cr-4tb-2ra-2A. MerklE. BelingP. EltzbacherF. Somlo    
 
MANFRED HERBERT
Sprachphilosophische Einwände
gegen die objektive Auslegungslehre


b) Zum Leben Wittgensteins
c) Wortbedeutung - Sprachgebrauch
d) Rechtstheoretischer Ertrag
Das semantische Argument wird als Scheinbegründung vorgeschoben, um die wirklichen Entscheidungsmotive zu verdecken.

Die objektive Auslegungslehre sieht sich in ihrer heutigen Form - also nach Aufgabe des begriffsrealistischen Paradigmas und unter der Prämisse, daß der Gesetzesanwender dem Gesetzestext Bedeutungen zuordnet - einem zentralen verfassungsrechtlichen Problem ausgesetzt. Die durch die objektive Methode geschaffenen interpretatorischen Freiräume, die dem Richter eine anpassungsfähige und zeitgerechte Rechtsanwendung ermöglichen sollen, stehen in einem Spannungsverhältnis zum rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsprinzip.

Nach dem hierdurch geforderten Postulat der Gesetzesbindung bedürfen Entscheidungen, die das Recht über die Reichweite von Gesetzen hinaus fortbilden, einer besonderen Legitimation. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Abgrenzung von Auslegung, die an der Legitimation des Gesetzes teilhat, und Rechtsfortbildung, bei der dies nicht der Fall ist.

In der Methodenlehre wird hierzu überwiegend auf das Kriterium der Wortsinngrenze abgestellt. Die Grenzen der Auslegung würden durch den möglichen Wortsinn abgesteckt, worunter alles falle,
    "was nach dem allgemeinen oder dem jeweils als maßgeblich zu erachtenden Sprachgebrauch des Gesetzgebers - wenn auch vielleicht nur unter besonderen Umständen - noch als mit diesem Ausdruck gemeint verstanden werden kann". (LARENZ)
Dieser Topos, der in der Logik der objektiven Auslegung wegen seiner die Interpretation disziplinierenden und sie legitimierenden Funktion eine wichtige Rolle spielt, basiert auf der zutreffenden Einsicht, daß unsere sprachlichen Konventionen in der Frage, ob Wörter auf bestimmte Sachverhalte anwendbar sind oder nicht, Spielräume lassen. Daraus wird die Konsequenz gezogen, daß sich rechtliche Entscheidungen, die sich innerhalb des Potentials der möglichen Bedeutungen der einschlägigen Gesetzestexte bewegen, das Gesetz auslegen, während sie im Falle der Überschreitung sprachlich möglicher Sinngehalte das Recht fortbilden. Aus dem Blickwinkel der sprachphilosophischen Einsichten WITTGENSTEINs ist diese Auffassung unter drei Aspekten problematisch, die man als Offenheits- oder Unbestimmtheits-, als Gestaltungs- und als Kontextabhängigkeitsargument bezeichnen kann.


1) Das Offenheits- oder Unbestimmtheitsargument

Das Postulat, der mögliche Wortsinn bilde die Grenze der Auslegung, läuft unter der Prämisse, daß unsere Sprachregeln konventionell bestimmt werden, weitgehend leer. Die Konventionalität sprachlicher Regeln impliziert ihre "offene Struktur" (in der Terminologie WAISMANNs und HARTs) oder Offenheit: die Sprachverwendung wird nicht durch feste Grenzen limitiert. WITTGENSTEIN hat diesen Umstand in einer schlagenden Bemerkung zusammengefaßt:
    "Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und -  make up the rules as we go along?  Ja auch den, in welchem wir sie abändern - as we go along."
Ein Beleg dieser Tatsache ist das Phänomen, daß sich unsere natürlichen Sprachen in einem steten Wandel befinden.

