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WILHELM WINDELBAND
Einleitung
in die Philosophie

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"Der Gegensatz zwischen der wahren und der erscheinenden Wirklichkeit bedeutet einen Wertunterschied im Wirklichkeitsbegriff. Die erscheinende Mannigfaltigkeit der Dinge soll darum nicht als nichtig, nicht als bloßer Schein angesehen werden, sondern Erscheinung will sekundäre Wirklichkeit heißen, eine Realität zweiter Klasse, eben eine nur erscheinende Wirklichkeit."

"Es gibt eine Denkart, die es als höchstes Prinzip der Weisheit ansieht, sich beim Gegebenen zu beruhigen: wir nennen sie heute die positive. Wir tun es in demselben Sinn, wie wir auch sonst es als positiv bezeichnen, das Gegebene ohne Kritik als geltend anzusehen."



Erster Teil
Theoretische Probleme
(Wissensfragen)

Einen vorläufigen Überblick über den Umkreis der Seinsfragen gewinnen wir aus der einfachen Reflexion auf die Weltvorstellung des alltäglichen Lebens. Wir glauben in unserer Erfahrung Dinge zu erkennen, zwischen denen etwas geschieht: und in kurzen Katechismusfragen lassen sich die theoretischen Probleme auf die drei Formeln bringen: Was ist das? Wie geschieht das? Wie wissen wir das? So handelt es sich um das Sein, um das Geschehen, um die Erkennbarkeit der Welt, und die Fragen gestalten sich zu drei Arten von Problemen, die wir, unbeschadet der Zusammenhänge, mit denen sie ineinander übergehen, als ontische, genetische und noetische Probleme unterscheiden können.

Ehe wir aber den einzelnen näher treten, müssen wir eine ihnen allen gemeinsame Untersuchung voranschicken. Schon jene elementaren Fragen setzen nämlich in dem oben angeführten Sinn eine Erschütterung des ursprünglichen Bewußtseins voraus, das sich bei der unbefangenen Wahrnehmung und bei den Ansichten, die sich daraus unwillkürlich entwickeln, zu beruhigen pflegt. Ohne eine solche Erschütterung würde uns das Alltägliche nicht zum Problem werden. Wir haben doch Vorstellungen von den Dingen und von den Vorgängen, die sich zwischen ihnen abspielen, und diese Vorstellungen gelten doch als unser Wissen davon. Jene Fragen bedeuten also den Zweifel, ob das Sein und das Geschehen wirklich so sind, wie sie naiv von uns gemeint werden: es steckt der Verdacht dahinter, eigentlich könnte es ganz anders damit bestellt sein und das vorläufige vermeintliche Wissen wird einem besseren zu weichen haben. Ein solches Stutzigwerden legt uns somit die Möglichkeit nahe, daß hinter dem, was wir zunächst als das Wirkliche aufzufassen glaubten, ein anderes Wirkliches steckt, das erst noch aufzufinden ist. Dieses Verhältnis drücken wir durch die begriffliche Beziehung von Wesen und Erscheinung aus.


§ 1. Wesen und Erscheinung

Die Unterscheidung, welche in diesen Kategorien gedacht wird, ist die Grundvoraussetzung alles wissenschaftlichen und demgemäß auch alles philosophischen Denkens, die allgemeinste Form, worin jenes sich ausspricht. Sie bedeutet, daß man sich mit dem Prima-vista-Bild [auf den ersten Blick, ohne vorherige Kenntnis, unvorbereitet - wp] von Welt und Leben nicht genügen läßt, daß man eben dahinter kommen möchte, zu wissen, was das eigentlich bedeutet, was dahinter steckt. Es liegt dann eine unbestimmte Vorstellung, eine skeptische Ahnung, die Wirklichkeit sei doch noch etwas anderes, als der Mensch sie im naiven Wahrnehmen und Meinen auffaßt. Das Wirkliche ist vielleicht nicht so, wie es erscheint: die vorläufig im naiven Erlebnis gegebenen Vorstellungen haben "nur den Wert der Erscheinung.

