tb-2p-4E. Franzvon KutscheraG. PatzigFrischeisen-KöhlerW. T. Marvin     
 
REINHARD KYNAST
Objektive Erkenntnis in den
exakten Wissenschaften

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"Die anfängliche Untersuchung des Erkenntnisbegriffs ging auf das Wie der Erkenntnis, auf das Wie des Erkennens, aber nicht auf das Was. Indem man die Art und Weise klarstellte, wie ein Erkenntnisinhalt vom Individuum gewonnen wird, glaubte man, damit auch das Was der Erkenntnis ergründet zu haben. Dieser Anfang der Erkenntnistheorie mußte psychologisch sein, weil der ganze Begriff der Erkenntnis sich zunächst am unmittelbar Gegebenen zu orientieren hatte und das waren die im Bewußtsein erlebten Akte des Erkennens."


V. Analytische
und synthetische Urteile

Ist im Vorhergehenden die logische Struktur der mathematischen und mechanischen Objekte in Bezug auf ihren Relationscharakter einigermaßen geklärt worden und hat gleichzeitig der Begriff des idealen Systems eine gewisse Verdeutlichung gefunden, so sind wir nunmehr in der Lage, en Begriff des analytischen und synthetischen Urteils und damit den Begriff der objektiven Erkenntnis, zunächst in Anlehnung an unsere Analysen der Geometrie und Mechanik vorzubereiten. Wir knüpfen an das bekannte Beispiel KANTs von der geraden Linie als der kürzesten unter allen zwei feste Punkte verbindenden Linien an. KANT bezeichnet es als ein synthetisches Urteil. Was kann dies heißen? Wird hier die Erzeugung eines geometrischen Gegenstandes vollzogen durch "Definition" und wird dann mittels der Axiome von diesem Gegenstand ein Sachverhalt ausgesprochen? Oder werden Momente für die bloße Darstellung zur Abhebung gebracht, die im Objekt der geraden Linie enthalten sind? Das wäre im Sinne KANTs ein analytisches Urteil, das außer dem gegebenen Gegenstand nur der Sätze der reinen Logik bedarft. Oder aber wird hier ein Sachverhalt aufgestellt, der neu ist in Bezug auf die geometrische Erkenntnis, der über das, was Axiome und mathematische Definition mit den Mitteln der reinen Logik leisten können, noch hinausgeht? GEORG HAMEL (23) hat die Frage nach all denjenigen Geometrien beantwortet, die einer gewissen Anzahl der HILBERTschen Axiome - es werden nicht gefordert das Parallelenaxiom in der gewöhnlichen Fassung und der erste Kongruenzsatz - und dem Axiom: "die gerade Strecke soll die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sein" genügen. Aus der Tatsache, daß es viele Geometrien gibt, die diesen Bedingungen genügen, folgt, daß diese nicht hinreichen, um eine bestimmte Geometrie in eindeutiger Weise festzulegen. Es können also durch diese Axiome die Elemente, Punkte, Gerade und Ebene nicht in dem Maße vollständig, wie etwa in der euklidischen Geometrie, bestimmt sein. Man kann eben bereits Geometrien aus Punkt, Gerade und Ebene aufbauen, ohne diese Gegenstände in ihren sämtlichen, nur irgendwie möglichen Beziehungen zueinander eindeutig festzulegen. Da nun das Axiom von der Geraden als der kürzesten Verbindungslinie zweier Punkte zu den übrigen in voller Unabhängigkeit von ihnen hinzutritt, so bedeutet es für denjenigen noch allgemeineren Typus von Geometrien, der diese übrigen Axiome der Aufzählung bei HAMEL besitzt, eine Erkenntnis in dem zuletzt gemeinten Sinn, einen Sachverhalt, der als völlig neuer zum ganzen System dieser "unvollständigen" Geometrien hinzutritt. So erscheint auch HAMEL unser Satz "als Fundamentalaxiom der Maßbestimmung sehr wohl denkbar, nachdem Gerade und Punkt anderweitig definiert sind". (24) Betrachten wir dagegen eine einzelne derjenigen Geometrien, nach denen HAMEL fragt, als gegeben, so daß also unser Axiom in bestimmter Weise als bereits erfüllt dem System der diese besondere Geometrie konstituierenden Axiome einverleibt ist, so wird aus unserem Satz innerhalb dieser Geometrie ein Urteil der zuzweit genannten Art, indem aufgrund der gegebenen Definition der Länge und mittels der Axiome sowie der Sätze der Logik nur noch einmal der bereits in den Axiomen erfüllte Sachverhalt in einer eigentümlichen Fassung wiederholt wird, worüber im nächsten Kapitel näheres gesagt wird. Wieder einen anderen Sachverhalt besagt jener Satz in der euklidischen Geometrie, wenn also die Axiome dieser Geometrie in Vollständigkeit gegeben angesehen werden. Dann kommt der Definition der Länge einer krummen Linie eine synthetische Funktion zu, die nicht in den Axiomen enthalten ist, aber andererseits auch nicht als neues Axiom zu den alten hinzutreten könnte, da jene bekanntlich vollständig sind. Wir haben dann den zuletzt erwähnten Fall vor uns.

Eine ähnliche Relativität der Erkenntnisfunktion des Urteils tritt uns nun entgegen, wenn wir das andere klassische Beispiel KANTs: "alle Körper sind schwer" an die Mechanik von HERTZ und NEWTON halten. Wir dürfen dabei von der Fassung in den Prolegomena: "einige Körper sind schwer" absehen, weil die Unbestimmtheit dieses Sachverhalts die Diskussion sehr erschweren würde. Es wäre nämlich nicht angängig, diesen Sachverhalt in das wissenschaftliche System der Mechanik, also einer Naturwissenschaft, hineinzubauen, weil damit die Ausnahmslosigkeit der Schwere gefordert werden müßte und daher das System all der Körper, von denen die Aussage der Schwere ausnahmslos gelten soll, durch eine genauere Bestimmung definiert sein müßte. Das aber würde verlangen, den ganzen, im Urteil ausgedrückten Sachverhalt beträchtlich umzugestalten, verlangt doch selbst die in der Vernunftkritik gegebene Fassung, wie wir sehen werden, bereits eine Wendung des Sachverhalts bei seiner Hineinstellung in die Mechanik von HERTZ und NEWTON.

