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GEORGE BERKELEY
(1685-1753)
Abhandlung über die Prinzipien
der menschlichen Erkenntnis

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"... indem ich etwas berühre, das einen Hauptanteil an der Verwicklung und Trübung der Forschung gehabt und unzählige Irrtümer und Schwierigkeiten in fast allen Teilen der Wissenschaft veranlaßt zu haben scheint."


EINLEITUNG

§1. Da die Philosophie nichts anderes ist, als das Streben nach Weisheit und Wahrheit, so sollte man vernunftgemäß erwarten dürfen, daß die, welche am meisten Zeit und Mühe auf sie verwendet haben, sich einer größeren Ruhe und Heiterkeit des Gemütes, einer größeren Klarheit und Sicherheit der Erkenntnis erfreuen und weniger durch Zweifel und Bedenken beunruhigt werden, als andere Menschen.

Wir sehen dagegen, daß vielmehr die ungelehrte Menge der Menschen, die auf der Landstraße des schlichten Menschenverstandes wandelt und durch die Gebote der Natur geleitet wird, größtenteils zufrieden und ruhig lebt. Ihnen scheint nichts, was gewöhnlich ist, unerklärlich oder schwer zu begreifen. Sie klagen nicht über irgendwelche Unzuverlässigkeit ihrer Sinne und sind ganz frei von der Gefahr,  Skeptiker  zu werden.

Sobald wir uns aber der Leitung der Sinne und der natürlichen Triebe entziehen, um dem Lichte eines höheren Prinzips zu folgen, um über die Natur der Dinge mittels unserer Vernunft Schlüsse zu ziehen, über sie nachzudenken und zu reflektieren, erheben sich sofort tausend Zweifel in unserm Geist in betreff eben der Dinge, welche wir vorher völlig zu begreifen schienen.

Vorurteile und Irrtümer der Sinne enthüllen sich von allen Seiten her unserem Blick, und indem wir diese durch Nachdenken zu berichtigen Streben, werden wir unvermerkt in seltsame, von der gewöhnlichen Meinung abweichende Behauptungen, Schwierigkeiten und Widersprüche verstrickt, die sich in dem Maße, als wir in der Betrachtung weiter gehen, vermehren und steigern, bis wir zuletzt, nachdem wir manche verschlungene Irrgänge durchwandert haben, gerade an dem Punkte wiederfinden, von welchem wir ausgegangen waren, oder, was schlimmer ist, die Forschung aufgeben und, in Zweifelsucht verloren, die Hände in den Schoß legen.

§2. Man glaubt, die Ursache hiervon liege in der Dunkelheit der Dinge oder in der natürlichen Schwäche und Unvollkommenheit unseres Verstandes. Man sagt, unsere Geisteskräfte seien beschränkt und von der Natur dazu bestimmt, zur Erhaltung und Erleichterung des Lebens zu dienen, nicht zur Erforschung des inneren Wesens und der Einrichtung der Dinge. Zudem sei es nicht verwunderlich, daß der menschliche Verstand, da er endlich sei, wenn er Dinge behandle, die an der Unendlichkeit teilhaben, in Ungereimtheiten und Widersprüche verfalle, aus denen sich jemals herauszuarbeiten ihm unmöglich sei, da es zu der Natur des Unendlichen gehöre, nicht vom Endlichen begriffen werden zu können.

§3. Doch sind wir vielleicht zu parteiisch für uns selbst eingenommen, wenn wir die Quelle des Fehlers in den Anlagen unseres Geistes suchen und nicht vielmehr in dem unrichtigen Gebrauch, den wir von ihm machen. Es ist eine harte Sache anzunehmen, daß richtige Schlüsse aus wahren Vordersätzen jemals zu Endergebnissen führen sollten, die nicht aufrecht erhalten oder miteinander in Übereinkunft gebracht werden könnten. Man sollte doch denken, daß Gott nicht so ungütig mit den Menschenkindern verfahren sei, ihnen ein lebhaftes Verlangen nach einem Wissen einzuflößen, welches er ihnen zugleich völlig unerreichbar gemacht hätte. Dies würde nicht zu dem gewöhnlichen liebevollen Verfahren der Vorsehung stimmen, mit welchem sie regelmäßig ihren Geschöpfen die Mittel gegeben hat, durch deren rechten Gebrauch sie alle ihnen eingepflanzten Triebe unfehlbar zu befriedigen vermögen.

Kurz, ich bin geneigt zu glauben, daß weitaus die meisten, wenn nicht alle Schwierigkeiten, welche bisher die Philosophen hingehalten und ihnen den Weg zur Erkenntnis versperrt haben, durchaus von uns selbst verschuldet sind, daß wir zuerst eine Staubwolke erregt haben und uns dann beklagen, nicht sehen zu können.

§4. Mein Vorsatz ist demgemäß zu versuchen, ob ich ausfindig machen kann, welche Grundannahmen es sind, die jene Fülle von Zweifeln und jenes unsichere Schwanken, alle jene Ungereimtheiten und Widersprüche bei den verschiedenen Sekten der Philosophen in solchem Maße verursacht haben, daß die weisesten Menschen unsere Unwissenheit für unheilbar gehalten haben, indem sie annahmen, sie rühre von der natürlichen Schwäche und Beschränktheit unserer Geisteskräfte her.

Und es ist gewiss eine die Mühe lohnende Aufgabe, eine genaue Untersuchung über die ersten Prinzipien der  menschlichen Erkenntnis  anzustellen, sie allseitig zu sichten und zu prüfen, zumal da die Vermutung nicht unbegründet sein dürfte, daß jene Hindernisse und Anstöße, welche den Geist bei dem Suchen nach Wahrheit aufhalten und verwirren, nicht sowohl in irgendeiner Dunkelheit und Verwicklung der Objekte oder in einer natürlichen Schwäche des Verstandes ihre Quelle haben als vielmehr in falschen Grundannahmen, an denen man festgehalten hat und dies sich doch hätten vermeiden lassen.

§5. Wie schwierig und aussichtslos auch immer dieser Versuch erscheinen mag, wenn ich in Betracht ziehe, wie viele große und außerordentliche Männer vor mir die gleiche Absicht gehegt haben, so bin ich doch nicht ohne einige Hoffnung, auf die Erwägung hin daß die weitesten Aussichten nicht immer die deutlichsten sind, und daß der Kurzsichtige, weil er genötigt ist, die Objekte dem Auge näher zu bringen, vielleicht durch eine genaue Besichtigung aus geringer Entfernung solches zu erkennen vermag, was weit besseren Augen entgangen ist.