Diese Grundvoraussetzung zieht sich durch alles philosophische Denken hindurch; von allem Grübeln gilt, was Mephisto zu Faust sagt, daß es
    "weit entfernt von allem Schein,
    nur in der Wesen Tiefe trachtet".
Man nennt das [mit "Wesen" bezeichnete - wp] wohl gern das Suchen nach dem Ding-ansich: aber dieser Name, den wir seit WOLFF und KANT dafür anzuwenden gewöhnt sind, bezeichnet eine uralte, längst bekannte Sache. Das Ding-ansich hat seine vollen sechzehn Ahnen. Von den alten Ioniern, von den Eleaten, von PLATON an gilt es als das Selbstverständlichste von der Welt. Wenn die Milesier nach dem Weltstoff fragen, der "arche" und ihn in der Materie, dem apeiron, finden, wenn dann der scheinbaren Wirklichkeit der Sinne von EMPEDOKLES und ANAXAGORAS die Elemente, von den Pythagoräern die Zahlen, von LEUKIPP und DEMOKRIT die Atome, von PLATON die Ideen, von ARISTOTELES die Entelechien untergeschoben werden, - was ist das alles anderes als das Suchen nach dem Wesen, das hinter den Erscheinungen steckt? Immer geht das Denken darauf aus, das eigentlich Wirkliche, wie es DEMOKRIT nannte, das etei on oder das wahrhaft Wirkliche, wie es PLATON nannte, das ontos on, begrifflich zu bestimmen.

Dieser Gegensatz zwischen der wahren und der erscheinenden Wirklichkeit bedeutet einen Wertunterschied im Wirklichkeitsbegriff selber. Die erscheinende Mannigfaltigkeit der Dinge soll darum nicht als nichtig, nicht als bloßer Schein angesehen werden, sondern Erscheinung will sekundäre Wirklichkeit heißen, eine Realität zweiter Klasse, eben eine "nur erscheinende" Wirklichkeit. So lehrt uns etwa heute der Naturforscher, das wahre Wesen der Dinge, die primäre Wirklichkeit, bestehe in den Atomen, und alles was der unbefangenen Wahrnehmung als wirkliches Ding entgegentritt, ist eben nur eine daraus gebildete Erscheinung.

Für das wahrhaft Wirkliche in diesem Sinne hat PLATON den Ausdruck ousia eingeführt, und das geben wir im Deutschen genau mit dem Begriff des Wesens wieder. In der lateinischen Terminologie des Mittelalters wird so die essentia bezeichnet und ihr die existentia gegenübergestellt: und während also bei WOLFF und KANT Ding-ansich und Erscheinung dafür angewendet werden, finden wir bei HEGEL die Unterscheidung von Sein und Dasein. Die verschiedenartige Färbung dieser Ausdrücke werden wir noch weiterhin kennen zu lernen haben: das Gemeinsame darin ist die Spaltung der Wirklichkeit in eine wahrhafte, ansich bestehend und eine zweitwertige, erscheinende, - eine ursprüngliche, eigentliche und eine abgeleitete, nur halbwirkliche Wirklichkeit. Der letztere Ausdruck ist gelegentlich bei den Philosophen ganz wörtlich zu nehmen, wenn sie, wie etwa PLATON, die Erscheinung als Mischung von Sein und Nichtsein behandeln: und demgegenüber wird dann wohl auch die wahrhafte Wirklichkeit das "reine" Sein genannt.

Von Anfang an sind sich die Denker bewußt gewesen, daß die so gemachte Unterscheidung auf eine Verschiedenheit der Vorstellungsweise zurückgeht, daß nämlich die Erscheinung im Wahrgenommenen und den daraus mit unwillkürlicher Vorstellungsbewegung gebildeten Meinungen besteht, während das Wesen sich nur dem absichtsvollen begrifflichen Nachdenken enthüllt. So gehört der Gegensatz von Wesen und Erscheinung zu demjenigen von Denken und Wahrnehmen: die Wesen sind die durch die Vernunft gedachten noumena, die Erscheinungen die von der Wahrnehmung aufgenommenen phainomena. Danach darf im allgemeinen das Bestreben der Philosophie als darauf gerichtet gelten, hinter die Erscheinungen, die uns in der Wahrnehmung gegeben sind, durch das Denken zum wahrhaften Sein zu dringen. So bekommt der Ausdruck "Metaphysik" seinen sachlichen Sinn. Sein historischer Ursprung ist bekanntlich zufällig und äußerlich, insofern das aristotelische Werk von seinem Herausgeber als "die Bücher nach der Physik" (ta meta ta physika biblia), bezeichnet wurde. Die Untersuchung der letzten Prinzipien des Seins und Denkens, die in diesen Büchern von verschiedenen Seiten her in Angriff genommen wurde, geht eben in der Tat durchgängig meta ta physika, hinter die sinnliche Erscheinung. Darum nennen wir die Metaphysik die philosophische Lehre von der wahren Wirklichkeit; darum wurde als metaphysisches Bedürfnis jenes Streben nach einer begrifflich zu begründenden Weltanschauung bezeichnet.

