, und man erörtert die Frage: Was ist wichtiger: Anlage oder Milieu? Wie erwähnt, steht dabei ganz im aristotelischen Sinne die Frage im Mittelpunkt, wie weit die Situation "stören" (oder eventuell "fördern") kann. Wiederum also wird in einer Form, die überhaupt nur historisch-statistisch einen Sinn hat, ein dynamisches Problem auf Grund eines abstraktiv gewonnenen Begriffes: "Situation überhaupt" behandelt. Die Diskussion über die Frage: "Anlage oder Milieu" zeigt auch im einzelnen eindringlich, wie sehr bei der Begriffsbildung Gegenstand und Situation primär getrennt werden und wie die Dynamik von den isolierten Gegenständen an sich ausgeht.

Die Rolle der "Situation" in all diesen Begriffsbildungen läßt sich vielleicht am besten durch Hinweis auf gewisse Wandlungen der Malerei wiedergeben. In der mittelalterlichen Malerei gibt es zunächst überhaupt keine Umgebung, sondern nur einen ungegenständlichen (z.B. goldenen) Hindergrund. Auch wenn dann allmählich eine "Umgebung" auftritt, besteht sie vielfach nur darin, daß neben der einen Person noch andere Personen und Gegenstände auf dem Bilde dargestellt sind. So kommt es bestenfalls zu einem Ensemble von Einzelpersonen, aber jede behält im Grunde doch eine selbständige Existenz.

Erst später wird der Raum selbst malerisch existent; es entsteht eine Gesamtsituation. Zugleich wird diese Situation als Ganzes beherrschend und das Einzelne ist das, was es ist - man denke etwa an REMBRANDTs Gruppenbilder - sofern es überhaupt noch als Einzelnes bestehen bleibt, nur in und durch die Gesamtsituation.

4. Ansätze einer galileischen Begriffsbildung
Gegenüber diesen aristotelischen Grundvorstellungen über die Dynamik zeigen sich auch in Psychologie und Biologie Ansätze einer galileischen Begriffsbildung. Wiederum ist die Begriffsbildung in der Sinnespsychologie am meisten fortgeschritten.

Auch in der Sinnespsychologie bezog man die Erklärungen zunächst auf das isolierte einzelne Gebilde, ja sogar auf die einzelnen isolierten Elemente dieser Gebilde. Die Entwicklung der jüngsten Zeit hat zunächst langsam, dann aber immer radikaler, einen Umschwung der dynamischen Grundauffassung mit sich gebracht dahingehend, daß die Dynamik der Prozesse nicht aus den einzelnen Elementen der Gebilde, sondern aus ihrer Gesamtstruktur abzuleiten ist. Dabei ist es nicht möglich, sich auf eine Betrachtung dessen zu beschränken, was man die "Figur" im weiteren Sinne des Wortes nennt. Vielmehr ist alle Dynamik des sinnespsychologischen Geschehens auch vom "Grunde" und darüber hinaus von der Struktur des ganzen Umfeldes abhängig. Die Dynamik läßt sich nicht aristotelisch abstraktiv durch Ausschalten aller zufälligen Situationen verstehen, sondern - diese These durchdringt gegenwärtig sukzessiv alle Gebiete der Sinnespsychologie - nur aus der Stellung eines Gebildes bestimmter Struktur in einer bestimmt gearteten Umgebung.

In jüngster Zeit haben sich über das Spezialgebiet der Wahrnehmung hinaus konkrete Ansätze der gleichen dynamischen Grundvorstellungen auf den Gebieten der intellektuellen Prozesse, des Trieb-, Willens- und Affektlebens, der Ausdrucks- und Entwicklungspsychologie gezeigt. Die Unfruchtbarkeit, zum Beispiel der immer wieder im Kreise laufenden Diskussion: Anlage oder Milieu und die Undurchführbarkeit der auf sie sich stützenden Einteilungen der Eigenschaften eines Individuums, beginnt immer deutlicher zu offenbaren, daß hier letzten Endes begrifflich falsche Fundamentalansätze vorliegen. Es kündigt sich, wenn auch nur zögernd, eine Begriffsbildung an, die die Bestimmung der Anlage nicht dadurch vorzunehmen versucht, daß sie alle Umwelteinflüsse möglichst ausschaltet, sondern dadurch, daß sie in den Begriff der Anlage die notwendige Beziehung zu einem Inbegriff konkret zu definierender Umfelder selbst aufnimmt. In der Biologie findet diese Tendenz ihren Ausdruck in der Unterscheidung von "Phänotypus" und "Genotypus". Allerdings nehmen diese Begriffe im wesentlichen auf die durchschnittliche Struktur einer Umgebung von gewisser Dauer Bezug und noch nicht auf die konkrete Gesamtstruktur einer Momentsituation, wie sie für die Dynamik entscheidend ist.

