ra-3K. SchefflerB. ErdmannG. SimmelE. SprangerW. DiltheyO. Liebmann   
 
EDUARD SPRANGER
Lebensformen
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I. Methodologische Vorbemerkungen
II. Die idealen Grundtypen
III. Die Mischung der Typen
IV. Ethische Folgerungen

"Der rein theoretische Mensch ist der  wirtschaftlichen Seite des Lebens gegenüber gleichgültig bis zu dem Grad, daß er sich selbst zu erhalten vergißt. Seine Arbeit ist das Erkennen, nicht der Erwerb. Wir betreten die Stube  Paul von Winterfelds, der eine glänzende Bibliothek besitzt, aber kaum ein Bett; er kümmert sich nicht um die nötigste Nahrung des Lebens und verzehrt sich selbst in seiner Wissenschaft. Denkt der Erkennende überhaupt an Erwerb, so ist es ihm etwas Untergeordnetes, ein Nebengeschäft, nicht  sein Beruf."


II.
Die idealen Grundtypen

Es ist das Wesen allen geistigen Lebens, Zweckzusammenhang und Zweckverwebung zu sein. Wir fanden, daß in den geistigen Hauptgebieten jeweils ein hervorstechender Zweck dominiert, der freilich nie in völliger Isolierung auftreten kann. Denken wir uns nun jedes einzelne dieser Gebiete bis zu seiner höchsten Leistung entfaltet, und zwar so, daß nicht ihr Zusammenwirken, sondern ihre isolierte Wirkung betrachtet wird, so muß uns in dieser Isolierung und Steigerung das betreffende Gebiet in besonders deutlichen Umrissen erscheinen: wir haben es dann in seiner teleologischen Vollkommenheit vor uns; wir haben seine  ideale Gestalt.  Doch soll bei dieser Bezeichnung noch gar kein ethischer Nebenton mitschweben. Die Frage, ob eine solche partielle Vollendung der Kulturseiten überhaupt einen ethischen Wert hat, gehört nicht in eine Untersuchung, die psychologisch gerichtet ist. Doch läßt sich, wie übrigen schon WILHELM von HUMBOLDT gesehen hat, diese Art psychologischer Begriffsbildung nicht von teleologischen Gesichtspunkten loslösen. Die Typen, die wir bilden, werden nicht bloße Durchschnittsbilder sein, sondern zugleich Wert und Leistung der betreffenden Geistesform in möglichster Steigerung herausheben. Wer den Staat definiert, sagt unvermeidlich auch, was seiner Ansicht nach der Staat sein und leisten  soll.  Die geisteswissenschaftlichen  Begriffe  nähern sich deshalb in hohem Maße dem, was die Platoniker als  Idee  bezeichnen. Aber noch einmal: ein  sittliches  Werturteil soll in dieser teleologischen Steigerung vorläufig nicht entfernt enthalten sein.

Dasselbe gilt natürlich auch von den Lebensformen. Die begriffliche Arbeit, durch die sie herausgehoben werden, ist ebenfalls eine relative Isolierung und Steigerung.  Eine  Seite des menschlichen Zwecksystems erscheint in ihnen zu höchster Leistung entfaltet. Daraus ergibt sich sogleich, daß konkrete Annäherungen an diese Grundtypen nicht unter den konventionellen Lebensformen gesucht werden können, die auf der Unterordnung unter eine fremden Art beruhen, sei sie durch Sitte oder Mode oder sonstwie vorgeschrieben, - sondern allein unter den Naturen, in denen  ein  Grundtrieb mit Allgewalt wirksam ist. Die adäquatesten Beispiele für unsere Typen sind diejenigen Menschen, die von einem starken Lebenstrieb fast dämonisch beherrscht sind, nicht diejenigen, die ihr Dasein durch kühle Reflexion oder eine harmonische Selbstbildung gestalten. Solche Naturen, sagt man, sind irrational. Und sicher werden sie es in ihrer konkreten Erscheinung stets sein. Aber in begrifflicher Arbeit läßt sich ihre Grundstruktur herausheben, und wenn es möglich ist, diese Naturen durch eine Analyse überhaupt tiefer zu verstehen, so beruth dies eben auf dem nur dunkel bewußten Vorgang, daß alles Besondere und Abweichende an ihnen uns wieder eine neue Richtung und Fragestellung gibt, ganz wie in der Naturwissenschaft scheinbare Unregelmäßigkeiten nur Hinweise auf mehrere Gesetze sind, die sich innerhalb eines Systems kreuzen. Hiervon wird noch im 3. Abschnitt näher die Rede sein.

Über die Reihenfolge, in der nunmehr diese idealen Grundtypen auftreten, ist zu bemerken, daß sie keine Rangordnung bedeuten soll. Ansich könnte jeder den Reigen eröffnen; denn jeder ist eine Abstraktion und in der Wirklichkeit auf alle anderen gleichmäßig angewiesen. Wenn wir also mit der Seite der Wissenschaft und dem theoretischen Menschen beginnen, so geschieht es nur aus Zweckmäßigkeitsgründen, nämlich deshalb, weil wir auf die Realistik des Erkennens bei allen folgenden naturgemäß zuerst zurückverweisen werden.


1. Der theoretische Mensch

A. Die Wissenschaft als Kultursystem ist eingelagert in eine Fülle heterogener Faktoren, die ihr eigenstes Wesen verhüllen. Die Wissenschaftslehre oder Erkenntnistheorie ist der immer wiederholte Versuch, das Wissen in seiner Reinheit darzustellen, d. h. es von allen fremdartigen Motiven zu sondern und auf seine konstituierenden Grundformen zurückzuführen. In dieser Arbeit lebt die feste Überzeugung von der Objektivität des Wissenschaftssystems, noch deutlicher gesagt: von der Loslösbarkeit all dessen, was wirklich Wissenschaft begründet, aus der zufälligen, leidenschaftlichen und wertbestimmten Subjektivität. Käme diese Arbeit zum Ziel, so würde sie das Wissen gleichsam als eine für alle Denkenden gemeinsame Ebene darstellen, auf die alle Inhalte des Lebens (auch die subjektivsten) projizierbar sind, freilich nicht ihrer Plastik, sonderns in Zweidimensionale, Flächenhafte übersetzt. In keinem anderen Kulturgebiet ist die Aufgabe so eindeutig und so rational. Wenn ihre Lösung selbst hier bis heute nicht vollständig ist, so wird uns dies lehren, bei den anderen Gebieten noch bescheidener zu sein. Wir kommen somit gleich zu Beginn in den Streit der Erkenntnistheorien hinein, in dem es noch keinen letzten Richter gibt. Wollen wir nun hier nicht versinken, so müssen wir uns an das halten, was dem Streit selbst zugrunde liegt und ihn erst möglich macht. Darin wird dann jedenfalls das grundlegende Gesetz des Erkenntnisgebietes enthalten sein.

