ra-2tb-2 System der WerteGrundzüge einer neuen Wertlehre    
 
ROBERT REININGER
Allgemeine Wertphilosophie
[4/4]
"Wertaussagen müßten, um das Erlebnis richtig wiederzugeben, wie alle elementaren Erlebnisaussagen strenggenommen stets in der Ichform abgegeben werden, denn alle Gefühle und ganz besonders Wertgefühle sind zugleich immer Weisen des Icherlebens."

"Im theoretischen Urteil unterliegen wir oft einer Art natürlicher Täuschung, was den Gegenstand der Beurteilung betrifft. Auch dort glauben wir unmittelbar Sachverhalte zu beurteilen, während die Urteilsentscheidung tatsächlich immer nur zwischen  Aussagen über  Sachverhalte getroffen wird."

"Theoretische Ideen sind andauernde intellektuelle Antriebe, die, in reflektiertes Bewußtsein erhoben, zu Motiven werden, die unseren Erkenntniswillen nach bestimmter Richtung hin in Bewegung setzen, die uns verpflichten, Wahrheit um ihrer selbst willen zu suchen oder Einheit in das Ganze unserer Erkenntnisse zu bringen."

"Jedem werden teils durch die Natur, teils durch das Gemeinschaftsleben gewisse Wertungen geradezu aufgezwungen oder durch die Erziehung von Kindheit an mit dem Nachdruck der Selbstverständlichkeit oder umgeben von einem Nimbus der Heiligkeit so nachdrücklich eingeprägt, daß sich niemand diesen Eindrücken ganz zu entziehen vermag. Weder dem Primitiven noch dem Kulturmenschen ist es daher möglich, ganz ursprünglich von sich aus zu werten. Und auch derjenige, der sich als Wertschöpfer und Umpräger der Werte fühlt, ist nicht wirklich imstande, vorerst eine tabula rasa seines Wertbewußtseins wieder herzustellen."

"Werterkenntnis ist im Grunde immer eine Selbsterkenntnis des Wertenden."

Die Wirklichkeitsgrundlage
des Wertbewußtseins


Drittes Kapitel
Wertprobleme

§ 12. Wertung und Wert

1.

Bisher war nur von  Wertungen  die Rede, nicht von  Werten.  Wertungen sind subjektive Erlebnisse, wie sie die innere Erfahrung einem jeden unaufhörlich darbietet. Mit dem Ausdruck "Wert" ist aber immer etwas irgendwie Objektives gemeint, das nicht in gleich unmittelbarer Weise gegeben ist wie das Wertungserlebnis, sondern von diesem intentional gemeint wird. Werte sind Gegenstände des Wertens, von denen gemeinhin vorausgesetzt wird, daß sie unabhängig davon bestehen, ob sie von einem individuellen Wertbewußtsein in ihrer Eigentümlichkeit  als  Werte tatsächlich erfaßt und verstanden werden. Dieser Wertbegriff spielt nicht nur in der Philosophie eine gewichtige Rolle, es ist auch der natürlichen Auffassung nach so, daß wir von Werten nicht nur reden, sondern auch an sie glauben, von ihrer Geltung überzeugt sind und uns in unseren Wertaussagen und Werturteilen an sie gebunden halten. Beides, der reflektierte und der unreflektierte Glaube an objektiv bestehende Werte, bedeutet aber für die Wertphilosophie zunächst doch nur eine Tatsache, die sie als solche zwar anzuerkennen hat, die sie aber nicht verpflichtet, auch ihrerseits in letzter Entscheidung jene Überzeugungen mitzumachen. Wohl aber wird sie damit vor die Aufgabe gestellt, zum Begriff "Wert" und allem, was mit ihm zusammenhängt, auch selbst Stellung zu nehmen. Dazu bedarf es vor allem einer logischen Klärung jenes Begriffes und einer Besinnung darauf, wie wir überhaupt dazu kommen, von Werten zu sprechen, wo uns doch nur das Wertungserlebnis unmittelbar gewiß ist. Erst aufgrund dessen kann die Frage in Angriff genommen werden, wie es sich mit der Objektivität der Werte eigentlich verhält.

Alles Emotionale ist an Vorstellungsinhalte gebunden. So, wie es kein Begehren ohne Zielvorstellung gibt, so gibt es auch keine Liebe und keinen Haß ohne Gegenstand und ebenso auch keine Wertung ohne Wertgehaltenes, also ohne Objekt, auf das sie sich bezieht. Gewiß kann es auch so etwas wie Liebe und Haß als reine Gefühlszustände geben, die ihr Objekt gewissermaßen erst suchen und ebenso kannauch eine jedem bestimmten Wertungsanlaß vorausgehende Neigung vorhanden sein, positiv oder negativ zu werten, die Temperamentssache ist und einen stimmungsmäßigen Optimismus oder Pessimismus zu begründen pflegt. Insofern sprechen wir aber doch nicht von wirlichen Wertungserlebnissen, sondern von Gefühlsweisen und Wertungsdispositionen, die allerdings auf tatsächliche Wertungen im Einzelfall von Bestimmendem Einfluß sein können. Konkrete Wertungen selbst sind aber immer Gefühlsreaktionen auf irgendwelche Vorkommnisse. Eine Wertung bedarf so zu ihrem Zustandekommen eines objektiven Anlasses, der sie herausfordert und einer Gefühlswirkung, die dieser Anlaß auslöst. Jede Wertung hat so eine subjektive und eine objektive Seite: sie setzt ein  Subjekt  voraus, das wertet und ein  Objekt,  das gewertet wird.

Im Wertgefühl treten Subjekt und Objekt des Wertens noch nicht deutlich auseinander und einander gegenüber. Das Wertgefühl heftet sich an einen bestimmten Vorstellungsinhalt und verschmilzt mit ihm zu einer Erlebniseinheit, in ihn sich gewissermaßen einsenkend. Auch in der Umformung der Wertgefühle zu Wertaussagen tritt jene Entgegensetzung nur ausnahmsweise in Erscheinung und zwar deshalb, weil Aussagen in der Regel sprachlich unvollständig geformt werden. Wertaussagen müßten, um das Erlebnis richtig wiederzugeben, wie alle elementaren Erlebnisaussagen streng genommen stets in der Ichform abgegeben werden, denn alle Gefühle und ganz besonders Wertgefühle sind zugleich immer Weisen des Icherlebens. Tatsächlich werden aber auch Wertaussagen zumeist in der Ist- oder Sachform ausgesprochen. Statt zu sagen: "Mir ist etwas wert", pflegt man zu sagen: "Etwas ist wertvoll." Es ist hier nicht anders, als bei elementaren Wahrnehmungsaussagen (KANTs Wahrnehmungsurteilen). An die Stelle der Aussage: "Ich empfinde den Wermut als bitter" tritt (um ein kantisches Beispiel zu gebrauchen) die andere: "Der Wermut ist bitter." Die unaufhebbare Ichbezogenheit aller Erlebnistatsachen pflegt eben als etwas immer Wiederkehrendes und darum Selbstverständliches nicht betont und meist erst aus Anlaß philosophischer Besinnung ausdrücklich hervorgehoben zu werden. Eher schon tritt im Werturteil, das wie jedes Urteil von einem Gefühl der Spontaneität getragen und daher stärker ichbetont ist, eine Distanzierung des Wertungssubjekts von seinem Wertungsobjekt hervor. Aber auch hier unterliegen wir wie im theoretischen Urteil einer Art natürlicher Täuschung, was den Gegenstand der Beurteilung betrifft. Auch dort glauben wir unmittelbar Sachverhalte zu beurteilen, während die Urteilsentscheidung tatsächlich immer nur zwischen  Aussagen über  Sachverhalte getroffen wird. Die Ursache dieser Verschiebung ist der Umstand, daß unser Interesse und darum auch unsere Aufmerksamkeit fast immer auf den Inhalt der vorliegenden Aussagemöglichkeiten gerichtet ist, nicht auf die Aussagefunktion als solche. Und auch bei den Werturteilen ist es nicht anders. Auch hier haben wir tatsächlich nur zwischen Wertaussagen eine Wahl zu treffen, eine von ihnen zu bejahen und die ihr widersprechenden zu verneinen. Was wir aber zu beurteilen  meinen,  sind nicht Wertaussagen, sondern Werte, also Eigenschaften von Dingen, Personen, Handlungsweisen, Gesinnungen oder was auch immer sonst. Praktisch genommen ist eben der Sinn des Urteils unsere Orientierung über die Beschaffenheit irgendwelcher Dinge, sei es wie im theoretischen Urteil ihrem objektiven Sein nach, sei es wie im Werturteil ihrer subjektiven Bedeutung nach für uns. Diese psychologisch bedingte und im sprachlichen Ausdruck festgehaltene Verlegung des Akzentes auf das Wertungsobjekt ist einer der Anlässe nicht nur für die Verselbständigung des Wortes "Wert", sondern auch für die Entstehung der Ansicht, daß irgendwelchen Eigenschaften unabhängig von einem wertenden Subjekt ein Wertcharakter zukommt.