Es ist damit ein Gesichtspunkt berührt worden, der bei diesem und überhaupt bei sehr vielen, in mehr oder weniger unmittelbarer Weise auf Erfahrung gegründeten Urteilen als ein bisher viel zu wenig beachtetes, neues Element in das ganze Problem eintritt und eine gänzliche Relativierung der Erkenntnis herbeizuführen scheint. Wir haben nämlich in unseren Beispielen bisher nur mit Begriffen operiert, die von vornherein einer Wissenschaft angehören. Jeder Begriff der Wissenschaft konstituiert sich in seiner Bedeutung kraft der Relationen, die ihn in den Zusammenhang des Systems hineinstellen. Hier aber tritt uns im Körper ein Begriff entgegen, der auch in der vorwissenschaftlichen Schicht der Erkenntnis eine Bedeutung hat, ein Begriff von mehr dinglicher Qualität. Aber diese Bedeutung ist nur aus anthropozentrischen Gesichtspunkten erwachsen, z. B. aus dem ökonomischen der Verständigung der Menschen untereinander über die äußeren Gegenstände. Sie hat daher nicht die Eindeutigkeit und Festigkeit und ganz besonders auch nicht den Geltungswert, die der Bedeutung eines wissenschaftlichen Begriffs zukommt. Es fehlt ihr die Relationsnatur, das Eingebautsein in ein festes System. Ob daher dem vorwissenschaftlichen Begriff "Körper" das Merkmal der Schwere zukommt oder nicht, läßt sich nicht entscheiden. Es kommt für den Einzelnen darauf an, ob er die Eigenschaften, die Gesichtsempfindungen ihm vermitteln, als die den Gegenstand aufbauenden ansehen will, oder diejenigen, die auf Tast- und Muskelempfindungen beruhen, oder schließlich beides zugleich. Im ersten Fall trägt sein Körperbegriff das Merkmal der Ausdehnung von vornherein in sich, im zweiten ist er geneigt, in der Schwere, die Druck oder Zug ausübt, das wesentlich bestimmende Moment zu sehen, oder schließlich im dritten Fall beide Eigenschaften als den Körper konstituierend aufzufassen. Ob einem Körper daher das Merkmal der Ausdehnung notwendig zukommt oder nicht, läßt sich ebenfalls nicht entscheiden im Sinne einer strengen Wissenschaft. Es kann zwar mit Recht behauptet werden, daß man "im allgemeinen" dem Körperbegriff das Merkmal der Ausdehnung zuschreibt, aber es läßt sich nicht mit zwingender Notwendigkeit einsehen. Die ganze Fragestellung hat unter der Voraussetzung einer streng wissenschaftlichen Lösung überhaupt keinen Sinn, weil eine solche objektive Lösung gar nicht erwartet werden kann. Es bleibt daher ein- für allemal der persönlichen Willkür überlassen, ob man unser Urteil, als vorwissenschaftliches aufgefaßt, als analytisch oder synthetisch ansehen will. Für den Einen bedeutet es eine Erkenntnis, für den anderen nicht, weil er es schon wußte, und er somit jenes Merkmal der Schwere darin mitdachte, wobei sich übrigens noch weitere subjektive Elemente herausschälen ließen. Auch der Einwand, daß die Menschen im allgemeinen an Körpern nur die Ausdehnung, nicht die Schwere mitdenken, läßt die Unterscheidung nicht der völligen Relativierung entgehen, weil man eben aus der anthropozentrischen Schicht, solange man bei vorwissenschaftlichen Begriffen stehen bleibt, gar nicht herauskommen kann.

Indessen wird der Sinn der ganzen Fragestellung sogleich ein berechtigter, wenn man unser Urteil in das wissenschaftliche, das ideale System hineinstellt. Dann läßt sich in der Tat die Unterscheidung, ob analytisch oder synthetisch, in objektiver Weise aufstellen, wie sich bald zeigen wird. Immerhin entstehen auch hier Schwierigkeiten über die Art, wie das Urteil in die wissenschaftliche Schicht überführt werden soll, wegen der Inkongruenz der wissenschaftlichen mit den vorwissenschaftlichen Begriffen. Das geht namentlich den Begriff der Schwere an. Es ist klar, daß der populäre Begriff des Schwerseins unmittelbar auf Druck- und Zugempfindungen "fundiert" ist. Mit solchen Begriffen aber hat die empfindungsfeindliche Physik auf ihrer ausgebildeten Stufe nichts zu tun (25). In Mechanik NEWTONs ist die Schwere nur ein Spezialfall der allgemeinen Massenanziehung. Da hierbei unter "Körper" ein System von "Massenpunkten" verstanden wird, so kommt diesem Gegensteand keine Ausdehnung zu in dem Sinne, als er keine kontinuierlich raumerfüllende Substanz ist. Auf der anderen Seite jedoch muß ihm wiederum insofern Ausdehnung zugeschrieben werden, als die von ihm ausgehenden Kraftwirkungen sich angenähert so verhalten, als ob sie von einer ein endliches Raumstück erfüllenden Substanz ausgehen (26). Wir merken mit dieser Äußerung über den Ausdehnungsbegrifff nur an, daß auch über ihn das Netz eines wissenschaftlichen Systems gebreitet werden muß, um ihn eindeutig verwenden zu können. Daß sich nun Massen gegenseitig anziehen, ist erst durch das Experiment an wirklichen Körpern festzustellen, unter Körper ein Massenpunktsystem verstanden. Da also bei NEWTON im Begriff des Körpers die gegenseitige Anziehung auf endliche Entfernungen nicht liegt, betrachtet ja doch die Mechanik NEWTONs vielfach auch Körper ohne diese Anziehung, so ergibt sich, daß KANT mit der erkenntnistheoretischen Auffassung seines Urteils recht hat, wenngleich seine eigene Begründung unzureichend ist. Zweifellos hat er sein Urteil im Sinn von NEWTONs Mechanik verstanden wissen wollen. Die die Synthesis leistende logische Funktion übernimmt dabei die wissenschaftliche Erfahrung.