§6. Um den Geist des Lesers zu einem leichteren Verständnis des folgenden zu befähigen, ist es angemessen, in Gestalt einer Einführung einiges vorauszuschicken, was das Wesen und den falschen Gebrauch der Sprache betrifft. Die Erörterung dieses Gegenstandes aber führt mich dazu, einigermaßen meine Hauptfrage schon im voraus miteinzubehandeln, indem ich etwas berühre, das einen Hauptanteil an der Verwicklung und Trübung der Forschung gehabt und unzählige Irrtümer und Schwierigkeiten in fast allen Teilen der Wissenschaft veranlaßt zu haben scheint.

Dies ist die Meinung, der Geist habe ein Vermögen,  abstrakte Ideen  (abstract ideas) oder Begriffe (notions) von Dingen zu bilden. Wer nicht durchaus ein Fremdling in den Schriften und Disputationen der Philosophen ist, muß zugeben, daß kein kleiner Teil von ihnen sich auf abstrakte Ideen bezieht. Man nimmt an, daß sie vorzugsweise das Objekt derjenigen Wissenschaften bilden, welche die Namen  Logik  und  Metaphysik  tragen, und überhaupt aller derjenigen, welche für die abstraktesten und höchsten Lehrfächer gelten; in diesen allen wird man schwerlich eine Frage so behandelt finden, daß nicht vorausgesetzt würde, daß abstrakte Ideen im Geist existieren und dieser mit ihnen wohl bekannt sei.

§7. Allseitig wir anerkannt, daß die Eigenschaften (Qualitäten) oder Daseinsweisen (Modi) der Dinge nicht einzeln für sich und gesondert von allen anderen in Wirklichkeit existieren, sondern daß jedesmal mehrere von ihnen in demselben Objekt gleichsam miteinander vermischt und verbunden sind. Man sagt uns aber, daß der Geist, da er fähig sei, jede Eigenschaft einzeln zu betrachten oder sie von den anderen Eigenschaften, mit welchen sie vereinigt ist, abzusondern, hierdurch sich selbst abstrakte Ideen bilde.

Wenn z.B. durch den Gesichtssinn ein ausgedehntes, farbiges und bewegtes Objekt wahrgenommen worden ist, so bildet, sagt man, der Geist, indem er diese gemischte oder zusammengesetzte Idee in ihre einfachen Bestandteile auflöst und einen jeden derselben für sich mit Ausschluß der übrigen betrachtet, die abstrakten Ideen der Ausdehnung, Farbe und Bewegung. Nicht als ob es möglich wäre, daß Farbe oder Bewegung ohne Ausdehnung existieren; es soll nur der Geist für sich selbst durch  Abstraktion  die Idee der Farbe ohne Ausdehnung und der Bewegung ohne Farbe und Ausdehnung bilden können.

§8. Da ferner der Geist beobachtet hat, daß in den einzelnen durch die Sinne wahrgenommenen Ausdehnungen etwas Gleiches, ihnen allen Gemeinsames ist und etwas anderes, den einzelnen Ausdehnungen Eigentümliches, wie diese oder jene Form oder Größe, wodurch sie sich voneinander unterscheiden; so betrachtet er das Gemeinsame besonders oder scheidet es als ein Objekt für sich ab und bildet demgemäß eine höchst abstrakte Idee einer Ausdehnung, die weder Linie noch Fläche noch Körper ist noch auch irgend eine bestimmte Form oder Größe hat, sondern eine von diesem allem abgelöste Idee ist.

In gleicher Weise bildet der Geist, indem er von den einzelnen sinnlich perzipierten Farben dasjenige wegläßt, was sie voneinander unterscheidet, und nur dasjenige zurückbehält, was allen gemeinsam ist, eine Idee von Frabe in abstracto, die weder Rot noch Blau noch Weiß noch irgendeine andere bestimmte Farbe ist. In gleicher Art wird auch die abstrakte Idee der Bewegung, welche gleichmäßig allen einzelnen sinnlich wahrgenommenen Bewegungen entspricht, dadurch gebildet, daß die Bewegung nicht nur abgesondert von dem bewegten Körper, sondern ebenso auch von der beschriebenen Figur und von allen besonderen Richtungen und Geschwindigkeiten betrachtet wird.

§9. Wie der Geist sich abstrakte Ideen von Eigenschaften oder Daseinsweisen bildet, so erlangt er durch denselben Akt der sondernden Unterscheidung oder Vorstellungszerlegung durch abstrakte Ideen von den mehr zusammengesetzten Dingen, welche verschiedene zusammen existierende Eigenschaften enthalten. Hat z.B. der Geist beobachtet, daß Peter, Jakob und Johann einander durch gewisse, ihnen allen gemeinsam zukommende Bestimmtheiten der Gestalt und anderer Eigenschaften gleichen, so läßt er aus der komplexen oder zusammengesetzten Idee, die er von Peter, Jakob und anderen einzelnen Menschen hat, dasjenige weg, was einem jeden von ihnen allen gemeinsam ist, und bildet so eine abstrakte Idee, an der alle einzelnen gleichmäßig teilhaben, indem er von allen den Umständen und Unterschieden, welche sie zu irgend einer Einzelexistenz gestalten können, gänzlich abstrahiert und sie ausscheidet.

Auf diese Weise, sagt man, erlangen wir die abstrakte Idee des  Menschen  oder, wenn wir lieber wollen, der  Menschheit  oder der  menschlichen Natur,  worin zwar die Idee der Farbe liegt, da kein Mensch ohne Farbe ist, aber dies kann weder die weiße noch die schwarze noch irgend eine andere einzelne Farbe sein, weil es keine einzelne Farbe gibt, an der alle Menschen teilhaben. Ebenso liegt darin auch die Idee der Körpergestalt, aber dies ist weder eine große noch eine kleine noch eine mittlere Gestalt, sondern etwas von diesen allen Abstrahiertes. Das Gleiche gilt von allem Übrigen.

Da es ferner eine große Menge anderer Geschöpfe gibt, die in einigen Teilen, aber nicht in allen mit der abstrakten Idee  Mensch  übereinkommen, so läßt der Geist die Teile weg, welche den Menschen eigentümlich sind, hält nur diejenigen fest, welche allen lebenden Wesen gemeinsam sind, und bildet so die Idee des  Tieres,  worin nicht nur von allen einzelnen Menschen, sondern auch von allen Vögeln, Vierfüßlern, Fischen und Insekten abstrahiert wird.