In diesem Sinn spricht man nun auch, wenn von Wesen und Erscheinung die Rede ist, wohl von einer metaphysischen Realität, die dem Wesen zukommt, im Verhältnis zur minderwertigen, abgeleiteten Realität, mit der sich die Erscheinungen zu begnügen haben: und im Zusammenhang damit wird dann wohl auch die letztere als empirische Realität, d. h. als erfahrungsmäßige, der Wahrnehmung zugängliche Wirklichkeit oder Halbwirklichkeit des Daseins charakterisiert. In dieser Terminologie, welche metaphysisch und empirisch im gleichen Sinn wie Wesen und Erscheinung einander gegenübergestellt, steckt natürlich bereits eine bestimmte noetische Färbung jener Grundvoraussetzung, worauf später einzugehen sein wird. Zunächst mag uns noch eine andere Formung derselben Kategorien beschäftigen, worin sie als absolute und relative Wirklichkeit auftreten. Das primär, eigentlich und ansich Wirkliche, das wahre Sein, die Essentia, die metaphysische Realität heißt das absolut Wirkliche oder auch das Absolute selbst: die sekundäre, uneigentliche Wirklichkeit, das Dasein oder die empirische Realität ist nur die relative Wirklichkeit, d. h. diejenige, die ihre Art des Wirklichseins erst einer Relation, einer Beziehung des eigentlich Wirklichen verdankt. Eine solche Relativität jedoch kann nach zwei verschiedenen Beziehungsrichtungen gedacht werden. Entweder sind die Erscheinungen, über die hinaus zum wahrhaft Wirklichen gedrungen werden soll, selber wirkliche Erlebnisse und Ergebnisse des ursprünglich Wirklichen, aber eben als daraus erst abgeleitet eine Wirklichkeit zweiter Klasse, - oder sie gelten nur als die Vorstellungen, mit denen das erkennende Bewußtsein seiner eigenen Natur gemäß die wahre Wirklichkeit auffaßt. Man wird diesen Unterschied schwer anders als durch die Ausdrücke "objektive" oder "subjektive Erscheinungen" bezeichnen können, obwohl der Mißbrauch, der mit diesem abgegriffenen Begriffspaar getrieben worden ist, seine Anwendung soviel wie möglich verbieten sollte. In diesem Fall wird sie jedoch kaum zu Mißverständnissen führen. Der Gegensatz aber, der damit gemeint ist, erläutert sich leicht durch den Hinweis auf die in weiteren Kreisen bekanntesten metaphysischen Lehren. Bei SPINOZA ist das wahrhafte Sein die Gottheit oder die Natur als einzige Substanz, das relative Sein dagegen, die Modi sind deren objektive Erscheinungen. Bei SCHOPENHAUER ist das wahrhafte Sein der Wille, das relative Sein dagegen die empirische Welt als die nach Raum, Zeit und Kausalität gestaltete subjektive Erscheinung im Bewußtsein. Diese doppelte Relativität, wonach das Erscheinen entweder objektiv als Folge, als wirkliches Sich-Darstellen (exprimere bei SPINOZA) des primär und wesenhaft Realen oder subjektiv als Vorstellungsweise vom wahrhaft Wirklichen gedacht wird, - dieses Doppelverhältnis mag uns darauf vorbereiten, daß die ontischen Probleme, die Fragen nach dem wahrhaft Seienden, zum Teil in genetische, zum Teil in noetische, d. h. entweder in Fragen nach der Möglichkeit des Geschehens oder in solche nach der Möglichkeit des Erkennens auslaufen werden. Schon diese Mannigfaltigkeit der Terminologie, worin der Gegensatz von Wesen und Erscheinung trotz der verschieden gefärbten Beziehungen gemeinsam zum Ausdruck gekommen ist, läßt uns erkennen, daß es zu den konstanten Motiven der Philosophie gehört, hinter der erscheinenden Wirklichkeit eine wahre Wirklichkeit zu suchen. Wie ist dieses dauernde Bestreben begründet? Welche Erschütterung bildet die Rechtfertigung dafür? Sie ist durchaus nicht ohne Widerspruch geblieben. Es gibt eine Denkart, die es als höchstes Prinzip der Weisheit ansieht, sich beim Gegebenen zu beruhigen: wir nennen sie heute die positive. Wir tun es in demselben Sinn, wie wir auch sonst es als positiv bezeichnen, das Gegebene ohne Kritik als geltend anzusehen. So ist die positive Religion die historisch vorgefundene, sofern sie unbeanstandet als tatsächlich herrschend anerkannt wird oder anerkannt zu werden verlangt: so sprechen wir vom positiven Recht als dem historischen, im Gegensatz etwa zu einem idealen, kritisch veranlagten Recht. Ebenso heißen ddann positive Theologie oder Jurisprudenz solche Disziplinen, die sich einfach darstellend im Rahmen des tatsächlich Geltenden halten und in ihnen wieder positive Richtungen oder Gesinnungen solche, welche prinzipiell das Gegebene als zu Recht bestehend erachten. So nennt man weiter im Allgemeinen positive Wissenschaften diejenigen, welche nichts anderes meinen tun zu wollen oder zu sollen, als Tatsachen festzustellen, und endlich positive Philosophie oder Positivismus die auf der Zusammenfassung der positiven Wissenschaften beruhende Lehre, daß alles Denken und Wissen nur das tatsächlich Gegebene zum Gegenstand haben kann und darf, daß es illusorisch und pathologisch ist, darüber hinaus zu einem erst "wahrhaft Wirklichen" zu streben.