Zum gleichen Ergebnis kommen wir für unser Urteil in der Mechanik von HERTZ, wenngleich Sinn und Sachverhalt, die zu einem Urteil gehören, modifiziert sind. Der Begriff des Körpers ist ungefähr derselbe wie bei NEWTON. Aber die Aussage, daß alle Massesysteme sich mit einer Kraft auf endliche Entfernungen hin anziehen, gibt in der Mechanik von HERTZ wegen des Fehlens des Kraftbegriffs zunächst keinen Sinn. Erst wenn man verborgene Masse adjungiert [verknüpft - wp] und dann den Einfluß dieser auf das gegebene Massesystem, das den Körper repräsentiert, sich als einen selbständigen, also losgelöst von den verborgenen Massen, vorstellt, kann man von einer Anziehung der Massen innerhalb der Mechanik von HERTZ reden. Diese Hinzufügung verborgener Massen, sowie ihre besondere, durch das Problem bedingte Konstellation, liegen aber nicht im Begriff des Körpers als eines sichtbaren Massensystems. Daher enthält auch für die HERTZsche Mechanik das kantische Beispiel eine neue Erkenntnis, die letztenendes durch die Erfahrung geleistet wird unter Zuhilfenahme der HERTZschen Axiome, die aber nicht mit den Mitteln der Logik oder denen einer mathematischen Definition sich aus jenen Axiomen folgern läßt. Obschon also das kantische Urteil für NEWTONsche Mechanik einen anderen Sachverhalt darstellt als für die von HERTZ, so ist der allgemeine Erkenntnischarakter des Urteils für beide Systeme der Mechanik derselbe.

Dieses Verhalten trifft aber keineswegs für alle Urteile aus der Mechanik zu; denn der Sachverhalt: "Besitzt ein Körper Beschleunigung, so existieren irgendwelche, seien es sichtbare, seien es verborgene Massen, die mit ihm gekoppelt sind", enthält für die HERTZsche Mechanik, wenn man also das System der HERTZschen Axiome als gegeben ansieht, keine neue Erkenntnis, sondern ist eine bloße Wiederholung eines der im Axiomensystem gesetzten Sachverhalte. Wohl aber bedeutet er für die Mechanik NEWTONs eine neue Erkenntnis, indem er keineswegs aus den NEWTONschen Axiomen, auch nicht bei der von MACH angegebenen Fassung (27), ableitbar ist. Das Vorhandensein der Beschleunigung gestattet zwar mit Hilfe der NEWTONschen Axiome den Schluß auf die Existenz von Kräften. Ob diese letzteren aber durch andere Massen, die gekoppelt sind mit den gegebenen, den Körper darstellender Massen, verursacht sind, darüber sagen diese Axiome nichts aus.


VI. Die objektive Erkenntnis in den
exakten Wissenschaften

So zweifellos die historischen Wurzeln des Begriffs der Erkenntnis in der Psychologie liegen, so wenig ist seine Bedeutung für die Wissenschaft durch Psychologie und Phänomenologie zu erschöpfen. Die anfängliche Untersuchung dieses Begriffs ging auf das Wie der Erkenntnis, auf das Wie des Erkennens, aber nicht auf das Was. Indem man die Art und Weise klarstellte, wie ein Erkenntnisinhalt vom Individuum gewonnen wurde, glaubte man, das Was der Erkenntnis damit ergründet zu haben. Dieser Anfang der Erkenntnistheorie mußte psychologisch sein, weil der ganze Begriff der Erkenntnis sich zunächst am unmittelbar Gegebenen zu orientieren hatte und das waren die im Bewußtsein erlebten Akte des Erkennens. Aber darauf konnten die englischen Empiristen nur eine Theorie des subjektiven Erkennens, nicht aber der objektiven Erkenntnis, aufbauen. Allerdings, so wenig sich die Theorie der erkannten Gegenstände auf jene Beschreibung der Vorgänge des Erkennens gründen kann, so wenig kommt sie ohne solche Beschreibungen aus. Denn selbst der Erkenntnis innerhalb der reinen Logik müssen die Gegenstände irgendwie gegeben sein. Es besteht der Gegenstand "Wissenschaft der reinen Logik" zwar nicht bloß, insofern diese Wissenschaft dargestellt ist, - denn es "gibt" das ideale System der Logik ebenso wie die Zahl Π und doch sind beide immer nur angenähert realisierbar - aber alle tatsächlich durchgeführte Begründung innerhalb dieser Wissenschaft ist praktisch nur durch die Darstellung der Logik möglich. Gäbe es keine Darstellung der Logik, so gäbe es die Logik nur als intendierten Gegenstand, dem die Objektivität fehlt, oder bestenfalls als logische Forderung, die aber inhaltlich keine nähere Bestimmung zuläßt. Es wäre nur der "leere Begriff" der Logik vorhanden, dem idealen System der Logik würde dann die inhaltliche Gegenständlichkeit fehlen. So wenig sich daher der Begriff des idealen Systems von seiner unvollkommenen Darstellung loslösen läßt, so wenig kann der logische Erkenntnisbegriff den psychologischen und phänomenologischen entbehren, ja er erfährt durch die Gegenüberstellung dieser subjektiven Erkenntnisbegriffe erst seine scharfe Beleuchtung. Es ist sicher, daß es bestehende Sachverhalte gibt, die noch nicht erkannt sind; aber es ist ebenso sicher, daß jeder besondere derartige Sachverhalt erst dann Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse werden kann, wenn er erkannt ist. Denn aus der bloßen Existenz bestehender Sachverhalte, die nicht erkannt sind, kann nicht das Bestehen eines einzelnen dieser Sachverhalte erschlossen werden. Dazu bedarf es eben eines wissenschaftlichen Verfahrens, das an die gegebene Wissenschaft anknüpfen muß. Insofern die gegebene Wissenschaft in ihrer Erscheinung nach einem bestimmten Verfahren gleichsam gereinigt werden muß, und sich die Erkenntnis an einer solchen verdeutlichten Darstellung vollziehen soll, wie das erste Kapitel anführte, stellt sich neben den logischen der phänomenologische Erkenntnisbegriff. Diese eigentümliche Verflechtung des logischen, oder wie wir lieber sagen, des objektiven Erkenntnisbegriffs, mit den subjektiven Erkenntnisbegriffen, bringt es mit sich, daß an ihm eine Reihe wesentlicher Züge, die dem subjektiven angehören, sich wieder erkennen lasen. Freilich haben sie ihre Gestalt wesentlich geändert.