Die konstituierenden Teile der abstrakten Idee eines Tieres sind: Körper, Leben, Sinnesempfindung und freiwillige Bewegung. Unter  Körper  wird verstanden ein Körper ohne irgend eine besondere Gestalt oder Figur, da keine solche allen Tieren gemeinsam ist, ohne Bedeckung mit Haaren, Federn, Schuppen usw., aber auch nicht nackt, da Haare, Federn, Schuppen und Nacktheit unterscheidende Eigentümlichkeiten einzelner Tiere sind und darum aus der  abstrakten Idee  wegbleiben. Aus demselben Grunde darf die freiwillige Bewegung weder ein Gehen noch ein Fliegen noch ein Kriechen sein; sie ist nichtsdestoweniger eine Bewegung, - was für eine Bewegung aber, ist nicht leicht zu begreifen.

§10. Ob andere diese wunderbare Fähigkeit der  Ideenabstraktion  besitzen, können sie uns am besten sagen; was mich betrifft, so finde ich in der Tat in mir eine Fähigkeit, mir die Ideen der einzelnen Dinge, die ich wahrgenommen habe, vorzustellen oder zu vergegenwärtigen, sie mannigfach zusammenzusetzen und zu teilen. Ich kann mir einen Mann mit zwei Köpfen oder auch die oberen Teile eines Menschen mit dem Leibe eines Pferdes verbunden vorstellen (imagine). Ich kann die Hand, das Auge, die Nase, jedes für sich abstrakt oder getrennt von den übrigen Teilen des Körpers betrachten. Was für eine Hand oder was für ein Auge ich dann aber auch mir vorstellen mag (imagine), so muß doch dieser Hand oder diesem Auge irgend eine bestimmte Gestalt und Farbe zukommen.

Ebenso muß auch die Idee eines Mannes, die ich mir bilde, entweder die eines weißen oder eines schwarzen oder eines rothäutigen, eines gerade oder krumm gewachsenen, eines großen oder kleinen oder eines Mannes von mittlerer Größe sein. Es ist mir unmöglich, durch irgend eine Anstrengung des Denkens die oben beschriebene abstrakte Idee zu erfassen (conceive by any effort of thought). Ebenso unmöglich ist es mir, die abstrakte Idee einer Bewegung ohne einen sich bewegenden Körper, einer Bewegung ferner, die weder schnell noch langsam, weder krummlinig noch geradlinig ist, zu bilden, und das Gleiche gilt von jedweder anderen abstrakten allgemeinen Idee.

Um mich genauer zu erklären: ich finde mich selbst befähigt zur Abstraktion in einem ganz bestimmten Sinne, nämlich wenn ich gewisse einzelne Teile oder Eigenschaften gesondert von anderen betrachte, mit denen sie zwar in irgendeinem Objekt vereinigt sind, ohne die sie aber in Wirklichkeit existieren können. Aber ich finde mich nicht befähigt, diejenigen Eigenschaften voneinander durch Abstraktion zu trennen oder gesondert aufzufassen (conceive), die nicht möglicherweise ebenso gesondert existieren können, oder einen allgemeinen Begriff (a general notion) durch Abstraktion von den besonderen in der vorhin bezeichneten Weise zu bilden.

In diesen beiden letzten Bedeutungen aber wird eigentlich der Terminus  Abstraktion  gebraucht. Auch ist die Annahme nicht unbegründet, daß die meisten Menschen zugeben werden, mit mir in gleichem Falle zu sein. Die meisten Menschen, welche schlicht und ungelehrt sind, machen keinen Anspruch auf den Besitz  abstrakter Begriffe  (abstract notions). Man sagt, sie seien schwierig und nicht ohne Mühe und Studium zu erlangen. Wir dürfen daher vernünftigerweise schließen, daß, wenn es abstrakte Ideen gibt, sie sich nur bei Gelehrten finden.

§11. Ich schreite nun zur Prüfung dessen fort, was zur Verteidigung der Lehre von der Abstraktion vorgebracht werden kann, und versuche zu entdecken, was es ist, wodurch wissenschaftliche Männer bewogen werden, eine Meinung anzunehmen, welche dem gemeinen Menschenverstand so fremd ist, wie es diese zu sein scheint. Ein kürzlich verstorbener, mit Recht geschätzter Philosoph, hat ohne Zweifel dieser Meinung großem Vorschub geleistet, indem er zu denken scheint, der Besitz abstrakter allgemeiner Ideen sei das, was zwischen der Verstandeskraft des Menschen und der Tiere den größten Unterschied ausmache. "Der Besitz allgemeiner Ideen" (sagt er) "begründet einen durchgängigen Unterschied zwischen dem Menschen und den vernunftlosen Wesen und ist ein Vorzug, der den Fähigkeiten der letzteren in keiner Weise erreichbar ist. Denn es ist offenbar, daß wir bei ihnen keine Spuren des Gebrauchs allgemeiner Zeichen für universale Ideen finden, wonach wir Grund haben anzunehmen, daß sie niicht die Fähigkeit zu  abstrahieren  oder allgemeine Ideen zu bilden besitzen, da sie keine Worte oder irgendwelche allgemeinen Zeichen gebrauchen."

Und kurz nachher: "Demgemäß dürfen wir, denke ich, annehmen, daß hierin der spezifische Unterschied der Tiere von den Menschen besteht, daß dieser eigentümliche Unterschied sie gänzlich absondert und sich zuletzt zu einem so beträchtlichen Abstande erweitert. Denn haben die Tiere überhaupt welche Vorstellungen und sind sie nicht, wie einige wollen, bloße Maschinen, so können wir nicht leugnen, daß sie in einem gewissen Sinne Vernunft besitzen, scheint mir auch dies zu sein, daß einige von ihnen in gewissen Fällen Schlüsse ziehen, aber nur mittels solcher Einzelvorstellungen, die sie von ihren Sinnen empfangen.

Auch die obersten Tierklassen bleiben in diese engen Grenzen gebannt und vermögen sie nicht durch irgendwelche  Abstraktion  zu erweitern." ( Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap.11 §§10 u.11.) Ich stimme diesem gelehrten Schriftsteller unbedenklich darin bei, daß den Fähigkeiten der Tiere die  Abstraktion  durchaus unerreichbar ist; nur fürchte ich, daß, wenn hierin ihr Unterscheidungsmerkmal liegen soll, sehr viele von denen, die für Menschen gelten, mit ihnen in eine Klasse zu setzen sind.

