Wichtiger als Prinzipien [Regeln zur Verallgemeinerung] ist das Urteilsvermögen entscheiden zu können, wann welches Prinzip zutrifft und wann nicht. Dazu braucht es eine Wertordnung, die in ihrem Zusammenhang verstanden und anerkannt wird. Da hapert es bei den meisten Leuten. Sie haben zwar alle bestimmte Prinzipien, die sie mehr oder weniger kommunizieren, aber das geht nicht ohne Widersprüche ab, die spätestens dann auftreten, wenn größere Zusammenhänge in Betracht gezogen werden und dann muß man sich nicht wundern, wenn es oft an der nötigen Konsequenz und Verbindlichkeit fehlt. Da wird dann im Laufe der Zeit aus einem moralischen Idealismus immer mehr ein stures Privatvergnügen, über das keine zwischenmenschliche Auseinandersetzung mehr stattfindet, weil einfach zu viele Fragen offen sind und auch nicht mit befriedigender Klarheit beantwortet werden können, um die Sache zu einem akzeptablen Abschluß [also einer gefestigten, aber doch offenen Überzeugung] zu bringen. Da geht dann auf breiter Ebene der Glaube an die Wahrheit verloren [einer Wahrheit, die fälschlicherweise mit Objektivität, bzw. Allgemeingültigkeit identifiziert wurde] und die Folge ist eine gesamtgesellschaftliche Resignation und moralische Depression. Der eigene Egoismus erscheint dann als die letzte Möglichkeit, aus dieser Orientierungslosigkeit noch einen [wenn auch nur materiellen] Vorteil zu ziehen. Da ist dann schon viel erreicht, wenn der Normalfall [das einigermaßen gesicherte Durchschnittsdasein] erhalten bleibt. Große Sprünge in Bezug auf eine gesellschaftliche Veränderung bildet sich dann niemand mehr ein, der sich noch einen Rest an moralischer Integrität bewahren will, denn man muß sein Gewissen an der Garderobe abgeben, wenn man unter solchen sekundärtugendhaften Umständen erfolgreich sein will. Das eigene kleinbürgerliche Glück mit seinen kleinkarierten Sorgen und Nöten ist zum non plus ultra eines anständigen Lebens geworden.
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