Man könnte diesem Argument entgegenhalten, daß unsere Sprachkonventionen ungeachtet ihrer "verschwommenen Ränder" im Normalfall so stabil sind, daß man bestimmte Wortverwendungen eindeutig als falsch ausschließen kann. Dies ist sicherlich richtig. Man kann einen "Hasen" nicht einen "Igel" nennen. Die unter normalen Umständen unter den Sprachteilnehmern bestehende Übereinstimmung über die richtige bzw. falsche Sprachverwendung ist eine Bedingung der Möglichkeit des Gelingens sprachlicher Kommunikation. Vor diesem Hintergrund erscheint der Topos von der Wortsinngrenze  prima facie  plausibel.

Aber: in den klaren Fällen der Rechtsanwendung, in denen die Bedeutungen von Gesetzestexten in der Kommunikationsgemeinschaft der Interpreten nicht in Streit stehen, braucht man einen möglichen Wortsinn nicht als Entscheidungs- und Legitimationskriterium heranzuziehen. Diese Notwendigkeit besteht typischerweise in solchen Kontexten, in denen es zweifelhaft ist, ob man einen Gesetzestext auf einen Sachverhalt anwenden soll oder nicht. In diesen Fällen existiert aber gerade keine sprachliche Übereinkunft, auf die man sich berufen könnte.

Die verbale Feststellung, eine Entscheidung bewege sich innerhalb der möglichen Sinnverständnisse eines Gesetzestextes, kann in den zweifelhaften Fällen die Legitimation, die sie garantieren soll, de facto nicht gewährleisten. Deshalb ist SCHIFFAUERs Regel billigenswert, daß das semantische Argument nicht mehr verwendet werden darf, wenn bei der Interpretation einer Norm die Bedeutung eines Wortes zweifelhaft geworden ist.

Ein prominentes Beispiel für das Fehlen einer fach- und einer umgangssprachlichen Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung eines Wortes ist die im letzten Jahrzehnt in Deutschland in der Jurisprudenz wie in der Öffentlichkeit heftig geführte Debatte um die Frage, ob eine  Sitzblockade  z.B. vor einer Kaserne das Tatbestandsmerkmal der Gewalt im Sinnes des Straftatbestands der Nötigung (§ 240 StGB) erfüllt. Insoweit besteht weder eine fach- noch eine umgangssprachliche Übereinstimmung.

Wer sich in einem solchen Fall dennoch - in der einen wie in der anderen Richtung - auf einen Sprachgebrauch beruft, ist den Vorwürfen ausgesetzt, sich entweder auf einen willkürlichen, sachlich nicht zu rechtfertigenden Entscheidungsgrund zu stützen (und damit in einem negativen Sinne Begriffsjurisprudenz zu betreiben) oder das semantische Argument als Scheinbegründung vorzuschieben, um die wirklichen Entscheidungsmotive zu verdecken.


2) Das Gestaltungsargument,

das mit dem Offenheitsargument verwandt ist. Es stellt gleichsam einen Grund dafür dar, weshalb die Sprache offen strukturiert ist. Es hebt auf den Umstand ab, daß die Sprachteilnehmer ihre Sprachkonventionen aktiv gestalten. Sein Gehalt läßt sich an dem eben eingeführten Beispiel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs plastisch erörtern, wobei einige vereinfachende und typisierende Bemerkungen ausreichen.

Existierte zu Zeiten des Reichsgerichts noch eine fachsprachliche Konvention, wonach unter  Gewalt  die "Anwendung körperlicher Kraft zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands" zu verstehen war, so wurde der Anwendungsbereich des Gewaltbegriffs bekanntlich durch eine kontinuierliche "Vergeistigung" erweitert. Die frühe Rechtssprechung des BGH verlangte keine Anwendung physischer Gewalt beim Angreifer mehr, sondern stellte auf die körperliche Zwangseinwirkung beim Opfer ab.

Schließlich wurde das Kriterium der Körperlichkeit des Zwangs als Voraussetzung des Gewaltbegriffs aufgegeben. Das Beispiel macht deutlich, daß die höchstrichterliche Rechtssprechung den juristischen Sprachkonventionen nicht passiv gegenübersteht; sie ist vielmehr die wichtigste Institution, von der diese aktiv gestaltet werden. Es existiert inbesondere keine sprachliche Instanz, die den korrekten Sprachgebrauch durch die Gerichte überwacht und sanktioniert.