Der hier angegebene Grund, den Tieren keine abstrakten allgemeinen Ideen zuzuschreiben, liegt darin, daß wir bei ihnen keinen Gebrauch von Worten oder irgendwelchen anderen allgemeinen Zeichen beobachten. Dieser Grund ruht auf der Voraussetzung, daß der Gebrauch von Worten an den Besitz allgemeiner Ideen geknüpft ist, woraus folgt, daß Menschen, die sich der Sprache bedienen, fähig sind zu abstrahieren oder ihre Ideen zu verallgemeinern. Daß dies der Sinn und die Folgerung des Verfassers ist, geht ferner aus seiner Antwort auf die Frage hervor, die er an einer anderen Stelle aufwirft: "Doch da alle existierenden Dinge einzelne oder besondere Dinge (particulars) sind, wie gelangen wir zu einer allgemeinen Bezeichnung?" Er antwortet: "Worte werden dadurch allgemein, daß sie zu Zeichen allgemeiner Ideen gemacht werden" (a.a.O. Buch III, Kap.3, §6).

Es scheint jedoch, daß ein Wort allgemein wird, indem es als Zeichen gebraucht wird nicht für eine abstrakte allgemeine Idee, sondern für mehrere Einzelideen, deren jede es gleichermaßen im Geist anregt. Wird z.B. gesagt:  die Bewegungsänderung ist proportional der aufgewandten Kraft,  oder:  alle Ausgedehnte ist teilbar,  so sind diese Regeln von Bewegung und Ausdehnung im allgemeinen zu verstehen; dennoch folgt nicht, daß sie in meinem Geist eine Vorstellung von Bewegung ohne einen bewegten Körper oder ohne eine bestimmte Richtung und Geschwindigkeit anregen, oder daß ich eine abstrakte allgemeine Idee einer Ausdehnung bilden muß, die weder Linie noch Fläche noch Körper, weder groß noch klein, weder schwarz noch weiß noch rot noch von irgendeiner anderen bestimmten Farbe ist; sondern es liegt darin nur, daß, welche Bewegung auch immer ich betrachten mag, sei sie schnell oder langsam, senkrecht, waagrecht oder schräg, sei sie die Bewegung dieses oder jenes Objekts, das sie betreffende Axiom sich gleichmäßig bewahrheitet. Ebenso bewahrheitet sich der andere Satz bei jeder besonderen Ausdehnung, wobei es keinen Unterschied macht, ob sie eine Linie oder eine Fläche oder ein Körper, ob sie von dieser oder jener Größe oder Figur ist.

§12. Indem wir beobachten, wie Ideen allgemein werden, gelangen wir zu einem richtigeren Urteil darüber, wie Worte dies werden. Ich muß hier bemerken, daß ich nicht absolut die Existenz von allgemeinen Ideen, sondern nur die von  abstrakten allgemeinen Ideen  leugne; denn an den obigen Stellen, wo allgemeine Ideen erwähnt werden, ist stets vorausgesetzt, daß sie durch  Abstraktion  gebildet sind, auf die in den §§8 und 9 auseinandergesetzte Weise. Wollen wir nun mit unseren Worten einen bestimmten Sinn verknüpfen und nur von Begreiflichem (of what we can conceive) reden, so müssen wir, glaube ich, anerkennen, daß eine Idee, die an und für sich eine Einzelvorstellung (particular) ist, allgemein dadurch wird, daß sie dazu verwendet wird, alle anderen Einzelvorstellungen derselben Art zu repräsentieren oder statt ihrer aufzutreten.

Damit dies durch ein Beispiel klar werde, stelle man sich vor, daß ein Geometer den Nachweis führt, wie eine Linie in zwei gleiche Teile zu zerlegen ist. Er zeichnet etwa eine schwarze Linie von der Länge eines Zolls; diese Linie, die an und für sich eine einzelne Linie ist, ist nichtsdestoweniger mit Rücksicht auf das, was durch sie bezeichnet wird, allgemein, da sie, wie sie hier gebraucht wird, alle einzelnen Linien, wie auch immer sie beschaffen sein mögen, repräsentiert, so daß, was von ihr bewiesen ist, von allen Linien, oder mit anderen Worten, von einer Linie im allgemeinen bewiesen ist.

Ebenso, wie die einzelne Linie dadurch, daß sie als Zeichen dient, allgemein wird, so ist der Name  Linie,  der an sich partikular ist, dadurch, daß er als Zeichen dient, allgemein geworden. Und wie die Allgemeinheit jener Idee nicht darauf beruth, daß sie ein Zeichen für eine abstrakte oder allgemeine Linie wäre, sondern darauf, daß sie ein Zeichen für alle einzelnen geraden Linien ist, die existieren können, so muß auch angenommen werden, daß das Wort  Linie  seine Allgemeinheit derselben Ursache verdankt, nämlich dem Umstande, daß es verschiedene einzelne Linien unterschiedslos bezeichnet.

§13. Um dem Leser eine noch klarere Einsicht in die Natur abstrakter Ideen und in die Anwendungen, um derentwillen man ihrer zu bedürfen glaubt, zu verschaffen, will ich noch folgende Stelle aus dem "Versuch über den menschlichen Verstand" anführen:  "Abstrakte Ideen  sind Kindern oder im Denken noch ungeübten Personen nicht so nahe liegend oder leicht zu bilden, wie Einzelideen; so weit sie dies den Erwachsenen sind, sind sie es nur durch den beständigen, gewohnten Gebrauch geworden. Achten wir genau auf sie, so werden wir finden, daß allgemeine Ideen Produkte und Erfindungen des Geistes sind, die nicht ohne Schwierigkeit gebildet werden und sich nicht so leicht von selbst einstellen, wie wir zu glauben geneigt sind.

Erheischt es z.B. nicht einige Mühe und Geschicklichkeit, die allgemeine Idee eines Dreiecks zu bilden, die doch noch keine der abstraktesten, umfassendsten und schwierigsten ist? Es soll die Idee eines Dreiecks gebildet werden, welches weder schiefwinklig noch rechtwinklig noch gleichseitig noch gleichschenklig noch ungleichschenklig ist, sondern  alles dieses  und zugleich auch  nichts  von diesem. In der Tat ist dies etwas Unvollständiges, das nicht existieren kann, eine Idee, worin einige Teile von verschiedenen und miteinander  unvereinbaren  Ideen zusammengestellt sind.