Dieses Gesetz ist  Objektivität Streiten über Meinungen kann man nur, wenn man einen gemeinsamen Boden voraussetzt und wenn das letzte Ziel ist, sich mit dem andern in einem für beide geltenden Satz zu einigen. Der Gegensatz dieses Objektiven ist das Subjektive, das  nur  für das Subjekt Gültige. Dahin gehört nun die ganze psychische Anlage von der individuellen Beschaffenheit der Sinnesorgane bis zu  den  Formen des Denkens, die psychisch bedingt sind, die Richtung der Wünsche, Begierden, Träume, das Temperament usw. Auf dieses Subjektive läßt sich keine Wissenschaft gründen. Es müssen also "Objektivität-konstituierende Momente" aufgesucht werden. Wie man sie nennen mag, ist demgegenüber sekundär. Ferner wird man unterscheiden müssen zwischen der reinen Theorie, die nur die ideale (gedankliche) Sphäre des Denkens selbst betrifft, und jenem Erkennen, das die in Raum und Zeit auftretende "Realität" als ein System  objektiver  Erfahrung konstruiert. In welcher Beziehung beide Sphären zueinander stehen, kann hier nicht entschieden werden, weil dies hieße, eine  spezielle  erkenntnistheoretische Richtung zu setzen, und dies soll dem vorliegenden Zweck gemäß vermieden werden. So dürfen wir also vielleicht aus dem Zweck der Wissenschaft - nämlich Objektivität - die Definition ableiten:
    Wissenschaft ist die Herstellung eines Zusammenhangs von Begriffen und Sätzen, die unabhängig von der besonderen individuellen Beschaffenheit und zeitlichen Bedingtheit des Subjekts für eine objektive Welt gelten.
Diese Bestimmung wird dadurch nicht widerlegt, daß jede Zeit und beinahe jede Kultur ihr besonderes Wissenschaftssystem hat. Der Endpunkt des Weges ist eben noch nicht erreicht. In jeder Biegung seiner Kurven aber wirkt der formulierte Zweck als beherrschendes Gesetz, freilich mannigfach entstellt durch das Hineinwirken fremdartiger Faktoren und Motive. Die Struktur der Wissenschaft rein für sich genommen aber dürfte in unserem Satz ausgesprochen sein.

B. Der wissenschaftliche Mensch nun ist der Mensch, der von diesem Gesetz vorwiegend beherrscht ist. Der Trieb zum Wissen, der Wille zur Objektivität ist in ihm am höchsten entfaltet. Wenn aber schon die Wissenschaft als Kultursystem niemals dieses Gesetz in seiner völligen Reinheit zu zeigen vermag, sondern immer abhängig und durchwebt von fremden Zweckzusammenhängen, so wird dies im einzelnen Menschen noch viel stärker der Fall sein, da er ja nicht zu leben vermöchte, wenn er sich ausschließlich auf den Zweck des Erkennens zurückzöge. Wir werden also auch die anderen Zweckrichtungen in ihm finden, nur variiert in  dem  Sinne, wie es der Grundtrieb seiner Natur fordert.

Der rein theoretische Mensch ist der  wirtschaftlichen  Seite des Lebens gegenüber gleichgültig bis zu dem Grad, daß er sich selbst zu erhalten vergißt. Seine Arbeit ist das Erkennen, nicht der Erwerb. Wir betreten die Stube PAUL von WINTERFELDs, der eine glänzende Bibliothek besitzt, aber kaum ein Bett; er kümmert sich nicht um die nötigste Nahrung des Lebens und verzehrt sich selbst in seiner Wissenschaft. Denkt der Erkennende überhaupt an Erwerb, so ist es ihm etwas Untergeordnetes, ein Nebengeschäft, nicht  sein  Beruf. SPINOZA ernährt sich vom Schleifen optischer Gläser. Dieser Zusammenhang ist typisch, so sehr, daß das stärkere Erwerbsinteresse den Hauptzweck des Lebens beeinträchtigen würde. Im  sozialen Verhalten  dieses Menschen herrscht nicht die Liebe, das tiefe Eingehen auf andere, sondern die Mitwelt wird ihm wertvoll nur als Wissensgemeinschaft; nur für Mitforschende und Verstehende interessiert er sich wirklich tief. Wo er das Verhalten anderer beurteilt, liegt er ihnen gern intellektuelle Motive unter. Deshalb ist der  reine  Gelehrte meist ein einseitiger Kenner des Lebens und der Menschen; (1) manch blasse Geschichtsschreibung hat hierin ihren Grund. Wenn er auf andere stark wirkt, so ist es, um sie zur Wissenschaft zu erziehen; sie ist das Höchste, was er zu geben vermag. Der Theoretiker hat keinen eigentlich  politischen  Ehrgeiz. Aber er hat ein starkes Machtgefühl eben durch sein Wissen, auch dann, wenn es zum Eingreifen ins Dasein und zum Gestalten der Welt eigentlich zu lebensfern ist. Die Macht, die ihm seine Lebensstellung gibt, benutzt er zum Durchsetzen seiner Wahrheiten; sein Kampf ist Polemik; er vernichtet die Menschen durch Kritik. Er will das Leben und die Menschenwelt durch Wissenschaft gestalten und lenken. PLATO möchte die Philosophen zu Königen machen.  Diese  Beziehungen zum Machtgebiet also sind für den Theoretiker höchst positiv. Die  Phantasie  als freischwebende und Genuß gewährende Kraft muß ihm verhaßt sein. PLATO, übrigens kein  reiner  Theoretiker, verbannt die Dichter, weil sie Unwahrheit reden. Der Stoiker sieht alle Gefahren in der Phantasie und alle Rettung in der Einsicht. Wer von der formalen Logik ausgeht, stempelt jeden, der auch andere Faktoren anerkennt, geringschätzig zum "Romantiker". Freilich scheinen hier bisweilen auch positivie Beziehungen einzutreten: kein Weltbild wird aus reinem Wissen vollständig. In den Lücken waltet gern die ausgestaltende Phantasie. Sie bestimmt die größere oder geringere Distanz, die der Denker zur Realität hat. Für den Theoretiker selbst freilich gelten diese Interpolationen [Veränderungen eines ursprünglichen Textes - wp] nur, weil er in ihnen streng wissenschaftliche Kategorien zu sehen glaubt. Solche fremden Bestandteile etwa in den Philosophemen aufzusuchen (wie es DILTHEY getan hat), ist im höchsten Maße lehrreich und enthüllt die besondere Struktur dieser Gebilde. Wo der wissenschaftlich Denkende die Kunst beurteilt, tut er ihr vielleicht Unrecht, indem er von der Wissenschaft her Forderungen von Allgemeingültigkeit mitbringt, die ihr ursprünglich fremd sind. Sein Verhalten zur  Religion  endlich ist ebenfalls durch die Mittel des Erkennens bestimmt; auf dem Weg der Erkenntnis sucht und findet er Gott: das Ewige in seiner Intellektualwelt wird ihm Garantie des Ewigen überhaupt. Sein  amor Dei [Liebe Gottes - wp] ist ein  amor intellectualis.  Auch hier ist meines Erachtens keine erlösende Kraft. Aber schon, daß sich ihm dieser Weg unter solchen Bildern darstellt, ist ein Zeichen seiner inneren Struktur. Sie spiegelt sich auch in seiner Gottheit und ihrem schweigenden Denken, oder darin, daß ihm ein metaphysischer Begriff Ersatz für das ist, was das Symbol der Gottheit für die Gemütswelt bedeutet.

C. Schon die allgemeinste Charakteristik dieses idealen Typus weist auf alle möglichen Schattierungen allenthalben hin. Dehnen wir also nunmehr unsere abstrakte Enge etwas aus!

Der Gegensatz von  Rezeptivität und Schöpferkraft  geht durch alle Kulturgebiete und Lebensformen hindurch. Der ideale Typus ist natürlich überall der schöpferische. Aber alle seine Eigenschaften erscheinen in abgeblaßter Form auch beim Empfangenden: ist doch z. B. das Aufnehmen der Wissenschaft nur möglich durch ein inneres Nachschaffen. An der äußersten Grenze steht der kritiklose Nachsprecher, der zwar das wissenschaftliche Bedürfnis fühlt, aber selbst im Nachschaffen noch unfruchtbar ist.