Auch in den für das Gesamtverhalten der Lebewesen maßgebenden Gebieten der Psychologie dürfte der Übergang zur galileischen Grundauffassung der Dynamik unvermeidbar sein, die alle in der Dynamik auftretenden Vektoren nicht auf einzelne isolierte Gegenstände zurückführt, sondern auf das Zueinander der Faktoren in der konkreten Gesamtsituation, hier also im wesentlichen auf den momentanen Zustand des Individuums und den Aufbau der psychischen Umwelt. Die Dynamik des Geschehens ist allemal zurückzuführen auf die Beziehung des konkreten Individuums zur konkreten Umwelt und, soweit es sich um innere Kräfte handelt, auf das Zueinander der verschiedenen funktionellen Systeme, die das Individuum ausmachen.

Die Durchführung dieser These erfordert allerdings die Erfüllung einer Aufgabe, für die bisher nur allererste Ansätze vorliegen; es gilt eine konkrete psychische Situation so darzustellen, daß die dynamischen Eigenheiten des Ganzen gerade dieser Situation in ihrer besonderen Konstellation voll wiedergegeben werden; es gilt ferner, die konkrete Aufbaustruktur der psychischen Person, ihre "inneren" dynamischen Fakten, einer wirklichen Abbildung zu unterziehen. Vielleicht hat der Umstand, daß eine Technik für eine solche konkrete Darstellung der psychischen Umwelt wohl nur mit den Mitteln der mathematischen Topologie, also des jüngsten Zweiges der Mathematik, durchführbar ist, dazu beigetragen, die psychologische Dynamik gerade in den wichtigsten Gebieten der Psychologie auf dem Standpunkt der aristotelischen Begriffsbildung festzuhalten. Aber wesentlicher als diese "technische" Frage dürften auch hier die allgemeinen inhaltlichen und "philosophischen" Voraussetzungen sein: Der geringe wissenschaftliche Mut in der Frage der Gesetzlichkeit des Psychischen, das geringe Anspruchsniveau gegenüber dem Geltungsbereich der Sätze der Psychologie und die mit dieser Einstellung auf bloße Regelmäßigkeit Hand in Hand gehende Tendenz zu einer spezifisch historisch-geographischen Begriffsbildung.

Aber nicht durch Weglassen der wechselnden Situationen lassen sich die Zufälligkeiten des geschichtlichen Geschehens in der Systematik überwinden, sondern nur durch eine bis ins Extrem durchgeführte Berücksichtigung der Eigennatur des konkreten Falles. Es gilt zur Einsicht zu bringen, daß Allgemeingültigkeit des Gesetzes und Konkretheit des individuellen Falles keine Gegensätze sind, und daß an Stelle der Bezugnahme auf einen historisch möglichst ausgedehnten Bereich häufiger Wiederholungen die Bezugnahme auf die Totalität einer konkreten Gesamtsituation treten muß. Das bedeutet methodisch, daß die Wichtigkeit eines Falles und seine Beweiskraft nicht nach der Häufigkeit seines Vorkommens gewertet werden darf. Das bedeutet endlich in Psychologie und Biologie ebenso wie in der galileischen Physik einen Übergang von einem klassifikatorisch-abstraktiven zu einem wesentlich konstruktiven Verfahren.
LITERATUR - Kurt Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie, in Erkenntnis Bd.9, Heft 6, Leipzig 1931