Allerdings bedarf der Geist in seinem gegenwärtigen unvollkommenen Zustand solcher Ideen und eilt möglichst sie zu bilden zum Zweck der Mitteilung und Erweiterung der Erkenntnis, da er zu beiden von Natur eine sehr starkte Neigung hat. Doch läßt sich mit Recht vermuten, daß solche Ideen Merkmale unserer Unvollkommenheit sind. Zum mindesten reicht das Gesagte hin zu beweisen, daß die abstraktesten und allgemeinsten Ideen nicht diejenigen sind, mit welchen der Geist zuerst und am leichtesten vertraut wird, nicht diejenigen, auf welche seine ersten Kenntnisse sich beziehen" (a.a.O. Buch IV, Kap.7 §9).

Falls irgendjemand die Fähigkeit besitzt, in seinem Geist eine solche Dreiecksidee zu bilden, wie sie hier beschrieben ist, so ist es vergeblich, sie ihm abdisputieren zu wollen; ich unternehme das nicht. Mein Wunsch geht nur dahin, der Leser möge sich vollständig und mit Gewißheit überzeugen, ob er eine solche Idee hat oder nicht. Und dies, denke ich, kann für niemand eine schwer zu lösende Aufgabe sein. Was kann einem jeden leichter sein, als ein wenig in seinen eigenen Gedankenkreis hineinzuschauen und zu erproben, ob er eine Idee, die der Beschreibung, welche hier von der allgemeinen Idee eines Dreiecks gegeben worden ist, entspricht, hat oder erlangen kann, die Idee eines Dreiecks, welches weder schiefwinklig, noch rechtwinklig, weder gleichseitig noch gleichschenklig noch ungleichseitig, sondern dieses alles und zugleich auch nichts von diesem ist?

§14. Es wird hier vieles von der Schwierigkeit gesagt, die abstrakte Ideen mit sich bringen, von der Mühe und Kunst, die erforderlich ist, um sie zu bilden. Und es ist gar nicht zu bezweifeln, daß es großer Mühe und Anstrengung des Geistes bedarf, unser Denken von den Einzelobjekten loszumachen und sich zu den hohen Spekulationen zu erheben, die sich auf abstrakte Ideen beziehen. Die natürliche Konsequenz hieraus scheint doch zu sein, daß etwas so Schwieriges wie die Bildung abstrakter Ideen nicht eine Bedingung der Möglichkeit der Gedankenmitteilung sein kann, die etwas allen Klassen der Mensch so Leichtes und Gewöhnliches ist. Doch man sagt uns, wenn sie Erwachsenen nahe liegend und leicht zu sein scheinen, so seien sie dies nur durch beständigen und gewöhnlichen Gebrauch geworden.

Nun möchte ich gern wissen, zu welcher Zeit die Menschen damit beschäftigt sind, diese Schwierigkeiten zu überwinden und sich mit jenen notwendigen Mitteln zur Unterredung zu versorgen. Dies kann nicht dann geschehen, wenn sie erwachsen sind, denn zu dieser Zeit sind sie, wie es scheint, sich keiner derartigen Bemühung bewußt; somit bleibt nur übrig, daß es ein Werk ihrer Kindheit ist. Gewiß wird man finden, daß die große und vielfache Mühe der Bildung abstrakter Ideen eine so schwere Aufgabe für dieses Alter ist. Ist es nicht schwer sich vorzustellen, daß ein paar Kinder nicht miteinander von ihren Zuckerbohnen und Klappern und ihrem anderen Tand plaudern können, wenn sie nicht zuvor zahllose Widersprüche miteinander vereinigt und so in ihrem Geist abstrakte allgemeine Ideen gebildet und sie an jeden Gemeinnamen, dessen sie sich bedienen, geknüpft haben?

§15. Auch glaube ich nicht, daß sie zur Erweiterung der Erkenntnis in höherem Maße erforderlich sind als zur Mitteilung der Gedanken. Es wird, wie ich wohl weiß, entschieden behauptet, daß alle Erkenntnis und Beweisführung allgemeine Begriffe betrifft, und ich stimme meinerseits dieser Behauptung völlig bei: doch scheint mir, daß diese Begriffe nicht durch Abstraktion in der vorhin bezeichneten Weise gebildet sind; denn Allgemeinheit besteht, soviel ich begreifen kann, nicht in dem absoluten positiven Wesen oder Begriff von irgendetwas, sondern in der Beziehung, in welcher etwas zu anderem Einzelnen steht, was dadurch bezeichnet oder vertreten wird, wodurch es geschieht, daß Dinge, Namen oder Begriffe, die ihrer eigenen Natur nach partikular sind, allgemein werden.

Wenn ich irgend einen Satz beweise, der Dreiecke betrifft, so nimmt man an, daß ich den allgemeinen Begriff des Dreiecks im Auge habe; dies muß aber nicht so verstanden werden, als ob ich eine Idee des Dreiecks, das weder gleichseitig noch ungleichseitig noch gleichschenklig wäre, bilden könnte, sondern nur so, daß das einzelne Dreieck, welches ich betrachte, gleichgültig ob es von dieser oder jener Art ist, geradlinige Dreiecke aller Art repräsentiert oder statt ihrer steht und in diesem Sinne allgemein ist. Dieses alles scheint sehr klar zu sein und keine Schwierigkeit einzuschließen.

§16. Doch mag hier gefragt werden, wie wir anders wissen können, daß ein Satz von allen einzelnen Dreiecken wahr ist, als wenn wir ihn zuerst an der abstrakten Idee eines Dreiecks, die von allen einzelnen gleichmäßig gilt, bewiesen gesehen haben. Denn daraus, daß gezeigt sein mag, eine Eigenschaft komme irgend einem einzelnen Dreieck zu, folgt ja doch nicht, daß sie gleicherweise auch irgend einem anderen Dreieck zukommt, das nicht in jedem Betracht identisch mit ihm ist. Habe ich z.B. gezeigt, daß die drei Winkel eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zwei rechten Winkeln gleich sind, so kann ich hieraus nicht schließen, daß dasselbe von allen anderen Dreiecken gilt, welche weder einen rechten Winkel noch zwei einander gleiche Seite haben.

Es scheint demnach, daß wir, um gewiß zu sein, daß dieser Satz allgemein wahr ist, entweder einen besonderen Beweis für jedes einzelne Dreieck führen müssen, was unmöglich ist, oder es ein für allemal zeigen müssen an der abstrakten Idee eines Dreiecks woran alle einzelnen unterschiedslos teilhaben, und wodurch sie alle gleichmäßig repräsentiert werden. Darauf antworte ich, daß, obschon die Idee, die ich im Auge habe, während ich den Beweis führe, z.B. die eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks ist, dessen Seiten von einer bestimmten Länge sind, ich nichtsdestoweniger dessen gewiß sein kann, daß derselbe Beweis Anwendung findet auf alle anderen geradlinigen Dreiecke, von welcher Form oder Größe sie auch immer sein mögen, und zwar darum, weil weder der rechte Winkel noch die Gleichheit zweier Seiten noch auch die bestimmte Länge der Seiten irgendwie bei der Beweisführung in Betracht gezogen worden sind.