Einen tieferen Gegensatz bewirkt der Unterschied der  Objekte.  Man hat neuerdings versucht, ihn auszulöschen und durch einen methodologischen zu ersetzen. Wie dem auch sei, für unser Strukturproblem bleibt der Naturwissenschaftler vom Geisteswissenschaftler durch eine Welt getrennt. Jeder kennt diesen tiefen Gegensatz aus Erfahrung, zumal wenn man ihn nach seinen äußersten Enden: der mathematischen Naturwissenschaft und der historischen Geisteswissenschaft beurteilt: der eine beherrscht vom Ideal der Exaktheit in Maß und Zahl, der andere erfüllt von der universalen objektiven Geisteshaltung, die das eigene Selbst auslöscht, dafür aber die ganze Fülle der Geistesbildungen anerkennt; der eine bestrebt, alles auf ein äußeres berechenbares System zurückzuführen, und auch dann, wenn die mechanische Weltauffassung selbst nicht mehr das letzte Ideal bedeutet, doch ein unerbittliches System mathematischer Symbole und Transformationen voraussetzend; der andere durchdrungen von der Überzeugung, daß alles einen inneren, organischen, sich entwickelnden Zusammenhang hat, der weniger dadurch die Abstraktion, als durch die Totalität der Bedingungen gemeistert wird. Zwischen beiden liegen Übergangsformen: der Biolog, der beschreibende Naturwissenschaftler, der Theoretiker der Sozialwissenschaften.

Auch die  Methode  scheidet die Geister. Da sind zunächst die Empiriker im weitesten Sinne. Ihre Eigenart beginnt bei den Naturwissenschaftlern schon mit der sinnlichen Organisation: das Auge, der Tastsinn, der Geruch usw. sind zu besonderer Unterschiedsempfindlichkeit entwickelt; bei den Geisteswissenschaftlern entspricht dem der Sinn für Tatsachen, für das begrifflich noch nicht Geformte. Wo der Typus des Empirikers rein auftritt, zeigt sich eine auffallende Unkräftigkeit der geistigen Verarbeitung, dafür ein starker Trieb zum Beobachten, Sammeln, Registrieren, Aufzählen. Anders der Methodiker im  eigentlichen  Sinne, dem sich Erfahrung und Denken zu einer Gesamtleistung verbindet. Er tritt mit begrifflichen Fragestellungen an die Wirklichkeit heran, er sucht das Gesetz in der Erscheinungen Flucht und verfährt nach dem Schema: Induktion, Deduktion, Verifikation. Im Gleichgewicht des Aufnehmens und Verarbeitens entfaltet er seine Stärke. Endlich der  rein deduktive Geist,  der sich im Spekulativen am auffallendsten offenbar: in ihm überwiegt die Begriffsarbeit, oft sogar eine Phantasie-durchwirkte Begriffsarchitektonik, mit denen er die Erscheinungen meistert. Seine Leistungen und Stärke ist die Antizipation von Erfahrungen; er gelangt infolgedessen auch am frühesten zum System, dem Abschluß der wissenschaftlichen Erkenntnis.

Damit berühren wir die Frage nach den Unterschieden, die der  Umfang  des Erkennens bedingt - eine Fülle von Schattierungen, beginnend mit der zusammenhangslosen Einzelarbeit, endend mit dem letzten und höchsten Einheitstrieb. Auch der  Aphoristiker - man muß ihn schon nach seinem Darstellungsstil benennen - hat einen theoretischen Trieb und mag ihn unter Umständen umso reiner betätigen, als er allein das Objekt sprechen läßt: wie er es findet, hier oder da, heute oder morgen, spricht er es aus. Tatsachen der Natur, psychologische Wahrheiten, so sehr sie auf das Individuelle bezogen sein mögen, sind ihm interessant; aber er hat nicht den Trieb, sie wirklich auf eine höhere Einheit oder auf Notwendigkeit zurückzuführen. Der  Spezialist  erfaßt einen Ausschnitt der Wirklichkeit mit höchster Treue und Vollständigkeit; aber ihn kümmert kaum die Stelle, die dieses Gebiet im Ganzen der Wissenschaft einnimmt. Das psychologische Problem, das er uns aufgibt, ist das Suchen nach den unterirdischen Quellen, die dieses vereinzelte Sammelbecken füllen: Fast immer ist ein solcher lebendiger Zusammenhang der scheinbar willkürlichen Wahl mit allgemeineren Lebensinteressen oder geistigen Kräften nachzuweisen. Zuletzt der  Systematiker:  sein Trieb ist auf ein Ganzes gerichtet, im höchsten Fall der Ausprägung: beim systematischen Philosophen, auf das Ganze der Erkenntnis. Es ist nicht notwendig, daß dadurch allein ein höherer Grad von Wissenschaftlichkeit gesetzt ist, obgleich wir das Moment des "Zusammenhanges" mit in die Definition der Wissenschaft aufnehmen mußten. Aber dieser Zusammenhang kann erkauft sein auf Kosten der Objektivität und Treue. Der Trieb nach Einheit kann mehr in einer künstlerischen Phantasie wurzeln als in der Strenge der Begriffsentwicklung. SCHOPENHAUERs Systembildung ist ein naheliegendes Beispiel dafür, daß nicht alles, was unter dem Titel "Wissenschaft" erscheint, auch rein und restlos aus objektiv-theoretischem Verhalten hervorgeht. Die Kritik und die psychologische Interpretation werden also solchen Geistesformen gegenüber zusammenwirken müssen, um sie teils zu verstehen, teils ihre Objektivität zu bewerten.

Wenn wir zuletzt den  Gegensatz  des theoretischen Menschen, den  Skeptiker,  hier anfügen, so geschieht es mit innerer Begründung. Denn dieser Typus setzt das Hindurchgegangensein durch das Ideal der Theorie voraus: die Skepsis erhält erst Sinn, wenn ihr der Gedanke der Wissenschaft gegenübersteht als das, was sie verneint. Insofern hängt der Skeptiker mit dem Fanatiker der Wissenschaft innig zusammen, als er ein Ideal begraben hat und von den stillen Tränen lebt, die er ihm nachweint, wenn er nach außen hin auch einen herben Stolz zur Schau trägt. Man kann Skeptiker sein aus sehr verschiedenen Motiven: aus religiöser Andacht, aus ästhetischem Reichtum der Phantasie, aus Drang zur Tat in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft. Von all diesen Lebensformen kann  hier  nicht die Rede sein. Man kann aber auch Skeptiker sein  aus Theorie;  der Skeptizismus kann eine wissenschaftlich-kritische Grundlage haben. Wenn nun die Erkenntnistheoretiker diesem Standpunkt immer wieder seine Inkonsequenz vorgeworfen haben, da er die Möglichkeit jeder Theorie verneint durch eine neue Theorie, die er allgemeingültig setzt, so beweisen sie damit nur, daß sie selbst dem theoretischen Typus rein angehören, ohne ihn jedoch in seiner Bedeutung als  eine  der möglichen Lebensformen durchschaut zu haben. Die Verneinung der Wissenschaft  aus  Wissenschaft mag unlogisch sein, aber als Lebensform ist sie eine interessante und sehr wohl mögliche, innerlich verständliche Struktur. So selten der Skeptiker gerade in dieser Form auftreten mag, so charakteristisch ist gerade er für den theoretischen Typus, weil er ihn mit den hochgespanntesten Erwartungen und mit der schärfsten Selbstkritik vertritt. Vielleicht war HUME ein solcher Mensch; seine Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit macht zuletzt doch auch seine Skepsis produktiv. Es klingt paradox, wenn man einen gewissen Typus der Atheisten für die religiösesten Menschen erklärt; aber es liegt darin die Wahrheit, daß der reine Atheist ein solcher nur wird aus Enttäuschung eines sehr starken religiösen Grundtriebes. Ebenso könnte man sagen: der Skeptiker aus System sei in gewissem Sinn der reinste, weil sich selbst überbietende Typus des theoretischen Menschen.