2.

Was meinen wir nun eigentlich, wenn wir von "Werten" sprechen? Vom Standpunkt des Wertbewußtseins aus gesehen sind Werte ganz allgemein das Wertgehaltene. Allerdings nicht alles und jedes, woran sich vorübergehend und vielleicht nur für den Augenblick ein Wertgefühl heftet, gilt deshalb dem Sprachgebrauch nach als Wert, sondern nur dasjenige, was andauernd oder wenigstens mit gewisser Beständigkeit positiv gewertet wird. Wenn wir nun fragen, worauf sich unsere Wertungen richten, so sind das nicht unmittelbar irgendwelche Dinge, sondern stets Eigenschaften, Beschaffenheiten, Funktionsweisen, also kurz und allgemein:  Qualitäten  von Dingen. Qualitäten, die positiv gewertet werden, heißen Werte; Qualitäten, die negativ gewertet werden, heißen Unwerte oder auch Gegenwerte. Werte sind daher keine Dinge, sondern etwas an Dingen. Nur mittelbar überstrahlt dieses Werthalten auch auf die Träger solcher Qualitäten. Dinge, die Träger von positiven Werten sind, nennt man  Güter;  Träger von negativen Werten heißen  Übel.  Seit man im Gegensatz zur Antike den Wert vom Wertträger zu unterscheiden gelernt hat, haben die Ausdrücke Gut und Übel, die in der Anwendung auf Personen und, außer der ökonomischen Sphäre, auf Lebewesen überhaupt zumindest ungewohnt klingen, in der Wertphilosophie an Bedeutung verloren und könnten auch ganz entbehrt werden. Der Umstand, daß Qualitäten unmittelbar, Dinge aber nur mittelbar, nämlich als Träger dieser Qualitäten bewertet werden, begünstigt die Loslösung der Werte von ihren Trägern und damit ihre Substanzialisierung. Das zeigt sich schon darin, daß manche Qualitäten wertbetont sind, gleichgültig an welchen Dingen sie vorkommen. Wir lieben und schätzen ja auch einen bestimmten Wohlgeruch als solchen, ob wir ihn an einer Blume oder an einer künstlichen Essenz antreffen. Daß wir ihn im ersten Fall noch anziehender finden, beruht auf dem "assoziativen Faktor" (FECHNER) im ästhetischen Wohlgefallen. Aber daß überhaupt künstliche Riechstoffe erzeugt werden, bestätigt doch die Unabhängigkeit gewerteter Qualitäten von ihren Trägern. Die Beziehung eines bestimmten Wertes zu einem bestimmten Ding oder einer bestimmten Art von Dingen ist daher für den Begriff "Wert" nicht wesentlich, sondern relativ zufällig und veränderlich. Es kann ja auch ein Ding in einer Hinsicht als Wertträger erscheinen, ohne daß wir es deshalb schlechthin ein Gut nennen möchten, weil jener Wert vielleicht durch stärker gefühlsbetonte Unwerte aufgeboben wird. Die Ansicht, daß Werte etwas für sich Bestehendes sind, gleichgültig, ob sie irgendwo verwirklicht sind oder nicht - und damit die Verdinglichung der Werte - haben darin eine ihrer psychologischen Wurzeln. Zunächst aber läßt sich "Wert" definieren als  wertgehaltene Qualität.  Das ist natürlich wieder keine echte Definition, weil sie das zu Definierende in die Definition mit aufnimmt. Immerhin setzt diese zweierlei fest: einmal, daß Werte Qualitäten, nicht Dinge sind; und dann, daß eine Qualität nicht durch sich selbst ein Wert ist, sondern nur in ihrer Relation zu einem wertenden Subjekt. Ohne Werthaltung kein Wert, das will jene Definition besagen.


13. Wertbegriffe und Wertideen 1.

Für den Begriff "Wert", der hier bestimmt werden soll, ist es von besonderer Bedeutung, daß es auch Werte zu geben scheint, die von vornherein nicht an Wertobjekte als deren Eigenschaften gebunden sind und deren Geltung davon ganz unabhängig ist, ob sie sich irgendwo verwirklicht finden oder nicht. Hören wir Worte wie Echtheit, Erhabenheit, Tapferkeit, Güte oder Unechtheit, Niedrigkeit, Feigheit, Bosheit, so rufen sie in gleichem, ja oft in stärkerem Maße bestimmte Wertgefühle wach, wie es der Anblick von Gegenständen vermöchte, die mit diesen Eigenschaften behaftet sind. Diese Art Werte können im Hinblick darauf, daß sie von ihrer konkreten Verwirklichung in einem Einzelfall unabhängig sind,  abstrakte Allgemeinwerte  heißen. Was sich von ihnen als reales Substrat im Bewußtsein vorfindet, ist zumeist nur das akustische oder optische Wortbild ihres Namens, vielleicht auch ihre bloß symbolische Vertretung durch die andeutungsweise Vorstellung eines entsprechenden Wertträgers. Natürlich ist es nicht der Name als solcher, der wirkt, sondern seine Bedeutung und sein begrifflicher Sinn, nur daß diese nur selten deutlich ins Bewußtsein treten. Es ist übrigens ja auch nicht anders bei theoretischen Begriffsnamen, deren wir uns im Denken mit genügender Sicherheit bedienen, ohne daß deren Definition uns gegenwärtig ist oder überhaupt zur Verfügung steht.