Zwar erhebt der Duden die empirisch geltenden Sprachkonventionen zur Norm. Er reagiert aber auf den empirischen Bedeutungswandel, indem die Sprachnormen den veränderten Verhältnissen angepaßt werden. Der Duden ist mithin keine Norm, die einem Bedeutungswandel entgegensteht. Hinzu kommt, daß fachsprachliche Konventionen von der Umgangssprache legitimerweise abweichen können.

Wenn die Rechtssprechung - das ist die Quintessenz des Gestaltungsarguments - die Konventionen, von der sie nach der Logik des Postulats von der Wortsinngrenze diszipliniert werden soll, verändern kann, so hat dies zur Konsequenz, daß sich die Sprache als solche - jedenfalls in den schwierigen Fällen - nicht als Begrenzungskriterium eignet.


3) Das Kontextunabhängigkeitsargument

Bedenken gegen die Relevanz semantischer Kriterien resultieren schließlich aus der Kontextabhängigkeit unserer Sprache. Wie WITTGENSTEIN anhand zahlreicher Beispiele in subtilen Analysen gezeigt hat, wird die Bedeutung einer sprachlichen Handlung nicht allein durch die verwendeten sprachlichen Ausdrücke bestimmt, sie ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der sprachlichen Äußerung, der Situation, in der sie erfolgt und ggf. den sie begleitenden außersprachlichen Handlungen der beteiligten Personen.

Auf die Auslegung der Rechtsnormen angewandt heißt dies, daß sich die Bedeutung einer Norm nicht allein dadurch erschließen läßt, daß man nach den konventionell möglichen Einzelbedeutungen der im Normtext verwendeten Ausdrücke fragt. Man versteht die Norm nur, wenn man sie als Produkt einer Handlung des Normgebers ansieht, der aufgrund seiner Legitimation eine durch bestimmte Regelungsabsichten motivierte Verhaltensanweisung erteilt, mit der er in einer bestimmten historisch-politischen Situation auf ein gesellschaftlich als regelungsbedürftig erkanntes Problem reagiert.

Bereits die Frage, ob es sich überhaupt um die Formulierung einer Norm handelt und nicht etwa um die Formulierung einer Aussage, läßt sich nicht ohne Rückgriff auf die "Umgebung" ermitteln. Ebensowenig läßt sich die Bedeutung einer Normformulierung bestimmen, ohne in Betracht zu ziehen, welches konkrete "Sprachspiel" der Gesetzgeber mit ihr spielen will. Dies soll anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden.

Das erste - fiktive, von HART eingeführte - Beispiel betrifft den Ausdruck "Fahrzeug". Man versteht hierunter ein "Gerät zum Fahren, zum Befördern von Personen oder Lasten". Als Referenten, auf die sich dieses Wort beziehen kann, kommen z.B. in Betracht: Autos, Omnibusse, Straßenbahnen, Schiffe, Eisenbahnzüge, Motorräder, Fahrräder, Dreiräder, Kinderwagen, Rollschuhe, Skateboards, elektrisch betriebene Spielzeugautos, usw.

Nehmen wir an eine Stadt erläßt eine Satzung, welche die Benutzung des Stadtparks regelt. Eine ihrer Vorschriften bestimmt: "Das Führen von Fahrzeugen ist auf den durch den Park führenden Wegen verboten." Worauf bezieht sich diese - unglückliche, weil die einschlägigen Fahrzeugarten nicht konkretisierende und deshalb Auslegungsprobleme provozierende - Vorschrift?

Nach einer rein semantischen Interpretation können alle der aufgezählten Fahrzeugarten (und weitere mehr) unter den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallen. Freilich wird sich aus tatsächlichen Gründen der Kreis der einschlägigen Kandidaten reduzieren: Straßenbahnen, Eisenbahnzüge und Schiffe werden nicht in Betracht kommen. Sind aber die Führer aller sonstigen Fahrzeugarten, für welche die Wege im Park tatsächlich nutzbar sind, Adressaten des Verbots?