Zwar trägt das Gebilde, welches ich vor Augen habe, alle diese Besonderheiten an sich, aber es ist ihrer durchaus keine Erwähnung in dem Beweis des Satzes geschehen. Es ist nicht gesagt worden, die drei Winkel sind darum zwei rechten gleich, weil einer von ihnen ein rechter ist, oder weil die Seiten, welche diesen einschließen, gleich lang sind, was ausreichend zeigt, daß der Winkel, der ein rechter ist, ein schiefer hätte sein mögen und die Seiten ungleich, und daß nichtsdestoweniger der Beweis gültig geblieben wäre.

Aus diesem Grunde und nicht darum, weil ich von der abstrakten Idee eines Dreiecks den Beweis geführt hätte, schließe ich, daß das von einem einzelnen rechtwinkligen gleichschenkligen Dreieck Erwiesene von jedem schiefwinkligen und ungleichseitigen Dreieck wahr ist. Es muß hier zugegeben werden, daß es möglich ist, eine Figur bloß als ein Dreieck zu betrachten, ohne daß man auf die besonderen Eigenschaften der Winkel oder Verhältnisse der Seiten achtet. Insoweit kann man abstrahieren; aber dies beweist keineswegs, daß man eine abstrakte allgemeine, mit innerem Widerspruch behaftete Idee eines Dreiecks bilden kann. In gleicher Art können wir Peter, insofern er ein Mensch ist oder insofern er ein lebendes Wesen ist, betrachten, ohne die vorerwähnte abstrakte Idee eine Menschen oder eines lebenden Wesen zu bilden, indem alles Perzipierte in Betracht gezogen wird.

§17. Es wäre eine ebenso endlose wie nutzlose Aufgabe, den Schulphilosophen, jenen großen Meistern der Abstraktion, durch alle die mannigfachen unentwirrbaren Irrgänge von Irrtum und Disputation zu folgen, in welche ihre Lehre von abstrakten Wesen und Begriffen sie hineingeführt zu haben scheint. Was für Hader und Streit entstanden, wieviel gelehrter Staub aufgewirbelt worden ist wegen dieser Dinge, und welch einen herrlichen Vorteil die Menschheit daraus geschöpft hat, ist heute zu gut bekannt, als daß man darüber noch ausführlich zu handeln brauchte. Und es stände noch gut, wenn die üblen Folgen dieser Lehre auf den Kreis ihrer erklärten Bekenner eingeschränkt geblieben wären.

Erwägt man die großen Mühen, den Fleiß und die Fähigkeiten, welche so manche Menschenalter hindurch auf die Pflege und Förderung der Wissenschaften verwendet worden sind, erwägt man, daß trotz alledem der weitaus größere Teil von ihnen voll Dunkelheit und Ungewißheit und voll von Streitigkeiten, die nie enden zu sollen scheinen, geblieben ist, und daß selbst diejenigen Wissenschaften, die für gestützt auf die klarsten und zwingendsten Beweise gelten, seltsame Behauptungen enthalten, die dem Verständnis der Menschen völlig unzugänglich sind, und daß, alles zusammengefaßt, nur ein geringer Teil von ihnen der Menschheit einen wirklichen Nutzen anderer Art gewährt als den einer unschuldigen Zerstreuung und Ergötzung.

Erwägt man, sage ich, dies alles, so kann man leicht zur Hoffnungslosigkeit und völligen Verachtung alles Studiums gelangen. Doch mag man vielleicht anders urteilen bei einem Blick auf die falschen Prinzipien, die zur Geltung in der Welt gelangt sind, und unter denen allen keines, dünkt mich, einen weiter reichenden Einfluß auf die Denkweise der Forscher geübt hat als die Lehre von abstrakten allgemeinen Ideen.

§18. Ich wende mich nun zur Betrachtung des Ursprungs dieser herrschenden Vorstellung. Dieser scheint mir in der Sprache zu liegen. Gewiß hätte nichts, was weniger verbreitet ist als die Vernunft selbst, eine so allgemein angenommene Meinung verursachen können. Daß dies wahr ist, geht, wie aus anderen Gründen, so besonders auch aus dem offenen Bekenntnis der geschicktesten Verteidiger der abstrakten Ideen hervor, daß sie zum Zweck der Benennung gebildet worden seien, woraus offenbar folgt, daß, gäbe es nicht so etwas wie Sprache oder allgemeine Zeichen, niemals irgendwie an Abstraktion gedacht worden wäre. (siehe "Versuch über den menschlichen Verstand" Buch III, Kap.6, §39 und an anderen Stellen.) Wir wollen demgemäß untersuchen, in welcher Weise der Gebrauch von Worten zur Entstehung jenes Irrtums beigetragen hat.

Es kommt hierbei zuerst in Betracht, daß man angenommen hat, jeder Name habe oder sollte haben eine einzige bestimmte und feste Bedeutung, was die Menschen geneigt macht zu denken, des gebe gewisse abstrakte bestimmte Ideen, welche die wahre und allein unmittelbare Bedeutung eines jeden Gemeinnamens ausmachen, und durch Vermittlung dieser abstrakten Ideen gelange ein Gemeinname dazu, irgend ein einzelnes Ding zu bezeichnen, während es doch in Wahrheit keineswegs eine einzelne genau bestimmte Bedeutung gibt, die sich an irgend einen Gemeinnamen knüpft, da sie alle eine große Zahl einzelner Ideen unterschiedslos bezeichnen.

Dies alles folgt offenbar aus dem schon Gesagten und wird einem jeden durch einiges Nachdenken einleuchtend werden. Hiergegen eingewandt wird eingewandt werden, daß jeder Name, der eine Definition hat, hierdurch auf eine bestimmte Bedeutung eingeschränkt sei. Ist z.B. ein Dreieck definiert als eine durch drei gerade Linien begrenzte ebene Fläche, so ist hierdurch dieser Name darauf eingeschränkt, eine einzige bestimmte Idee und keine andere zu bezeichnen.