Es liegt nahe, diese abstrakten Allgemeinwerte selbst als  Wertbegriffe  aufzufassen. In der Tat spielen auch hier Begriffsbildungen eine Rolle, nur daß sie das eigentlich Gemeinte nicht erschöpfen. Wir kennen, wie PLATON im "Gastmahl" ausführt, viele schöne Dinge; von ihnen steigen wir auf zum Begriff der Schönheit, der nichts sinnlich Wahrnehmbares mehr ist und nach der Meinung der Philosophen zurückweist auf sein transzendentes Urbild, auf die "Idee" des Schönen, auf das Schöne selbst oder an sich. Es ist so möglich, durch eine Art Induktion den Allgemeinbegriff "Schönheit" zu bilden, wie denn Formal- und Gehaltsästhetik seit jeher mit mehr oder weniger Glück versucht haben, diesen Begriff zu definieren. Aber dieser Begriff "Schönheit", der nur zusammenfaßt und festhält, in welchen Fällen sich ästhetisches Wohlgefallen einstellt, ist nicht der  Wert  der "Schönheit". Begriffe sind starr und tot, Werte sind etwas Lebendiges, von Gefühlen Durchströmtes. Schönheit kann auch ein Begriff sein, aber als Begriff ist sie ein theoretisches Gebilde, eben der Begriff von etwas in bestimmter Weise Gewertetem, aber nicht selbst ein Wert. Auf dieser Verwechslung von Begriff und Wert beruth der merkwürdige Irrtum der Nominalisten seit HOBBES, die da meinten, die Normen der Moral gleich den Lehrsätzen der Mathematik logisch ableiten und beweisen zu können. Was sie ableiten konnten, waren aber bestenfalls immer nur Begriffe und Sätze, nicht moralische Werte, deren praktische Wirksamkeit als Normen des Verhaltens von ihrem logischen Ursprung ganz unabhängig ist.


2.

Sowenig die Allgemeinwerte bloße Begriffe sind, ebensowenig sind sie auch bloße Wertgefühle, die durch bestimmte Anlässe erregt werden oder sich nachträglich an gewisse Begriffsnamen knüpfen. Sie sind vielmehr als vorbestimmte Wertungsweisen oder Wertungsrichtungen zu charakterisieren, die besonderen Wertungen gewisser Art im logischen Sinne vorausgehen und ihre Möglichkeit erst bedingen. Würden wir, psychologisch gesprochen, nicht so veranlagt sein, daß wir gewisse Verhältnisse wohlgefällig finden, so würden wir Schönheit auch nicht an den Dingen suchen und entdecken. Jene Allgemeinwerte bilden so ein Apriori unseres Wertbewußtseins, wenn auch vielleicht nur ein individuelles und relatives Apriori, das wir als Maß und Norm an die Dinge heranbringen, ohne durch naturhafte Antriebe zu Wertungen nach solchen Richtungen hin veranlaßt oder genötigt zu sein. In Angleichung an den Begriff "Idee" im theoretischen Sinne kann auch von  Wertideen  gesprochen werden. Theoretische Ideen sind andauernde intellektuelle Antriebe, die, in reflektiertes Bewußtsein erhoben, zu Motiven werden, die unseren Erkenntniswillen nach bestimmter Richtung hin in Bewegung setzen, die uns verpflichten, Wahrheit um ihrer selbst willen zu suchen oder Einheit in das Ganze unserer Erkenntnisse zu bringen. Im gleichen Sinne, nämlich im Sinne von richtunggebenden Funktionen, können auch jene Allgemeinwete als Ideen bezeichnet werden. Der Ausdruck "Idee" ist dabei hier wie dort nicht im platonischen Sinn verstanden, sondern, jeder mystischen Tendenz entkleidet, im kantischen Sinne als regulatives Leitprinzip, hier also als  dauernd richtunggebender Wertungsantrieb.  Die Idee der Schönheit, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist nicht selbst das Urschöne, sie ist nicht selbst schön, sondern ein dauernder Antrieb, Schönes zu suchen, zu schauen oder zu gestalten, was die negative Wertung alles Häßlichen in sich schließt und den Widerwillen gegen jede Verhäßlichung des Schönen. So wird es verständlich, daß wir Schönheit nicht bloß da und dort finden, sondern daß wir sie suchen, erstreben und ersehnen, daß wir uns freuen, wo sie uns entgegentritt und unter ihrem Mangel leiden. Von einem bloßen Wertbegriff unterscheidet sich die Wertidee durch ihren dynamischen Charakter, der als Antrieb und Lenkung unserer Wertungen unmittelbar erlebt wird. Von naturhaften Antrieben wirder unterscheidet sie sich wie alle Wertungsantriebe durch ihren hortativen [ermahnend, auffordernd - wp] Zug. Nicht alle Wertungen gehen natürlich auf Wertideen zurück, sondern nur solche höheren und höchsten Ragnes, so insbesondere auch alle ethischen Wertungen, die in naturhaften Antrieben keine Grundlage besitzen.

Mit den theoretischen Ideen teilen die Wertideen auch ihre inhaltliche Unbestimmtheit. Wir tragen nicht ein Bild vollkommener Schönheit in uns herum, sondern vermögen Schönes nur vorzustellen, wo wir es als Qualität von Dingen vorfinden. Wenn daher von Allgemeinwerten die Rede ist, so ist hier der Ausdruck "Wert" im Grunde nur als Wertungsbereitschaft zu verstehen, die als solche allerdings allen konkreten Einzelwertungen vorausgeht und ihnen eine bestimmte Richtung weist. Allen, auch den theoretischen Ideen aber ist es eigen, daß sie zugleich als  Ideale  wirken, als in das Unendliche gerückte Strebungsziele, die nach Maßgabe der Möglichkeit ihrer Verwirklichung verlangen. Mit den theoretischen Ideen teilen die Wertideen auch den Zug zur Unbedingtheit: keine ihrer konkreten Verwirklichungen vermag ihnen daher jemans Genüge zu tun. Gerade die gegenständliche Unbestimmtheit der Wertideen bedingt es, daß sie nicht an ein vorgegebenes Maß gebunden sind, sondern daß sie über jede jemals erreichte Verwirklichung hinausweisen und nach einer Vollendung verlangen, die sich in der vorgefundenen Beschaffenheit von Dingen niemals ganz erfüllt. Kein Ding ist, wie auch PLATO in seinem Sinne lehrte, so schön, wie es die Idee der Schönheit verlangt. Das Schöne als Qualität von Dingen ist immer nur ein Sonderfall, gewissermaßen ein Beispiel, in dem die Idee der Schönheit ihren konkreten, aber niemals völlig zureichenden Ausdruck findet. Wenn die Gehaltsästhetik von einem Durchscheinen der Idee durch die Erscheinung spricht, so ist damit nichts anderes gemeint, als daß eine bestimmte Erscheinung eine jener Wertideen in besonders augenfälliger und eindrucksvoller Weise verkörpert. In den Wertideen selbst steht uns das, was eigentlich Gegenstand des Wertens ist, zwar in unerreichbarer Ferne und in ganz unbestimmter Gestalt, aber doch reiner und vollkommener vor unserem geistigen Auge als in irgendeinem Einzelfall seiner Verwirklichung. So erklärt es sich, daß sich an die Allgemeinwerte ein stärkeres Werterleben zu knüpfen vermag, als an tatsächlich vorgefundene Wertqualitäten. Nur diese letzteren aber können Werte im eigentlichen Sinn des Wortes heißen. Nur gewisse Richtungen ihres Werthaltens sind durch die Wertideen vorgezeichnet. Auch damit verlassen wir nicht den Umkreis des Wertbewußtseins, denn auch die Wertideen wirken nur innerhalb des Wertbewußtseins und sind nur in ihm feststellbar. Der Ausdruck "Idee" besagt nur, daß dieses Wertbewußtsein ein seiner Natur nach  gerichtetes  ist.


§ 14. Objektive Werte

1.

Alles Werten beruth auf einem Beziehungserlebnis oder, abstrakt ausgedrückt, auf einer Relation zwischen wertendem Subjekt und gewertetem Objekt. Daraus kann sich nun die Frage ergeben, welchen Anteil Subjekt und Objekt an unserem Werterleben besitzen: ob die subjektive Wertung das Wertschöpferische ist oder ob Werte auch außerhalb der Relation zu einem wertenden Subjekt Bestand haben und ihrerseits dessen Wertungen zu bestimmen vermögen. Das letztere wird nicht selten behauptet und bedarf einer Prüfung auf seine Berechtigung, zumal es auch der natürlichen Auffassung zu entsprechen scheint. In Analogie zur kantischen Frage, ob sich unsere Begriffe nach den Dingen richten oder die Dinge nach unseren Begriffen, läßt sich so fragen:  Sind unsere Wertungen durch objektiv bestehende Werte bedingt oder umgekehrt die Werte durch unsere Wertungen?  Darüber hinaus geht dann noch die weitere Frage, ob auch unseren Wertideen an sich bestehende und an kein bestimmtes Objekt gebundene Allgemeinwerte als ihre Urbilder zugrunde liegen.