Dabei begründet der Positivismus dieses Verbot damit, daß es ein solches Sein hinter der Erscheinung überhaupt nicht gibt. Es sei eine Fiktion, ein Phantom. Hierin liegt, wie bei den noetischen Fragen noch näher zu betrachten sein wird, der tiefgreifende Unterschied zwischen den kritischen oder agnostischen Lehren einerseits und der positivistischen andererseits. Jene leugnen zwar auch die Erkennbarkeit des Dings-ansich oder des Absoluten, um dessen Realität jenseits der Erscheinung nur umso energischer zu behaupten: dieser erklärt das Unerkennbare für eine Jllusion und behauptet in seinem typischen Vertreter: "Tout est relatif, voilá le seul principe absolu." [Alles ist relativ, das ist das einzige absolute Prinzip. - wp] Es gibt nichts hinter den Erscheinungen, - nicht bloß für uns, sondern auch ansich. Diese Meinung, zu der sich Ansätze vielleicht schon im Altertum, jedenfalls in der neueren Zeit auch schon vor AUGUSTE COMTE finden, wird in unseren Tagen auch von der sogenannten immanenten Philosophie verfochten. Sie nennt sich so seit AVENARIUS und glaubt damit, wie dereinst schon BERKELEY, zur einfachsten und natürlichsten Weltansicht zurückzukehren. Ihr gelten deshalb alle Arten der Metaphysik als die von vornherein verfehlten und zum Mißerfolg verurteilten Versuche eines künstlichen und transzendenten Denkens, das hinter den Tatsachen noch ein anderes und wahrhafteres Sein und Wesen suchen möchte. Die positive oder immanente Denkart leugnet somit die Berechtigung, das Gegebene im Sinne unserer Kategorie als Erscheinung zu bezeichnen: denn das setzt ja schon die Beziehung auf ein darin erscheinendes Wesen, auf ein Ding-ansich voraus. (1)

So ein immanenter Positivismus ist nun, der ganzen obigen Darlegung zufolge, nichts anderes als das gerade Widerspiel der Philosophie, die Negation des wesentlichen in ihr waltenden Denktriebes. Dieser geht eben, wie die Geschichte beweist, unweigerlich auf die metaphysische Realität und in diesem Sinn ist die Philosophie in der Tat notwendig ein transzendentes Denken. Wenn man darin eine dauernde Verirrung, eine Selbsttäuschung des wissenschaftlichen Bewußtseins erkannt zu haben meint, dann allerdings ist das "Ende der Philosophie" gekommen, und dann tut man besser, mit der Sache auch den Namen aufzugeben. Mit dem absolut Wirklichen hört auch die Philosophie auf, die davon handeln wollte: dann bleiben nur die einzelnen Tatsachenwissenschaften bestehen und die Philosophie sollte zu stolz sein, ihren Namen für die Gesamtdarstellungen herzugeben, worin man nur das Hauptsächlichste aus diesen Tatsachen zusammenlesen möchte.