Diese Frage läßt sich nicht beantworten, ohne die Vorschrift aus ihrem Kontext heraus zu interpretieren. Gehen wir davon aus, daß mehrere breite Wege durch den Park führen, die man früher ungehindert befahren durfte. Als der Verkehr, insbesondere der motorisierte, überhandnahm, sah sich die Stadt gezwungen, das oben genannte Fahrverbot in die Benutzungssatzung aufzunehmen. In der Sitzung des Stadtrats, in der dies beschlossen wurde, kam man überein, daß das Fahrverbot erforderlich sei, um den Erholungszweck des Parks zu erhalten, der durch die Abgase und durch den von den motorisierten Fahrzeugen verursachten Lärm gefährdet sei, und um die Sicherheit der Fußgänger zu gewährleisten.

Unter Zugrundelegung der Situation, die zum Erlaß der Vorschrift geführt hat, und unter Berücksichtigung der Regelungsabsichten des Satzungsgebers wird man das Fahrverbot so auszulegen haben, daß unter normalen Umständen Autos, Omnibusse und Motorräder darunterfallen. Die Einschränkung "unter normalen Umständen" ist notwendig, weil durchaus Fälle vorstellbar sind, in denen z.B. ein Auto kein Fahrzeug im Sinne dieser Vorschrift ist, z.B. das Auto des Notarztes und der Krankenwagen, deren Fahrer einer verletzten Person im Park zu Hilfe eilen oder ein Oldtimer, der im Park als Denkmal aufgestellt werden soll (wobei hier natürlich das Tatbestandsmerkmal des "Führens" nicht erfüllt ist).

Auf der anderen Seite dürften unter normalen Umständen Kinderwagen, Dreiräder und Spielzeugfahrzeuge von dem Verbot nicht erfaßt werden. Die Untauglichkeit des Abgrenzungskriteriums von der Wortsinngrenze läßt sich hieran plastisch aufzeigen. Nach dessen Logik würde man die Vorschrift nur auslegen, wenn man die genannten Fahrzeugarten unter sie subsumiert, dam man sich innerhalb der konventionell möglichen Sinnverständnisse von "Fahrzeug" bewegt. De facto würde man sich über die Bedeutung der Vorschrift hinwegsetzen, da der Satzungsgeber für Kinderwagen, Dreiräder und Spielzeugfahrzeuge das Fahrverbot gar nicht anordnen wollte.

Zu dem richtigen Ergebnis, daß die genannten Fahrzeugarten nicht unter das Fahrverbot fallen sollen, werden die Anhänger der Lehre von der Wortsinngrenze gleichwohl gelangen. Allerdings müssen sie sich hierzu eines methodischen Kunstgriffs, der sog. "teleologischen Reduktion", bedienen, der als zum Bereich der Rechtsfortbildung gehörig betrachtet wird. Darunter wird verstanden,
    "daß eine gesetzliche Regel entgegen dem Wortsinn, aber gemäß der immanenten Teleologie (Lehre vom Zweck) des Gesetzes einer Einschränkung bedarf, die im Gesetzestext nicht enthalten ist". (LARENZ)
Die demnach geforderte Einschränkung des möglichen Wortsinns ist jedoch gar nicht erforderlich, da der konkrete, anhand pragmatischer Kriterien herauszufindende Wortsinn bereits die konkrete Lösung enthält, wonach etwa im vorliegenden Beispiel nur bestimmte Fahrzeugarten von dem Fahrverbot erfaßt werden sollen. Eine rechtsfortbildende und deshalb besonderer Legitimation bedürfende Einschränkung des Anwendungsbereiches von "Fahrzeug" erübrigt sich also, da dieser Ausdruck in der konkreten Situation nicht mehr als das bedeutet, worauf ihn die teleologische Reduktion zurückführen möchte.