Von Wertungen als subjektiven Erlebnissen unterscheiden sich Werte, als wertgehaltene Qualitäten verstanden, schon ihrem Begriff nach durch ihre  Objektivität:  daß sie etwas an den Dingen sind und nicht bloß etwas "in uns". Wenn in diesem Sinne von Objektivität gesprochen wird, so bedeutet "objektiv" so viel wie transsubjektiv im Gegenverhältnis zum empirischen Ich des Selbstbewußtseins, nicht transzendent im Bezug auf die Erlebnistotalität überhaupt. Vom Standpunkt des natürlichen Realismus aus gelten insofern Wertqualitäten genauso als etwas objektiv Vorhandenes wie die Sinnesqualitäten. Diese Auffassung wird dadurch gestützt, daß unsere Wertgefühle in der Tat nicht durch alle beliebigen, sondern nur durch bestimmte Qualitäten erregt werden. Wertgefühle lassen sich ja nicht willkürlich hervorrufen, sondern machen sich bei bestimmten Anlässen von selbst geltend. Daher sind auch im Einzelfall unsere subjektiven Wertungen zweifellos abhängig von gewissen objektiven Beschaffenheiten der Dinge, durch die wir uns in unserem Werterleben daher auch determiniert fühlen. Und wie in der Ebene des Erkennens "Objektivität" nichts anderes bedeutet, wie eine als zwingend erlebte Gebundenheit des Urteils, in welchem Falle wir annehmen, daß dieses durch die Sachverhalte so bestimmt sei, so fällen wir auch um so sicherer ein Werturteil, je mehr wir uns dabei durch die Qualitäten der Dinge bestimmt fühlen und nicht etwa durch flüchtige Stimmungen. Aber ganz so ist es hier aber doch nicht wie im theoretischen Urteil. Denn während bei letzterem die Ausschaltung jeder emotionalen Beeinflussung als Grundvoraussetzung seiner Objektivität gilt, würde diese Ausschaltung dem Werturteil überhaupt seine Grundlage entziehen. Denn hier sind es gerade die stärksten, lebhaftesten und andauerndsten Wertgefühle, die zuletzt auch unser Urteil bestimmen. Denken wir uns die Gefühlsreaktion weg, so bleiben von den vermeintlich objektiven Wertqualitäten nur neutrale Sachverhalte zurück, die wohl Gegenstand eines theoretischen, nicht aber eines Werturteils zu sein vermöchten. So wie die Farbenempfindung zwar durch Lichtstöße von bestimmter Wellenlänge veranlaßt wird, diese aber farblose physikalische Vorgänge bleiben würden, ohne das sehende Auge, genau so ist es bei den Wertqualitäten. Unsere Wertgefühle werden zwar durch bestimmte Beschaffenheiten der Dinge erregt, aber diese Qualitäten wären keine  Werte,  wenn sie nicht jene Gefühlreaktion in uns auslösen würden. Welche Qualitäten aber überhaupt als Werte erlebt werden, hängt nicht von den Qualitäten als solchen ab, sondern von der Natur unseres Wertbewußtseins. Daher haben auch Werte nur solange Bestand, als sie von Wertgefühlen getragen werden und sie verblassen sofort, wenn das nicht mehr der Fall ist. Denkt man sich aus der Welt alle Wesen weg, die Wertgefühle zu erleben vermögen, so wäre es auch sinnlos, dann noch von Werten zu reden, wenngleich alle Qualitäten der Dinge - realistisch gesprochen - unverändert weiterbestünden. Die realistische Voraussetzung, daß die Existenz der Dinge und ihrer Beschaffenheiten unabhängig ist von ihrem Vorgestelltwerden, verführt dann allerdings leicht zu dem Glauben, daß einmal gewertete Qualitäten auch als Werte fortbestünden, ohne weiterhin als solche erlebt zu werden. Nur von fortbestehenden Wertungsmöglichkeiten und insofern von einem potentiellen Wertcharakter bestimmter Qualitäten dürfte aber die Rede sein, so wie der natürliche Realismus selbst nur die Auslegung des Glaubens an eine fortbestehende Wahrnehmungsmöglichkeit der Dinge ist. Eine "edle" Tat aber ist an und für sich, nämlich ohne Bezug auf einen Wertenden, weder edel noch unedel, sondern ein wertindifferenter Vorgang. Edel kann sie nur vom Standpunkt eines Wertenden aus heißen, dessen Wertbewußtsein von der Idee des sittlichen Wertes bestimmt und geleitet ist. Also kurz: erst durch das Werthalten  werden  Qualitäten zu Werten.


2.

Von einer Objektivität der Werte kann aber auch noch in einem anderen Sinn gesprochen werden, nämlich im Sinne der Gemeinsamkeit gewisser Wertungsweisen für alle Wertenden und einer dadurch bedingten  überindividuellen Geltung  gewisser Werte. Das gilt vor allem von den Vitalwerten, es gilt aber auch von vielen ökonomischen, sozialen, intellektuellen und moralischen Werten und ihren Unterwerten, wenigstens im formalen Sinn, daß bei aller inhaltlichen Verschiedenheit im einzelnen so gerichtete Wertungstendenzen Gemeinbesitz sehr vieler, wenn schon nicht aller Menschen sind. Es erklärt sich das ohne Schwierigkeit aus einer Gemeinsamkeit allgemein menschlicher Veranlagung und aus der Gleichartigkeit der Lebensbedingungen und der Schicksalsgemeinschaft großer Gruppen von Menschen. Aufgrund dessen bilden sich gewisse allgemein anerkannte oder zumindest widerspruchslos hingenommene Durchschnittswertungen heraus, deren Geflecht eine Art Normalwertbewußtsein darstellt, dessen Besonderheiten dann wieder für jede Epoche der Menschheitsgeschichte charakteristisch sind. Inwieweit eine solche Gemeinschaft auch den Wertgefühlen der Einzelnen nach besteht, ist schon deshalb nicht feststellbar, weil es niemals auszumachen ist, ob die gleichen, konventionell gebrauchten Namen auch gleiche Werterlebnisse decken. Hält man sich aber an die Wertaussagen, so besteht kein Zweifel, daß zu einer bestimmten Zeit und innerhalb einer bestimmten Kultur- und Volksgemeinschaft auch eine weitgehende Wertungsgemeinschaft vorhanden ist. Je weiter man den Kreis dieser Gemeinschaft zieht, desto geringer wird allerdings die Zahl und desto formaler der Inhalt jener Wertungen, von denen eine solche Gemeinschaft ausgesagt werden kann. Wenn man aber die innerhalb gewisser zeitlicher und räumlicher Grenzen allgemein in Ansehen stehenden Werte "objektiv" nennen will, so steht dem nichts im Wege. Denn in der Tat besitzen sie für den Einzelnen, der schon gewissermaßen in ein ganzes Wertsystem hineingeboren wird, den Charakter eines objektiv Vorgegebenen, das von ihm Anerkennung erheischt, ja sich zum Richter seiner eigenen Wertungen aufwirft. Jedem werden teils durch die Natur, teils durch das Gemeinschaftsleben gewisse Wertungen geradezu aufgezwungen oder durch die Erziehung von Kindheit an mit dem Nachdruck der Selbstverständlichkeit oder umgeben von einem Nimbus der Heiligkeit so nachdrücklich eingeprägt, daß sich niemand diesen Eindrücken ganz zu entziehen vermag. Weder dem Primitiven noch dem Kulturmenschen ist es daher möglich, ganz ursprünglich von sich aus zu werten. Und auch derjenige, der sich als Wertschöpfer und Umpräger der Werte fühlt, ist nicht wirklich imstande, vorerst eine tabula rasa [leeren Tisch - wp] seines Wertbewußtseins wieder herzustellen. Das ändert aber für den Einzelnen nichts an der grundsätzlichen Möglichkeit, auch den allerverbreitetsten Wertungen seine Zustimmung zu versagen. Für das erwachte Wertbewußtsein, das sich aus dem Dämmerzustand instinktiver und angewöhnter Wertgefühle zur freien Entscheidung im Werturteil erhebt, verlieren auch jene überindividuellen Wertungsweisen ihre Verbindlichkeit und ganz von selbst verlegt sich dann der Schwerpunkt aus den Werten doch wieder in den Wertenden.


