p-4Ernst MeumannJoseph ChurchClara u. William Stern    
 
LEW SEMJONOWITSCH WYGOTSKI
Die kindliche Begriffsentwicklung
[ 6/10 ]

Forschungsprobleme und -methoden
Ursprung des Denkens
Experimente zur Begriffsentwicklung
Gedanke und Wort
Die innere Sprache
"Das Vorhandensein eines Begriffs und das Bewußtsein von diesem Begriff decken sich nicht..."

Die Hauptannahme dieser Untersuchung der Begriffsentwicklung auf der zweiten Stufe kann folgendermaßen formuliert werden: Das im Stadium des komplexen Denkens stehende Kind stellt sich als Worbedeutung die gleichen Dinge vor. Dadurch wird die Verständigung zwischen ihm und den Erwachsenen möglich. Aber es stellt sich das Gleiche durch ein anderes Verfahren und mit Hilfe anderer intellektueller Operationen vor.

Wenn diese Annahme richtig ist, kann sie überprüft werden. Wenn der Komplex der Kinder sich vom Begriff unterscheidet, dann wird die  Tätigkeit des komplexen Denkens anders verlaufen als die des begrifflichen Denkens. Wir wollen daher im folgenden kurz die Resultate unserer Untersuchung den bekannten psychologischen Ergebnissen über die Eigenarten des kindlichen Denkens und die Entwicklung des "primitiven" Denkens gegenüberstellen und somit unsere Resultate über das komplexe Denken einer Überprüfung durch das Verhalten zu unterziehen.

Die erste uns interessierende Erscheinung ist die bekannte Tatsache, daß  die Bedeutung der ersten Worte des Kindes auf rein assoziativem Wege  übertragen wird. Wenn wir verfolgen, welche Gruppen von Gegenständen vom Kind bei der Übertragung der Bedeutung seiner ersten Wörter verbunden werden und wie das vor sich geht, dann werden wir ein Beispiel für eine Mischung von assoziativem Komplex und synkretischem Bild vor uns haben.

Wir führen ein Beispiel von IDELBERGER an. Ein Kind bezeichnet am 251. Tag mit dem Wort "wau-wau" eine auf der Anrichte stehende, ein kleines Mädchen darstellende Porzellanfigur, mit der es gern spielt. Am 307. Tag bezeichnet das Kind mit "wau-wau" einen Hund, der draußen bellt, die Bildnisse der Großeltern, sein Spielzeugpferdchen und die Wanduhr; am 331. Tag eine Pelzboa mit einem Hundekopf und eine Boa ohne Hundekopf; dabei richtet es seine besondere Aufmerksamkeit auf die Glasaugen. Am 334. Tag erhält dieselbe Bezeichnung ein piepsendes Gummimännchen, am 396. Tag - die schwarzen Knöpfe am Hemd des Vaters. Am 433. Tage spricht das Kind dasselbe Wort aus, wenn es auf einem Kleid Perlen sieht oder wenn es ein Badethermometer bemerkt.

WERNER hat dieses Beispiel analysiert und kommt zu dem Schluß, daß das Kind mit dem Wort "wau-wau" eine Vielheit von Gegenständen bezeichnet, die folgendermaßen geordnet werden könnten: erstens, Hunde und Spielzeughunde, dann längliche, puppenähnliche Gegenstände wie die Gummipuppe, ein Badethermometer usw., und zweitens Knöpfe, Perlen und ähnliche kleine Gegenstände. Dieser Vereinigung ist das Merkmal der länglichen Form oder glänzender, an Augen erinnernder Oberflächen zugrunde gelegt.

Wir sehen also, daß die Vereinigung einzelner konkreter Gegenstände nach dem Prinzip des Komplexes erfolgt. Solche natürlichen Komplexe sind für die ganze erste Phase der Entwicklung des kindlichen Wortes typisch.

In einem oft zitierten Beispiel bezeichnet ein Kind mit "kwa" anfänglich eine auf einem Teich schwimmende Ente, dann jede Flüssigkeit, darunter auch die Milch, die es aus seiner Flasche trinkt. Als es einmal auf einer Münze die Darstellung eines Adlers sieht, erhält das Geldstück dieselbe Bezeichnung, und das ist ausreichend, um nun alle runden, an eine Münze erinnernden Gegenstände ebenso zu benennen. Dies ist das typische Beispiel eines Kettenkomplexes, wo jeder Gegenstand ausschließlich auf Grund eines gewissen mit einem anderen Element gemeinsamen Merkmals in den Komplex einbezogen wird; dabei kann der Charakter dieser Merkmale unendlich abgewandelt werden.