Ich antworte hierauf, daß in der Definition nicht gesagt ist, ob die Fläche groß oder klein ist, schwarz oder weiß, ob die Seiten lang oder kurz sind, gleich oder ungleich, auch nicht, unter was für Winkeln sie gegeneinander geneigt sind; in diesem allem kann große Verschiedenheit bestehen, und es ist demgemäß keine bestimmte Idee gegeben, auf welche die Bedeutung des Wortes Dreieck eingeschränkt wäre. Es ist eine Sache, einen Namen beständig im Sinne einer bestimmten Definition gebrauchen, und eine andere, durch ihn jedesmal dieselbe Idee zu bezeichnen. Das erste ist durchaus erforderlich, das andere nutzlos und unausführbar.

§19. Um aber ferner noch Rechenschaft davon zu geben, wie Worte den Anlaß zu der Lehre von den abstrakten Ideen gegeben haben, muß bemerkt werden, daß es eine herrschende Meinung ist, die Sprache habe keinen anderen Zweck als unsere Ideen mitzuteilen, und jeder Name, der etwas bezeichne, stehe für eine Idee. Setzen wir dies voraus und ist es zugleich gewiß, daß Namen, die doch nicht für ganz bedeutungslos gelten, nicht immer denkbare Einzelvorstellungen ausdrücken, so ist man geneigt, daraus geradewegs zu schließen, daß sie für einen abstrakten Begriff stehen. Daß manche allgemeine Bezeichnungen unter Gelehrten im Gebrauch sind, die nicht imer bei anderen bestimmte Einzelvorstellungen anregen, wird niemand leugnen. Und durch einiges Nachdenken wird man finden, daß es nicht notwendig ist, daß selbst bei der strengsten Gedankenverknüpfung Namen, die etwas bedeuten und Ideen vertreten, jedesmal, so oft sie gebraucht werden wir Buchstaben in der Algebra, wo, obschon durch jeden Buchstaben eine bestimmte Quantität bezeichnet wird, es doch zum Zwecke des richtigen Fortgangs der Rechnung nicht erforderlich ist, daß bei einem jeden Schritt jeder Buchstabe die bestimmte Quantität, zu deren Vertretung er bestimmt war, ins Bewußtsein treten läßt.

§20. Zudem ist nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, die Mitteilung von Ideen, welche durch Worte ausgedrückt werden, der hauptsächliche und womöglich gar einzige Zweck der Sprache. Es gibt andere Zwecke, wie z.B. die Erregung irgend einer Leidenschaft, die Bewirkung des Entschlusses, eine Handlung auszuführen oder zu unterlassen, die Versetzung des Gemüts in irgend einen bestimmten Zustand, Zwecke, denen der erstgenannte in manchen Fällen völlig untergeordnet ist; ja er kann ganz wegfallen, wenn diese Zwecke sich ohne ihn erreichen lassen, wie dies, denke ich, nicht selten in dem gewöhnlichen Reden der Fall ist.

Ich bitte den Leser, selbst nachzudenken und zu beobachten, ob es nicht beim Hören oder Lesen einer Rede oft geschieht, daß die Affekte der Furcht, der Liebe, des Hasses, der Bewunderung, der Verachtung und ähnliche unmittelbar in seinem Geist entstehen, sobald er gewisse Worte vernimmt, ohne daß irgend welche Ideen dazwischentreten. Ursprünglich mögen in der Tat die Worte Ideen angeregt haben, die geeignet waren, solche Gemütsbewegungen hervorzubringen; aber es läßt sich, wenn ich nicht irre, beobachten, daß wenn uns einmal die Sprache geläufig geworden ist, das Hören der Töne, das Sehen der Zeichen oft unmittelbar die Affekte zur Folge hat, die anfänglich nur durch Vermittlung der Ideen hervorgerufen werden konnten, welche nun völlig ausbleiben.

Können wir z.B. nicht freudig affiziert werden durch das Versprechen eines guten Dings, auch ohne eine Vorstellung davon zu haben, worin dieses etwa besteht? Oder genügt nicht schon die Bedrohung mit einer Gefahr, um Furcht zu erregen, obschon wir nicht an irgend ein einzelnes Übel denken, das uns wahrscheinlich treffen wird, und uns auch nicht eine abstrakte Vorstellung bilden? Ich glaube, daß jeder, der auch nur ein wenig eigenes Nachdenken mit dem Gesagten verbinden will, gewiß die Ansicht gewinnen wird, daß Gemeinnamen oft als Bestandteile der Sprache gebraucht werden, ohne daß der Sprechende sie zu Zeichen solcher Ideen in seinem eigenen Geist bestimmt, welche sie nach seiner Ansicht in dem Geist des Hörers hervorrufen sollen.

Auch sogar Eigennamen scheinen nicht immer in der Absicht ausgesprochen zu werden, und die Vorstellungen der Individuen ins Bewußtsein zu rufen, die, wie man voraussetzt, durch sie bezeichnet werden. Sagt mir z.B. ein Schulphilosoph: "ARISTOTELES hat dies gesagt", so ist nach meinem Verständnis alles, was er damit beabsichtigt, dies, mich geneigt zu machen, seine Meinung mit der Ehrerbietung und Unterwürfigkeit anzunehmen, welche die Gewohnheit an jenen Namen geknüpft hat. Diese Wirkung kann im Geist solcher, die gewöhnt sind, ihr Urteil dem Ansehen dieses Philosophen zu unterwerfen, so augenblicklich eintreten, daß unmöglich irgend eine Vorstellung seiner Person, seiner Schriften, seines Rufes vorausgegangen sein kann. Unzählige Beispiele dieser Art könnten aufgestellt werden; aber warum sollte ich bei Dingen verweilen, die einem jeden seine eigene Erfahrung ohne Zweifel reichlich ins Bewußtsein ruft?

§21. Es ist von uns, denke ich, die Unmöglichkeit abstrakter Ideen erwiesen worden. Wir haben erwogen, was von ihren geschicktesten Verteidigern gesagt worden ist und wir haben zu zeigen gesucht, daß sie von keinem Nutzen für die Zwecke sind, um derentwillen man sie für erforderlich hält. Wir haben schließlich der Quelle nachgespürt, woraus ihre Annahme fließt, und diese Quelle in der Sprache gefunden. Es kann nicht geleugnet werden, daß Worte trefflich dazu dienen, den ganzen Vorrat von Kenntnissen, der durch die vereinten Bemühungen von Forschern aller Zeiten und Völker gewonnen worden ist, in den Gesichtskreis eines jeden Einzelnen zu ziehen un in seinen Besitz zu bringen.