2. Der wirtschaftliche Mensch

A. Die Wissenschaft erzeugt ein System von Begriffen und Sätzen, das in hohem Maß von der subjektiven Konstitution des Erkennenden losgelöst ist. Die Wirtschaft hingegen bearbeitet die gegenständliche Welt ausdrücklich in der Richtung subjektiver Wertbeziehungen: sie ist bestrebt, Werte zu erzeugen. Es bleibt aber nicht bei der bloß subjektiven Wertung; denn wenn jedes Subjekt andere Gegenstände bewerten würde, so gäbe es überhaupt keine Erzeugung von Gütern, die  allgemeine  Bedürfnisse befriedigen; jeder müßte dann für seinen spezifischen Geschmack selbst sorgen. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, das Wesen der Wirtschaft unter Abstraktion von ihrer sozialen Seite, von der Wirtschaftsgemeinschaft, darzustellen. Die Nationalökonomie hat diesen Versuch längst aufgegeben; wir werden im Interesse unseres Zieles, nämlich das "spezifisch Wirtschaftliche" zu finden, ihn doch machen müssen.

Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit: Nicht jede Erzeugung von Werten ist Wirtschaft. Dann müßte die Wissenschaft, die Kunst, die Religion mit unter diesen Begriff fallen. Sie haben wohl ihre wirtschaftliche Seite; aber sie haben sie nicht in ihrer wesentlichen Haupteigenschaft, sondern nur als Nebeneigenschaft. Es fragt sich nun, worauf denn diese Nebeneigenschaft beruth. Daraus müssen sich Fingerzeige für das Spezifische der Wirtschaft ergeben.

Vielleicht wird man sagen, daß alles Tun insofern wirtschaftlich genannt werden kann, als es der Erhaltung und Steigerung des Lebens dient; diese Definition wäre zu weit, wenn man alle geistigen Güter mit einbegreift, zu eng, wenn man  nur  die materiellen meint. Vielmehr sind alle Güter, materielle und geistige, nur insofern wirtschaftlich, als sie  austauschbar  sind, also in den allgemeinen Verkehr als bewertbar eintreten können. Eine Symphonie z. B. ist gewiß ansich kein ökonomisches Gut. Sie wird es aber  neben  ihrer künstlerischen Bedeutung dadurch, daß der Komponist sich entschließt, sie um einen ausdrückbaren Preis an einen Verleger zu verkaufen oder sie Konzertbesuchern gegen ein Eintrittsgeld zugänglich zu machen. Wenn wir diese Bestimmung aufnehmen: Wirtschaft sei die Erzeugung von lebenserhaltenden und lebenssteigernden  austauschbaren  Gütern, so erscheint dabei freilich wiederum das soziale Moment; wir gehen aber über diesen Zusatz nicht hinaus, sondern fügen ihn nur als unentbehrliche Hindeutung auf die Verwebung der Wirtschaft in andere Systeme hinzu.

Damit ist jedoch das Wesentliche noch nicht ausgesprochen: Diese Erzeugung austauschbarer Güter wird auch  Erwerb  genannt, insofern der Produzierende im System der Wirtschaft dafür im Austausch Güter erhält, die er selbst zum Konsumieren braucht. Wir können uns also bildlich und zugleich abstrakt den einzelnen wirtschaftenden, arbeitenden und erwerbenden Menschen als ein Wesen vorstellen, das aus sich Güter  exportiert  und andere in sich  importiert.  Dieser Grundvorgang wird erst dann wirklich  wirtschaftlich  in einem teleologischen Sinn, wenn die Schlußbilanz eine günstige ist, wenn ein Überschuß und Reingewinn an Gütern dabei herauskommt. Ja der Prozeß ist umso wirtschaftlicher, je größer dieses Plus ist. Wir nennen dieses Prinzip, das die Forderung enthält, mit einem möglichst geringen Aufwand an Arbeitskraft und Unkosten einen möglichst großen Gewinn erzielen, das Prinzip der Rentabilität oder Wirtschaftlichkeit. Ganz allgemein kann es dann das "ökonomische Prinzip" genannt werden. In ihm ist das  abstrakte (!) Strukturgesetz der Wirtschaft, wie die klassische Nationalökonomie erkannt hat, am reinsten ausgesprochen. Das egoistische Moment ist also der Wirtschaft wesentlich, gleichviel welchen Umfang das wirtschaftende Ego jeweils hat. Es wäre schließlich noch hinzuzufügen, daß das Maß des wirtschaftlichen Wertes von einer Fülle sehr variabler subjektiver und objektiver Faktoren abhängig ist. Doch gehört das bereits in die Wissenschaft selbst und nicht zur allgemeinsten Struktur. Diese können wir nun freilich nicht anders definieren, als daß wir von der abstrakt betrachteten  Tätigkeit  ausgehen, durch die das objektive Wirtschaftsganze erzeugt wird:
    Wirtschaft ist diejenige Umgestaltung der gegenständlichen Welt, durch die ein einzelner oder eine Gruppe mit einem möglichst geringen Aufwand an Arbeitskraft und Unkosten einen durch Quantität oder Qualität möglichst wertvollen Bestand von austauschbaren Gütern zu erzeugen oder zu erwerben sucht.
Der Grieche hat dafür das kurze Wort  pleonektein,  das etwa unserem Profitmachen entspricht.

B. Aus diesen Bestimmungen den idealen und abstrakten Typus des ökonomischen Menschen abzuleiten, ist umso leichter, als uns die klassische Nationalökonomie dieses nie und nirgends realisierte, aber doch in jedem irgendwie wirksame, gierige und unsoziale Individuum vorkonstruiert hat. Aber die nächste Aufgabe besteht nun darin, die typischen  Beziehungen  dieses Abstraktums zu den anderen Lebensgebieten zu zeigen.