Auf Grund des komplexen Charakters des kindlichen Denkens können auch ein und dieselben Wörter in verschiedenen Situationen unterschiedliche Bedeutung haben, wobei in besonders interessanten Ausnahmefällen ein und dasselbe Wort gegensätzliche Bedeutung in sich vereinen kann.

Ein Kind, das mit dem Wort "vorher" sowohl die Zeitbeziehung "vorher" auch "nachher" bezeichnet oder das Wort "morgen" sowohl zur Bezeichnung des morgigen als auch des gestrigen Tages benutzt, bildet eine Analoge zu der seit langem bekannten Tatsache, daß in den alten Sprachen - dem Hebräischen, Chinesischen und Lateinischen - ein und dasselbe Wort zwei entgegengesetzte Bedeutungen besaß. So benutzten die Römer für "hoch" und "tief" ein und dasselbe Wort (altus). Die Verbindung von gegensätzlichen Bedeutungen in einem Wort ist nur im komplexen Denken möglich, wo jeder konkrete Gegenstand nicht mit den übrigen Elementen verschmilzt, sondern seine volle Selbständigkeit bewahrt.


Die potentiellen Begriffe

Die zweite Phase im Prozeß der Begriffsentwicklung wird als Stadium der  potentiellen Begriffe  bezeichnet. Im Experiment löst das in dieser Phase seiner Entwicklung stehende Kind gewöhnlich eine Gruppe der von ihm verallgemeinerten Dinge heraus, die nach einem gemeinsamen Merkmal vereinigt sind.

Wir haben wieder ein Bild vor uns, das auf den ersten Blick sehr stark an den Pseudobegriff erinnert und nach seiner äußeren Form ebenfalls für einen fertigen Begriff gehalten werden kann. Dem Wesen nach sind beide doch grundverschieden.

Die Untersuchung zwischen dem echten und dem potentiellen Begriff ist von GROOS in die Psychologie eingeführt worden. "Der  potentielle  Begriff", sagt GROOS, braucht, falls wir seine Grenzen zu weit ziehen, nichts weiter zu sein als eine Wirkung der Gewohnheit. Er würde dann in seiner elementarsten Form darin bestehen, daß wir "erwarten", oder besser: darauf "eingestellt" sind, bei einem ähnlichen Anlasse einen  ähnlichen Gesamteindruck  zu erhalten wie früher."
    "Wenn der  potentielle  Begriff nur so beschaffen ist, wie wir ihn eben als  Einstellung  auf das Gewohnte schilderten, so tritt er jedenfalls schon sehr bald beim Kinde auf ... Ich glaube, er ist eine unentbehrliche Vorbedingung für das Eintreten intellektueller Wertungen, aber er selbst  hat nichts Intellektuelles an sich".  (1)
Der potentielle Begriff ist also eine vorintellektuelle Bildung, die in der Entwicklungsgeschichte des Denkens schon früh entsteht.

Viele Autoren sind sich darin einig, daß der potentielle Begriff in der Form, wie wir ihn hier beschrieben haben, bereits dem Denken der Tiere eigen ist. KROH hat durchaus recht, wenn er sich gegen die landläufige Behauptung wendet, daß die Abstraktion zuerst im Übergangsalter auftrete. "Die isolierte Abstraktion", sagt er, "kann bereits bei Tieren festgestellt werden."

Versuche über das Abstrahieren von Form und Farbe beim Haushuhn haben ergeben, daß der potentielle Begriff oder etwas ihm sehr Ähnliches, das auf der Isolierung oder Herauslösung beruht, auf sehr frühen Entwicklungsstufen des Verhaltens in der Tierreihe vorhanden ist.