§ 15. Werte an sich

1.

Etwas anderes ist es, wenn von einer  Allgemeingültigkeit  gewisser Werte in dem Sinne gesprochen wird, daß sie eine den Werten selbst innewohnende Eigenschaft sei, vermöge derer sie von jedem Wertenden Anerkennung fordern, in ihrer unangreifbaren Geltung aber davon unabhängig sind, ob sie diese Anerkennung finden oder nicht. Man pflegt dabei nicht an wertbehaftete Qualitäten zu denken, sondern an jene abstrakten Allgemeinwerte, wie sei in den Wertideen zum Ausdruck kommen. Diese Auffassung besagt, daß es ein zeitentrücktes Reich solcher Allgemeinwerte gibt, deren Geltung außerhalb jeder Relation zu einem wertenden Subjekt steht. Dieses Reich ansich geltender Werte wäre also jedem Wertbewußtsein  transzendent  und vergleichbar den "Dingen an sich". Man kann auch kurz sagen: der Begriff der Wertidee wird hier nicht im kantischen, sondern im platonischen Sinn gefaßt. Dem verführerischen Reiz des Platonismus wird sich auf diesem Gebiet auch derjenige nicht ganz entziehen können, der ihm aus kritischem Bedenken keinen Platz in einer wissenschaftlichen Werttheorie einzuräumen vermag. Und in der Tat fehlt es an solchen Bedenken nicht. Daß etwas "gilt" heißt, daß es fordert, anerkannt zu werden. Fordern und daher gelten kann aber doch nur etwas, das irgendwie real existiert. Ein Wirklichsein in diesem Sinne wird aber den Werten an sich ausdrücklich abgesprochen. Der Verlegenheitsausdruck "ideelle Existenz" kann darüber nicht hinwegtäuschen, daß hier dem menschlichen Denkvermögen Unmögliches zugemutet wird. Was nur ideell existiert, hat seinen Bestand eben nur als Gedachtes, aber nicht außerhalb allen Denkens. Auch PLATO konnte sich dem apriorischen Denkzwang nicht entziehen, seine Wertideen zu substantialisieren. Sie wurden ihm, mochte das auch seiner ursprünglichen Absicht nicht entsprechen, unter der Hand zu einer Art himmlischer Wesen; ja die höchste der Ideen, die Idee des Guten als Urquell aller positiven Werte, nimmt bei ihm immer mehr die Stlle einer persönlichen Gottheit an. Ein persönlicher Gott als Wertschöpfer und höchste Wertautorität ist immerhin ein möglicher, wenn auch nicht auf seine Wahrheit nachprüfbarer Gedanke.


2.

Die entscheidende Frage aber ist, ob uns überhaupt etwas zu der Annahme von Werten an sich zwingt, ja auch nur zu dieser Annahme berechtigt. Offenbar ist doch die einzige Erkenntnisgrundlage, die wir für sie allenfalls besitzen, die Tatsache unseres Wertbewußtseins. Ohne dieses wüßten wir ja gar nicht, was Wert und Geltung von Werten überhaupt heißt. Auch hat noch niemand "Werte an sich" auszudenken vermocht, die nicht vorher schon Werte für ihn gewesen wären. Der Schluß von diesen auf jene wäre aber nur dann zwingend oder zumindest nahegelegt, wenn uns die hypothetische Annahme eines transzendenten Wertreiches - und um mehr als eine metaphysische Hypothese kann es sich ja keinesfalls handeln - die Tatsachen unseres Wertbewußtseins erklären vermöchte. Das ist aber in keiner Weise der Fall. Weder die Tatsache, daß wir Werterlebnisse haben, noch ihre Art und Beschaffenheit wird durch jene Annahme dem Verständnis irgendwie näher gebracht. Es ist hier nicht anders, wie auf theoretischem Gebiet. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf Ideen als ihre Urbilder zurückführen beantwortet nicht die Frage, warum alles so ist, wie es ist und nicht anders. Denn es erhebt sich dann von neuem dieselbe Frage, warum es gerade diese und keine anderen Seinsideen gibt. Faßt man aber die platonischen Ideen mit der Hochscholastik als Schöpfungsgedanken eines allmächtigen Gottes, so bleibt es für den menschlichen Verstand wieder genauso rätselhaft, warum Gott gerade diese und keine anderen Ideen verwirklicht hat. Ganz die gleiche Überlegung gilt auch in Hinsicht der Wertideen. Bei einem letzten Daß und Wie müssen wir hier wie dort stehen bleiben. Es bedeutet keinen Zuwachs an Einsicht, wenn man ein unlösbares Problem in metaphysisches Dunkel zurückschiebt.

Aber auch wenn es ein solches transzendentes Wertreich geben sollte - Fragen über Transzendentes sind ja weder positiv noch negativ zu beantworten -, so wäre es doch nicht auszudenken, welche Verbindung zwischen ihm und unserem Wertbewußtsein bestehen sollte. Wie wir es anfangen müßten, von uns aus in dieses Wertreich einzudringen, das doch seiner Definition nach ganz außerhalb unseres Wertbewußtseins liegen soll, bleibt unerfindlich. Die Rede von einem Teilhaben an ihm, von einem Eindringen oder Hineinragen unseres Wertbewußtseins in das Transzendente oder von einem inneren Vernehmen der von ihm ausgehenden Forderungen bewegt sich doch nur in Metaphern, die nichts besagen, wenn nicht angegeben werden kann, was sich hier tatsächlich vollzieht und wie es geschieht. Ebensowenig aber läßt sich sagen, wie jene Werte es ihrerseits anstellen sollten, sich uns offenbar zu machen. Man müßte hier geradezu an eine Art "transzendentaler Affektion" unseres Wertbewußtseins durch die Werte ansich denken, eine Annahme, die in noch viel größere Denkschwierigkeiten verwickeln würde als die kantische Affektion des äußeren Sinnes durch die Dinge ansich, weil ja den Werten keine dingliche Wirklichkeit zukommen soll. Es würde zudem jedes objektive Kennzeichen fehlen, das uns der Übereinstimmung unserer Wertungen mit jenen Werten gewiß machen könnte. Dieses Kennzeichen könnte doch niemals in etwas anderem bestehen, als in der subjektiven Evidenz, mit der wir ein Werturteil fällen. Diese innere Sicherheit und Gewißheit aber genügen sich selbst. Sie würden durch das Hinschielen auf ein tatsächlich nie in unser Blickfeld tretendes Wertreich keinen Zuwachs erfahren, sondern müßten im Gegenteil angekränkelt werden durch den Gedanken eines immer möglichen Fehlgreifens.