Der wirtschaftliche Mensch treibt die  Wissenschaft  nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel für die Güterproduktion und den Erwerb. Sie erfährt daher hier die utilitaristische Zuspitzung zur  Technik Es ist immer noch ein stolzes Denken, das sich im Dienst dieser Zwecke betätigt; aber es entsteht kein reines theoretisches Gebilde, sondern ein praktisches. Eine moderne komplizierte Maschine ist gleichsam die konkrete Darstellung des Gedankens in seiner Anwendung auf die wirtschaftliche Arbeit: sie ist nicht nur mathematisch-mechanisch, sondern sie muß zugleich  teleologisch-ökonomisch  konstruiert sein. Nicht viel anders ist die  Menschenkenntnis  des Ökonomen beschaffen: auch von diesem Gebiet interessiert ihn nur ein kleiner Ausschnitt, die Psychologie der Wirtschaft. Unsere Schaufenster sind plastisch gewordene moderne Wirtschaftspsychologie. Im Ganzen ist die intellektuelle Richtung dieses Menschen mehr Klugheit als Gelehrsamkeit: die Erkenntnis ist kein letztes Ziel mehr und kein Wert ansich, sondern sie ist selbst zum Mittel geworden und muß sich aus ihrer Ganzheit einen teleologischen Ausschnitt gefallen lassen. Wir kommen zur  sozialen  Seite: der Erwerbende braucht die Menschen rings um ihn: teils zum Absatz, teils zum Einkauf. Aber auch sie sieht er nur in dieser spezifischen Beleuchtung. Er handelt mit ihnen nicht aus Menschliebe und Idealismus, er braucht sie nicht als Menschen, sondern als Käufer, Verkäufer, Mitarbeiter, Kapitalgeber und Zinsenzahler. Dabei mag er sie sehr achtungsvoll behandeln und sich auch auf Seitengebiete mit ihnen begeben: der rein ökonomische Mensch tut auch dies nur, "weil es zum Geschäft gehört". Menschenliebe und Wirtschaft schließen sich eigentlich aus, weil die Liebe etwas Unwirtschaftliches ist. Wenn also ADOLF WAGNER das karitative Moment mit in seine theoretische Nationalökonomie aufnimmt, so bleibt er jedenfalls nicht auf dem Boden der  reinen  Wirtschaftsstruktur, sondern greift in das folgende Gebiet über. Für den idealen Vertreter der Wirtschaft ist der Mensch, wie manche gesagt haben, tatsächlich nicht mehr wert, als seine Arbeitskraft wert ist oder seine Kauf- und Kapitalkraft; dazu kommt in der heutigen Wirtschaftsform der  Kredit,  der geradezu spezifische Kategorien der Wirtschaftsmoral erzeugt hat. "Der Mann ist gut" heißt: er verdient Kredit. Es ist ein ganz eigenes Gebiet sozialer Beziehungen, das unter dem Einfluß wirtschaftlicher Interessen entsteht. Natürlich ist mit dem ökonomischen Streben innerlich auch ein  Machtstreben  verbunden: denn die Wirtschaft ist ja eigentlich nichts als die Herrschaft über Sachen im Dienst eigener Zwecke. Der "Kampf ums Dasein", d. h. um das tägliche Brot, ist nicht nur ein Kampf mit der Natur, sondern auch ein Kampf unter Menschen. Deshalb ist mit der Wirtschaft unmittelbar die  Konkurrenz  gesetzt, Überflügelung und Überbietung, um zuletzt den größten Endprofit zu erhalten. Die Wirtschaftseinheiten haben dieselbe Expansionstendenz wie die politischen Körperschaften: in der Hand der Trusts liegt beinahe die Weltherrschaft, wie auch Geld überhaupt die Welt regiert und Reichtum ganz allein allgemeines Ansehen gibt, schon weil man ihn den Menschen "ansehen" kann. Die Menschen sind für den richtigen Ökonomen Ware, d. h. Kräfte, die man nach Möglichkeit wirtschaftlich ausnützen muß. Es soll hier vom Rechtsgebiet aus wichtigen Gründen noch nicht die Rede sein; aber soviel sei gesagt, daß das Recht, auch da wo es eigentlich dem uneingedämmten Wirtschaftsgeist Schranken setzen soll und aus sozialen Motiven folgt, von den Erwerbsleuten wiederum nur als ein Mittel für ihre Zwecke benützt wird, das es klug anzuwenden gilt, wie sie auch überhuapt die Hilfe des Staates in erster Linie überall da beanspruchen, wo das Erwerbsinteresse gefährdet wird. Daß das Recht in seiner tatsächlichen Beschaffenheit ebensosehr auf Macht als auch auf sozialem Geist beruth, zeigt sich nirgends so deutlich wie auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Schuldgesetzgebung. - Auch zur  Kunst  hat die Wirtschaft mehr negative als positive Beziehungen: Phantasie und Kunst sind Luxusphänomene, können sich aber als solche natürlich der Wirtschaft eingliedern. Der nüchterne Geist des Erwerbsmannes ansich läßt der Phantasie nicht die Zügel schießen; das Schöne ist in der Regel teuer; aber Kunstbesitz und Mäzenatentum macht Reklame und kann unter Umständen den Kredit erhöhen. Man vergesse nicht, daß wir hier einen Typus abstrakter Wirtschaftlichkeit konstruieren, den es vielleicht so nirgends gibt. Aber Annäherungen dazu zeigt nicht nur die Bühne, sondern auch das Leben. Schließlich Wirtschaft und  Religiosität:  die Verbindung, die zwischen beiden besteht, scheint umso enger, je mehr der Ertrag der Wirtschaft von Kräften abhängt, die wir nicht beherrschen. Vor allem also in der Landwirtschaft, die zugleich eine ältere Wirtschaftsform ist, erscheinen die Götter als Geber, als Hüter der Flur, als Spender des Segens. Ein seltsamer Schicksals- und Glücksbegriff findet sich dann auch bei den Industriellen und Börsenmännern. Im Stillen verehren sie eine Macht, die sie sich an der Spitze der großen Weltlotterie stehend denken. Das religiöse Opfersystem hat vielleicht einen vorwiegend wirtschaftlichen Ursprung: Wenn man den Grundsatz des  do ut des [Ich gebe, damit du gibst. - wp] anwendet, läßt sich auch mit den Göttern ein Handel treiben.

C. Die Schattierungen des wirtschaftlichen Typus sind von großem Interesse, wenn man sie im Zusammenhang einer ganzen Kultur denkt; in abstrakter Formulierung sinken sie freilich fast zu Überschriften herab.

Der  Gegensatz von Produktivität und Rezeptivität  wiederholt sich hier in den Formen des Produzenten und des Konsumenten. Der bloße improduktive Konsument, der nicht einmal durch das Kapital am größeren Wirtschaftsleben teilhat, muß in der absoluten  Sparsamkeit  die  suprema lex [höchstes Gesetz - wp] seiner ökonomischen Lebensgestaltung sehen. Es gibt wirklich Menschen, deren ganze Bestimmung sich in die Verringerung ihrer Ausgaben aufgelöst zu haben scheint. Der im vollen Sinn Produktive hingegen ist reich an großen und neuen Impulsen, in der Regel ein Entdecker und Erfinder, dessen Bedeutung an Genialität grenzen kann. Großgrundbesitzer, Großkaufleute und Großindustrielle sind kleine Könige, deren kulturelle Funktionen immer größere Kreise des Lebens umfassen; von der Isolierung des wirtschaftlichen Zwecks, die wir soeben versuchten, ist da nichts mehr zu spüren; aber nach wie vor muß er der  höchste  im Lebenszusammenhang dieser Männer sein, falls sie nicht ganz zum Typus der Wohltäter oder Politiker übergehen sollen.

Die  Arten der zu erzeugenden und auszutauschenden Güter  setzen Unterschiede so unübersehbarer Art, daß wir sie unmöglich verfolgen können. Gleichwohl ist gerade auf diesem Gebiet in Volksbewußtsein und Kunst eine reiche Typik bereits entwickelt: Man denke an die Handwerkergestalten des Lustspiels, an die Bächer, Schuster und Schneider, die Pelzhändler und Bankiers, die Hauswirte, Gastwirte und Landwirte. Alle diese Naturen sind freilich nur dann typisch, wenn sie nach der bekannten Redensart "in ihrem Beruf aufgehen". JAKOB BÖHME jedenfalls war mehr als ein Schuster. Der Unterschied der agrarischen, merkantilen und industriellen Berufe deutet größere Gruppen an, die in ihren Lebensformen durchaus verschieden sind. Aber daneben finden sich Zwischen- und Übergangsformen; ich erinnere nur an die höchst eigenartige Kombination der Interessen, die etwa das Verlegertum zeigt, oder die Typen, die dadurch entstehen, daß Erziehung, Rechtswissenschaft, Heilkunde usw. als Erwerb getrieben werden. Selbst der Dichter oder der Philosoph können gelegentlich unter diese Kategorie gehören, was für die richtige Interpretation ihrer Werke nicht unwesentlich ist. Gerade die Gegenwart zeigt, wie das Verlegertum die Wissenschaft ins Ökonomische umbiegt.

Nicht weniger zahlreich sind die  Methoden  des wirtschaftlichen Erwerbes. Man wird hier zunächst an die Grundformen denken, die durch den Unterschied von Naturalwirtschaft, Geldwirtschaft, Kreditwirtschaft hervorgerufen werden: Der treue Fleiß des selbstarbeitende Bauern ist eine ganz andere Lebensform als die nervöse Sorge des berufsmäßigen Spekulanten oder gar des Rennbahnbesuchers und des Spielers. Und doch ist es  ursprünglich  derselbe Grundtrieb, der beide beherrscht. Ob man als Angestellter oder Unternehmer tätig ist, oder aber nur als Kommanditist, Aktionär usw., ist maßgebend für die ganze Lebensgestaltung. Wer die innere Gesetzlichkeit dieser Schattierungen verstehen will, wird immer wieder die Kombination mit ganz anderen Lebensgebieten beachten müssen. Der Ingenieur oder der Apotheker gravitieren nach der Seite der Wissenschaft hinüber, der Beamte nach der politischen Seite, - während man dem Friseur schön äußerlich die nahe Beziehung zur Kunst ansieht!