Immer werden Sachverhalte oder Gegenstände erkannt. Aber beim psychologischen und phänomenologischen Erkenntnisbegriff werden diese intendiert, gleichgültig, ob sie bestehen oder nicht bestehen, gleichgültig, ob der Wunsch vorhanden ist oder nicht, nur bestehende Sachverhalte zu erkennen, so daß häufig Sachverhalte als bestehend erkannt werden, die es nicht sind. Daher bedarf der Begriff des idealen Systems, um nicht leer, also ohne Objektivität, zu sein, der Voraussetzung, daß es praktisch möglich sein muß, nicht nur wahre Sachverhalte zu erkennen, sondern sie auch als wahr zu erkennen, d. h. es muß auch psychologische und phänomenologische Kriterien geben, die die Wahrheit eines Sachverhaltes als wahrscheinlich erkennen lasen. Hierher gehören die verschiedenen Evidenzbegriffe. Das ist aber natürlich keine das ideelle System in seiner Geltung, sondern nur in seiner Erscheinung begründende Voraussetzung.

Die eigentümliche Konstanz, die im Wahrheitsbegriff liegt, fordert also den subjektiven wie den objektiven Erkenntnisbegriff. Umgekehrt aber verlangt auch der Begriff der "Entfaltung", der "Ausbreitung" der Wahrheit, der Begriff der "unendlichen Aufgabe" der Wissenschaft, der eine zweite wesentliche Seite des Wahrheitsgedankens zum Ausdruck bringt, in gleicher Weise den objektiven wie den subjektiven Erkenntnisbegriff. Der objektive Erkenntnisbegriff wendet sich zwar an bestehende Sachverhalte und Gegenstände, denn objektive Erkenntnis ist Erkenntnis der ewigen Wahrheit, der Wahrheiten im idealen System der Wissenschaften. Indem aber der objektive Gehalt der Wissenschaft einem ins Unendliche fortgehenden Prozeß der Weiterbildung unterworfen ist, weil ihr System eine unendliche Aufgabe darstellt, gleichgültig, ob sie von Menschen in Angriff angenommmen wird oder ncht, treten oder sollen der Idee nach zumindest zu den erkannten Wahrheiten neue hinzutreten, neue, d. h. aber noch nicht erkannte. So sicher also diese neuen Wahrheiten einen objektiven, von allem Erkennen unabhängigen Gehalt haben, so kommt ihnen andererseits doch auch wieder eine bestimmte Beziehung auf die Erscheinung der Wissenschaft zu. Denn Erkenntnis kann es nur geben, wenn es sowohl noch nicht erkannte also auch bereits erkannte Wahrheiten gibt. Neu sind daher diese Wahrheiten zunächst einmal für das Individuum und zweitens für die empirische Darstellung, den tatsächlichen augenblicklichen Bestand der Wissenschaft. In letzterem Fall greifen in den Begriff der Neuheit bzw. der Erkenntnis - denn wir sehen die zwischen beiden Begriffen obwaltende Wechselbeziehung - bereits objektivierende, intersubjektive Funktionen ein. Immerhin liegen beide Neuheitsbegriffe in der subjektiven Schicht. Denn eine neue Erkenntnis kann für die Menschheit auch ein System der Logik sein, das von der bisherigen Darstellung wesentlich abweicht, und doch gibt es nur ein ein einziges System des Wahrheitsbegriffes, eben das ideale System der Logik. Also sind damit die "alten" Wahrheiten nicht verworfen worden, sondern es sind "dieselben", aber in neuer Darstellung. Das objektivierende Moment an dieser intersubjektiven Erkenntnis liegt also darin, daß sie neu in Bezug auf den tatsächlichen Bestand der Wissenschaft ist oder zumindest sein soll. Die Idee der Wahrheit fordert daher, wie wir jetzt sehen, und wir ergänzen damit unsere Ausführungen am Ende des zweiten Kapitels, sowohl nach der Seite ihrer Unveränderlichkeit wie nach der ihres Fortschreitens, ihre Erscheinung, sei es im Erkennen der Sachverhalte, sei es in deren Darstellung in der Wissenschaft.