Wenn aber logisch genommen die subjektive Sicherheit unseres Wertens die einzige Grundlage bildet, die einen Schluß auf seine transzendenten Enstprechungen allenfalls rechtfertigen könnte, so ist es psyschologisch gerade umgekehrt ein Gefühl nicht ganz zu bannender Unsicherheit des eigenen Wertbewußtseins, das seine Anlehnung an allgemeingültige Wertnormen und seine Verankerung im Transzendenten wünschbar erscheinen läßt. Sofern diese Ausflucht für jemanden tatsächlich eine seelische Hilfe bedeutet, so ist es eben der Glaube an transzendente Werte, dieser Glaube als subjektives Erlebnis verstanden, der das leistet, nicht die unnahbare Existenz der Werte ansich. Für die Wertphilosophie aber bedeutet ein solcher Glaube doch nur eine Tatsache und ebenso bedeutet es für sie nur eine psychologische Tatsache, daß sich an ihn unter Umständen wieder ein Wertgefühl, nämlich das einer Sicherung der eigenen Wertungsweisen, zu knüpfen vermag. Sie selbst hat aber von ihrem Standpunkt aus keinen Anlaß, diesen Glauben zu teilen oder ihm irgendwelche Beweiskraft zuzuerkennen.

Was man in einem Jenseits unseres Wertbewußtseins zu schauen vermeint, sind so immer nur ins Transzendente projizierte Gegenbilder unserer Wertideen. Man könnte da geradezu von einem "naiven Wertrealismus" sprechen, der dasjenige, was nur als Erlebnis seine nachweisbare Wirklichkeit hat, als absolute Realität dem Erlebenden gegenüberstellt. Es ist damit nicht viel anders, als mit den mittelalterlichen Allegorisierungen, die den Tod, Tugenden und Laster, als Vorgänge und Beschaffenheiten, zu einer Art selbständiger Wesen personifizierten, wie das im Bann sprachlicher Substantivierung in abgeschwächter Weise auch noch heute zu geschehen pflegt. (1) Wenn wir somit fragen, was uns logisch nötigt, den erlebten Werten transzendente Werte gegenüberzustellen, so muß die Antwort lauten: nichts. Versteht man also unter "objektiven" Werten aus der Relation zu  jedem  Wertungssubjekt gelöste Werte ansich, so muß gesagt werden, daß diese nichts anderes sind als philosophisch nicht zu rechtfertigende Ausdeutungen der Tatsachen unseres Wertbewußtseins, nicht Gegenstände möglicher Erkenntnis.


§ 16. Absolute Werte

1.

Die Verlegung des gesamten Wertreiches in das Wertbewußtsein gibt manchen naheliegenden Einwänden Raum. So etwa in der Richtung, daß uns ja dieses Wertreich niemals in seinem ganzen Umfang wirklich gegenwärtig ist. Wo, so könnte man fragen, hat es dann seinen Ort? Hören Werte auf, Werte zu sein, wenn wir nicht an sie denken? Dieses naive Bedenken, das einigermaßen an die Frage des Kindes erinnert: Wo ist der Wind, wenn er nicht weht?, könnte man aber in Hinsicht jeder Art Wissens erheben. Auch von der Gesamtheit unseres Wissens ist uns ja immer nur ein kleiner Ausschnitt gegenwärtig. Der Rest ist uns deshalb nicht schlechthin unbewußt, sondern nur mehr oder weniger unbestimmt und undeutlich bewußt, andernfalls wir nach seinem Aufenthalt zu fragen gar keinen Anlaß hätten. Wir zweifeln aber nicht, daß wir in der Lage wären, auch diesen potentiellen Wissensbesitz nach Erfordernis in Aussagen formen und unsere Urteile ihm gemäß bestimmen zu können. Dasselbe gilt auch von unserem Wissen um ein gegliedertes System von Werten. Wenn uns auch nicht alle Wertungen, die zu seiner Vollständigkeit notwendig wären, unmittelbar gegenwärtig sind, so sind wir doch grundsätzlich nicht im Zweifel, wie wir gegebenfalls werten würden. Was jenes Wertreich in unserem Wertbewußtsein tatsächlich vertritt, ist das Gefühl der Bereitschaft, jederzeit den durch die natur unseres Wertbewußtseins vorbestimmten Wertungsweisen gemäß Werturteile zu fällen. Dadurch kann nun allerdings der Anschein entstehen, als würden die Werte selbst unabhängig von unserem Wertbewußtsein beharren und nur darauf warten, von uns vorgefunden und erfaßt zu werden.

Ein ernster zu nehmender Einwand gegen die Verlegung des Wertreiches in das Wertbewußtsein pflegt der zu sein, daß sich daraus als unausbleibliche Folge eine  Relativierung  aller Werte ergibt. Denn nicht nur, daß dadurch der Mensch zum Maß aller Werte gemacht wird, erscheinen diese durch die rein persönlichen Wertungen jedes Einzelnen bedingt. Ja mehr noch: auch unter den individuellen Wertentscheidungen ist immer nur die gerade gegenwärtige die eigentlich maßgebende, weil sie alle früheren Wertungen entgegengesetzter Art außer Kraft zu setzen vermag. Die Jetzt-Wertung ist immer der Richter über alle früheren Wertungen, die durch sie bejaht, verneint oder berichtigt werden. Der Wertrelativismus der späteren Sophisten, der sich dahin formulieren läßt, daß für jeden das gut ist, was ihm gerade jetzt gut erscheint, daß es also keinen objektiven Wertmaßstab gibt, scheint damit wiederaufzuleben. Dazu wäre zunächst zu sagen, daß mit einem richtig verstandenen Relativismus nur eine unbestreitbare Tatsache der Wertwirklichkeit festgestellt wird. Denn auch gesetzt, es gebe Werte ansich, so liegt es doch ganz und gar beim Einzelnen, ob er sie als Norm seiner eigenen Wertung anerkennen will oder nicht. Für mich - und jeder kann da eben nur von sich aus sprechen - gilt als positiver Wert, was ich positiv bewerte und als negativer Wert, was ich negativ bewerte und nichts und niemand wäre imstande, mich zu zwingen, anders zu werten, als es meinem eigenen Wertbewußtsein entspricht. Und wenn man mir sagt, ich "sollte" anders werten, als ich es tue, so liegt es wieder bei mir, ob ich dieser Stimme Gehör schenken will oder nicht. Und auch das steht nicht in meiner Willkür, denn Wertgefühle lassen sich nicht erzwingen, auch nicht durch den Willen, einem Wertgebot zu gehorchen. Der Einwand der Relativität würde übrigens auch in Hinsicht einer theonomen [gottgewollten - wp] Wertsetzung gelten. Denn auch dann wären die Werte relativ zum Willen Gottes, der sie jederzeit aufheben und durch andere ersetzen könnte. Deus potuit et aliter ordinare [Gott hätte auch eine andere Anordnung treffen können. - wp], wie DUNS SCOTUS mit besonderer Schärfe betont hat. Absolute Werte in dem Sinne also, daß sie außerhalb jeder wie immer gearteten Relation zu einem wertenden Subjekt stünden, gibt es nicht.


2.