Die Lehre von der teleologischen Reduktion macht die Schwierigkeiten deutlich, in die eine Methodenlehre gelangt, für die ein konventionell möglicher Wortsinn den Bereich der Auslegung absteckt. Eine konventionell mögliche Wortbedeutung ist eben noch nicht  die  Bedeutung des Wortes; diese erhält es nur durch die Einbettung in einen Kontext. Um diesen Umstand analytisch angemessen Rechnung zu tragen, soll eine terminologische Unterscheidung, die den vorstehenden Ausführungen bereits implizit zugrundelag, explizit gemacht werden.

Zu differenzieren ist zwischen dem Bedeutungspotential und der Bedeutung eines Wortes. Unter dem Bedeutungspotential eines isoliert betrachteten Wortes soll dessen Eigenschaft verstanden werden, in verschiedenen Kontexten divergierende Bedeutungen anzunehmen. Das Bedeutungspotential eines Wortes ist also das, was man im Lexikon nachschlagen kann. Es ist gleichbedeutend mit dem in der Methodenlehre verwendeten Terminus "möglicher Wortsinn" oder mit dem "allgemeinen Sprachgebrauch". Wenn vom "semantischen Argument", von "semantischen Kriterien" oder vergleichbaren Ausdrücken die Rede ist, so ist damit das Abstellen auf das Bedeutungspotential gemeint.

Unter der Bedeutung eines Wortes wird demgegenüber mit WITTGENSTEIN dessen in konkrete Kontexte integrierter Gebrauch verstanden. Auf der Basis dieser Terminologie läßt sich das Kontextabhängigkeitsargument dahingehend formulieren, daß die Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung anhand des Kriteriums des "möglichen Wortsinns" deshalb verfehlt ist, weil es auf das Bedeutungspotential und nicht auf die Bedeutung, die für die Abgrenzung entscheidend ist, abgestellt.

Um wieder auf das Fahrzeugbeispiel zurückzukommen: die größten Schwierigkeiten bereitet die Frage, ob Fahrräder, Skateboards und ähnliche Fahrzeuge unter das Verbot fallen. Dies hängt nicht von dem Bedeutungspotential des Wortes "Fahrzeug" ab, wonach dies unzweifelhaft zuträfe, sondern ist anhand pragmatischer Kriterien (Situation, Regelungsabsichten) zu bestimmen. Sollte sich am Ende herausstellen, daß insoweit kein wirklicher oder zumindest hypothetischer Wille des Satzungsgebers zu ermitteln ist, müssen die zur Anwendung der Vorschrift befugten Personen rechtsschöpferisch tätig werden und Fahrräder, Skateboards, usw. dem Ausdruck "Fahrzeug" konstitutiv zuordnen oder nicht zuordnen.

Da man Gründe für oder gegen eine diesbezügliche Zuordnung braucht, ist hier der Anwendungsbereich der juristischen Argumentationstheorie eröffnet. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle soll lediglich festgehalten werden, daß bei der Entscheidung von Grenzfällen nicht semantische Kriterien entscheidend sind.

Das zweite Beispiel enstammt dem Verfassungsrecht. Art. 20 Abs.2 S.1 des Grundgesetzes legt fest, daß alle Staatsgewalt vom "Volke" ausgeht (d.h. ausgehen soll). Anläßlich von Bestrebungen in einigen Bundesländern, ein kommunales Wahlrecht für Ausländer einzuführen, hat sich gegen Ende der achtziger Jahre eine Diskussion darüber entzündet, wie der Ausdruck "Volk" auszulegen ist. Im wesentlichen bestehen zwei Möglichkeiten seiner Interpretation, je nachdem, ob man an normative oder an deskriptive Kriterien anknüpft: man kann hierunter
  • das deutsche Volk, d.h. die Summe aller Staatsangehörigen, oder
  • die Bevölkerung, d.h. die Summe der in Deutschland lebenden Menschen, verstehen.
Der verfassunggebende Gesetzgeber ging - dieses Auslegungsergebnis wird als richtig unterstellt - von dem erstgenannten Verständnis aus, was gegen die Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts ohne vorherige Verfassungsänderung spricht. Die Vertreter der Gegenauffassung berufen sich auf den letztgenannten Volksbegriff. Sie bewegen sich insoweit innerhalb der konventionell möglichen Sinnverhältnisse des Ausdrucks "Volk" (die sich - im Gegensatz zum obigen Fahrzeugbeispiel - partiell ausschließen). Man könnte zwar Zweifel hieran anmelden, weil die Summe der in Deutschland lebenden Menschen im allgemeinen durch den Ausdruck "Bevölkerung" wiedergegeben wird.

