tb-1Emil Lask - Rechtsphilosopphie    
 
GUY OAKES
Emil Lasks Analyse der Begriffsbildung
und die Irrationalität des Wirklichen


Max Webers Objektivität

Rickerts Kulturwissenschaft
"Lask zufolge liegt in der schieren Faktizität des Wirklichen zugleich sein höchstes und alleiniges Gesetz, was natürlich heißen will, daß das Wirkliche keinem Gesetze unterliege."

Wenngleich die Erkenntnis individueller Erscheinungen das Ziel der Historie ist, so sind diese Erscheinungen selbst doch unbegreifbar. Unter den zahlreichen Schriften neukantianischer Provenienz, die den mit diesem Problem einhergehenden Fragen nachgehen, bietet EMIL LASKs brillante Inauguraldissertation über FICHTEs Geschichtsphilosophie zweifelsohne die sorgfältigste und umfassendste Darstellung. Den Vertretern der Südwestdeutschen Schule zufolge gelangt man zu Erkenntnis einzig auf dem Wege der Begriffsbildung. Die transzendenten Voraussetzungen für die Erkenntnis eines Gegenstandes sind demnach die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit dieser Gegenstand auf den Begriff gebracht werden kann. Etwas wird zum wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstand, wenn wir es entweder allgemeinen Begriffen subsumieren oder wenn wir einen Begriff bilden, der es in seiner Besonderheit repräsentiert. Einzig Begriffsbildung verspricht daher Erkenntnis, und die Möglichkeit historischer Erkenntnis gerät somit folgerichtig zum Problem eines individualisierenden Verfahrens der Begriffsbildung, i.e. zur Frage nach den Bedingungen, denen gemäß die konkrete Wirklichkeit in ihrer jeweiligen Besonderheit adäquat auf den Begriff gebracht werden kann. Diese epistemologischen Prämissen veranschaulichen, warum LASK das Problem historischer Erkenntnis gerade durch eine Begriffsbildungslehre lösen will. Er vertritt die These, daß sich alle Theorien wissenschaftlicher Begriffsbildung in zwei Kategorien teilen lassen, wobei der die eine als analytisch bezeichnet, verkörpert z.B. im Werk KANTs, die andere als emanatistisch, wie sie in HEGELs Philosophie zur Blüte kam.

Die Grundannahmen der analytischen Logik lassen sich wie folgt zusammenfassen:

(1) Begriffsbildung ist stets eine analytische Abstraktion von der konkreten Wirklichkeit;

(2) deshalb sind Begriffe inhaltlich weniger gehaltvoll als das Wirkliche selbst, das nur als Anschauung, nicht aber als Begriff bestimmt werden kann;

(3) wir haben es also mit einem Dualismus von Begriff und Wirklichkeit zu tun;

(4) weil die konkrete Wirklichkeit als solche für die Begriffsbildung nicht zugänglich ist, ist sie  irrational. 

Die analytische Logik besagt, daß jede Form der Begriffsbildung von den konkreten Objekten der unmittelbaren Erfahrung ausgeht, denen allein Realität zukommt. Freilich kann das konkrete Wirkliche - sozusagen: an sich - nicht unmittelbar in Begriffe eingehen. Begriffe wiederum sind vom Forscher geschaffene Abstraktionen, die insofern allgemein sind, als sie das zum Ausdruck bringen, was eine Mehrzahl von Erscheinungen miteinander teilt. Nur in diesem Sinne erfaßt die Begriffsbildung das unmittelbar Gegebene. Das Konkrete in seiner Einzigartigkeit und Unergründlichkeit markiert somit die Grenzen von Begriffsbildung. In diesem kantischem Bezugsrahmen ordnen Begriffe die Wirklichkeit, d.h. die dadurch entstehenden Objekte sind Beispiele für die Anwendung der Begriffe selbst. Folglich ist die Beziehung zwischen Begriff und Objekt rein logischer Natur, sie ist kein "wirkliches" Verhältnis. Weil ein Begriff ein künstlich geschaffenes geistiges Gebilde ist, i.e. eine Abstraktion, ist die Wirklichkeit stets gehaltvoller. Durch fortgesetzte logische Abstraktion entstehen immer inhaltsleerere Begriffe. Zwar mag die konkrete Wirklichkeit unter Begriffe fallen, doch weil diese abstrakt und weniger gehaltvoll sein müssen, können sie die Wirklichkeit selbst nicht in sich aufnehmen. Die konkrete Wirklichkeit an sich ist eben  irrational,  sie ist kein möglicher Gegenstand der Erkenntnis, weil sie nicht "begriffen" werden kann.

Die emanatistische Logik hingegen weist diese Grundannahmen in Gänze zurück. Für sie ist ein Begriff keineswegs eine Abstraktion von der Wirklichkeit, im Gegenteil, das Konkrete emaniert aus dem Begriff und realisiert, man könnte auch sagen: verkörpert dessen Inhalt. Das Konkrete kann aus Begriffen abgeleitet werden, denen eine höhere, gehaltvollere Wirklichkeitsform eignet; es fällt somit "unter" Begriffe, und der Gehalt dieser Begriffe umschließt den Inhalt des Konkreten. Die rein logische Beziehung zwischen Begriff und konkreter Wirklichkeit, welche die analytische Begriffsbildungstheorie behauptet, gerät in der Perspektive der emanatistischen Logik zu einer gleichsam ontologischen Beziehung, die darüber hinaus, als dialektisches Verhältnis, in Gestalt eines  Weltprozesses  vorgestellt wird. Logik ist hier also "zugleich Metaphysik und Ontologie". Begriffe sind vollkommen wirklich, das Konkrete, das aus ihnen emaniert, ist vollkommen vernünftig, weswegen sowohl der Dualismus von Begriff und konkreter Wirklichkeit als auch deren Irrationalität als aufgehoben betrachtet werden muß. Da sich der Inhalt des konkret Wirklichen gänzlich von Begriffen ableiten läßt, ist, was wirklich ist, vernünftig, und was vernünftig ist, ist wirklich.