Es ist aber doch, was die Frage der Relativität betrifft, auch hier nicht anders, als auf theoretischem Gebiet. Auch dort in gewissem Sinne für jeden nur das wahr, was ihm gerade jetzt wahr erscheint, dasjenige also, was von einem gegenwärtigen Überzeugungserlebenis getragen wird. Das schließt aber nicht aus, daß es trotzdem für jeden und für jede bestimmte Zeit Wahrheiten gibt, die den Charakter des Unbedingten und insofern Absoluten an sich tragen. Das werden immer solche sein, die in der Gegenwart keinem Zweifel ausgesetzt sind, weil sie durch zureichende Gründe gestützt erscheinen. Nur wenn diese Gründe hinfällig werden, sei es infolge einer früher nicht vorauszusehenden Erweiterung des Erfahrungskreises, sei es, weil sie aufgrund späterer Einsicht nicht mehr als zureichend angesehen werden, können auch jene absoluten Wahrheiten, hinterher und von einem überhöhten Denkstandpunkt aus betrachtet, doch wieder als relativ erscheinen, nämlich als relativ zu einer bestimmten Erkenntnisgrundlage oder zu einer bestimmten Bewußtseinslage des Erkennenden. Ganz analog ist es auch auf dem Wertgebiet, nur daß es sich hier nicht um Gründe, sondern um Wertgefühle handelt. Für jeden und für jede bestimmte Zeit gibt es auch Wertungen und Wertungsweisen, die jedem Zweifel und jedem Schwanken entrückt sind und deren Geltung daher außer jeder Frage steht. Und insofern gibt es auch für jeden absolute Werte, die so genannt werden können, nicht weil sie außerhalb jeder Relation zu einem Wertenden stehen, sondern weil sie vom Wertenden als absolut  erlebt  werden. Es werden das solche Werte sein, die nicht bloß im Hinblick auf ein anderes, also als Mittelwerte für irgendwelche Zwecke, bejaht werden, sondern deshalb, weil sie als ansich selbst und durch sich selbst wertvoll, also als Selbstwerte oder Eigenwerte erlebt werden. Werte dieser Art, die nicht nach Belieben gesetzt oder verworfen werden können, deren Ursprung vielmehr in die letzten Tiefen einer Persönlichkeit hinabreicht, treten dem empirischen Ich naturgemäß als etwas durch eigene Kraft Geltendes gegenüber, das von ihm Anerkennung fordert. Es liegt in der Natur solcher Erlebnisse, daß man im unreflektierten Wertbewußtsein Werte dieser Art  vor  sich sieht, sie als eine jeder Willkür entzogene Macht fühlt, die von sich aus unser Werten bestimmt. Wenn von einem transzendentalen Standpunkt der Betrachtung aus dieser Eindruck wieder nur auf die Besonderheit gewisser Werterlebnisse und auf die Eigenart des Wertenden zurückgeführt wird und nicht etwa auf die Stimme aus einer jenseitigen Wertwelt, kennzeichnet ihn das nicht als Täuschung und nimmt ihm nichts von seiner Kraft und Unmittelbarkeit. Ein Erlebnis als solches ist niemals falsch, nur seine Auslegung kann es sein. Auch der psychologische Ursprung solcher Wertungen ist für den Wertenden selbst gleichgültig. Mag es auch umgekehrt versucht werden, von einem naturalistischen Standpunkt aus selbst die höchsten Werte aus einer allmählichen Läuterung und Vergeistigung ursprünglich naturhafter Wertungsantriebe abzuleiten: in der Gegenwart des Werterlebens sind sie immer das, wofür sie sich geben und nichts anderes. Denn nur mit dem Jetzt seines Wertens hat es der Wertende zu tun, nicht mit dessen Vergangenheit. Man denkt, wenn von solchen Werten die Rede ist, wohl zuerst an die "geistigen" Werte, an die platonische Dreiheit des Wahren, Guten und Schönen. Von ihnen gilt das Gesagte gewiß in ausgezeichnetem Maß. Aber auch dort, wo dieses höchsten Ausprägungen des Wertbewußtseins nicht an erster Stelle stehen, gibt es für jeden irgendwelche Wertungen, die für ihn ein Letztes und Höchstes bedeuten. Sie nehmen in seinem Wertbewußtsein den obersten Rang ein und stellen für ihn den Oberwert dar, an dem gemessen alle anderen Werte als Mittelwerte oder Nebenwerte erscheinen. Ein solcher Oberwert kann auch das eigene Dasein sein, das eigene Glück, das Wohl der Gesamtheit oder was auch immer. Sein entscheidendes Merkmal ist nur die fraglose Unbedingtheit seiner Geltung für den Wertenden und die beherrschende Stellung, die er in seinem Wertbewußtsein einnimmt. Immer aber bleibt doch das "schaffende, wollende, wertende Ich", wie ZARATHUSTRA sagt, "das Maß und der Wert der Dinge."

Wenn so auch kein Anlaß besteht, Werte ansich anzunehmen, die aus eigener Kraft absolute Geltung zu beanspruchen vermöchten, so kann es doch absolute Werte  für uns  geben, welche die Kraft ihrer Geltung aus der Unbedingtheit jener Wertungen erschöpfen, die ihnen zugrunde liegen. Ihnen wohnt nicht Allgemeingültigkeit als eine mystische Eigenschaft inne, sondern wir halten sie nur für allgemein geltend, weil wir selbst nicht an ihrer Geltung zweifeln und daher voraussetzen, daß auch jeder andere sie anerkennen müßte, sofern sie ihm klar vor Augen stehen und er nicht wertblind ist. Von Werten dieser Art gilt im übrigen dann alles, was von den Werten ansich ausgesagt zu werden pflegt: daß sie mit dem abgestuften Zusammenhang ihrer Unterwerte ein Reich der Werte bilden, das dem Reich der Wirklichkeit und dem Reich der Wahrheit als ein ideeller Kosmos eigener Art gegenübersteht. Daß auch eine absolute Wertung immer an ein Wertungssubjekt gebunden bleibt und insofern von einem überschauenden Standpunkt aus, wie es jener der Wertphilosophie ist, doch wieder als relativ erscheinen knn, bedeutet keine Entwertung der Werte und tut ihrer Würde, wenn sie auf eine solche Anspruch erheben, keinen Abbruch. Es geht an ihnen damit nicht das geringste verloren und ihre Verfestigung in nachweisbarer Wirklichkeit sichert sie vor jeder Ankränkelung durch einen möglichen Zweifel, dem metaphysische Hypothesen immer ausgesetzt bleiben. Der Wert der Werte ruht in ihnen selbst, das soll heißen in dem, was sie für den Wertenden tatsächlich bedeuten.


§ 17. Die Rangordnung und Einteilung der Werte

1.

Es wurde schon gesagt, daß der Charakter der Absolutheit ganz verschiedenen Wertungsweisen zukommen kann. Immer aber nehmen absolute Werte gegenüber allen anderen Werten eine ausgezeichnete Stellung ein: sie werden zu  Oberwerten,  denen sich dann alle anderen Werte ganz von selbst als Mittelwerte oder Nebenwerte unterordnen. Es ergibt sich so die Idee einer abgestuften und gegliederten  Rangordung  der Werte. Da es keine Werte ansich gibt, kann es auch keine Rangordnung der Werte ansich geben, sondern nur eine Rangordnung der Wertungsweisen innerhalb des Wertbewußtseins. Daher läßt sich auch eine Werttafel nicht a priori entwerfen und als allgemeingültige Norm aufstellen. Sie könnte immer nur der Ausdruck jener Rangordnung sein, die für den Wertphilosophen selbst oder allenfalls für seine Zeit und für den Lebenskreis, dem er angehört, charakteristisch ist, also doch wieder nur eine tatsächlich, nicht eine im objektiven Sinne normative Rangordnung. Wohl aber ist es, wie schon in der "Einleitung" ausgeführt, möglich, a posteriori festzustellen, welche Werte tatsächlich die Stelle eines Oberwertes im Wertbewußtsein des Einzelnen einzunehmen pflegen und in welchem Maß sie sich dazu geeignet erweisen. Die Grundlage dafür kann die Betrachtung der Folgen abgeben, die sich aus der Vorherrschaft dieses oder jenes Oberwertes für das Wertbewußtsein des Einzelnen ergeben. Die wichtigste aber dieser Folgen ist, ob ein bestimmter Wert als sinngebend in Bezug auf das Leben zu wirken vermag. Die Eignung eines Wertes als sinngebender Wert ist daher auch Prüfstein für seine Tauglichkeit als Oberwert. Sie ist so aber mittelbar auch eine methodische Hilfe für eine objektive Bewertung der Werte selbst, also für die Aufstellung einer allgemeinsten Rangordnung der Werte, wenn auch nur formaler Art. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, die schwerwiegendste aller Fragen, die an den Menschen herantreten, ist aber die eigentliche Grundfrage der Ethik, um die als ihren Mittelpunkt alle ihre verschiedensten Richtungen kreisen. Die Ethik ist daher auch das höchste Forum, das über die Rangordnung der Werte entscheidet.