Mit diesen Nuancen berühren sich eng die Unterschiede im  Umfang  des wirtschaftlichen Betriebes. Ein und dasselbe Gewerbe gewinnt ein ganz anderes Gesicht, je nachdem man es im großen oder kleinen Stil übt. Die Krämerseele ist das Produkt des kaufmännischen Kleinbetriebes, der Hanseat oder der Gutsbesitzer repräsentieren seit uralten Zeiten den Großbetrieb.

Wir schließen wiederum mit dem  Gegensatz  des wirtschaftlichen Menschen: mit dem wirtschaftlich Unbegabten. Auch dieser Typus kann auf doppelte Art zustande kommen: entweder dadurch, daß andere Lebensinteressen, künstlerische, religiöse oder soziale den Menschen gänzlich beherrschen. Der Bohémien, der Bettelmönch und SOKRATES sind bei aller Verschiedenheit in diesem negativen Zug verwandt. Aber von ihnen darf hier nicht die Rede sein; sondern nur von solchen Naturen, die trotz hoher Schätzung der ökonomischen Güter nicht nach dem ökonomischen Prinzip verfahren. Der Verschwender, der Luxuskonsument, ist so organisiert. Denn zumindest  eine  Seite des Sinnes der Wirtschaft, der Trieb zur Aneignung materieller Güter, ist in ihm zur Leidenschaft entwickelt, während die Sparsamkeit des Geizhalses zwar ökonomisch ist, der eigentliche  Sinn  des Erwerbes aber bei ihm fast ganz aus dem Bewußtsein entschwunden ist.


3. Der soziale Mensch

A. Unsere ganze Methode ging davon aus, den Zusammenhang des Einzelnen mit der Kultur, d. h. also auch mit der Gemeinschaft, nicht zu zerreißen, vielmehr alle geistigen Funktionen in diese Totalität eingelagert zu denken. Trotzdem haben wir bei den bisher behandelten Geistesgebieten die Leistung des einzelnen zu isolieren gesucht, freilich in vollem Bewußtsein der Grenzen dieser Abstraktion. Wenn wir nun das "soziale" Gebiet ebenfalls isolieren, so wird es darauf ankommen, die spezifische Bedeutung des Zusammenwirkens mehrerer herauszuheben, und zwar die Bedeutung, die ihm allgemein zukommt, abgesehen von allen besonderen Inhalten, die den Zweck der sozialen Gemeinschaft bilden können. Denn Inhalt oder Zweck der Gemeinschaft kann sowohl die Wissenschaft, wie die Wirtschaft, die Kunst wie die Religion werden. Außerdem aber wollen wir aus früher angedeuteten Gründen aus der sozialen Verbindung den Faktor von Macht und Zwang zunächst herauslassen. Was dann übrig bleibt, kann nichts anderes sein als das sozusagen "formale" Moment der Zweckgemeinschaft überhaupt. Demnach wäre das Spezifische der Gesellschaft in unserem Sinne in der Tatsache zu suchen, daß Menschen überhaupt ihre eigenen Zwecke mit denen anderer verbinden oder identifizieren. Wir denken dabei keineswegs das Individuum ursprünglich isoliert und die Gesellschaft als mechanisches Produkt, sondern wir lösen die vorgefundene Gesellschaft, die immer das Frühere ist, in die Momente auf, die sie enthält. Eine soziales Gebilde kann, wie es etwa im Gesellschaftsvertrag des konstruktiven Naturrechts zum Ausdruck kommt, auf einer ganz kühlen, rationalen Erwägung beruhen, daß man  1.  dasselbe Ziel habe,  2.  es durch ein gemeinsames Vorgehen besser und leichter erreicht. Aber in diesen reflektierten Kunstformen der Gesellschaft haben wir - und das ist der Mangel jenes Naturrechts - offenbar nicht die reinste und stärkst Form von Gemeinschaft vor uns. Fester und ursprünglicher wird jedenfalls  die  sein, die auf einem Grund trieb  der menschlichen Natur beruth, dem sozialen Trieb. Dieser aber, losgelöst von allen seinen besonderen Zwecken und Inhalten, kommt wieder am deutlichsten zum Ausdruck in der  Liebe Liebe im weitesten Sinn wird also das spezifische Moment sein, das die Gemeinschaftsbildung trägt. Ja selbst von jenen rational entstandenen Verbänden wird man sagen dürfen:  Sofern  ihre Glieder sich in einem Zweck einig wissen, insofern und in Beziehung auf diesen partiellen Zweck werden sie nicht umhin können, sich partiell auch durch Gefühle der Liebe verbunden zu denken. Alle Solidarität weist also zuletzt auf dieses starke Band zurück. Diese allgemeinsten und einfachen Momente: durch Liebe bewirkte Zweckgemeinschaft oder durch eine Zweckgemeinschaft bedingte Liebe, werden zur Definition des ganzen Gebietes ausreichen. Wir dürfen daher sagen:
    Gemeinschaft im abstrakten Sinn ist die Verbindung unter Menschen, die auf der Grundlage einer triebhaften Liebe ihr Zusammenwirken erzeugt, (wie auch umgekehrt das bewußte Zusammenwirken zu rational erkannten Zwecken ein Liebesband hervorzurufen pflegt), wobei die Zwecke selbst inhaltlich sehr verschieden, die Verbindungen dauernde oder zeitweilige, totale oder partielle Lebensgemeinschaften sein können.
B. Die entsprechende Lebensform ist demgemäß beherrscht von der  Liebe  und empfängt von deren besonderem Charakter ihre besondere Gestalt. Doch soll hier zunächst wiederum eine ganz allgemeine Charakteristik des Typus versucht werden.