Obwohl LASK anerkennt, daß die emanatistische Logik in sich durchaus stimmig ist, vermag er es doch nicht, die zentrale Voraussetzung dieser Theorie zu teilen, nämlich HEGELs Lehre vom Begriff, derzufolge die Begriffe wirklicher sind als die konkrete Wirklichkeit. Ebenso wie RICKERT und WINDELBAND betrachtet LASK Begriffe als künstliche geistige Gebilde, die von der konkreten Wirklichkeit abstrahieren. Das bedeutet, daß die Südwestdeutsche Schule, sofern sie, um das Problem historischer Erkenntnis lösen zu können, auf KANT zurückgeht, den Prämissen einer analytischen Logik folgen muß.

Damit aber haben es die Vertreter dieser Philosophie mit zwei nicht unbeträchtlichen Folgeproblemen zu tun - dem Dualismus von Begriff und Wirklichkeit sowie der Irrationalität des konkret Individuellen -, die eine begriffliche Erfassung des konkret Individuellen von vorneherein zu verhindern scheinen. In enger Anlehnung an FICHTE vertritt LASK die These, daß der kontingent und heterogene Charakter des Individuellen für einen  hiatus irrationalis  zwischen Denken und Sein verantwortlich sei. Eben weil sich die Wirklichkeit nicht aus notwendig allgemeinen Begriffen ableiten lasse, bestehe diese unüberbrückbare Kluft, die zudem als irrational begriffen werden müsse, weil das konkret Individuelle nicht völlig in Begriffen aufgehen könne. Daher muß das konkret Wirkliche, wie WINDELBAND bereits am Ende von  Geschichte und Naturwissenschaft  bemerkt, ganz einfach als unbegreifliches  factum brutum  akzeptiert werden. LASK zufolge liegt in der schieren Faktizität des Wirklichen zugleich sein höchstes und alleiniges Gesetz, was natürlich heißen will, daß das Wirkliche keinem Gesetze  unterliege . Wiewohl das Konkrete unter Gesetze gebracht werden kann, so kann es doch nicht von ihnen deduziert werden. Es mag zwar den Gesetzen folgen, folgt aber nicht  aus  ihnen. Aufgrund der anomischen Eigenart des Wirklichen sind Gesetz und Wirklichkeit bzw. Begriff und Wirklichkeit "inkommensurable Größen".

Wie kann man also eingedenk des  hiatus irrationalis , die Möglichkeit von historischer Erkenntnis begründen? Ist es für eine erfolgversprechende Lösungsstrategie nicht geradezu unumgänglich, die von LASK behauptete Kluft zwischen Begriff und Wirklichkeit zu schließen? In diesem Fall müßte die Wirklichkeit auf die eine oder andere Weise aus Begriffen emanieren, wie sonst wäre es möglich, eine individuelle Entität begrifflich zu erfassen? Selbst wenn ein derartiges Verfahren logisch möglich wäre, was LASK freilich bestreitet, könnte es als Lösung für das Problem historischer Erkenntnis nicht dienen. Denn es widerspräche den grundlegenden axiologischen Annahmen, auf denen die Erkenntnis individueller Entitäten fußt. In seiner Auseinandersetzung mit dieser Frage weist LASK auf einen Zusammenhang hin, der zwischen dem  hiatus irrationalis  und einem Verständnis von Werten besteht, demzufolge Werte nur Individuen zugeschrieben werden können. LASK nennt diese Konzeption:  Wertindividualität.  Wären sämtliche konkrete Erscheinungen nichts anderes als bloße Anwendungsfälle von allgemeinen Begriffen, so verlöre jedwedes Interesse an einem bestimmten Individuum seine Grundlage, da unter diesen Voraussetzungen, die LASK mit dem Terminus  Wertuniversalismus  belegt, man Werte nicht konkreten Erscheinungen, sondern lediglich allgemeinen Begriffen, bzw. Gesetzen zuschreiben könnte, unter die sie fallen.

Der Wertuniversalismus schließt die These von der Wertindividualität aus und entzieht daher dem Interesse am Historischen die Basis. Wie wir gesehen haben, setzt die These von der Wertindividualität, die mit dem Interesse am Individuellen intrinsisch verschränkt ist, den  hiatus irrationalis  voraus. Aus diesem Grunde läßt sich das Problem historischer Erkenntnis nicht dadurch lösen, daß man den  hiatus irrationalis  überwindet und die Kluft zwischen Begriff und Wirklichkeit schließt, mithin den Weg einschlägt, den HEGEL und die Anhänger des Emanatismus beschritten haben. LASKs Analyse aber impliziert, daß historische Erkenntnis trotz - vielleicht sogar wegen - des  hiatus irrationalis  möglich ist. Dies ist genau der Weg, den RICKERT gegangen ist, in dessen Philosophie der mit der Irrationalität des Wirklichen verbundene  hiatus irrationalis  keine überwindliches Hindernis auf dem Wege zu historischer Erkenntnis darstellt, sondern deren transzendentale Voraussetzung.
LITERATUR - Guy Oakes, Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, Frankfurt/Main 1990