Aber das Beispiel verdeutlicht gerade die Offenheit unserer Sprachkonventionen. Indem eine nennenswerte Anzahl von Rechtswissenschaftlern und Bürgern unter "Volk" die Summe der in Deutschland lebenden Menschen versteht, hat sich eine derartige sprachliche Konvention herausgebildet. Mißt man diese Konvention am geltenden Verfassungsrecht, muß allerdings festgestellt werden, daß sie die Verfassung nicht auslegt, was sie nach der Logik des Postulats von der Wortsinngrenze tut, sondern daß sie diese fortbildet, da sie sich über die vom Verfassungsgesetzgeber intendierte Bedeutung hinwegsetzt. Das semantische Abgrenzungskriterium des möglichen Wortsinns versagt.

Wie wenig entscheidungserheblich ein allgemeiner Sprachgebrauch sein kann, verdeutlicht das dritte Beispiel, ein vom Bundesgerichtshof entschiedener Fall, der eine Streitigkeit zwischen zwei Grundstücksnachbarn zum Gegenstand hatte. Auf dem Grundstück stand ein Wohngebäude, das Grundstück der Beklagten bestand aus gewerblich genutzten Fabrik- und Büroräumen. Die Parteien hatten eine schriftliche Vereinbarung "zur Regelung des nachbarlichen Verhältnisses" getroffen, in der u.a. festgelegt worden war, daß die Beklagte in den Wänden ihrer Gebäude, die dem Grundstück der Klägerin zugekehrt seien, keine Fenster anbringen dürfe.

Die Beklagte versah in der Folgezeit die Wand eines dem Grundstück der Klägerin zugewandten Gebäudes mit einer Anzahl rechteckiger Öffnungen im Mauerwerk, in die Glasbausteine mit geriffelter Oberfläche, durch die man nicht hindurchschauen konnte, eingesetzt wurden. Die Zulässigkeit dieser Bauweise im Verhältnis zur Klägerin hing allein davon ab, ob es sich bei den Glasbausteinen um "Fenster" handelte und mithin ein Verstoß gegen die Vereinbarung vorlag. Der BGH prüfte diese Frage anhand zweier Begründungsstränge.

Im ersten Teil der Urteilsbegründung wird auf semantische Kriterien abgestellt. Unter Heranziehung mehrerer Wörterbücher der deutschen Sprache gelangt der BGH zu dem Ergebnis, daß für den Begriff des Fensters nach dem allgemeinen Sprachgebrauch die Lichtdurchlässigkeit entscheidend sei; auf die Luft- und auf die Geräuschdurchlässigkeit sowie auf die Ausblicksmöglichkeit nach draußen komme es nicht an. Die Glasbausteine seien demnach als "Fenster" zu qualifizieren, die Bauweise sei nach dem Wortlaut der Vereinbarung unstatthaft.

Nach der Lektüre dieses ersten Teils der Urteilsgründe gewinnt man den Eindruck, daß es entscheidend auf allgemeine Sprachkonventionen ankomme, nicht auf das von den Parteien durch die Vereinbarung Gewollte und Bezweckte. In seiner Urteilsanmerkung wird diese Argumentationsweise von PLEYER in zutreffender Weise krisiert:
    Grenzfälle der vorliegenden Art können ... nicht ohne Berücksichtigung von Sinn und Zweck der getroffenen Parteiabrede entschieden werden. Man braucht nur an folgende weitere Varianten zu denken: Wäre eine ganze Wand aus Glasziegeln, die äußerlich keinerlei Ähnlichkeit mit Fenstern aufweist, gestattet? Gilt ein gleiches für "Fensterimitationen" im Mauerwerk (die nur den Eindruck hervorrufen, es seien Fenster vorhanden?) Wie ist zu entscheiden, wenn nur ein kleines Luftloch in der Wand angebracht wird,d as nicht der Lichtzufuhr dient? Der "Begriff des Fensters" wird uns hier keine überzeugende Lösung liefern, sondern  nur  eine Auslegung der Parteivereinbarung nach ihrem Sinn und Zweck.
Entscheidend ist nicht - das ist der Kern von PLEYERs Kritik - ein allgemeiner Sprachgebrauch des Ausdrucks "Fenster", sondern sein konkreter, aus der Situation und den Regelungsabsichten zu erschließender Gebrauch durch die Parteien.