Deshalb hat GROOS recht, wenn er es ablehnt, im potentiellen Begriff ein Merkmal der Entwicklung des kindlichen Denkens zu sehen, und wenn er ihn genetisch zu den vorintellektuellen Prozessen zählt. "Er (der potentielle Begriff)", sagt er, "hat als solcher noch keinen intellektuellen Charakter". Das Wirken potentieller Begriffe kann ohne die Annahme logischer Prozesse erklärt werden. In diesem Fall kann "das schon oft gehörte Wort nur assoziativ eine außerintellektuelle Einstellung oder Erwartung hervorrufen...". (2)

Wenn wir uns den ersten Wörtern des Kindes zuwenden, erkennen wir, daß sie in ihrer Bedeutung den potentiellen Begriffen nahegekommen. Potentiell sind diese Begriffe erstens in ihrer praktischen  Bezogenheit auf einen bestimmten Kreis von Dingen und zweitens in der ihnen zugrunde liegenden  isolierten Abstraktion. Diese Begriffe haben ihre Potentialität noch nicht realisiert. Es sind keine echten Begriffe, sondern etwas, was dazu werden kann.

BÜHLER zieht eine zutreffende Analogie zwischen dem Vorgang, wenn ein Kind ein gewohntes Wort gebraucht, wenn es ein neues Ding sieht, und dem Vorgang, wenn ein Affe in Dingen, die ihn zu anderer Zeit nicht an einen Stock erinnert hätten, eine Ähnlichkeit mit diesem Gegenstand in einer Situation erkennt, in der ein Stock für ihn nützlich ist. KÖHLERs Versuche über den Gebrauch von Werkzeugen bei Schimpansen gezeigt, daß ein Affe, der einmal einen Stock als Werkzeug zur Erreichung eines Ziels gebraucht hat, diese Bedeutung des Werkzeugs dann bereits auf alle anderen ausdehnt, die irgendetwas mit einem Stock gemeinsam haben und diese Funktion ausüben können.

Die äußere Ähnlichkeit mit unserem Begriff ist frappierend. Eine derartige Erscheinung kann man wirklich als "potentiellen Begriff" bezeichnen. KÖHLER formuliert die Ergebnisse seiner Beobachtungen am Schimpansen zu dieser Frage folgendermaßen:
"Sagt man dagegen", schreibt er, "der Stock im Gesichtsfeld habe einen bestimmten Funktionswert für gewisse Situationen gewonnen und dringe von selbst diese Wirkung in alle anderen Gegenstände ein, die mit dem Stock (objektiv) gewisse allgemeinste Eigenschaften der Form und der Konsistenz gemein haben, sie mögen sonst aussehen wie sie wollen, so trifft man damit recht genau die einzige Anschauung, die sich mit dem beobachteten Verhalten der Tiere deckt". (3)
Diese Versuche haben gezeigt, daß ein Affe die Krempe Strohhuts, Schuhe, einen Draht, einen Strohhalm und ein Handtuch als Stock verwendet, d.h. die verschiedenartigen Gegenstände, die eine längliche Form haben und ihrer äußeren Form nach die Funktion eines Stockes übernehmen können. Wir sehen also, daß auch hier in gewisser Beziehung eine Verallgemeinerung einer ganzen Reihe konkreter Gegenstände entsteht.

Der Unterschied zu GROOS potentiellem Begriff besteht nur darin, daß dort von ähnlichen Eindrücken, hier dagegen von einer ähnlichen funktionellen Bedeutung die Rede ist. Dort wird der potentielle Begriff auf dem Gebiet des anschaulichen Denkens entwickelt, hier auf dem Gebiet des praktischen Denkhandelns. Derartige motorische oder dynamische Begriffe, wie WERNER sich ausdrückt, solche Funktionswerte, wie KÖHLER sie nennt, existieren bekanntlich im Denken des Kindes bis zum Schulalter. Es ist bekannt, daß die kindliche Begriffsbestimmung einen solchen Funktionscharakter hat. Für das Kind heißt es, ein Ding oder einen Begriff zu definieren, zu bezeichnen, was dieses Ding tut oder noch häufiger, was mit ihm getan werden kann.

Bei einer Definition abstrakter Begriffe tritt ohnehin die konkrete, gewöhnliche Handlungssituation in den Vordergrund, die ebenfalls ein Äquivalent der kindlichen Wortbedeutung ist. MESSER führt in seiner Untersuchung über Sprechen und Denken eine in dieser Hinsicht durchaus typische Definition eines abstrakten Begriffs an, die von einem Schulanfänger gegeben wurde. "Vernunft", sagt das Kind, "ist, wenn mir heiß ist und ich kein Wasser trinke". Eine derartig konkrete und funktionsabhängige Bedeutung ist die Grundlage des potentiellen Begriffs.