Für den sozialen Menschen im vollsten Sinne, dessen beherrschender Affekt die Liebe ist, ist auf dem Gebiet des  Erkennens  die psychologische Seite, die Menschenerkenntnis, von besonderer Bedeutung. Nun aber ist die Liebe eine Disposition, die unserem Begriff von Wissenschaft insofern entgegengesetzt ist, als sie durch ihre subjektive Bestimmtheit die Objektivität ausschließt. Der Liebende in jedem Sinn ist  kein  realistischer Menschenkenner, weil er durch Neigung und Abneigung sein Urteil leiten läßt. Dieser Satz gilt ganz allgemein, nicht nur für den Verliebten. Jede Gemeinschaft von Menschen, je stärker sie ist, ist umso mehr geneigt, die Zugehörigen und ihr Verhalten zu idealisieren, gegen Außenstehende aber ungerecht und voreingenommen zu sein. Eine Partei verketzert die andere, das ist ein Grundgesetz der sozialen Psychologie. Der andere ist schon deshalb verdächtig, weil er kein Zugehöriger ist. Der gleichgültigste Verein steht zu einem neutralen in latenter Feindschaft. Wer in eine Familie kommt, ist ein "Fremder". Schon der Name läßt anklingen, daß man ihn nicht kennt und vielleicht nicht kennen will. Die "Seinen" aber studiert man; man studiert nicht nur sie, sondern alles, was ihr Leben betrifft, um ihnen raten und helfen zu können. Ein reines Erkenntnisinteresse ist also auch hier nicht maßgebend. Wer von diesem Grundpathos die Welt sieht, sieht sie  cum ira et studio [mit Zorn und Entschlossenheit - wp], auch den sonst gleichgültigen Zusammenhang der Dinge. Die typische Korrelation, die wir hier herausheben, drückt ein alter Spruch in den drei Worten aus: Liebe macht blind. Ebenso gegensätzlich sind die Beziehungen des altruistischen Menschen zur  Wirtschaft.  Es muß hier umgekehrt werden, was im vorigen Abschnitt an der betreffenden Stell gesagt wurde. Die Liebe hebt in gewissem Sinn das wirtschaftliche Prinzip unter den Menschen auf: das karitative tritt in Geltung. Das Prinzip des Schenkens, und das des Erwerbens und Besitzens vertragen sich nicht miteinander; das Mitleid ist eine unwirtschaftliche Eigenschaft. Deshalb ist auch der Sozialismus als  Wirtschaftsform  dem System der freien Konkurrenz durchaus unterlegen: ohne den gesunden Egoismus der einzelnen (bzw. der Wirtschaftskörper) gedeiht weder Haus noch Hof, darin liegt eine sehr wichtige Dialektik sozialpsychischer Art. Kurz zusammenfassend können wir für unseren Zweck sagen: das soziale Prinzip schränkte die ungehemmte Wirkung des ökonomischen Prinzips ein. Ähnlich und doch anders steht es mit dem Verhalten des sozialen (im Sinne von: altuistischen) Menschen zur  Politik.  Wer wirklich in andern lebt und mit ihnen fühlt, gebraucht seine Gewalt über sie nicht zu ihrer Unterdrückung, sondern zu ihrer Förderung, Veredlung und Beglückung. Der Träger eigentlich politischer Macht gehört nicht hierher. Jedoch liegt in der Liebe  selbst  eine Form der Macht. Darauf beruth ja der Gegensatz des Christentums gegen das römische Imperium, daß es die weltüberwiegende Macht der Liebe entdeckt hat, die noch tiefer wirkt als der Zwang. Nur trennt die Welt diese beiden Lebensformen. Die Macht der Liebe wirkt langsam und innerlich, die politische Macht unerbittlich mit äußeren Mitteln. Schon darin sollte man den Anlaß sehen, beide Gebiete und Lebensformen durchaus getrennt zu halten. Ob die Liebe ihre Machtform immer geltend macht und ob sie Erziehung, Veredlung, Bildung, oder nur Beglückung, Erheiterung, Förderung bezweckt, das sind ethische Gesichtspunte, die für diese deskriptive Aufgabe nicht von Belang sind. Genug, daß die Verwechslung mit der politischen Macht ausgeschaltet ist, wenn auch beide Machtformen gelegentlich in ein und derselben Natur sich mischen mögen. - Wenden wir nun zum nächsten Gebiet, der  Phantasie so ist schon durch die negative Beziehung des sozialen Menschen zum strengen Wissen gesagt, daß er ihr gegenüber nicht gleichgültig sein kann. Vielmehr verbindet sich Neigung und jede Form des Füreinanderlebens notwendig mit idealisierenden und verklärenden Phantasiebildern, als ob den Seelen aus ihrer größeren Zahl auch eine größere produktive Kraft erwachsen würde. Vom bloß ästhetischen Genuß, der für feinfühlige Naturen im Anschauen alles fremden Lebens liegt, bis zu der grenzenlosen Idealisierung und Heiligsprechung angebeteter Wesen erstreckt sich eine stufenreiche Leit. Und darin liegt der Selbstgenuß, der alle Liebe begleitet, so daß die merkwürdige Antinomie entsteht, die jedem aus sich selbst bekannt ist, aber den Ethikern viel Mühe macht, daß nämlich die größte Selbstlosigkeit zugleich diie größte Selbstbefriedigung gewährt. Von hier ist nur noch ein Schritt zur  Religion:  der völlig soziale Mensch erfaßt natürlich auch das religiöse Leben vorwiegend unter den Symbolen des ihn beherrschenden Moments. Die Religion, die diese Lebensformen zur höchsten Entfaltung gebracht hat, trägt an ihrer Spitze den Satz: Gott ist die Liebe. Daraus ergibt sich dann von selbst die Übertragung soziologischer Kategorien in die religiöse Bildersprache. An GUYAUs geistvolle, wenn auch einseitige Analyse dieses Vorgangs sei hier erinnert. Besonders der Katholizismus hat den ganzen Himmel mit familienhaften Beziehungen ausgestattet, die stark zum einfachen Herzen sprechen und ihm diese Lebensform als etwas von Gott unmittelbar Gewolltes erscheinen lassen. Aber ethisch vertieft wiederholt sich dieses Grundmoment, wenn im platonisch-neuplatonischen Sinn die Liebe überhaupt als das die Welt beherrschende, höchste Prinzip aufgefaßt wird:  mundus sub specie amoris [die Welt im Licht der Liebe - wp], wie dann auch AUGUSTINUS den Gegensatz seiner beiden Staaten auf den Gegensatz von  amor Dei [Liebe zu Gott - wp] und  amor sui [Liebe zu sich selbst - wp] zurückführt.

C. Es liegt in der Natur des sozialen Gebietes, daß alle Schattierungen hier zugleich Verwachsungen mit anderen Seiten des kulturellen Lebens, dem Staat, dem Recht, der Wirtschaft usw. bedeuten werden. Die Kategorien für die Einteilung der Untertypen müßten jedoch eigentlich der spezifischen  Soziologie  als der Lehre von den  Formen  der Vergesellschaftung (im Gegensatz zu besonderen inhaltlichen Zwecken, die für andere Sozialwissenschaften im Vordergrund stehen, entnommen werden). Da es jedoch auf diesem Gebiet noch weniger Einigkeit in den Grundsätzen gibt, als anderswo, so werden wir die Lebensformen, die zu diesem sozialen Grundtypus gehören, nach einigen allgemeinsten Gesichtspunkten ableiten und auf jede Nuancierung verzichten. Es soll also nur der  ausgeprägt  soziale Mensch, d. h. der  bis zur Liebe  mit anderen lebende und fühlende, hier berücksichtigt werden.

Der Gegensatz von Aktivität und Passivität  geht durch die ganze Menschheit hindurch in der Form überwiegender Liebebedürftigkeit oder Liebesfähigkeit. Typisierend kann man sagen, daß im Mann die Liebebedürftigkeit, in der Frau der Trieb zu lieben stärker entwickelt ist; doch ist das ein grobes Schema. Der innere Reichtum eines Menschen hängt zuletzt doch von seiner Fähigkeit zu lieben und selbstlos zu lieben, ab.

Die übliche Einteilung nach den  Objekten  muß an dieser Stelle ausfallen. Wir hätten sonst all die unendliche Fülle von Zwecken zu klassifizieren, die der Gemeinschaft unter Menschen zugrunde liegen kann. Und wir wollen die auf rationaler Erwägung ruhenden Verbände überhaupt nicht heranziehen, weil sie keine dauernde  Lebensform  begründen können, es sei denn, daß man den  Vereinsmenschen  als einen besonderen Typus hinstellen will, oder den  politischen Parteigänger,  Bildungen, die gerade in unserem genossenschaftlichen Zeitalter nicht selten sind. Einen tiefgreifenden Unterschied freilich wird es machen, ob der Verband unter Menschen die Beschaffung äußerer Güter zum Ziel hat (wie die unabsehbare Zahl der Wirtschaftsverbandsformen usw. oder innere, geistige. Wo das letztere der Fall ist, nimmt die Einwirkung auf den anderen den Charakter der Bildungs- und Erziehungstätigkeit an, die natürlich nicht auf die Heranwachsenden beschränkt ist und auch in der Form der Selbstbildung Gegenstand eines gemeinsamen Strebens sein kann. Es liegt aber in der Natur unseres Zieles, daß wir nur diejenigen Gemeinschaften als Grundlage von Lebensformen anerkennen werden, die aus ursprünglichen Trieben herorgehen und deshalb das ganze Leben beherrschend ergreifen können. Folglich werden wir nach diesem Gesichtspunkt, gleichsam nach der  Art  der gemeinschaftstiftenden Liebe, unsere Gliederung richten müssen, und der geborene Erzieher wird uns in diesem Zusammenhang als ein Grundtypus wiederbegegnen.