Diesen Weg geht schließlich auch der BGH im zweiten Teil seiner Urteilsbegründung, in der er - vom Ergebnis her - die angeführten semantischen Argumente für letztlich nicht maßgeblich hält. Obschon Glasbausteine nach dem Sprachgebrauch "Fenster" seien, bleibe die Statthaftigkeit dieser Bauweise nach den Sinn und Zweck der Vereinbarung möglich,
    "sofern nämlich die Vertragsschließenden übereinstimmend den Willen gehabt haben sollten, Fenster in der Grenzwand sind schlechthin, sondern nur insoweit auszuschließen, als durch ihr Vorhandensein die Klägerin in der ungestörten Benutzung ihres Grundstückes irgendwie beeinträchtigt werde".
Von einem solchen Willen geht der BGH vernünftigerweise aus und stellt auf von den Glasbausteinen ausgehende, dem Zweck der Vereinbarung zuwiderlaufende etwaige Beeinträchtigungen ab. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, daß derartige konkrete Beeinträchtigungen bestünden: durch die Glasbausteine dringe Licht aus dem Innern des (eventuell zur Nachtzeit hell erleuchteten) Fabrikgebäudes auf das Grundstück der Klägerin; außerdem bestehe die Gefahr, daß die Beklagte ein Lichtrecht besitze, durch das die spätere Bebauung des Grundstücks der Klägerin, sofern diese die Glasbausteine dulde, eingeschränkt würde; schließlich sei auch eine ästhetische Beeinträchtigung des Nachbargrundstückes gegeben, die erheblich sei, weil ästhetische Momente in der Vereinbarung der Parteien eine Rolle gespielt hätten.

Aufgrund dieser Gesichtspunkte gab der BGH der Klage statt.

Seiner Entscheidung ist zuzustimmen, aber  ausschließlich  deshalb, weil sie sich auf Gründe stützt, die aus dem konkreten Willen der Parteien hergeleitet werden, nicht aufgrund allgemeiner semantischer Erwägungen. Hätte sich der BGH nur auf letztere berufen, hätte er möglicherweise willkürlich entschieden, weil er den von den Parteien konkret in bezug genommenen Gebrauch des Ausdrucks "Fenster" unter Umständen nicht getroffen hätte. Oder anders gewendet: er hätte auf die Ausführungen zu den Zweifelsfällen hinsichtlich des Ausdrucks "Fenster" genauso gut verzichten können, weil sie nicht entscheidungserheblich sind.

Wie der "Fenster-Fall" exemplarisch zeigt, sind in den zweifelhaften Fällen faktisch andere als semantische Erwägungen die die Rechtsfindung leitenden Argumente. Sieht man von dem vergeblich betriebenen Aufwand ab, richtet das semantische Argument keinen Schaden an. Problematisch ist indes der Rechtfertigungsaspekt des möglichen Wortsinns, weil er in der Logik der objektiven Auslegung eine wichtige Rolle als Legitimationskriterium und als Disziplinierungsinstrument spielen soll, dazu aber nicht in der Lage ist. Die praktischen Beispiele haben die sprachtheoretische Kritik bestätigt: der mögliche Wortsinn taugt in den schwierigen Fällen nicht als Grenze. Der Glaube hieran erweist sich als ein auf Fehlvorstellungen vom Funktionieren unserer Sprache beruhender Aberglaube.
LITERATUR - Manfred Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik - Zum Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie, Baden-Baden 1995