Wenn der Positivismus, der sich deshalb gern als die rein "wissenschaftliche" Philosophie einführt, das Suchen nach dem wahren Wesen der Dinge ablehnt, so stützt er sich nicht erfolgreich darauf, daß die Motive, wodurch sich das Denken hat verleiten lassen, über das Gegebene hinauszustreben, nicht theoretischen Charakters gewesen sind. Er betont gern im Sinn der Lehre, welche TURGOT und COMTE als das "Gesetz der drei Stadien" aufgestellt haben, daß die menschliche Weltvorstellung mit allmählicher Berichtigung vom theologischen auf das metaphysische und erst zum Schluß vom metaphysischen auf das positive Stadium übergeht und daß sie auf den beiden ersten Stadien von der zähen Macht transzendenter Bedürfnisse des menschlichen Gemüts festgehalten wird. Das ist nun zweifellos richtig. Man kann das religiöse Grundgefühl nicht besser beschreiben, als wenn man es, genau wie das metaphysische Bedürfnis, aus der Unbefriedigtheit des Geistes am tatsächlich Gegebenen, am Weltlichen herleitet: auch in ihm erkennen wir jenen Grundtrieb zum Höheren und Tieferen, zum Überweltlichen. Religion ist immerdar ein Nichtgenügehaben an der Welt, ein Suchen nach Reinerem, Besserem, Dauernderem, nach Überräumlichem und Ewigem. Diese Verwandtschaft von Religion und Metaphysik ist zweifellos und unverkennbar. Wir brauchen als Beispiel nur etwa die tiefsten Motive von PLATONs Lehre zu betrachten, um sofort zu finden, daß die Energie, womit er den begrifflichen Beweis von der Realität der übersinnlichen Welt geführt hat, sicher auf einem religiösen Bedürfnis beruth. Das Gefühl der Unzulänglichkeit des Gegebenen diktiert das Postulat einer anderen, einer höheren Welt, die geheimnisvoll hinter dieser Sinnenwelt steckt. PLATON nennt diesen religiös-metaphysischen Trieb den eros, das Heimweh der Seele nach einer besseren Heimat. Und wie bei PLATON, so liegen bei vielen anderen die metaphysischen Lehren eingewurzelt in den Trieben religiöser Gefühle und in den Gewohnheiten religiöser Vorstellungen. Es sei nur daran erinnert, wie sich DESCARTES in seinen Meditationen, selbst beim Aufbau seiner rein theoretischen Lehre und ohne jedes innerlich religiöse Interesse, mit den geltenden Voraussetzungen des Gottesbegriffs auseinandergesetzt hat. Aber weiterhin: welche starken Motive des metaphysischen Denkens stecken in dem metaphysischen Bedürfnis, die Welt als ein harmonisches Ganzes, als einen lebendigen Organismus, als einheitliches Kunstwerk zu denken! Die Philosophie der Renaissance und die des deutschen Idealismus geben uns auf Schritt und Tritt dafür die Beispiele. Wie hilft da die Phantasie, das Gegebene als Bruchteil des Ganzen zu ergänzen, die Anfänge zu Ende zu denken, aus den Schranken des Tatsächlichen und Ungenügenden hinauszufliegen in das weite Reich der unendlichen wahren Wirklichkeit.

Aber was häufen wir die Beispiele? Dieser religiöse, ethische, ästhetische Einschlag im Gebiet der philosophischen Systeme ist die offenkundigste aller Tatsachen. Die Philosophie ist niemals ein wertfreies, sie ist immer ein stark und bewußt werthaftes Denken gewesen. Sie hat sich niemals auf das beschränkt, was man im sogenannten exakten Wissen als gegeben besaß: sie hat immer die Motive aus dem ganzen Umkreis der Kultur genommen, aus dem Leben und seinen Bedürfnisen des religiösen, sittlichen, politischen, künstlerischen Bewußtseins und Verlangens. Sie hat immer das Recht in Anspruch genommen, die Welt so zu denken, daß über alle Unzulänglichkeit ihrer Erscheinung hinaus in ihrem tiefsten Grun die Wertbestimmungen des Geistes lebendige Wirklichkeit sein sollten. Metaphysik ist eine Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] von Idealen.

Der Philosoph weiß das vielleicht oft selber gar nicht: erst die nachfolgende Kritik erkennt, in welchem Maß ihn seine Überzeugungen, seine Werturteile bei der Erweiterung und Ergänzung seines Wissens bestimmt haben. Zu selbstbewußter Klarheit ist dieses Verhältnis der Motive von KANT erhoben worden. Bei ihm droht die theoretische Vernunft nicht nur die Erkennbarkeit, sondern schon die Denkbarkeit des Übersinnlichen, d. h. der metaphysischen Realität, in Frage zu stellen und sie zumindest völlig problematisch zu machen: erst die praktische Vernunft "realisiert" das Übersinnliche und gibt die Gewißheit für eine höhere Welt der ethisch-religiösen Metaphysik, die hinter den Erscheinungen steckt.

So sind in der Tat praktische Motive schon in der allgemeinen Problemstellung wirksam, welche das Suchen nach der "eigentlichen" Wirklichkeit verlangt. Das Recht dazu kann wie von KANT behauptet oder wie vom Positivismus bestritten werden: ich habe das hier nicht zu entscheiden; denn es handelt sich dabei offenbar um ein noetisches Problem von hervorstechender Bedeutung. Ich begnüge mich hier damit, die Tatsache zuzugeben, daß das Hinausgehen über das Gegebene gewiß vielfach durch derartige praktische Bedürfnisse hervorgerufen und bestimmt ist. Aber ich bestreite dem Positivismus das Recht zu behaupten, daß diese von ihm für wissenschaftlich unberechtigt erklärten Motive die einzigen sind, welche dem metaphysischen Denken zugrunde liegen. Ich kann nicht zugeben, daß mit jener Tatsache dieses Bestreben als in der Wurzel verfehlt erwiesen ist. Ich muß vielmehr fragen, ob nicht auch rein theoretische Gründe - und zwar durchaus zweifellose und berechtigte - für jenes Suchen nach dem wahrhaft Wirklichen vorliegen.