Erst nachdem diese subjektiven Erkenntnisbegriffe nicht nur herausgelöst, sondern auch in ihrer Verschränkung mit dem objektiven Erkenntnisbegriff aufgezeigt sind, können wir uns der Analyse des letzteren zuwenden. Indessen bedarf es noch der Rechtfertigung des bereits eingeführten Begriffs der Neuheit von bloßen Gegenständen. Wir behaupten, daß es eine Erkenntnis im objektiven Sinn nicht bloß von Sachverhalten, sondern auch von Gegenständen, z. B. Kreis, Körper, Blume usw. gibt. Wir haben oben bereits nachgewiesen, daß der Gegenstand "Kreis" nicht aus den Axiomen der Logik und Mathematik allein erkannt werden kann, daß er vielmehr durch einen besonderen Prozeß gesetzter Gegenstand wird. Ganz besonders gilt diese Setzung natürliche von denjenigen Gegenständen, die in den Axiomen gesetzt werden. Da zeigt sich aufs Deutlichste, daß der Gegenstand, da er durch Relationen zwischen Gegenständen, durch Sachverhalte gesetzt wird, selbst auf einen Inbegriff von Sachverhalten gegründet ist, daß daher seiner Erkenntnis der Geltungscharakter, die Weise des Bestehens, beizugeben ist (28). So wenig zwar der Ausdruck "die weiße Blume" denselben objektiven Gehalt besitzt, wie der Satz "die Blume ist weiß", so sehr ist dennoch der Gegenstand "die weiße Blume" in seiner Objektivität gegründet auf diesen Sachverhalt. Vom Gegenstand "die weiße Blume" kann nur dann mit dem Anspruch auf Bestehen gesprochen werden, wenn die (wirkliche, gesehene, gedachte, gemeinte) Blume "wirklich" weiß ist. Im Urteil "die weiße Blume ist wohlriechend" liegen daher zwei Sachverhalte, der eine ist dargestellt in der sein Bestehen ausdrückenden Form, nämlich daß der Gegenstand der Aussage wohlriechend ist; der andere in der unausgedrückten Form, daß von einer Blume, die weiß ist, die Rede ist. Denn wäre die gemeinte Blume nicht weiß, so wäre der Gegenstand "die weiße Blume" in sich widersprüchlich und dieses Sichwidersprechen würde die Setzung eines Gegenstandes verhindern. Es käme dem intendtierten Gegenstand ebensowenig objektive Gegenständlichkeit zu wie einem runden Viereck. Von einem runden Viereck gilt ebensowenig die Aussage bzw. der Sachverhalt, daß es vier Seiten hat, wie von jener Blume die Aussage, daß sie wohlriechend ist. Daher wird in dem Urteil: "die weiße Blume ist weiß", auch ein Sachverhalt erkannt, aber eben doppelt erkannt, nämlich das Weißsein der Blume; einmal ist das Bestehen ausgedrückt, das andere Mal nicht. Es werden bei diesem vorwissenschaftlichen Urteil die Gegenstände "Blume" und "weiß" als gegeben, also bereits als erkannt vorausgesetzt, was bei Urteilen vorwissenschaftlichen Charakters, wie betont, stets besonders vermerkt werden muß. Es ist zwar richtig, daß Urteile so primitiver Gestalt, wie das oben betrachtete, selten in den Darstellungen der Wissenschaft vorkommen, aber hier kam es darauf an, an einem prägnanten Beispiel die uns beschäftigenden Gesetzmäßigkeiten aufzuweisen. Übrigens nehmen wir das schon einmal benutzte Beispiel vom Kreis wieder auf. Es werden in einer Darstellung der Geometrie auf der Peripherie eines Kreises zwei Punkte angenommen, die mit dem Mittelpunkt verbunden sind. Dann ist die sich ja keineswegs gerade auf diesen Kreis und diese Punkte beziehende Aussage, daß deren Abstände vom Mittelpunkt einander gleich sind, aus der Definition des Kreises mit den Mitteln der reinen Logik zu folgern; und dieses Urteil wird in vielen geometrischen Beweisen gebraucht und kommt tatsächlich immer wieder zur Darstellung. Es wird hier ein bereits gesetzter Sachverhalt "wiederholt". Dieser Sachverhalt ist aber gesetzt durch die Konstitution des Gegenstandes "Kreis". Es wird beim Vollzug eines solchen (analytischen) Urteils der Sachverhalt als bestehend bereits vorausgesetzt. Daher wird in einem objektiven Sinn kein neuer Sachverhalt geboten, vielmehr an einem bereits als bekannt vorausgesetzten das Moment des Bestehens noch einmal herausgehoben, subjektiv gewendet, ins Gedächtnis zurückgeruen, wenngleich der "neue" Sachverhalt gegenüber dem bereits bekannten insofern eine Modifikation erfahren hat, als er mittels der Gesetze der reinen Logik eine andere Wendung erhalten hat. Aber zu dieser Wendung bedarf es eben keiner anderen Erkenntnisquelle als der bereits benützten.

Was also mit einem analytischen Urteil geleistet wird, ist nur für die Darstellung, sei es für die Menschheit als wissenschaftliche Darstellung, sei es für mich, indem ich mich dieses Sachverhaltes von Neuem bemächtige, von Wert. Die analytischen Urteile entfalren ihre Bedeutung nur für die Erscheinung der Wissenschaft, sie stehen in einer phänomenologischen oder psychologischen Erkenntnisfunktion. Sie haben infolgedessen keinen Platz im Reich der objektiven Erkenntnis. Sie sind aber keineswegs etwa eine Beziehung bloß zwischen Begriffen, also Bedeutungen, so daß das analytische Urteil eine Aussage von der Subjektbedeutung, vom synthetischen des Subjektgegenstand enthält, wie vielfach behauptet worden ist (29). Die Gleichmäßigkeit der phänomenologischen Erkenntnisschichten schließt derartige Auffassungen völlig aus. Jede rein logische, also auf das Gegenständliche gerichtete Analyse darf daher nur synthetische Urteile betrachten. So hat z. B. HÖNIGSWALD (30) in einer nur den objektiven Erkenntnisbegriff behandelnden Studie über die logischen Grundlagen der Mathematik recht, wenn seine Darstellung keine analytischen Urteile kennt.