2.

Dem sei eine vorläufige  Einteilung  der Werte vorausgeschickt. Eine solche Einteilung kann nach zwei Gesichtspunkten erfolgen: entweder nach der Art der  bewerteten Qualitäten  oder nach der Art der  Wertungsantriebe.  Das Zweite entspricht der hier dargelegten Ansicht, daß Werte nur in Relation zu einem wertenden Subjekt Bestand haben, also unmittelbar oder mittelbar (wie die Gemeinschaftswerte) auf subjektive Wertungsmotive zurückgehen. So gesehen scheiden sich alle Wertungsweisen und die ihnen entsprechenden Werte in  zwei  große Gruppen. Es gibt Werte, die auf naturhaften Antrieben beruhen: die biologischen und die hedonistischen Werte. Und es gibt Werte, die auf eigengesetzlichen Wertantrieben beruhen und zu Idealsetzungen führen: die moralisch-ethischen Werte und mittelabr alle geistigen Werte, sofern sie von ethischen Antrieben getragen werden. Ihrer Erlebniswirklichkeit nach grenzen sich diese beiden Gruppen dadurch gegeneinander ab, daß den Wertungsweisen der ersten Art ein optativer [möglicher, gewünschter - wp] und nur unter besonderen Umständen, nämlich wenn sie sich mit anderen Wertantrieben kreuzen, auch ein hortativer oder pseudo-hortativer Zug eigen ist (2), während in jenen der zweiten Art das hortative Moment entscheidet und sie unter Umständen auch in imperativische Form übergeführt werden können.

Von einem mehr peripheren Standpunkt aus, etwa dem einer Kulturphilosophie, ergibt sich naturgemäß eine viel größere Mannigfaltigkeit der Werte, weil hier die Einteilung nach den Wertungsgegenständen getroffen wird, nicht nach den Wertungsmotiven. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß alle ausdenkbaren Arten von Werten sich jenen beiden Gruppen einordnen oder einer von ihnen als Mittelwerte unterordnen lassen. So ordnen sich, dem Wertungsantrieb nach betrachtet, die ökonomischen Werte den Vitalwerten unter, weil sie mittelbar der Lebenserhaltung und Lebensförderung dienen. Soziale Werte können egozentrischen Ursprungs sein, wenn sie auf utilitaristischen Motiven beruhen, also auf der Erwägung, daß das allgemeine Wohl auch dem Einzelnen zugute kommt; sie sind moralisch-ethische Werte, wenn die Förderung des Wohles anderer oder einer Gemeinschaft ohne Rücksicht auf den eigenen Nutzen aus rein altuistischen Motiven positiv bewertet wird; in manchen Fällen, wie in dem eines sentimentalen Mitleides, können auch hedonistische Antriebe mit hereinspielen. Religiöse Werte können für den Einzelnen ebenfalls hedonistischen Ursprungs sein, wenn sie nur in der Hoffnung auf ewige Seligkeit oder in der Furcht vor jenseitigen Strafen ihre Wertungsgrundlage haben; sie können aber auch zu den moralischen Werten zählen, sofern der ethische Gehalt einer Religion das Motiv ihrer Anerkennung bildet, während sie ihrem Glaubensinhalt nach den intellektuellen Werten verwandt sind. Die intellektuellen Werte selbst können ebensowohl um ihres Nutzens wegen geschätzt werden, den man sich von ihnen für das eigene oder das Gemeinwohl erwartet, wie auch rein um ihrer selbst willen und ohne jeden Nebengedanken, in welchem Fall sie im Ethos des Wahrheitssuchenden wurzeln. Auch ästhetische Werte können echte Idealwerte sein, werden sie aber bloß um des Genusses wegen gesucht, so ist ihr Motiv ein hedonistisches. Legt man, wie es hier geschieht, die Art der Wertungsantriebe zugrunde, so kann "derselbe" Wert bald der einen, bald der anderen Gruppe angehören und ist dann ungeachtet der Gleichbenennung eben nicht derselbe, sondern seinem Wesen nach in beiden Fällen etwas ganz Verschiedenes. Auf ein bestimmtes Wertungssubjekt bezogen, ist wohl jeder individuelle Fall einer Wertung von jedem anderen individuellen Fall verschieden und bedürfte daher einer gesonderten Beurteilung, was seine Wertungsgrundlage betrifft. In der psychologischen Wirklichkeit aber wird überhaupt das Zusammenspiel verschiedener Wertungsantriebe die Regel und die Ausschließlichkeit eines Motivs die Ausnahme sein. Immer aber wird doch ein Antrieb überwiegen und die Wertung entscheidend bestimmen. Das genügt, um jede Wertung und den durch sie gesetzten Wert in eine der beiden Klassen einzureihen. Und nur um eine grundsätzliche Unterscheidung, nicht um eine Beurteilung des Einzelfalles handelt es sich in der Wertphilosophie.
LITERATUR: Robert Reininger, Wertphilosophie und Ethik - Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien-Leipzig 1937
    Anmerkungen
    1) Vgl. auch KARL GROOS: Zur Psychologie und Metaphysik des Wert-Erlebens, 1932, Seite 18: "... so wird aus dem Erlebnis des  Einleuchtens  der Gedanke der objektiven Evidenz, die besteht, auch wenn niemand jenes Erlebnis hat und ebenso geht aus dem uns bekannten parteiergreifenden Stellungnehmen des Subjekts der Gedanke eines objektiven  Reiches der Werte  hervor, das als irreal und zeitentrückt vorgestellt wird."
    2) Ein Beispiel der ersten Art ist die zugleich ästhetisch-ethische Bewertung lebensfördernder Eigenschaften, wie der Kraft, der Gesundheit und Schönheit des Leibes. Ein Beispiel der zweiten Art ist der Geiz, dem man sogar eine Verwandtschaft mit dem Pflichtgefühl nachgesagt hat, das aber doch nur Selbstwerten gegenüber sinnvoll sein kann. Es ist aber gar nicht so, daß der Geizige das Geld um seiner selbst willen, nämlich um des Geldes willen liebt. Wäre das der Fall, so müßte es ihm gleichgültig sein, ob er das Geld besitzt oder ein anderer, wenn es nur gut aufgehoben ist, so daß es durch Abnützung nicht leidet. Einen Geizigen dieser Art hat es aber wohl noch nie gegeben. Das Wesen des Geizes ist es vielmehr, daß der  Besitz  des Geldes und damit dessen potentieller Gebrauchswert höher geschätzt wird, als sein wirklicher Gebrauch. Im Wort "Besitz", also eines Für-sich-haben-Wollens, liegt aber bereits das egozentrische Moment.