Zugleich aber muß anerkannt werden, daß die meisten Teile des Wissens erstaunlich verwirrt und verdunkelt worden sind durch den Mißbrauch von Worten und allgemeinen Redeweisen, worin sie überliefert worden sind. Weil demgemäß Worte so leicht den Geist zu täuschen vermögen, so werde ich, welche Ideen auch immer ich betrachte, versuchen, sie gleichsam bloß und nackt anzuschauen, indem ich aus meinem Denken, so weit ich es vermag, jene Benennungen entferne, welche eine lange und beständige Gewohnheit so eng mit ihnen verknüpft hat, und ich darf erwarten, daß hieraus folgende Vorteile herfließen werden.

§22. Zuerst darf ich gewiß sein, von allen bloß verbalen Kontroversen loszukommen; das Emporwachsen dieses Unkrauts aber ist in fast allen Wissenszweigen ein Haupthindernis des Gedeihens der Wahrheit und gesunden Erkenntnis gewesen. Zweitens scheint dies ein sicherer Weg zu sein, mich jenem feinen und zarten Netz abstrakter Ideen zu entziehen, welches auf eine so klägliche Weise den Geist der Menschen verwirrt und verstrickt hat, und zwar in der seltsamen Weise, daß je schärfer und wißbegieriger der Verstand eines Menschen war, er desto leichter tief verstrickt und gefesselt werden konnte.

Drittens, solange ich meine Betrachtung auf meine eigenen der Worte entkleideten Ideen einschränke, sehe ich nicht, wie ich leicht in die Irre geraten könnte. Die Objekte meiner Betrachtung kenne ich klar und genau. Ich kann nicht die falsche Meinung hegen, ich hätte eine Idee, die ich nicht habe. Es ist mir nicht möglich, mir einzubilden, einige meiner eigenen Ideen seien einander ähnlich oder unähnlich, die dies nicht wirklich sind. Die Übereinstimmungen oder Verschiedenheiten zu unterscheiden, die zwischen meinen Ideen bestehen, zu sehen, welche Ideen in einer zusammengesetzten Idee enthalten sind und welche nicht, dazu ist nichts Weiteres erforderlich als eine aufmerksame Wahrnehmung dessen, was in meinem eigenen denkenden Geist vorgeht.

§23. Aber die Erreichung dieser Vorteile hat zur Voraussetzung eine völlige Befreiung von der Täuschung durch Worte, und diese darf ich mir kaum versprechen, so schwer es ist, eine Verbindung aufzulösen, die so früh begonnen hat und durch eine so lange Gewöhnung fest geworden ist, wie die, welche zwischen Ideen und Worten besteht. Diese Schwierigkeit scheint durch die Lehre von der Abstraktion um sehr vieles vermehrt worden zu sein. Denn es dürfte nicht befremdlich sein, daß man, so lange man annahm, abstrakte Ideen seien an die Worte geknüpft, Worte statt der Ideen gebrauchte, da es unausführbar gefunden wurde, das Wort beiseite zu setzen und die abstrakte Idee im Geist zu behalten, die an sich selbst durchaus undenkbar war.

Dies scheint mir die Hauptursache zu sein, warum die Männer, welche so nachdrücklich andern empfohlen haben, allen Gebrauch von Worten in ihrem Nachsinnen beiseite zu setzen und ihre bloßen Ideen zu betrachten, doch bei dem Versuch, dies selbst zu leisten, gescheitert sind. Neuerdings sind von manchen die absurden Meinungen und sinnlosen Streitverhandlungen, welche aus dem Mißbrauch der Worte erwachsen, wohl bemerkt worden, und sie geben den guten Rat, um diese Übel zu vermeiden, solle man auf die bezeichneten Ideen achten und seine Aufmerksamkeit von den Worten ablenken, welche sie bezeichnen.

Wie trefflich aber auch dieser Rat sein mag, den sie andern erteilt haben, so ist doch klar, daß sie selbst ihn nicht genügend befolgen konnten, so lange sie annahmen, die Worte dienten unmittelbar nur zur Ideenbezeichnung, und die unmittelbare Bedeutung eines jeden Gemeinnamens sei eine bestimmte abstrakte Idee.

§24. Nachdem aber diese Meinungen als Irrtümer erkannt sind, kann man sich leichter davor hüten, durch Worte getäuscht zu werden. Wer weiß, daß er keine anderen Ideen als Einzelideen besitzt, wird sich nicht vergeblich bemühen, die an irgend einen Namen geknüpfte abstrakte Idee herauszufinden und zu denken. Wer weiß, daß Namen nicht immer Ideen vertreten, wird sich die Mühe ersparen, nach Ideen zu suchen, wo keine gewesen sind.

Es wäre demgemäß zu wünschen, daß ein jeder so sehr als möglich sich bemühte, eine klare Einsicht in die Ideen zu gewinnen, die er betrachten will, indem er von ihnen alle die Bekleidung und allen den beschwerenden Anhang von Worten abtrennt, der so sehr dazu beiträgt, das Urteil zu trüben und die Aufmerksamkeit zu teilen. Vergeblich erweitern wir unsern Blick in die himmlischen Räume und erspähen das Innere der Erde; vergeblich ziehen wir die Schriften gelehrter Männer zu Rate und verfolgen die dunklen Spuren des Altertums; wir sollten nur den Vorhang von Worten wegziehen, um klar und rein der Erkenntnisbaum zu erblicken, dessen Frucht vortrefflich und unserer Hand erreichbar ist.

§25. Wenn wir nicht Sorge tragen, die ersten Prinzipien der Erkenntnis rein als solche zu denken, abgelöst von der Verwirrung und Täuschung, die sich an Worte knüpft, so mögen wir endlose Betrachtungen über sie ohne irgend einen Erfolg anstellen; wir mögen Konsequenzen aus Konsequenzen ziehen und werden doch niemals weiser werden. Je weiter wir gehen, um so unrettbarer werden wir uns in Schwierigkeiten und Irrtümer verlieren, umso tiefer uns in diese verwickeln. Ich bitte demgemäß einen jeden, die die folgenden Bogen zu lesen gedenkt, meine Worte sich als Anlaß zu eigenem Denken dienen zu lassen und zu versuchen, beim Lesen denselben Gedankengang zu bilden, welcher der meine beim Schreiben war. Hierdurch wird es ihm leicht werden, die Wahrheit oder Unwahrheit dessen, was ich sage, zu entdecken, Er wird ganz außer Gefahr sein, durch meine Worte getäuscht zu werden, und ich sehe nicht, wie er zu einem Irrtum verleitet werden könne, wenn er seine eigenen nackten, der entstellenden Hülle entledigten Ideen betrachtet.
LITERATUR, Berkeleys Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Kirchmanns "Philosophische Bibliothek", Bd. 12, Berlin 1869