Daß synthetische Urteile in psychologischer und phänomenologischer Erkenntnisfunktion stehen können und stehen, beweisen die Beispiele des vorangegangenen Kapitels und unsere Ausführungen über den subjektiven Erkenntnisbegriff, die den objektiven als Korrelat forderten. Was ihre Bedeutung aber für die objektive Erkenntnis ist, haben wir jetzt zu zeigen und zwar in Beziehung zum objektiven Begriff der Wissenschaft, zum idealen System. Die Erörterungen des dritten, vierten und fünften Kapitels haben gezeigt, daß der Erkenntnis eines bestimmten Sachverhaltes im rein wissenschaftlichen Sinn die Bezogenheit auf ein System von Sachverhalten mit Notwendigkeit anhaftet. Die Frage, ob KANTs Beispiele objektive Erkenntnis darbieten, ließ sich nur durch den Rückgang auf das ideale System der Wissenschaft entscheiden, der diese Gegenstände angehören. Und je nach dem wirklich vorhandenen System, in das die Urteile hineingestellt wurden, bekamen sie einen verschiedenen Sinn, so daß die Darstellung des Sachverhaltes einmal auf ein synthetisches, das andere Mal auf ein analytisches Urteil hinwies. Diese Relativität in der Auffassung des Erkenntnischarakters eines Urteils ist nur durch seine Beziehung auf das ideale System zu beseitigen. Der mit dem axiomatischen Charakter untrennbar verbundene definitorische Zug einer Wissenschaft ist nichts anderes als der erscheinungsmäßige Ausdruck der Relationsnatur der wissenschaftlichen Bedeutungen. Durch die Definition wird die Bedeutung nicht nur in Bezug auf eine endliche Anzahl anderer Bedeutungen, sondern mittels dieser in Bezug zum ganzen System gesetzt. Die Erkenntnisfunktion erweist sich somit in einer strengen Wechselbeziehung zum idealen System stehend. Soll daher von einem Urteil in objektiver Weise entschieden werden, ob es synthetisch oder analytisch ist, so ist das ganze ideale System der betreffenden Wissenschaft, nicht irgendeine empirische Darstellung, in die der Sachverhalt hineingehört, gleichsam ausgebreitet zu denken in das System seiner Axiome und der übrigen Sachverhalte. Der vorgelegte Sachverhalt erhält dann eine ganz bestimmte "Stelle" darin. Diese Stelle fixiert seine Erkenntnisfunktion für das ideale System, also seine objektive Erkenntnisfunktion. Sie gibt an, welche Sachverhalte und Gegenstände ihm logisch vorausliegen, welche ihn also begründen; sie gibt an, an welchen Stellen die Erfahrung begründend eingreift und welches System von Folgerungen sich auf ihn stützt, oder sich auf ihn mitstützt. Bei einem vorgelegten Ausdruck ist es nicht immer möglich, diese Stelle eindeutig anzugeben, weil der Ausdruck einen mehrdeutigen Sinn hat, wie wir gesehen haben. Wir sprechen aber hier nicht von solchen Ausdrücken, sondern von einem durch irgendwelche Mittel eindeutig bestimmten Sachverhalte. Ist daher diese Fixierung geschehen, dann läßt sich durch den Rückgang auf die Stelle im idealen System entscheiden, ob der Sachverhalt "absolut neu" ist, also wenn z. B. ein Axiom, das von den übrigen bisher gesetzten unabhängig ist, hinzutritt, oder wenn auf eine Frage der empirischen Wissenschaft die Erfahrung eine bestimmte Antwort gegeben hat. Oder aber es läßt sich dann mit Eindeutigkeit feststellen, ob er nur den Neuigkeitsgrad der Definition in der Mathematik besitzt, indem nur ein neuer Gegenstand, kein Sachverhalt konstituiert wird; oder aber schließlich ob er nur bereits gesetzte Wahrheiten in ausdrücklich setzender Form wiederholt, bzw. in einer nur mit den Mitteln der reinen Logik veränderten Form wiedergibt. Es ist klar, daß in der Tat der letzte Fall in den objektiven Gehalt einer Wissenschaft nicht hineingehört. Das ideale System kennt eben vermöge seines logischen Charakters nicht die Wiederholung in irgendeiner Form, noch die Wiederholbarkeit eines Sachverhaltes. Jeder Sachverhalt besteht schlechthin und nicht einmal oder zweimal. Die Wiederholung ist ein Begriff der nur für die Darstellung von Belang ist. Es scheint, als ob damit freilich den analytischen Urteilen jede Erkenntnisfunktion abgesprochen wird. Allein das ideale System ist als ein vielverzweigtes System von Relationen anzusehen und die verschiedenen Ausläufer dieser Relationsketten müssen, soll die Darstellung übersichtlich sein, miteinander durch Relationen verknüpft werden. Diese Relationen wiederholen allerdings nur bereits durch das System gegebene Sachverhalte, aber indem sie zwischen diesen bereits bestehende Verbindungen in eine ausdrückliche Form versetzen, bilden sie Sachverhalte, die für die Darstellung als neue auftreten, aber auch nur für die Darstellung.