Wir erinnern daran, daß potentielle Begriffe bereits im komplexen Denken eine wichtige Rolle spielen, weil sie oft mit dem Aufbau eines Komplexes zusammenfallen. Beispielsweise setzt bei dem assoziativen Komplex und anderen Komplex-Typen der Aufbau die  Herauslösung eines gewissen Merkmals voraus, das den verschiedenen Komplexen gemeinsam ist.

Für das rein komplexe Denken ist charakteristisch, daß dieses Merkmal sehr unbeständig ist, daß es einem anderen Merkmal Platz machen kann und gegenüber allen übrigen keine Vorrangstellung einnimmt. Das ist jedoch für den potentiellen Begriff nicht das Charakteristische. Hier ist das betreffende Merkmal, das die Grundlage für die Einbeziehung eines Dings in eine bestimmte gemeinsame Gruppe bildet, privilegiert, von der konkreten Merkmalsgruppe abstrahiert, mit denen es faktisch verbunden ist.

Wir möchten daran erinnern, daß potentielle Begriffe in der Entwicklungsgeschichte unserer Wörter eine wichtige Rolle spielen. Wir haben oben viele Beispiele dafür angeführt, wie jedes neue Wort durch Herauslösung eines beliebigen in die Augen fallenden Merkmals entsteht und die Basis für eine Verallgemeinerung einer Reihe von Dingen abgibt, die durch ein und dasselbe Wort benannt oder bezeichnet werden. Diese potentiellen Begriffe bleiben dann auch oft in dem betreffenden Entwicklungsstadium stehen, ohne in einen echten Begriff überzugehen.

Auf jeden Fall spielen sie eine große Rolle bei der Entwicklung der kindlichen Begriffe, da  das Kind hier zum ersten Mal mit Hilfe der Abstraktion die einzelnen Merkmale einer konkreten Situation zerstört, die konkrete Verbindung der Merkmale zerreißt und dadurch die notwendige Voraussetzung für eine neue Synthese schafft. Nur die Beherrschung des Abstraktionsprozesses zusammen mit der Entwicklung des komplexen Denkens führt das Kind zur Bildung echter Begriffe und damit zur vierten und letzten Phase in der Denkentwicklung.

Ein Begriff entsteht, wenn eine  Reihe abstrahierter Merkmale wieder synthetisiert und die so gewonnene  abstrakte Synthese zur Grundform des Denkens wird, mit der das Kind seine Umwelt erfaßt und deutet. Das Experiment zeigt, wie bereits gesagt, daß dem  Wort dabei die entscheidende Bedeutung zukommt. Mit Hilfe des Wortes lenkt das Kind willkürlich seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Merkmale, mit Hilfe des Wortes synthetisiert es sie, symbolisiert es den abstrakten Begriff und operiert mit ihm als dem höchsten Zeichen des menschlichen Denkens.

Allerdings tritt auch schon beim komplexen Denken die Rolle des Wortes deutlich hervor. Das komplexe Denken ist ohne das Wort als Familienname, durch den einem Eindruck nach verwandte Dinge zu Gruppen vereinigt werden, unmöglich. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheiden wir im Gegensatz zu einigen Autoren das komplexe Denken als bestimmtes Stadium in der Entwicklung des verbalen Denkens von dem nichtverbalen anschaulichen Denken, das die Vorstellungen der Tiere kennzeichnet und das von manchen Autoren, z.B. WERNER, wegen der Tendenz, einzelne Eindrücke zu verschmelzen, ebenfalls als komplex bezeichnet wird.

Von unserem Standpunkt aus besteht hier ein prinzipieller Unterschied, der das Produkt der biologischen Evolution von der historisch entstandenen Form der menschlichen Intelligenz trennt. Die Anerkennung der Tatsache, daß das Wort im komplexen Denken eine entscheidende Rolle spielt, zwingt uns jedoch keineswegs, die Rolle des Wortes beim komplexen und begrifflichen gleichzusetzen.

Wir sehen im Gegenteil den Unterschied zwischen Komplex und Begriff gerade darin, daß die Verallgemeinerungen die Ergebnisse ganz verschiedener funktioneller Verwendungen ein und desselben Wortes sind. Das Wort ist ein Zeichen. Dieses Zeichen kann verschieden verwendet werden. Es kann als Mittel für verschiedene intellektuelle Operationen Verwendung finden, die gerade zum Hauptunterschied zwischen Komplex und Begriff führen.

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Die wichtigste Folgerung unserer Untersuchung besteht darin, daß  das Kind erst im Übergangsalter zum begrifflichen Denken gelangt, daß es erst in diesem Alter die dritte Entwicklungsstufe seines Intellekts abschließt.