Diese Frage ist durchaus zu bejahen. Dafür spricht schon eine bedeutsame historische Präsumtion: die alten Ionier, die Begründer der Philosophie, sind es, die uns hier den rechten Weg zeigen. Sie sind gewiß erhaben über jeden Verdacht einer gefühlsmäßigen Voreingenommenheit. Intellektuell siegreiche Bekämpfer der religiösen Phantasie, von naiv kühler Gleichgültigkeit gegen menschliche Werturteile, sind sie die wahren Typen des reinen Theoretizismus: unbeirrt durch religiöse, ethische und ästhetische Interessen folgen sie nur dem Wissenstrieb. Das ist ihr Ruhm und ihre Stärke - die Stärke der Einseitigkeit. Sie treten den dogmatischen Neigungen entgegen, sie haben keine Ethik, sie fragen nicht nach der Schönheit. Und gerade diese ältesten Ionier sind die ausgesprochenen Metaphysiker - Sucher nach dem wahren Sein hinter den Erscheinungen. Oder war es etwas anderes, wenn THALES behauptete, alle diese Mannigfaltigkeit der wechselnden Dinge bedeutet nur die Gestaltung des einen Proteus [Meeresgott - wp] - des Wassers? Oder wenn gar sein Freund ANAXIMANDER sagte, das Wasser könne nicht das wahre Wesen, das Urding sein: denn es ist schließlich doch begrenzt und würde sich in den Bildungen erschöpfen: man müsse sich eine ewige, unendliche Materie denken (to apeiron), die grenzenlos durch immer neue Ausscheidungen aus sich die vergänglichen Dinge entfaltet. Das war buchstäblich der Schritt des Denkens meta ta physika, hinter das Physische: aber es geschah nur aus theoretischen Gründen. Und aus welchem Grund? Das tatsächlich Gegebene der Erscheinungen genügt nicht den wissenschaftlichen Forderungen des begrifflichen Nachdenkens: deshalb mußte etwas "erdacht", etwas begrifflich konstruiert werden und dies galt ddann als das eigentlich und wahrhaft Wirkliche. Es war die Hypostasierung eines logischen Ideals, und es ist vollständig schief, diese Hypothesen als "Fiktionen" zu bezeichnen: denn die Philosophen wollen gerade damit das wahrhaft Wirkliche erkannt haben. Das metaphysische Denken zeigt sich also bereits in seinem Anfang rein logisch genötigt, etwas anzunehmen, was der Erfordernis des erklärenden und begreifenden Nachdenkens genügt, und es scheut sich nicht, wenn die gegebene Welt des Wahrgenommenen etwas Derartiges nicht aufweist, das begriffliche Postulat als die dahinter steckende wahre Realität zu behaupten. Genau so haben es die Eleaten mit dem Begriff des Seins gemacht. Sie stellen die Forderung - und darin steckt doch eben nur ein logisches, kein ethisches oder ästhetisches, überhaupt kein axiologisches Bedürfnis -, es müsse doch etwas Seiendes geben (esti gar einai [daß es ist - wp]), das wahrhaft ist, nicht bloß relativ: aber was zu sein scheint in der gegebenen Welt, das "ist" nicht in diesem Sinne; es war einmal nicht, und es wird einmal nicht sein, es ist also nur scheinbar, es ist Lug und Trug der Sinne. Und so verlangt das Denken ein anderes, das eine wahre, das absolute Sein, obwohl es dann gar nicht mehr anzugeben weiß, was es ist.