Objektive Erkenntnis ist daher entweder ein Gegenstand oder ein Sachverhalt, der auf folgende Weise zu konstruieren ist. Man stelle zuerst das ideale System der Wissenschaft auf, in das er hineingehört. Das heißt man stelle das notwendige und hinreichende System der Axiome auf, denke sich dieses bis zur Vollkommenheit geklärt (die phänomenologische Forderung an die Darstellung) und vereinfacht (die ökonomische Forderung an die Darstellung), so daß seine Darstellung zeitlichen Änderungen nicht mehr unterworfen gedacht zu werden braucht. Man denke sich auf diese Axiome aufgebaut das ganze System der betreffenden Wissenschaft in seiner Totalität, sei es mit Hilfe einer die Gegenstände gebenden Funktion definitorischer Methode wie in der Mathematik, sei es mittels einer solchen Funktion, wie sie die Erfahrung in der Wissenschaft ausfüllt, die die Gegenstände so gibt, daß ihre Konstitution durch eine Definition nicht erforderlich, ja, gar nicht zulässig ist. Dennoch fällt der Definition empirischer Gegenstände auch eine Funktion zu, aber nur eine darstellerische. Sie muß nämlich die Gegenstände für die unter den Bedingungen der reinen Bedeutungslehre stehende Darstellung soweit klären, daß deren Abgrenzung gegen andere Gegenstände mittels der Bedeutungen gesichert ist. Dies wird durch ein Verfahren erzielt, das der Definition in der Mathematik nur scheinbar ähnelt, indem es dem zu definierenden Gegenstand, der aber bereits in undeutlicher Form gegeben ist, ein System anderer Gegenstände gegenüberstellt, das daher nur das Hineinstellen des bereits durch die Wahrnehmung gegebenen Gegenstandes in das wissenschaftliche System erleichtern soll. Wenn eine Grasart definiert wird, muß sie bereits gegeben sein. Man beachte auch die hierher gehörige, oben wiedergegebene Definition der Masse bei HERTZ, die grundverschieden ist von der Definition eines mathematischen Gegenstandes. Diese Definitionen sind nur ein praktisch-ökonomischer Kunstgriff (31). Wir sagten, das ganze System der Wissenschaft müsse auf die Axiome aufgebaut gedacht werden. Wir denken uns also in der Idee die unendliche Aufgabe der Wissenschaft als total erfüllt, so daß es neue Wahrheiten oder Änderungen "alter" für uns nicht mehr gibt. Es gibt daher auch nur verschiedene Darstellungen der Mechanik, die NEWTONs oder die von HERTZ. Die Wahrheit in der Mechanik aber ist nur eine einzige. Wenn wir oben von einem Urteil zeigten, daß es analytsich oder synthetisch aufgefaßt werden kann, je nachdem wir es der einen oder anderen Darstellung der Geometrie oder Mechanik einreihen, so beweist dies mit Notwendigkeit, daß die Relativität der Unterscheidung zwischen analytischen Urteilen nur darum zum Verschwinden gebracht werden kann, und das muß möglich sein, so wahr es eine Erkenntnis der Wahrheit gibt, wenn wir als Wissenschaft nicht eine tatsächliche Darstellung, sondern ihr ideales System zugrunde legen. Die ganze Wissenschaft wird zu einem zeitlosen System idealisiert, aber keineswegs dadurch zu einer metaphysischen Realität erhoben. Davor schützt uns die immer wieder innegehaltene Fundierung auf die Erscheinung und den empirischen Zustand der Wissenschaft.

Wir denken uns, um jetzt die Konstruktion des objektiven Erkenntnisbegriffs fortzusetzen, in diesem System die (logische) Stelle des Gegenstandes bzw. Sachverhaltes aufgesucht und machen unmittelbar "vor" diese Stelle einen "Querschnitt" durch das ganze System, indem wir alles, was auf der den Axiomen "zugekehrten" Seite steht, als gegebene Wissenschaft, als bereits erkannte Sachverhalte ansehen. Ist dann der vorliegende Sachverhalt oder Gegenstand neu in Bezug auf diese so definierten "bereits erkannten" Sachverhalte, kommt er also nicht in demjenigen Teil des Systems, der die Axiome enthält, vor, dann repräsentiert er eine objektive Erkenntnis in Bezug auf den die Axiome enthaltenden Teil des idealen Systems. Objektiv ist sie, weil sie aller Beziehung auf subjektivierende Faktoren entbehrt. Denn die Schnittstelle steht nicht in unserem Belieben, sondern ist durch den Inhalt des vorgelegten Sachverhaltes eindeutig vorgeschrieben. Alles Zeitliche ist abgestreift, die Beziehung auf ein erfassendes Bewußtsein fehlt ebenfalls; die objektive Erkenntnis ist allein orientiert am Begriff der Wahrheit, ohne dabei den Charakter der Erkenntnis eingebüßt zu haben. Darin freilich liegt wiederum ihre notwendige Relativität; sie ist bezogen und erhält ihren Sinn nur vom idealen System. Diese Relativität aber macht in Wahrheit ihre Absolutheit aus. Damit ist die Unterscheidung analytisch-synthetisch zu einer objektiven geworden. Gleichzeitig aber hat ihre Verknüpfung mit dem idealen System gezeigt, daß sie eine unendliche Aufgabe ist; sie muß dies aber auch sein, weil eben die objektive Erkenntnis jedes vorliegenden Sachverhalts nie abgeschlossen zu denken ist. Es kommt hier wieder der Prozeßcharakter der Wahrheit zum Vorschein. Die synthetischen Sachverhalte gehören ins ideale System, die analytischen in seine Erscheinung, um die Funktion der Verdeutlichung ad hominem [Beweisführung auf die Person des Gegners bezogen - wp] zu erfüllen.

Die Hineinstellung eines Gegenstandes oder Sachverhaltes ins ideale System gestattet überhaupt erst, mit strenger Unbedingtheit festzustellen, ob einem Gegenstand ein Merkmal zugehört oder nicht, ob dieses Merkmal bereits erkannt ist oder nicht. Erst der "Schnitt" durch das ideale System trennt das als erkannt und bekannt Anzusehende von dem noch nicht Erkannten und daher Unbekannten, bezogenen auf den vorgelegten Sachverhalt.

Es ist klar, daß für den praktischen Forschungsbetrieb dieser Schnitt immer durch den augenblicklichen Stand der Forschung bestimmt ist. Darin spiegelt sich nur die Relativität ad hominem jedes praktischen Erkenntnisbegriffs. Der objektive Erkenntnisbegriff aber bestimmt sich stets durch den Schnitt, dessen Stelle der Sachverhalt selbst vorschreibt, und der überall durch das ideale System gelegt werden kann, weil alle Sachverhalte im idealen System objektive Erkenntnisse sind.