Man darf sich den Wechsel der einzelnen Denkformen und der einzelnen Phasen in seiner Entwicklung nicht als mechanischen Prozeß vorstellen, bei dem jede neue Phase dann eintritt, wenn die vorhergehenden völlig abgeschlossen sind. Das Bild der Entwicklung erweist sich als weit komplizierter.  Die verschiedenen genetischen Formen bestehen nebeneinander, so wie in der Erdrinde Aufschichtungen der verschiedensten geologischen Epochen nebeneinander bestehen.

Dies ist für die Entwicklung des Verhaltens keine Ausnahme, sondern eher die Regel, Wir wissen, daß das Verhalten des Menschen nicht ständig auf ein und derselben höchsten Stufe seiner Entwicklung steht. Die neuesten und jüngsten, in der Menschheitsgeschichte erst vor kurzer Zeit entstandenen Formen stehen im Verhalten des Menschen neben den ältesten.

Das gleiche gilt auch für die Entwicklung des kindlichen Denkens. Auch hier trennt sich das Kind, das die höchste Form des Denkens - das begriffliche - beherrschen lernt, keineswegs von den elementareren Formen. Sie sind noch lange Zeit hindurch weiterhin die quantitativ vorherrschenden Denkformen auf vielen Gebieten seiner Erfahrung. Selbst der erwachsene Mensch denkt, wie bereits festgestellt, bei weitem nicht immer in Begriffen. Sehr häufig vollzieht sich sein Denken auf der Ebene des Komplexdenkens und bisweilen in noch elementareren, primitiveren Formen.

Aber selbst die Begriffe des Jugendlichen und des Erwachsenen erheben sich im Alltag oft nicht über das Niveau der Pseudobegriffe und stellen, obwohl sie nach der formalen Logik alle Merkmale des Begriffs besitzen, keine Begriffe im Sinne der dialektischen Logik dar.

Das Übergangsalter ist also nicht das der Vollendung, sondern das der Krise und des Reifens des Denkens. Gemessen an der für den Menschen erreichbaren höchsten Form des Denkens stellt dieses Alter ebenso eine Übergangsstufe dar wie in allen übrigen Beziehungen. Der Übergangscharakter des Denkens beim Jugendlichen wird dann besonders klar, wenn wir seine Begriffe nicht in fertiger Form, sondern in ihrer Tätigkeit beobachten und prüfen.

Dabei entdecken wir auch eine sehr bedeutsame Gesetzmäßigkeit, die dieser neuen Form des Denkens zugrunde liegt und ein Licht auf den Charakter der intellektuellen Denktätigkeit des Jugendlichen und auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit und des Weltbildes wirft.

Das erste, was hier Erwähnung verdient, ist die im Experiment zum Ausdruck kommende  Divergenz zwischen der Bildung des Begriffs und seiner verbalen Definition. Diese Divergenz bleibt nicht nur beim Jugendlichen erhalten, sondern auch im Denken des Erwachsenen, ja selbst mitunter in einem weit entwickelten Denken.  Das Vorhandensein eines Begriffs und das Bewußtsein von diesem Begriff decken sich nicht, weder hinsichtlich des Augenblicks ihrer Entstehung, noch hinsichtlich ihres Funktionierens. Ersteres kann vorher eintreten und unabhängig von letzterem wirken. Die Analyse der Wirklichkeit mit Hilfe von Begriffen ensteht bedeutend früher als die Analyse der Begriffe selbst.

Das zeigt anschaulich in Experimenten mit Jugendlichen, die ausnahmslos einen für den Übergangscharakter des Denkens charakteristischen Zug, die Divergenz zwischen Wort und Tat bei der Begriffsbildung erkennen lassen. Der Jugendliche bildet einen Begriff, wendet ihn in einer konkreten Situation richtig an, aber sobald es um die verbale Definition des Begriffes geht, stößt er sofort auf außerordentliche Schwierigkeiten, und die Definition ist bedeutend enger als der praktische Gebrauch dieses Begriffs.

In einer solchen Tatsache sehen wir eine direkte Bestätigung dafür, daß die Begriffe nicht einfach im Ergebnis einer logischen Bearbeitung der Erfahrungselemente entstehen und das Kind sich nicht bis zu seinen Begriffen "vordenkt", sondern daß sie bei ihm auf ganz andere Art und Weise entstehen und erst später bewußt erfaßt und logisiert werden.