In dieser ersten, schwer mit der Sprache ringenden Dialektik zeigt sich doch der Reflexionsbegriff (des Seins) so stark, daß er bejaht und die gesamte wahrgenommene Welt ihm gegenüber verneint wird. Das Denken ist zu einem Selbstbewußtsein erstarkt, sich dem Wahrnehmen als das wahrere Erkennen entgegenzustellen. In solchen Erlebnissen der Denker liegt der Ursprung der Ansicht, die Erkenntnis des unwahrnehmbaren, wahren Seins müsse eine ganz eigene Denktätigkeit sein, und damit das Bedürfnis nach einer besonderen Methode der Philosophie, die von der Wissensweise der übrigen, auf die Erscheinungen gerichteten Wissenschaften durchaus verschieden ist. Schon PLATON betrachtet seine Dialektik als die Methode des philosophischen Wissens (episteme) im Gegensatz gegen das Meinen des erfahrungsmäßigen Bewußtseins (doxa), und von da an bis zu HERBARTs Bearbeitung der Begriffe nach der Methode der Beziehungen und zu HEGELs dialektischer Methode sehen wir mancherlei Versuche, diese Aufgabe zu bestimmen, in der Geschichte sich mit mehr oder weniger vorübergehendem Erfolg ausbreiten. Dabei lassen sich zwei Hauptrichtungen unterscheiden, welche dem doppelten Verhältnis zwischen Wesen und Erscheinung entsprechen. Auf der einen Seite nämlich soll das Wesen doch eben etwas anderes sein, als die Erscheinungen, und wer darauf das entscheidende Gewicht legt, wer deshalb die Dualität der wahren und der erscheinenden Wirklichkeit möglichst stark hervorhebt, der wird immer verleitet sein, im reinen Denken die Möglichkeit zur Erfassung des Wesens zu suchen und eine irgendwie konstruktive Methode dafür anzuwenden. Auf der anderen Seite ist doch aber das Wesen gerade das, was in den Erscheinungen erscheint, und wer diese positive Seite des Verhältnisses im Auge hat, wer mit HERBART sagt: "Soviel Schein, soviel Hindeutung auf das Sein", der wird es sich angelegen sein lassen müssen, von der Erscheinung aus auf denselben oder ähnlichen Wegen, wie es die besonderen Wissenschaften schon auf ihren begrenzten Gebieten tun, zum wahren Sein vorzudringen: wie etwa DEMOKRIT das Prinzip formuliert hat, das wahre Wesen so zu denken, daß dabei die Erscheinungen bestehen bleiben (diasozein ta phainomena [die Erscheinungen bewahren - wp]). Die eine Richtung wird in Gefahr sein, bei der Bestimmung des Wesens, auf die es ihr allein ankommt, die Erklärung der Erscheinungen aus den Augen zu verlieren, für die doch das Wesen eigentlich gedacht werden sollte: die andere Richtung dagegen wird, indem sie diese Erklärung hauptsächlich verfolgt, der entgegengesetzten Gefahr verfallen, in den Erscheinungen selbst und in den Gedankenbildungen der besonderen Wissenschaften stecken zu bleiben.

Auf alle Fälle aber werden wir darauf gefaßt sein müssen, in der Metaphysik die Hypostasierung von Idealen, im reinsten Fall von logischen Idealen zu finden. Das reine und wahre Sein ist das, was sein sollte, sei es nach Forderungen des Wertbewußtseins, sei es nach Postulaten des begrifflichen Denkens, - was sein sollte, aber in der empirischen Wirklichkeit nicht ist und deshalb hinter ihr als die metaphysische Wirklichkeit gedacht wird, gedacht werden muß. Unter solchen Motiven der theoretischen Postulate ist dabei namentlich eines im Voraus hervorzuheben, weil es, in verschiedenen Formen wiederkehrend, die Notwendigkeit und die Unlösbarkeit der Probleme zugleich aufzudecken geeignet ist. Dieses metaphysische Grundmotive steckt in der Endlosigkeit, die in den Beziehungen des tatsächlich Gegebenen nach allen Richtungen hervortritt. Jedes Empirische, das wir erleben, ist ein begrenztes und weist auf anderes hin, mit dem es in Zusammenhang steht und mit dem zusammen es eine Einheit irgendeiner Art ausmacht. Das ist schon im synthetischen Grundcharakter des Bewußtseins selbst begründet, welches immer irgendeine Mannigfaltigkeit des Inhalts durch irgendeine Form zur Einheit zusammenfaßt: und alles Erkennen ist in diesem Sinn darauf gerichtet, nur solche begrifflichen Verknüpfungen zu denken, die in den sachlichen Zusammengehörigkeiten der Vorstellungsinhalte begründet sind. Aber jede dieser Formen weist nun bei ihrer Anwendung auch auf das Besonderste und sogleich auch in das Endlose. Das zeigt sich zuerst schon bei der Raumauffassung: jede Gestalt, die wir wahrnehmend erleben, ist begrenzt und gehört mit dem Umgrenzenden zusammen in eine übergreifende Einheit, in den sie mit ihrer Umgebung gemeinsam umschließenden Raum. Aber dabei findet man niemals ein Ende: über jede Grenze hinaus, die wir zu setzen versuchen, gibt es immer wieder weitere und umfassendere Einheiten. Ähnlich steht jedes Ding, das wir als gesonderte Wirklichkeit auffassen wollen, in Beziehung zu anderen, diese wieder zu anderen und schließlich zu allen übrigen, d. h. bis ins Unendliche. Und ähnlich weist jedes Geschehen nach rückwärts auf ein anderes, dessen Fortsetzung und Umgestaltung es ist, und ebenso nach vorwärts auf ein anderes, in das es sich fortsetzen und umgestalten wird, und auch diese Linien weisen zeitlich und sachlich nach beiden Seiten ins Endlose. Eine solche Endlosigkeit des Begrenzten und in der Begrenzung erst Bestimmten und Bedingten läßt den Intellekt, der diese Bestimmtheit und Bedingtheit vollständig erfassen möchte, innerhalb der Erscheinungswelt, soweit er sie auch mit der Phantasie durchmessen mag, niemals zur Ruhe kommen. Deshalb kann er sich erst bei der Vorstellung eines Unbedingten beruhigen, das etwas anderes ist als das einzelne Bedingte und auch als die Summe aller einzelnen bedingten Erscheinungen. So ist der eine unendliche Raum etwas ganz anderes als die Summe aller erlebten, aber auch als die Summe aller durch die Phantasie zu ihnen etwa noch hinzuzuschauenden endlichen Räume: er ist kein Objekt der Wahrnehmung; er ist dem naiven Bewußtsein ein Unbekanntes, er ist ein Ergebnis des metaphysischen Denkens. Ebenso steht es mit den Begriffen des absoluten Dinges, der absoluten Kausalität usw. In allen Fällen geht das logische Postulat über das Gegebene hinaus zur Konstruktion der absoluten Wirklichkeit.