Da die analytischen Urteile im idealen System einer Wissenschaft keinen Platz finden, so könnte man sich zum Schluß verleiten lassen, daß sie den allgemeinen Bedingungen für den objektiven Gehalt der Wissenschaft gar nicht unterstellt sind; als ob sie nicht den Bedingungen der formalen Logik zu gehorchen hätten, sondern nur den im ersten Kapitel fixierten Bedingen, denen alle Erscheinung der Wissenschaft unterstellt ist. Es sei demgegenüber nochmals betont, daß analytische Urteile ebenfalls bestehende Sachverhalte meinen und daher den Bedingungen der Logik unterstehen. Es sind Urteile, die unter Anwendung der Gesetze der Logik Erkenntnisse einer besonderen Wissenschaft wiederholen. Wie aber steht es denn mit den Sachverhalten der Logik selber? Sind das dann nicht alle analytische Urteile? Sie wenden doch nur die Gesetze der Logik an, indem sie sich nur auf diese gründen. Allein zwar unterstehen die Sachverhate der Logik den logischen Bedingungen, aber das allein wäre nicht hinreichend, um sie zu begründen. Die hiervon völlig verschiedene Begründungsfunktion wird von den Axiomen der Logik geleistet. Die Sachverhalte der Logik wiederholen nicht die in den Axiomen niedergelegten Erkenntnisse, sondern sind diese Erkenntnisse selber, oder solche, die nach einem definitorischen Verfahren aus ihnen erzeugt sind, so daß sie in der Tat objektive Erkenntnisse, synthetische Urteile sind.


Schlußbemerkung

Wir geben in kurzer Andeutung einige Bemerkungen über Fragen, die mit unserer Problemstellung auf das Engste zusammenhängen, aber den Rahmen der Darstellung vollständig sprengen würden, wollten wir ihre systematische Beantwortung versuchen.

Zuerst eine historische Bemerkung. Die Bestimmung des Begriffs der objektiven Erkenntnis hat den Wahrheitsbegriff zur Voraussetzung. Die Entfaltung dieses Begriffs ist, wie die historische Entwicklung gezeigt hat, so innig verflochten gewesen mit seiner Erscheinung, daß es erst in allerneuester Zeit gelungen ist, seinen Gegenstand in einer objektiven Fassung, wenn auch nicht ausführlich darzustellen, so doch zu bestimmen. Die Logik ist fast immer von psychologischen und phänomenologischen Gesichtspunkten durchwirkt gewesen; und das gilt heute noch namentlich für alle Problem der logischen Methodenlehre, für alle diejenigen Fragen, die die besondere Form der Einzelwissenschaft betreffen. Hierin haben erst die "Logischen Untersuchungen" HUSSERls einen Wandel geschaffen. Die in diesem Werk bewirkte Herauslösung des Logischen nach seinem objektiven Gehalt aus der Verflechtung mit anthropozentrischen Faktoren jeglicher Art gestattet erst, den objektiven Erkenntnisbegriff zur Abgrenzung gegen die subjektiven Erkenntnisbegriffe zu bringen.

Zweitens eine Bemerkung über die Grenzen, innerhalb deren unsere Ergebnisse Geltung beanspruchen. Wir haben uns in unserer Darstellung auf die exakten Wissenschaften beschränkt und den inneren Grund hierfür eigentlich schon am Ende des zweiten Kapitels angeführt. Immer sind wir von der tatsächlich vorhandenen Darstellung der Wissenschaft ausgegangen, um von da aus unter Zuhilfenahme der Sätze der Logik den Begriff des idealen Systems zu bestimmen. Weil nun die tatsächlichen Darstellungen der Mathematik und der exakten Naturwissenschaften unserem Begriff des idealen Systems am Nächsten kamen, konnten wir stets diesen Begriff unter gewissen Vorsichtsmaßregeln mit einem speziellen Inhalt erfüllen und uns so von metaphysischer Spekulation fernhalten. Es fragt sich nun, inwieweit unsere Aufstellungen sich an dem anderen großen Wissenschaftsgebiet, den Kulturwissenschaften (Geisteswissenschaften), bewähren. Es ist sicher, daß in Bezug auf diese Wissenschaften nur der allgemeine Charakter unseres objektiven Erkenntnisbegriffes bestehen bleiben kann. Nicht Geltung können erlangen diejenigen Forderungen, die nur auf die Relationsnatur des Begriffs aufgebaut sind. Zwar haben die Geschichtswissenschaften zweifellos einen systematischen Charakter, der zum Begriff eines idealen Systems hindrängt, aber dieses systematische Moment erschöpft sich keineswegs in der Relationsnatur. Der historische Begriff hat eine wesentlich andere Stellung zur Wirklichkeit als der mathematisch-naturwissenschaftliche. Wir können und wollen auf diese Probleme umso weniger eingehen, als der logische Charakter der geschichtlichen Begriffe unvergleichlich viel weniger geklärt ist, als der der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, so daß der Begriff des idealen Systems der Kulturwissenschaften nicht nur ein unklarer, sondern fast immer noch ein in unserem Sinn leerer zu nennen ist.
LITERATUR - Reinhard Kynast, Objektive Erkenntnis in den exakten Wissenschaften,Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 163, Leipzig 1917
    Anmerkungen
    23) GEORG HAMEL, Über die Geometrien, in denen die Geraden die kürzesten sind [Dissertation] (ebenso HAMEL in "Mathematische Annalen", Bd. 57.
    24) HAMEL, a. a. O. Dissertation, Seite 7.
    25) vgl. MAX PLANCK, Die Einheit des physikalischen Weltbildes, Leipzig 1909.
    26) Wenn die Potentialtheorie beweist, daß z. B. die von einer endlichen Vollkugel ausgehenden Massenanziehung sich so verhält, als ob die ganze Masse in einem Punkt, dem Kugelmittelpunkt, konzentriert sei, so bildet dies keinen Gegensatz zu unserer Behauptung, vielmehr ist es eine Bestätigung, indem gerade hier der Körper als kontinuierlich erfüllt angesehen wird, wie die Anwendung der Integration beweist.
    27) ERNST MACH, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 7. Auflage, Leipzig 1912, Seite 241.
    28) Daß die Phänomenologie auch Gegenstände kennt, die durch nichtsetzende Akte erfaßt werden (HUSSERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Seite 222), die also nicht als objektive Gegenstände gemeint sind, hat mit unseren logischen Betrachtungen wenig zu tun.
    29) Das Sachverhaltsmoment betont G. SÖHNGEN, Über analytische und synthetische Urteile [Dissertation], München 1915, wo ausführliche Literaturangaben zu finden sind.
    30) RICHARD HÖNIGSWALD, Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik, Seite 63.
    31) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 301