Blutsverwandtschaft ist das erste Band, das die Wesen mit Neigung aneinander knüpft, schon im Tierreich. Wo diese Form der Neigung sich zum Grundton des ganzen Daseins entfaltet, entstehen vielleicht die mächtigsten Bildungen, die der Natur im Kreis eines Menschenlebens gelingen. Die Mutter! Es gibt keinen anderen Typus, der so das ganze Dasein ausfüllen kann. Der Vater hingegen spielt schon stärker in das Machtgebiet hinüber. Wir brauchen die übrigen Grundbeziehungen nicht einzeln zu nennen. Wo sich der tiefe Gehalt dieser Bande zum Alltäglichen und Spießbürgerlichen verflacht, entsteht der  Familienmensch,  von dem bei aller Ausschaltung der Werturteile zu sagen ist, daß er eine sehr unerfreuliche Erscheinung sein  kann,  ebenso wie eine höchst erquickende. Die Beziehungen der Blutsverwandtschaft haben natürlich in der Geschichte der Gesellschaft mannigfachen Variationen erlegen und sin in ihrer heutigen Gestalt keineswegs selbstverständlich. Auch das Stammes- und Nationalbewußtsein, sofern es nicht politisch, sondern durch die Gleichheit der Sprache und Sinnesart bedingt ist, wird hierher zu rechnen sein. Am nächsten daran schließen sich die sexuellen Beziehungen der Menschen. Nennen wir die entsprechende Lebensform den  Erotiker.  Er spielt von der gröbsten Naturhaftigkeit bis zur feinsten Geistigkeit. Die  Don Juans,  die  Romeos,  die  Magdalenen  sind Beweis, bis zu welchem Grad dieser Trieb das ganze Leben zu ergreifen vermag. Vielleicht ist dies eine der häufigsten Lebensformen überhaupt. Wie oft findet man, daß alle Ausstattung mit anderen Lebensinhalten nur dieser ständigen Liebeswerbung, sei sie nun treu oder flatterhaft, zu dienen bestimmt ist. Und wer kennt nicht die "Männer", deren Herz ein unausgesetzter Flirt auszufüllen vermag, die "Frauen", deren ganze Beschäftigung nur den zahllosen Mitteln der Koketterie gilt! Trotzdem liegt hier kein reiner Typus vor, weil der Anteil der Phantasie in den meisten Fällen so groß ist, daß man diese Naturen mehr dem fünften Typus zurechnen muß, bei dem wir auf sie zurückkommen werden. Sondern wir alles Phantastische ab, dann bleibt jene reale, tiefe Seelen- und Lebensgemeinschaft, die das ganze Dasein der Liebenden trägt. Frauen sind die reinsten Erscheinungen dieser Lebensform, die bis zur Opferung der eigenen Existenz gehen kann. Im Anschauen solcher Naturen zu leben, gibt dem Mann den reichsten Daseinsgehalt und erschließt ihm eine Welt, an der er nur auf dem Weg der Liebe teilzunehmen vermag.

Die Liebe in jeder ihrer Formen erzeugt ein Neues, geistig wie physisch. Die Liebe zum werdenden Leben in seiner psychophysischen Bedingtheit ist das Grundpathos des geborenen  Erziehers.  Auch in ihm ist wohl eine starke plastische Phantasie, die in den Anlagen des jugendlichen Menschen schon sein künftiges Ideal sieht und es produktiv herauszugestalten strebt; aber die unendliche opferfähige  Liebe  ist es doch, was die Lebensform eines AUGUST HERMANN FRANCKE, eines PESTALOZZI und aller echten Erzieher begründet, sodaß man sagen muß, daß das Ästhetische dem Pädagogischen eine Schranke setzt, über die schon PLATO hinausgestrebt hat. Von diesen Beziehungen unter Menschen, dieser Seelengemeinschaft, ist nur ein Schritt zur  Freundschaft.  Der "Freund" ist eine seltene Lebensform, wenn man sie so versteht, daß die Freundschaft den ganzen Inhalt des Daseins bestimmt. Man findet sie fast nur bei Dichtern.  Patroklos  und die Gestalten der griechischen Sage sind unerreichte Typen. Doch spielt die ethische Frage hier zu stark hinein, als daß wir sie ganz erledigen könnten. Wenden wir uns zuletzt zu jenem umfassendsten Trieb, der die ganze Menschheit als Brüder umfaßt. Der  Menschfreund  ist ein vorwiegend christliches Phänomen und findet in  Jesus  selbst sein typisches Vorbild, zumal dann, wenn das Leiden der Menschheit getragen wird wie eigenes Leiden, und ihre Schuld wie die eigene Schuld. Diese  christliche  Lebensform ist von allen die weiteste, weil sich das partikulare Bewußtsein in ihr zu einem universalen Menschheitsbewußtsein erweitert, und zwar nicht nur als Anschauung, wie etwa beim Historiker, sondern als Liebe, in Mitleiden und Mitleben.

So wird dann auch der  Umfang  der Liebesfähigkeit die Lebensformen voneinander scheiden. Wir sprachen schon von der engen Sphäre der Familienmenschen. Ein anderer lebt in den Grenzen seines Standes als "Kastengeist", seines Stammes als "Partikularist"; ein dritter ist ganz von einem chauvinistischen Glauben an das Nationale oder die Rasse ausgefüllt. Der weiteste schließlich nennt sich Weltbürger oder Kosmopolit, wobei freilich, wie schon ROUSSEAU gesagt hat, die Extensität der Neigung meist in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer Intensität zu stehen pflegt.

Verweilen wir zuletzt noch beim  Widerspiel  des sozialen Menschen: beim  Einsamen.  Hier wiederholt sich das beim Skeptiker oder dem Verschwender gefundene Verhältnis. Man kann einsam sein aus Wahl oder aus Schicksal, und die Gründe dafür können beide Male in ganz heterogenen Gebieten liegen: der Philosoph, der Mächtige, der Mystiker haben von Natur einen Zusammenhang zur Einsamkeit; auch wenn die Welt mehr Verständnis für diese Lebensformen hätte, würden sie die Zurückgezogenheit suchen und lieben. Man kann aber auch einsam sein uas Überfülle der Menschenliebe. Die Enttäuschung, die der höchste Glaube und der höchste Anspruch an den Menschen immer wieder erfährt, schafft das harte Holz, aus dem  Menschenfeinde  geschnitzt werden. Deshalb bricht bei ihnen so leicht die ursprüngliche Sehnsucht durch die rauhe Schale wieder hindurch. Ob man NIETZSCHE hierhin zählen darf, oder ob seine Fähigkeit zu lieben doch nicht stark und groß genug war? Gewiß ist dies, daß in der Einsamkeit eine seltene Kraft liegt, wie auch unter allen Lebensformen nur der Einsame das hohe Recht genießt, wirklich  er selbst  zu sein. Und eine rätstelhafte Dialektik des menschlichen Lebens will, daß nur solche selbstkräftige Naturen zuletzt den Menschen wirklich etwas geben können. Deshalb  Jesus  in der Wüste; der Typus des Mönches; und in geziemendem Abstand: WILHELM von HUMBOLDT, der aus der Einsamkeit kam und in sie zurückkehrte, in der Epoche seiner Weltwirksamkeit aber ein helles Licht auszustrahlen vermochte.
LITERATUR - Eduard Spranger, Lebensformen, Festschrift für Alois Riehl, Halle a. d. Saale 1914
    Anmerkungen
    1) Oder er kennt sie so, wie der Philosoph im herrlichen Exkurs des "Theätet" seine Nachbarn und die Volksversammlung kennt.