Für die Verwendung der Begriffe im Übergangsalter ist weiterhin charakteristisch, daß der Jugendliche einen Begriff in einer anschaulichen Situation benutzt. Wenn der Begriff aus einer konkreten, anschaulich wahrgenommenen Situation herausgelöst ist, lenkt er das Denken des Jugendlichen am leichtesten und untrüglichsten. Bedeutend größere Schwierigkeiten bereitet die Begriffsübertragung, d.h. die Anwendung einer Erfahrung auf völlig andersartige Dinge, wenn die herausgelösten, aber zu Begriffen synthetisierten Merkmale in einer anderen konkreten Umgebung anderer Merkmale auftreten und in ganz anderen konkreten Proportionen gegeben sind.

Bei einer Veränderung der anschaulichen oder konkreten Situation ist die Anwendung eines in einer anderen Situation erarbeiteten Begriffs überaus erschwert. Aber diese Übertragung gelingt dem Jugendlichen in der Regel dennoch bereits im ersten Stadium seiner Denkentwicklung.

Mehr Schwierigkeiten macht die Definition eines Begriffs, wenn er von der konkreten Situation isoliert wird, in der er entwickelt worden ist, wenn er sich überhaupt nicht auf konkrete Eindrücke stützt und auf einer völlig abstrakten Ebene bewegt. Die verbale Definition dieses Begriffs, die Fähigkeit, ihn exakt zu erfassen und zu bestimmen, macht bedeutende Schwierigkeiten, und im Experiment ist oft zu beobachten, wie das Kind oder der Jugendliche die Begriffe in der Praxis richtig verwendet haben, bei der Definition des bereits gebildeten Begriffs auf eine primitivere Stufe zurückfallen und die verschiedenen konkreten Dinge aufzählen, die der Begriff in der betreffenden konkreten Situation erfaßt.

Also verwendet der Jugendliche das Wort als  Begriff,  definiert es jedoch als  Komplex . Das ist eine für das Übergangsalter charakteristische Form, die zwischen dem komplexen und dem begrifflichen Denken hin- und herschwankt.

Die größte Schwierigkeit, die der Jugendliche in der Regel erst am Ende des Übergangsalters überwindet, ist die weitere Übertragung der Bedeutung eines erarbeiteten Begriffs auf immer neue konkrete Situationen, die er sich ebenfalls auf einer abstrakten Ebene denkt.

Der Weg vom Abstrakten zum Konkreten erweist sich hier als nicht weniger schwierig als der Aufstieg vom Konkreten zum Abstrakten.

Das Experiment läßt keinen Zweifel darüber, daß die gewohnten Vorstellungen über die Begriffsbildung der traditionellen Psychologie, in denen man sklavisch der formal logischen Beschreibung der Begriffsbildung folgte, ganz und gar nicht der Wirklichkeit entspricht. In der traditionellen Psychologie wurde angenommen, daß dem Begriff eine Reihe konkreter Vorstellungen zu Grunde liegt.

Nehmen wir als Beispiel, sagt ein Autor, den Begriff "Baum". Er wird aus einer Reihe ähnlicher Vorstellungen eines Baumes gewonnen. "Der Begriff ensteht aus den Vorstellungen einzelner ähnlicher Dinge." Dann folgt ein Schema, das den Prozeß der Begriffsbildung erklärt und in folgender Form darstellt. Angenommen, ich hatte Gelegenheit, drei verschiedene Bäume zu beobachten. Die Vorstellung dieser drei Bäume kann in ihre Bestandteile zerlegt werden, von denen jede Form, Farbe oder Größe der einzelnen Bäume bezeichnet. Die übrigen Bestandteile dieser Vorstellungen sind ähnlich.

Zwischen den ähnlichen Teilen dieser Vorstellungen muß eine Assimilation erfolgen, deren Ergebnis eine allgemeine Vorstellung des betreffenden Merkmals ist. Dann entsteht durch Synthese dieser Vorstellungen eine einzige allgemeine Vorstellung oder der Begriff des Baums.
LITERATUR - Lew S. Wygotski, Denken und Sprechen, Berlin 1906
    Anmerkungen
  1. K. Groos, Das Seelenleben des Kindes, Berlin 1923
  2. K. Groos, Das Seelenleben des Kindes, Berlin 1923
  3. W. Köhler, Intelligenzprüfung an Menschenaffen, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1963