So zeigt sich gerade in dieser Unzulänglichkeit des endlos Gegebenen jener Antinomismus, der es mit sich bringt, daß die Forderungen des Intellekts, weil sie sich in der Erfahrung nicht erfüllt finden, zur Konstruktion der hinterempirischen oder überempirischen, metaphysischen Wirklichkeit führen. Das hat KANT in seiner Kritik der Metaphsyik gezeigt, die damit zugleich deren Notwendigkeit erklärte. In der Einleitung zu seiner transzendentalen Dialektik hat er dieses Verhältnis als den transzendentalen Schein aufgedeckt. Die erscheinende Sinnenwelt weist lauter endlose Ketten des Bedingten auf, und der Verstand mit seinem Bedürfnis der Bestimmtheit verlangt für die Totalität der Bedingungen einen Abschluß jener Reihen, den die sinnliche Anschauung der Erscheinungen nie gewähren kann. Er muß deshalb einen solchen Abschluß denken; aber er kann ihn nie erkennen, eben weil dafür weder ein einzelner der gegebenen Inhalte noch ihre Summe ausreicht. Deshalb ist das Unbedingte niemals gegeben, wohl aber mit sachlicher Notwendigkeit "aufgegeben". Die Probleme der Metaphysik sind unausweichliche, aber niemals lösbare Aufgaben der Vernunft. Das ist bekanntlich in der Kritik der reinen Vernunft der neue Begriff der "Idee"; und der "transzendentale Schein", der die Metaphysik zugleich in ihrer Tatsächlichkeit erklärt und in ihren Ansprüchen vernichtet, besteht in der Verwechslung, daß die Notwendigkeit, mit der die Idee gedacht und darin die Aufgabe gegeben wird, für die Lösung dieser Aufgabe und für die Erkenntnis eines Gegenstandes, d. h. der wahren Wirklichkeit, gehalten wird. Dieser kantische Begriff des transzendentalen Scheins ist in der Tat der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte der Metaphysik. Er bedeutet die unleugbare Tatsache, daß unser Denken an allen Enden und nach allen Richtungen mit unabweisbarer Notwendigkeit über den gegebenen Wissensbestand der empirischen Realität hinausgetrieben wird: und wie es dann auch mit der Lösbarkeit dieser Probleme stehen mag, - jedenfalls brauchen wir nichts weiter, um sicher zu sein, daß wir es in der Arbeit der Philosophie nicht mit Hirngespinsten, sondern mit sehr real begründeten Aufgaben zu tun haben.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1920
    Anmerkungen
    1) Mit Recht hat seinerzeit schon Jacobi, freilich nicht im Sinne des Positivismus, gegen Kant geltend gemacht, daß es eine petitio principii [Es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre. - wp] ist, den Erfahrungsinhalt Erscheinung zu nennen und daraus zu schließen, daß der Erscheinung ein Ding-ansich als Erscheinendes [als das, was erscheint - wp] entsprechen muß.